CAMPO BAHIA – Vision oder Wahnsinn - Ulli Lommel - E-Book

CAMPO BAHIA – Vision oder Wahnsinn E-Book

Ulli Lommel

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Beschreibung

Sechs Monate vor der WM in Brasilien entscheidet sich der DFB sein WM Quartier an einem der schönsten, aber abgelegensten Strand Brasiliens errichten zu lassen. Aus einem Bungalow im Rohbau und schöner Aussicht gibt es dort nichts. Es beginnt das verrückte, unglaubliche Unternehmen im Dschungel von Bahia eine Luxusanlage inklusive Trainingsplatz für die deutsche Nationalmannschaft quasi über Nacht aus dem Boden zu stampfen. Wie es dazu kommen konnte und was dann passierte erzählt der Regisseur Ulli Lommel, den es zu seiner völligen Überraschung in dieses Projekt verschlug und der darüber einen Dokumentarfilm drehte: - Warum Oliver Bierhoff ein Camp wollte, das nur über eine Dschungelpiste erreichbar ist -Was der deutschen Nationalelf von Moskitos und Tropenregen droht -Warum die FIFA alles daransetzte, das Camp zu verhindern -Wie im Busch innerhalb von 6 Wochen ein perfekter Rasenplatz entstand -Was es heißt, wenn in einem brasilianischen Dorf der WM Goldrausch ausbricht -Wie der DFB verzweifelt versuchte zum Wohltäter einer ganzen Region zu werden -Was passiert, wenn deutsche Bauherrn der brasilianischen Tranquillo-Mentalität begegnen. "Wenn die deutsche Elf Campo Bahia versteht, hat sie eine echte Chance auf das Finale." (Ulli Lommel)

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Foto S. 2, v. l. n. r.:

Architekt Rüdiger Wolf, Bauleiter Tobias Junge und Autor Ulli Lommel

auf dem Baugelände des Trainingsplatzes von Campo Bahia

im Februar 2014.

Unter anderem aus Gründen des Schutzes des Persönlichkeitsrechts wurden

einzelne Personen und Geschehnisse fiktionalisiert.

1. eBook-Ausgabe

© 2014 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München · Wien

Umschlaggestaltung: Torge Niemann, wrage.de

Umschlagmotiv und Fotos im Innenteil: © Ulli Lommel und Campo Bahia

Lektorat: Palma Müller-Scherf, Berlin

Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: medialike, www.medialike.de

ePub-ISBN: 978-3-944305-77-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die

Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer

verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Table of Contents
Vorbemerkung
Der Zauber von Santo André
Der ganz normale Irrsinn
Der DFB kommt
Pater Ullrich
Krisen, Überfälle, Depressionen
Der Rasenguru – immer schön tranquilo
Die Pantherfrau greift ein
Kunst und Nachhaltigkeit im Land der Caipirinhas
Goldrausch in Bahia
Gangster und Piraten
Espirito Santo
Die FIFA will nicht
Abstieg in die Hölle
Der Campo-Bahia-Song
Campo-Bahia-Shangrila
Danksagung
Der Autor

Vorbemerkung

Ich war noch nie auf einer Baustelle. Aber ich habe über 100 Filme gemacht. Produziert, Regie geführt, als Schauspieler und Drehbuchautor, als Kameramann und als Komponist. Überall auf der Welt. Seit Ewigkeiten. Ich stand schon mit drei Jahren auf der Bühne, in der Nachkriegszeit, 1947. Damals, als eine Leberwurst oder eine Portion Pommes Seltenheitswert hatten. Menschen wurden dafür umgebracht.

Ich bin mit 14 von der Schule abgehauen, nachdem ich einen Abend mit Elvis Presley verbracht hatte, der gleich bei uns um die Ecke in Bad Nauheim wohnte. Am folgenden Abend ging ich mit meiner ersten Rock-’n’-Roll-Band auf Tournee durch die verschiedensten Provinzkneipen, um Geld zu verdienen. Ab 1968 raste ich mit Fassbinder und seinem antiteater zehn Jahre Tag und Nacht quer durch Deutschland, um eine Wohlstandsgesellschaft aufzurütteln. Ende der 1970er-Jahre verbrachte ich drei wilde Jahre in Andy Warhols Factory in Manhattan und diskutierte mit Jackie Kennedy um vier Uhr morgens den Sinn des Lebens im Studio 54.

