Camanchaca - Diego Zúñiga - E-Book

Camanchaca E-Book

Diego Zúñiga

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Beschreibung

Camanchaca – ein Nebel, der Chiles Küste einhüllt. Oder ist es der Nebel der Gefühle und Erinnerungen, durch den sich der Erzähler tastet ? Ein junger Mann, übergewichtig, mit schlechten Zähnen, im Auto unterwegs zur peruanischen Grenze, wo Kleidung und Zahnärzte billig sind. Am Steuer der Vater, mit neuer Frau und neuem Kind. Zurückgelassen in Santiago die ­Mutter, Erinnerungen an nächtliche ­Gespräche; Fußballspiele im Fernsehen, den Lebenstraum Reporter im Stadion. Die lakonische Poesie dieser Geschichte aus einer beschädigten Jugend am Meer, in einem beschädigten Land, lässt offen, ob die Reise durch eine von Erinnerungen an Zärtlichkeit und Gewalt ­verhüllte Landschaft auch ein Weg der Befreiung ist. Gute Literatur zeigt ihre Klasse nicht zuletzt in dem, was sie verschweigt.

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DIEGOZÚÑIGA

CAMANCHACA

ROMAN

AUS DEM SPANISCHEN VONLUISE VON BERENBERG

Für Lorena Amaro, aus allen Gründen

– Da hast du: eine Familiengeschichte – sagte Bobby.– Die Geschichte von allen – antwortete ich –Die immer gleiche Geschichte.Richard Ford

Papas erstes Auto war ein Ford Fairlane, Baujahr 1971, den ihm mein Großvater zu seinem fünfzehnten Geburtstag schenkte.

Das zweite war ein Honda Accord, Baujahr 1985, bleifarben.

Das dritte war ein BMW 850i, marineblau, Baujahr 1990, mit dem er meinen Onkel Neno tötete.

Das vierte ist ein Ford Ranger Pick-up, rauchfarben, in dem wir durch die Atacama-Wüste fahren.

Meine Eltern trennten sich, als ich vier Jahre alt war. Jetzt bin ich zwanzig. Ich lebe mit meiner Mama in Santiago. Er ist in Iquique geblieben, mit seiner neuen Familie. Manchmal sehen wir uns, wenn er geschäftlich unterwegs ist. Er kauft mit mir Klamotten oder er fragt, ob ich ihn, zusammen mit seiner neuen Frau, begleite, um irgendwelche Kisten abzuholen. Ich steige in seinen Pick-up, stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren, mache den MP3-Player an und fahre mit.

Jetzt sagt er, dass wir nach Tacna müssen, weil ich sonst meine Zähne verlieren könnte, dass er dort eine Zahnärztin kennt, die mir helfen wird, sie zu retten. Er erklärt mir das, und sein zehnjähriger Sohn, der hinten im Auto sitzt, fängt an zu lachen und sagt etwas, das ich nicht genau verstehe. Er lacht, und die Frau von meinem Papa sagt: Eduardito, halt den Mund, aber er hört nicht auf zu lachen.

Meine Mutter hat alle Zähne verloren. Sie musste sich eine Prothese einsetzen lassen. Manchmal geht sie in die Küche und macht eine Schublade auf, wo sie die Spezial-Creme aufhebt, und dann dreht sie sich weg und richtet sich das obere Gebiss. Ich schaue mir das Spiegelbild ihres Gesichts im Küchenfenster an und sage nichts. Danach dreht sie sich wieder um und erscheint, mit dem oberen Teil der Zähne korrekt eingesetzt. Den unteren Teil benutzt sie nicht. Sie sagt, er tut ihr weh und dass er sie nicht schlafen lässt.

Die Frau meines Papas heißt Nancy. Meine Mama sagt, dass sie an der Thompson stand und da meinen Papa kennenlernte. Manchmal habe ich Lust, sie danach zu fragen. Jetzt, wo ich sie im Rückspiegel betrachte, während sie mir einen Becher mit etwas zu trinken reichen will, denke ich, dass ich sie fragen könnte. Ob es wahr ist, dass sie an der Thompson gearbeitet hat. Ich sehe sie an. Sie lächelt. Sie zeigt mir ihr perfektes Lächeln, und ich lehne mit einem Kopfschütteln ab. Dann stecke ich mir die Kopfhörer in die Ohren und richte meinen Blick auf die Straße.

