Carl von Clausewitz - Lennart Souchon - E-Book

Carl von Clausewitz E-Book

Lennart Souchon

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Beschreibung

"Angesichts globalvernetzter Risiken und zunehmender Komplexität zu Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt die Unsicherheit in Bezug auf sinnvolle Strategien zu. In allen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bereichen, in denen wichtige und vor allem weitreichende Entscheidungen getroffen werden müssen, ist die Fähigkeit, Strategie zu denken, verloren gegangen. Carl von Clausewitz (1780-1831) offeriert eine einzigartige Theorie, die tiefe Einsichten in die Wesensmerkmale von Konflikten gewährt sowie eine zeitlose Methodik des strategischen Denkens und Handelns bietet. Er liefert mit seinem Werk ""Vom Kriege"" kein Handbuch für erfolgreiche Feldherren. Vielmehr präsentiert Clausewitz eine strategische Entscheidungslehre angesichts komplexer, dynamischer Auseinandersetzungen mit einem ebenbürtigen Gegner bei hoher Unsicherheit und formuliert Folgerungen für das erforderliche Wissen und Können von Führungskräften. Das vorliegende Buch enthält neue Erkenntnisse, da die Clausewitz-Theorie in ihren Grundzügen und in ihren Begriffen ganzheitlich aus gegenwartsbezogener Sicht interpretiert wird. Aus dieser Perspektive entschlüsselt sich sein umfangreiches Werk mit seiner dichotomischen Argumentation in oft weit verstreuten Textpassagen. Eine sorgfältige Auswahl, klar verständliche Präsentation und beispielhafte Anwendung der Grundelemente seiner Theorie bieten ein singuläres Fundament für strategisches Denken und Handeln im 21. Jahrhundert."

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Lennart Souchon

CARL VON CLAUSEWITZ

Lennart Souchon

CARL VON CLAUSEWITZ

Strategie im 21. Jahrhundert

Bildnachweis Umschlag

Vorne: Die Grafik ist die Abstraktion der »Wunderlichen Dreifaltigkeit« nach einer Idee von Björn Schülzke.

Hinten: Das vom Autoren gefertigte Tetraeder-Modell stellt Kriege nach der »Wunderlichen Dreifaltigkeit« dar.

Ein Gesamtverzeichnis der lieferbaren Titel schicken wir Ihnen gern zu.

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[email protected]

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8132-0939-6

eISBN 978-3-8132-1001-9

© 2012 by E.S. Mittler & Sohn GmbH, Hamburg, Berlin, Bonn

Ein Unternehmen der Tamm Media

Alle Rechte vorbehalten.

Layout und Produktion: Anita Böning

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung

Terminologie

KAPITEL 1: Das kriegerische Werden Europas

Phänomen Krieg und Politik

Die europäische Welt mit ihren prägenden Strategen

Strategische Lage in Europa im 20. Jahrhundert

KAPITEL 2: Preußen, Clausewitz und die Interpretation seines Werkes

Preußen

Methoden der Interpretation des Werkes Vom Kriege

Clausewitz aus historischer Perspektive

Der philosophische Clausewitz

Die holistische Interpretation von Kriegen im 21. Jahrhundert mit der Theorie von Clausewitz

KAPITEL 3: Das Werk Vom Kriege: Grundzüge der Theorie

Die Wunderliche Dreifaltigkeit

Die Textexegese der Wunderlichen Dreifaltigkeit

Die Wunderliche Dreifaltigkeit in dreidimensionaler Darstellung

Maß der Mittel

Zweck-Ziel-Mittel-Relation

Friktionen, Wahrscheinlichkeiten und Zufälle

Moralische Größen und kriegerische Tugend

Holistische Sichtung der Grundzüge

KAPITEL 4: Das Werk Vom Kriege: Einzelaspekte der Theorie

Gliederung

Form und Inhalt

Begriffshierarchie: Politik, Krieg und Frieden

Krieg, Kleiner Krieg und Volkskrieg

Primat der Politik und Krieg

Theorie und Praxis

Strategie

Strategie als Lehre

Strategie als Methode des Handelns

Strategisches Denken

Kriegsplan

KAPITEL 5: Krieg im 21. Jahrhundert

Globale Risiken und Krieg

Krieg auf Marktplätzen

Kollektive Sicherheitsstrategien

Bundeswehr

KAPITEL 6: Implementierung der Clausewitz-Theorie und strategische Entscheidungsfindung