Ich habe mit dem leicht wahnsinnigen Klaus Kinski im Dschungel der Ifugao auf den Philippinen gedreht, bin um Mitternacht von Drogendealern in Mexiko an unserem Drehort am Meer überfallen worden, musste tagtäglich mit der Mafia in Sizilien die Kosten fürs Drehen neu verhandeln, wurde von den Gewerkschaften der Teamster in New York City terrorisiert und vom spanischen Produktionsleiter in AlmerÍa, dem Westerndorf von Sergio Leone, am letzten Drehtag auf übelste Weise erpresst. Ich habe also meinen Anteil an gewissen Baustellen der anderen Art überleben dürfen. Man könnte sagen, ich habe Schwein gehabt und sollte von Glück reden, dass es mich nach all diesem Irrsinn überhaupt noch gibt.

Warum das immer so total verrückt zugegangen war, davon hatte ich keinen blassen Dunst. Das war einfach so. Doch dann kam Brasilien. Im Oktober 2013. Und da wurde mir plötzlich klar, das Schicksal, der liebe Gott, Buddha und der Teufel hatten es anscheinend doch gut mit mir gemeint, denn sie mussten mich ja ein Leben lang vorbereiten auf das allergrößte Abenteuer, das mir in meinem dritten Akt bevorstand: Campo Bahia.

Ulli Lommel, 20. Mai 2014

Nahe der Stelle, wo das Camp für die deutsche Nationalmannschaft gebaut wird, landeten vor über 500 Jahren die Entdecker Brasiliens. Trotzdem ist der Strand bei Campo Bahia noch heute einer der schönsten des Landes.

Der Zauber von Santo André

An der magischen Küste von Bahia im Osten Brasiliens, zwei Flugstunden von Rio de Janeiro entfernt, wurde dieses Land vor rund 500 Jahren von dem Portugiesen Cabral entdeckt. Das verwunschene Hafendorf Cabrália wurde nach ihm benannt. Es ist etwa eine halbe Stunde nördlich von Porto Seguro gelegen, dem kleinen Städtchen am Meer mit eigenem Flughafen. Wenn man dort über São Paulo und nach gefühlten hundertachtzig Stunden Reise aus Deutschland endlich angekommen ist und nach Santo André zum Trainingscamp der deutschen Nationalmannschaft fahren will, führt der Weg verlockend nah am blaugrünen Atlantik entlang, vorbei an unzähligen Stränden und Kneipen mit lauter Sambamusik. Alles längst nicht so kommerzialisiert wie auf Mallorca, aber auf die versprochene Magie wartet man trotzdem. Erst wenn man das Indianerdorf Coroa Vermelha erreicht hat, verändert sich so langsam das Energiefeld, und man beginnt zu träumen. Wenige Kilometer später kommt man dann am Hafen von Cabrália an, dort, wo die Fähre dich über den breiten Fluss bringen soll, nach Santo André.

Alle Wege nach Campo Bahia führen über diese Fähre im Hafen von Cabrália. Da sie keine großen Busse transportieren kann, soll für die deutsche Mannschaft noch schnell eine größere Fähre gebaut werden.

Cabrália ist die Endstation für die meisten Touristen, weiter nach Norden, Richtung Salvador, zieht es anscheinend keinen, und das ist auch gut so. Die Einwohner von Santo André wollen allein gelassen werden, denn sie wissen, Städte machen krank, und die Mehrzahl der Touristen lebt in Städten. Diese Menschen haben längst aufgehört, authentisch zu sein, sie brauchen den Lärm, um betäubt zu bleiben, und fürchten sich vor der Stille. Sie können die Ruhe einfach nicht ertragen.

Die Fähre trägt so um die acht Autos, zwei Laster und 60 bis 70 Passagiere. Die Überfahrt nach Santo André dauert ungefähr 15 Minuten, es sei denn, die Fähre hat mitten auf dem Fluss Probleme. Da fällt dann schon mal der alte deutsche Dieselmotor aus, oder der sich in leichter Bahia-Trance befindliche Fährmann bemerkt zu spät, dass er nicht genug getankt hat. Dann kann es Stunden dauern, bis man am anderen Ufer ankommt.