Bevor wir losfuhren, gab mir meine Mama die Liste mit den Dingen, die ich mir kaufen sollte: Jacke, Hosen, Turnschuhe, Hemden, Unterhosen und Socken. Sie trug mir auf, von meinem Papa zu verlangen, dass er mir Markenklamotten kauft, die das ganze Jahr über halten. Das schärfte sie mir ein. Und als ich sie aus Coquimbo anrief, wo wir übernachteten, wiederholte sie, ich solle ja nicht vergessen, ihm zu sagen, dass er mir diese Sachen kaufen müsse. Und ich sagte ja, während ich mich schon im Einkaufszentrum von Iquique sah, wie ich mir alles kaufe, was mir passt, und meinen Vater frage, ob er mir einen Pullover kauft und ob er mir dieses eine Hemd kaufen kann, um dann zu hören, nein, das ist zu teuer, such dir lieber ein anderes. Und wie ich in eine der Umkleidekabinen gehe und versuche, mich in die Hemden aus dem Sonderangebot zu zwängen, während ich ausrechne, dass mir, sollte ich zurück in Santiago ein paar Kilos abnehmen, diese Hosen vielleicht passen würden, von denen gerade zwei zum Preis von einer im Angebot sind.

Der Sohn von meinem Papa heißt Elías. So stellte ihn mir meine Oma vor, obwohl ihn alle Eduardito nennen. Er kam zur Welt, als ich zehn war. Meine Mama sagt, er sei gar nicht der Sohn meines Papas und dass die Frau sich mit einem anderen Mann rumgetrieben habe. Das hat sie gehört, und sie glaubt es, weil der Kleine meinem Vater nicht ähnlich sieht, sagt meine Mama, der Kleine sieht der Frau ähnlich, sonst niemandem. Und ich betrachte ihn durch den Seitenspiegel, wie er auf einer Art Gameboy spielt, den ihm mein Papa zu Weihnachten geschenkt hat, und sage mir, ja, stimmt, er sieht meinem Papa nicht ähnlich.

Seit dem Tag, als wir nach Santiago kamen, wollte meine Mama nicht mehr arbeiten. Sie ging nie mehr vor die Tür. Nur jede erste Woche im Monat gehen wir in den Supermarkt. Mein Opa schickt ihr Geld, und sie bittet mich, sie zu begleiten. Also gehen wir. Sie kauft die Sachen, die wir für den Monat brauchen, und für sich eine Haartönung, obwohl sie nie sicher ist, welche ihr am besten steht, deshalb fragt sie, was ich besser finde; ich schaue mir die Schachteln an und verstehe den Unterschied zwischen Aschblond und Mattblond nicht. Trotzdem sehe ich mir die Frau an, die auf der Schachtel abgebildet ist, schau dann zu meiner Mama und sage ihr meine Meinung. Manchmal hört sie auf mich, obwohl sie für gewöhnlich genau das Gegenteil auswählt und den Gang mit den Haartönungen verlässt und mit dem Monatseinkauf weitermacht.

Mein Papa sagt, dass wir jetzt schon in der Nähe von Antofagasta sind. Er erklärt mir, dass man Respekt vor der Wüste haben muss und vor der Landstraße. Und dass nicht jeder hier langfahren kann. Ich nicke, während ich mit der Hand einen der Kopfhörer aus dem Ohr nehme. Ich schaue ihn an, wie er den Kopf bewegt und sagt, dass er mir eines Tages beibringen wird, Auto zu fahren, damit es nichts kostet. Und ich nicke wieder. Und dann legt er mir seine rechte Hand auf den Oberschenkel und sagt, dass ich ein bisschen abnehmen sollte, dass mir sonst was passieren könnte. Und ich bewege meinen Kopf und stecke mir den Kopfhörer wieder ins Ohr.

Meine Mama und ich erzählten uns vor dem Einschlafen immer Geschichten. Wir schalteten den Fernseher aus, und im Dunkeln sollten wir uns Geschichten ausdenken. Ich weiß nicht, warum wir das machten, aber wir genossen diesen Moment sehr. Wir lachten, wenn wir im Stockdunkeln auf dem Doppelbett saßen, das uns mein Opa geschenkt hatte. Seit wir nach Santiago gekommen waren, hatten wir beschlossen, in einem Bett zu schlafen. Obwohl, eigentlich traf meine Mama die Entscheidung: Sie sagte, dass nicht genug Geld für Gas da sei und wir keinen Herd haben könnten und dass es am besten wäre, zusammen zu schlafen, so wie früher, als ich ein Kind war und wir noch in Iquique lebten. Klar, dass ich nicht weiterfragte. Ich schnappte mir nur ein paar Sachen und zog in ihr Zimmer um, unser Zimmer.