Der Rio João de Tiba mündet am Hafen von Cabrália ins offene Meer. Uralte Fischerboote liegen dort vor Anker, als ob die Zeit einfach stehen geblieben ist, und warten auf die Stunden vor Morgengrauen, wenn die Fischer noch rechtzeitig vor den überwältigend schönen Sonnenaufgängen hinaus aufs Meer ziehen. Oberhalb des Hafens auf einem Hügel mit Bananen- und Kokosbäumen befindet sich eine Kapelle, wo am 26. April 1500 die erste Messe auf brasilianischem Boden zelebriert wurde, umgeben von Ruinen der ersten jesuitischen Gebäude, über der Dutzende von Geiern kreisen, um geduldig auf ihre Beute zu warten.

Nichts hier in Cabrália scheint kommerzialisiert, weder die verschiedenen Gelegenheiten, wo man etwas zu essen bekommt, noch die kleine Fischerei. Man hat den Eindruck, Cabrália interessiert sich nicht für Besucher, und schon gar nicht für laute und oberflächliche Touristen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Oliver Bierhoff diese Magie gespürt haben muss, als er vor einem Jahr zum ersten Mal die Fähre nach Santo André nahm. Dass er dann genauso verzaubert wurde wie die meisten von uns. Denn kaum betrittst du die Fähre, stellst du zu deinem Erstaunen fest, dass du in eine andere Welt hinübergleitest. Vielleicht erinnerst du dich an Siddhartha, den Roman von Hermann Hesse, eine Geschichte über den Sinn und Unsinn des Lebens, der längst zur Weltliteratur zählt. Siddhartha ist am Ziel seiner Suche angekommen, als er den Fährmann Vasudeva trifft, den er bittet, ihn als Gehilfen anzunehmen. Vasudeva, der ebenfalls die Erleuchtung erreicht hat, lehrt ihn, dem Rauschen des Flusses zu lauschen und von diesem zu lernen. Und so zieht Siddhartha nicht mehr rastlos, getrieben und nervös durch das Chaos dieser Welt, denn er hat die Antwort gefunden, nach der er ein Leben lang gesucht hatte.

Vielleicht spürte auch Jogi Löw für ein paar Sekunden, als er zum ersten Mal auf der Fähre stand, dass er die Antwort gefunden hatte, dass er angekommen war. Und wie glücklich und erfüllt du dann bist, die wenigen Sekunden, bevor die Pflicht dich wieder ruft. Bevor du dich etwas gequält daran erinnerst, dass du nicht zu den Verlierern zählen darfst. Und im Sport kann es nur einen Gewinner geben, deshalb ist es ja umso schmerzlicher, ins Finale zu kommen und dann doch zu verlieren.

Nein, hör auf zu träumen, du kannst dir diesen Luxus höchstens für ein paar Sekunden leisten, danach musst du wieder zurück in die Wirklichkeit, in deine Realität. Denkst du. Glaubst du. Aber bist denn du das überhaupt, der da denkt, oder denkt das ein anderer für dich? Was ist los in deinem Hirn? Wer kontrolliert da eigentlich die Gespräche in deinem Kopf? Und wer ist Herr oder Frau deiner Gefühle? Solch seltsame Gedanken kommen dir auf der Fähre. Der Fähre nach Santo André. Überraschende, gefährliche, befreiende Gedanken.

Das Tempo der Fähre beim Überqueren des Flusses ist zeitlupengleich und es hypnotisiert. Du kannst dich dem kaum entziehen. Alles ist ruhig. Vielleicht hörst du in der Ferne ein paar Schüsse. Die Militärpolizei hat dann wahrscheinlich wieder einen Bankräuber oder Drogendealer erwischt. Aber sofort ist wieder Stille. Du bist in Trance und deine Seele erinnert sich, dass es auf dieser Welt noch andere Dinge gibt, als Geld zu machen oder Tag und Nacht auf Gewinne zu spekulieren, nur um dich scheinbar zu bereichern. Und du bist dankbar. Dankbar für dieses Erlebnis jetzt.

Du bist verzaubert.

Wenn du am anderen Ufer ankommst, sei es nun nach glatten 15 Minuten oder doch nach mehreren Stunden, hat eine Veränderung stattgefunden, und du bist vorbereitet. Auf Santo André. Auf Campo Bahia.

Der Zauber von Santo André muss auch Oliver Bierhoff dazu gebracht haben, sich in Brasilien nach dem Abenteuer Campo Bahia zu sehnen. Sehnsucht nach einer Welt, die es bei uns in Europa und auch in Nordamerika schon lange nicht mehr gibt. Sterne, die nachts zum Greifen nahe scheinen, nach diesen Sternen wird auch Oliver Bierhoff sich gestreckt haben, als er zum ersten Mal an der Bucht bei Campo Bahia stand und sich wohl dachte, hier werden wir sein, dies ist der ideale Ort, um uns auf die Weltmeisterschaft vorzubereiten. Hier bist du all das, was du mal hättest sein sollen, bevor die verführerische Welt von Image, Public Relations und Kapital dein wahres Selbst zum Verstummen brachte, dich zum Versuchskaninchen machte und mit auf die oft so unendlich ermüdend sinnlose Achterbahn deines ach so kurzen Lebens nahm.

Seit fast 500 Jahren schlummert Cabrália vor sich hin, die erste Hafenstadt Brasiliens, benannt nach dem portugiesischen Entdecker Cabral. Von hier an geht es nur noch mit der Fähre weiter.

Oliver Bierhoff muss vorbereitet und verzaubert gewesen sein, als er gemeinsam mit Georg Behlau, dem Leiter des Büros der Nationalmannschaft, den Strand von Campo Bahia betrat, mit sorgloser Miene und lässigem Gang und mit Zuversicht. Sie waren schon seit fünf Tagen unterwegs in Brasilien und hatten Hotels an vier verschiedenen Orten unter die Lupe genommen, wobei natürlich auch Sportplätze und Trainingsmöglichkeiten inspiziert wurden. Doch die Suche war bisher ohne Ergebnis geblieben, weil man noch kein ideales Quartier gefunden hatte, wo der Teamgeist so richtig aufblühen konnte. Man wollte nicht einfach 23 Spieler in 23 Zimmern unterbringen. Aber hier? Da war doch gar nichts. Nur Meer, Strand und ein Dutzend Palmen.

Georg Behlau wird Oliver Bierhoff erstaunt angeschaut haben. Wem gehörte dieses Fleckchen unberührtes Land überhaupt? Die Besitzer waren aus München angeflogen gekommen, standen wie zwei relaxte Touristen vor ihrem Grundstück und begrüßten die beiden Herren selbstbewusst und ohne Stress.

»Hallo, ich bin Christiane, und das ist mein Mann Christian.«

Christiane trug wahrscheinlich einen ihrer Cowboyhüte, Designer-Sonnenbrille, rosaroten Minirock, Cowboy-Boots und weißes T-Shirt und trat sicher ganz ruhig und souverän auf. Ihr Mann Christian, Teilhaber von Hirmer Moden in München, einem erfolgreichen Unternehmen, und Besitzer von Hirmer Immobilien, lächelte mit Sicherheit höflich und bescheiden. Sie hatten beide bestimmt großen Spaß und auch nichts zu verlieren.

»Und was wird das alles mal hier? Was soll daraus werden?«, wollte der Leiter des Büros der Nationalmannschaft garantiert wissen.

»Vierzehn schöne Häuser mit Swimmingpool und eigenem Restaurant«, antwortete Christian, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Aha«, nickte Georg Behlau freundlich, aber vielleicht noch nicht ganz überzeugt.

Doch dann muss etwas Unvorhergesehenes passiert sein, etwas Magisches. Eine leichte Brise war wohl aufgekommen, wehte langsam vom Meer her auf die Bucht zu, wo die Palmen zu tanzen begannen. Eine stille Melodie des Zaubers soll plötzlich in der Luft gelegen haben, und Georg Behlau muss alle Zweifel über Bord geworfen haben und schien ganz gefangen im Bann der guten Geister von Santo André.

Christiane und ihr Mann kannten diese Geister bereits, die, wenn sie wollten, auch böse sein konnten, und sie spürten ihre Präsenz und wussten, dass jetzt andere Gesetze am Strand von Santo André herrschten, und sei es nur für Momente, die aber zum Schicksal werden sollten, für die Hirmers, für den DFB, für Oliver Bierhoff und Georg Behlau und auch für mich.