Mein Papa schlägt mit seinen Zeigefingern auf das Lenkrad, als würde er Schlagzeug spielen. Die Frau und ihr Sohn schlafen, aber das ist ihm egal. Ich drehe die Lautstärke des MP3 herunter. Er trommelt weiter auf dem Lenkrad, während man eine Gitarre und ein Schlagzeug hört. Das ist Pat Metheny. Er schaut mich an und grinst. Ich nehme die Kopfhörer raus. Er hört nicht auf zu grinsen. Er fragt, ob ich auch weiß, was da gerade spielt. Ich nicke. Er trommelt immer heftiger auf das Lenkrad ein. Als der Song zu Ende ist, erzählt er mir, wie er mal Pat Metheny live gesehen hat, im Nationalstadion, als er mit Nancy dort war. Dann sagt er, dass er mich mitnehmen würde, wenn er nochmal hingehen sollte. Ich sage nichts und schaue aus dem rechten Seitenfenster. Ein Mann, der durch die Wüste läuft. Ich kann ihn einige Sekunden lang sehen, bevor wir ihn hinter uns lassen und er zwischen den Hügeln verschwindet. Ich sehe ihn und stelle mir vor, ich, wie der Mann, gehe durch die Wüste und verliere mich. Wie ein empampado. Von der Wüste verschluckt. Ich mag dieses Wort. Empampado. Ich schaue weiter hin. Wir entfernen uns. Es erklingt wieder Pat Metheny, und mein Papa fängt wieder an, auf dem Lenkrad zu trommeln.

Es war in einer dieser stockdunklen Nächte, als mir meine Mama das von meinem Onkel Neno erzählte. Sie sagte, es gäbe viele Dinge, die ich nicht wisse, und dass es nicht ihre Idee gewesen sei, mich anzulügen, dass es so mit meinen Großeltern vereinbart gewesen sei. Und sie erzählte mir die Geschichte. Mit Details. Mit Pausen des Schweigens. Tage später würden wir nicht mehr weiter von meinem Onkel Neno reden. Tage später würde es um eine andere Geschichte gehen, die niemand erzählen wollen würde.

Wir halten an einer Tankstelle. Mein Papa kauft ein paar Getränke und etwas zu essen. Ich bleibe beim Auto und schaue zu, wie die Frau und der Sohn in Zeitschriften blättern, während sie warten, dass mein Papa zurückkommt. Ich denke an meine letzte Reise nach Iquique. Meine tote Oma. Ihre geschlossenen Augen und ein Rinnsal Blut, das aus ihrem Mund läuft. Ein Rinnsal, das auftaucht, gerade als sie den Sarg schließen. Danach der Friedhof. Sie begruben sie neben meinem Onkel Neno. Ich glaube, sie mussten an diesem Morgen ein paar Überreste von meinem Onkel rausnehmen, damit beide in dieselbe Grabnische passten. Mein Papa wollte das nicht mit ansehen, also musste mein Opa hingehen. Er sagte, die Leiche meines Onkels sei mumifiziert gewesen. Mein Papa sagte nichts.

Am nächsten Tag ging ich nicht zur Vorlesung. Ich glaube nicht, dass es wegen der Geschichte mit meinem Onkel war, ich hatte einfach keine Lust aufzustehen. Ich studierte Journalismus, wollte beim Radio arbeiten, wollte eine Fußballsendung moderieren oder was mit Interviews. Aber das Einzige, das meine Mama wollte, war, dass ich Jura studiere. Immer wieder sagte sie, dass ich mit Journalismus meine Zeit verplempern würde und dass das keine Zukunft hätte, dass das mit dem Radio Blödsinn sei. Das sagte sie. Aber ich träumte von großen Kopfhörern, Studios und den Interviews mit verschiedenen Sportlern. Oder davon, die Nachrichten zu moderieren. Am Ende bewarb ich mich und wurde genommen. Ich erzählte es meinem Papa, und er gratulierte mir. Als ich ihm erzählte, ich müsse für die Immatrikulation zahlen, sagte er, dass er kein Geld habe. Auch nicht, um mir den Monatsbeitrag zu zahlen. Ich musste mich um Stipendien bewerben. Zum Glück bekam ich sie alle.