»Doch, kann ich mir vorstellen«, sagte Oliver Bierhoff mit leiser, aber sicherer Stimme. »Du auch, Georg?«

Georg Behlaus Miene soll sich laut Christiane in diesem kurzen Zeitraum vom kühlen und rational denkenden Generalsekretär des DFB zu einem eher gefühlsbetonten Abenteurer aus Herr der Ringe verwandelt haben. Er hätte glücklich gelächelt und zufrieden. Aber noch konnte Georg Behlau nicht komplett loslassen, eine innere Stimme muss ihn gewarnt haben.

»Und wann soll das alles fertig, ich meine, bewohnbar sein?«

»Wann immer Sie wollen«, hatte Christiane irgendwie ganz frech und lustig und ohne zu zögern geantwortet.

»Und wo ist der Fußballplatz zum Trainieren?«, wollte Georg Behlau noch wissen.

Diesmal war Christian wieder dran, sie waren einfach das perfekte Power Couple: Bonnie & Clyde meets Butch Cassidy and the Sundance Kid.

»Den bauen wir dort, gleich hinter dem Hotel, direkt am Strand.«

Oliver Bierhoff schien überzeugt. »Einziehen müssten wir rechtzeitig zur WM, also Ende Mai. Das schaffen Sie doch, Herr Hirmer, oder nicht?«

Christiane ahnte, es war gelaufen.

»Elf Monate? Kein Problem. Habt ihr Lust auf frische Austern? Fünfhundert Meter von hier liegt am Strand das Mabu Hotel, da können dann auch die Frauen der Spieler wohnen und ein Teil der Presse.«

Zu Besuch im Paradies. Noch gibt es dort nur Palmen, Strand, das Meer und den Himmel.

Sie machten sich auf in Richtung Mabu Hotel. Die Geburt von Campo Bahia hätte nicht besser laufen können. Christiane drehte sich auf dem Weg zum Hotel noch einmal um und flüsterte ein Dankeschön, das den Palmen galt, in denen sich die Geister aufhielten und ihr zur gelungenen Premiere gratulierten.

Der Zauber von Santo André sollte unsere Mannschaft in den Zustand der Unbesiegbarkeit bringen, hatte sich wohl Oliver Bierhoff in jenem Moment gewünscht, und helfen, den heiß ersehnten WM-Titel zu holen.

Sechs Monate später. Ich stand ganz allein an der Rampe der Fähre und träumte, dann drehte ich mich um. Oliver Bierhoff stand jetzt ganz nah hinter mir und schaute verklärt zum Ufer mit den sich im Wind biegenden Palmen.

»Die deutsche Seele und unsere Mannschaft«, fuhr er fort, »die gehören irgendwie zusammen, da gibt es eine ganz enge Verbindung zwischen dem Schicksal Deutschlands und der Nationalmannschaft. Hast du da mal drüber nachgedacht? Kennst du den Clip von Michael Douglas auf YouTube, der auf ähnliche Weise die Verbundenheit der Amerikaner mit ihrem Football erklärt? Geh mal auf YouTube, Ulli, der Clip heißt The Journey, das ist mitreißend und faszinierend, ist nur drei Minuten lang, so etwas sollten wir mal machen über unsere Nationalmannschaft.«

Oliver beeindruckte mich vom ersten Moment an, als er lächelnd und voller Zuversicht die Baustelle am 7. Dezember zusammen mit Jogi Löw betrat. Ein sehr intelligenter, gut aussehender, sensibler Mann mit einer Vision, dachte ich. Und als ich ihm jetzt in die vom Zauber von Santo André berührten blauen Augen schaute, war es, als verneigten sich darin die Palmen vom Ufer.

»Kommt bald wieder«, schienen sie zu flüstern. »Santo André und seine Natur werden euch wohlgesonnen sein. Wir freuen uns auf euch.«

Das Wunder von Bern

WM 1954 in der Schweiz

Seitdem ich denken, fühlen und laufen kann, habe ich Fußball gespielt. Mit zwei wackelte und stolperte ich meinem Glücksball auf dem Pferdeacker unseres kleinen Bauernhofes in Bad Sachsa nach, mit sechs hatte ich bereits mein eigenes Team aufgestellt, das war im Sommer 1951 in Wildeshausen, einem verwunschenen Örtchen in der Nähe von Bremen. Uns gehörte ein kleiner Wald, der direkt neben dem einstöckigen Klinkerhaus lag.

Mein Vater hatte mir erlaubt, sich zwei gegenüberliegende Tore am Waldesrand aufzustellen, in Originalgröße. Es wurde nach der Schule, an den Wochenenden und in den Ferien pausenlos nur gebolzt. Meine Lieblingsposition war halb links, weil ich sowohl mit rechts als auch mit links ganz gut kicken konnte und derart in meine Dribblings verliebt war, dass ich des Öfteren etwas deprimiert feststellen musste, schon wieder den Ball verloren zu haben.

Ich spielte wie ein Besessener und das bis zu meinem 13. Lebensjahr, aber dann war mit einem Mal Sense. Wir waren inzwischen nach Bad Nauheim gezogen, in die Nähe von Frankfurt am Main. Mein Vater hatte Herzbeschwerden, und wir hofften, dass eine intensive Bäderkur helfen würde.

In Bad Nauheim ging mein Fußballfieber weiter, aber durch ein böses Foul wurden beide Knie derart verletzt, dass ich sofort ins Krankenhaus musste und noch heute bei bestimmten Wetterumschwüngen die Verletzungen spüre. Bereut habe ich meine Begeisterung für den Ball aber nie, und ich leide und triumphiere bis zum heutigen Tag mit »meiner« Nationalmannschaft, egal wo ich bin.

Obwohl ich noch ein kleiner Junge war, bekam ich mit, dass sich vieles in der Politik um das Schicksal unseres geteilten Deutschlands drehte. Im Juni 1954 wurde in Berlin das Kuratorium Unteilbares Deutschland gegründet. Die überparteiliche Organisation verfolgte das Ziel, den Gedanken an die deutsche Einheit wachzuhalten und die deutsche Wiedervereinigung anzustreben. Mein Vater hatte auch stets für diese Ziele gekämpft, er war Deutschlands populärster Komiker zwischen 1923 und 1945. Wir wurden aus unserer schlesischen Heimat vertrieben, und für seine Bemühungen, die Wiedervereinigung Deutschlands mithilfe von Benefizvorstellungen in der Nachkriegszeit voranzutreiben, wurde ihm vom damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen.

Als Nachkriegskind erlebte ich 1954 meine erste WM, sie fand in der Schweiz statt. Das unsagbar emotionale und daher für immer unvergessliche Finale Deutschland – Ungarn durfte ich sogar vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher verfolgen.

Noch waren es vier Jahre, bis Elvis Presley im Bundesland Hessen als Soldat der U.S. Army stationiert werden und gleich bei uns um die Ecke in Bad Nauheim wohnen sollte. Ich bin gerade mal neun Jahre alt und sitze im gutbürgerlichen Wohnzimmer der Familie Koch, unserer Nachbarn, vor dem Fernseher. Damals musste man sich noch schick anziehen, wenn es Fernsehen gab. Das Angenehme war, es gab nur einen Sender, und so war die Auswahl an miserablen Shows menschlicher und rücksichtsvoller im Vergleich zu dem, was uns heute zugemutet wird.

Meine Mutter kaufte mir speziell für dieses Ereignis meinen ersten dunkelblauen Blazer mit grauer Flanellhose und dazu einen rot-weiß gestreiften Schlips mit schneeweißem Hemd. Ich saß in der dritten Reihe, insgesamt waren wir etwa 30 Personen, alle angezogen wie für eine Hochzeit und Beerdigung gleichzeitig, was ja auch Sinn machte, da man vor dem Spiel schließlich nicht wissen konnte, ob wir hinterher feiern oder trauern würden. Es gab Erdbeerkuchen mit Schlagsahne, Henkell-Sekt für die Erwachsenen und Cola für die Kinder.

Das Spiel war so mitreißend und aufregend, dass ich mich an ein gefühltes Dutzend Herzinfarkte und Ohnmachtsanfälle erinnere. Nach dem unerwarteten 3:2 konnten wir dann endlich wieder stolz auf uns sein. Deutschland hatte mit diesem spektakulären Sieg die Achtung der ganzen Welt errungen.

»Tooooor, Tooooor, Toooor!«

Keiner, der das live miterlebt hat, wird es je wieder vergessen. Und keiner wird jemals Herbert Zimmermann vergessen, den Reporter:

»Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern. Keiner wankt. Der Regen prasselt unaufhörlich hernieder. Es ist schwer, aber die Zuschauer, sie harren aus, wie könnten sie auch anders! Eine Fußballweltmeisterschaft ist alle vier Jahre, und wann sieht man ein solches Endspiel, so ausgeglichen, so packend – jetzt Deutschland am linken Flügel durch Schäfer, Schäfers Zuspiel zu Morlock wird abgewehrt, und Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn, am Ball. Er hat den Ball – verloren diesmal, gegen Schäfer, Schäfer nach innen geflankt – Kopfball – abgewehrt – aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt! – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor! Halten Sie mich für verrückt, ich glaube, auch Fußballlaien sollten ein Herz haben, sollten sich mitfreuen und sollten jetzt Daumen halten.«

Ich wollte für einen Moment allein sein und stand tränenüberströmt am Fenster des Wohnzimmers der Familie Koch und schaute auf zwei kleine Jungs im Alter von vielleicht drei oder vier Jahren, die den Triumph unserer Nationalmannschaft nutzten, um wie zwei kleine Wilde und voller unendlicher Erwartungen mit einem echten, abgewetzten Lederball (geschätztes Baujahr 1944) aufeinander loszukicken. Vielleicht würden ja auch sie eines Tages das Trikot der Nationalmannschaft tragen, in Schwarz-Weiß mit dem Adler. Vielleicht waren das die zukünftigen Gerd Müllers oder Franz Beckenbauers, die beim nächsten Finale in München 1974 und dem 2:1 gegen Holland wieder Weltmeister werden sollten.

Zwanzig Jahre, sich diese Zeitspanne vorzustellen, das schien gewaltig für einen Knaben wie mich damals. Aber noch hatte ich ja keine Ahnung und dachte nur daran, welch mitreißende WMs noch vor uns liegen müssten. Ich verschluckte mich beim Träumen an einer damals noch nach Erdbeeren duftenden Erdbeere, was mir recht gelegen kam, denn so konnte ich meine nicht enden wollenden Freudentränen, die mir doch recht peinlich waren, auf dieses kleine Malheur schieben.

Kuratorium Unteilbares Deutschland, der ehrenhafte Bundespräsident Theodor Heuss, der glorreiche Sieg unserer Nationalmannschaft, alles gehörte irgendwie zusammen, und die Seele des deutschen Volkes spiegelte sich geradezu perfekt in diesem ersten großen Nachkriegstriumph des deutschen Fußballs wieder. Deutschland konnte stolz auf sich sein. Wir waren wieder wer.

Hier soll in den nächsten paar Monaten der Traum von Campo Bahia entstehen. Noch gibt es nur einen Bungalow im Rohbau, und der Nachbar hofft, dass der Grundstückspreis steigt.

Der ganz normale Irrsinn

Meine erste Reise ans andere Ende der Welt nach Campo Bahia war ein Abenteuer für sich. Ich hatte das Ehepaar Hirmer in München kennengelernt. Zusammen mit dem Performancekünstler Flatz berichteten sie mir im Sommer 2013 am Starnberger See zum ersten Mal von ihrem Jahrhundertprojekt Campo Bahia. Ich fragte, was sie denn, vorausgesetzt, die 14 Prachtvillen samt Restaurant würden tatsächlich gebaut und rechtzeitig fertig, mit dem Anwesen nach der WM vorhätten, welche Pläne sie für die Zukunft hätten.

»Da wird dann nach der WM jede Villa einzeln zum Verkauf angeboten«, erwiderte Christian. Woraufhin ich nach einigem Überlegen meinte, ob es nicht sinnvoller sei, den gesamten Campo zumindest bis nach den Olympischen Spielen 2016 zu behalten und sich in der Zwischenzeit um kulturelle und nachhaltige Projekte zu kümmern, um so einen gewissen Spirit in das ganze Unternehmen zu bringen. Den Spirit von Campo Bahia.

Das Ehepaar Hirmer war sofort Feuer und Flamme. Christian war schon seit Jahren ein illustrer Förderer von diversen Kunstprojekten, allen voran dem einmaligen und sehr beeindruckenden Penthouse von Flatz hoch über den Dächern von München, und überhaupt, das Unternehmen lediglich dazu zu benutzen, um Kohle zu machen, schien ihm sowieso zu einseitig, das widerstrebte ihm, denn Geld allein imponierte ihm schon lange nicht mehr, davon hatte seine Familie ja seit Generationen. Für Christiane bedeutete die mögliche Hinwendung von einer rein kommerziellen Angelegenheit zu einem Kunstprojekt mit dem Thema Nachhaltigkeit die einmalige Chance, etwas von Dauer zu schaffen.

»In 500 Jahren werden die Geschichtsbücher dann behaupten, im Jahre 2014 wurde Campo Bahia von Christiane Hirmer wiederentdeckt«, proklamierte ich in der kleinen urgemütlichen Gaststätte am Starnberger See.

»Meinst du das im Ernst?«, fragte sie mich schelmisch und hob dabei ihr Bierglas. »Prost, Ulli!«

»Super Idee, doch wirklich!«, fügte Christian begeistert hinzu. Und auch Flatz meinte, das sei der richtige Weg. Der einzige Weg.

Mein Blick fiel auf die Holzwand hinter Christian, und ich entdeckte ein Porträt von Ludwig II.

Na, das war’s doch! Christian, eine Reinkarnation des Märchenkönigs! Aber wenn er Ludwig II. war, wer war dann sie, Christiane?

Eine äußerst brillante Powerfrau, komplex, von beeindruckender Schönheit, die mit ihren 48 Jahren in gewissen Momenten eher aussieht wie Mitte 20, witzig, humorvoll, sexy und selbstkritisch, immer coole Klamotten trägt, viele davon in São Paulo bei Pat Bo gekauft, die mit souveränem Lächeln blitzschnell Entscheidungen trifft, manchmal autoritär, selten rücksichtslos, eine Generalin, vor der selbst gestandene Mannsbilder vom Bau auf und davon rennen, wenn Königin Christiane die Campo-Bahia-Baustelle betritt, aus lauter Angst, sie könnten von ihr zusammengeschissen werden, was auch nicht selten der Fall ist.

Und wenn ich sie dann fragte, warum sie den ein oder anderen Ingenieur mal wieder so richtig fertiggemacht hatte, grinste sie wie ein kleines Mädchen und wollte wissen, ob es denn auch funktioniert habe und gut rüberkam.

»Du bist schon so ’ne richtige Schauspielerin, Christiane.« Mein Kommentar kam gut an.

»Du doch auch«, erwiderte sie ohne Zögern.

Sie erzählt auch gerne, dass sie schon mit zehn Jahren eine kleine Bandenanführerin gewesen sei, wobei ihre Mutter bemerkte, sie hätte sie oft zähmen müssen, was anscheinend nicht leicht war.

»Das kennen wir!«, lachte ich, woraufhin mir Christiane sofort und recht amüsiert zustimmte. »Genau!«

Auch Christian ist weit mehr und wesentlich komplexer als lediglich eine Vision von Ludwig II. im 21. Jahrhundert. Manchmal bin ich mir gar nicht so sicher, wer von beiden nun der Guru ist, Christian oder Christiane. Vielleicht sind sie auch zusammen ein Guru, das nahezu perfekte Yin und Yang.

Seine Qualitäten sind schier unerschöpflich. Toleranz, Großzügigkeit, Leichtigkeit, Demut, Humor, Wille, Fokus, Imagination. Aus 24 Stunden macht er ohne große Anstrengung 48 oder gar 72. Er transzendiert die dritte Dimension wie kein anderer und schafft seine eigenen Gesetze von Zeit und Raum. Ich habe selten einen Mann erlebt, dem es so mühelos gelang, an einem Dutzend Baustellen gleichzeitig zu sein. Das hatte, mit Verlaub gesagt, an manchen Tagen nahezu Jesus-Qualitäten. Ich nenne ihn ja auch den Hollywood-Superstar mit den vielen Gesichtern. Brad Pitt, Johnny Depp, Orlando Bloom, Tom Cruise, und das alles in einer Person. Mühelos bewegt er sich von der Position des Großfinanziers zum Gourmetkoch für Familie und Freunde, zum Ehemann, der seiner Gattin fast jeden Wunsch erfüllt, egal, ob banal oder mondän, zum Planer und Chefarchitekten bis runter zum Chauffeur und Assistenten seiner geliebten Frau, um die auf der Baustelle verlorenen oder von ihr verbummelten Sachen wiederzufinden (»Schatzi, hast du meine Tasche gesehen?«), zum wertvollen Ratgeber für unglücklich Verliebte, ach ja, die Liste wäre endlos.