Exemplarische Anwendung

Wunderliche Dreifaltigkeit und der Krieg in Afghanistan

Maß der Mittel im Irakkrieg 2003

Zweck-Ziel-Mittel-Relation im Libanonkrieg 2006

Friktionen USS VINCENNES 1988 und Anaconda 2002

Clausewitz und Strategieberatung

Strategisches Denken und Handeln

Epilog

Abbildungsverzeichnis

Danksagung

Literatur

Schrifttum Clausewitz

Literatur Clausewitz

Weitere Literatur

Vorwort

Die Worte eppur si muove murmelt Galileo Galilei im Prozess der römischen Inquisition im Jahre 1633. Das heliozentrische Weltbild des Kopernikus (1473–1543) ist im Mittelalter eine wissenschaftliche Sensation und wird doch von der katholischen Kirche als Gotteslästerung verdammt. Es beschert dem Astronomen Galilei (1564–1642) großes Ungemach, der dieses »mathematische Modell«, wie es die Kirche bis 1822 nennt, anhand der Gezeiten in den Weltmeeren erstmalig beweisen kann. Um seine Entdeckung zu bewahren, versteckt er die phänomenale Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne bewegt, hinter den lateinischen Worten. Erst im Oktober 1992 wird Galileo Galilei von Papst Johannes Paul II. formal in der Glaubenslehre rehabilitiert. Dieser langwierige Entwicklungsgang illustriert, wie schwierig es ist, eingefahrene Denkstrukturen und Handlungsweisen von Grund auf zu verändern, selbst wenn neue Erkenntnisse dieses erzwingen.

Heutzutage ermöglicht der Blick aus einer Raumstation, die Erde in ihrer heliozentrischen Bahn als einen winzigen Teil des unendlich erscheinenden Universums, als eine Insel des Lebens – in großer Komplexität und galaktischer Einsamkeit – zu identifizieren. Während sich im Verlauf der Geschichte das Denken, die Kulturen und die Herrschaftsformen in einzelnen Regionen, in Mesopotamien, Ägypten, am Indus, in Zentralasien und in China unabhängig voneinander entfalten, ist die Welt heute durch globale Kommunikation, weltweiten Personenverkehr, Handel und Dienstleistungen eng verflochten. Die urbanen Zentren in Europa, USA, Afrika, Asien und Australien sind in Echtzeit verknüpft. Die Endlichkeit der Naturressourcen, die weiter wachsende Weltbevölkerung und die grausige Möglichkeit des Menschen, den Planeten Erde atomar zu verwüsten, sind bekannte Tatsachen. Wohlstand und Sicherheit einzelner Weltinseln existieren in krassem Gegensatz zu großer Armut in übervölkerten Regionen. Verbindende Elemente und Brücken zwischen reichen und armen Zonen der Erde sind die Luft zum Atmen, Trinkwasser und Urwälder, landwirtschaftlich nutzbare Bodenflächen und Meere. Gleichzeitig existiert eine vieldimensionale Bedrohung aus internationalem islamistischem Terrorismus, organisierter Kriminalität, Menschenhandel und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die in ihrer Kombination eine Neubewertung staatlicher Sicherheitsvorsorge erforderlich machen.

Nach der Einigung Europas am Ende des 20. Jahrhunderts werden die ostmitteleuropäischen Staaten Mitglieder der Nordatlantischen Allianz (NATO) und der Europäischen Union (EU). Für sie sind Wohlstand, Demokratie und Sicherheit der nordatlantischen Staaten höchst attraktiv. Vergleichbar mit der Zeit nach dem Wiener Kongress (1814–15) bilden heute China, Indien, Russland, Europa und die USA sowie andere Staaten ein Konzert der Nationen, das in wechselnden Koalitionen die internationale Politik dominiert.

Diese positive Genese von Ad-hoc-Staatenbündnissen wird durch die islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001 torpediert. Die Welt erlebt eine strategische Herausforderung, die in apokalyptischen Dimensionen endet, wenn versäumt wird, die prekäre Sicherheitslage in ihrer tektonischen Gefährlichkeit zu begreifen und einzuhegen. Auf operativer Ebene ist sich die atlantische Staatenwelt einig und bekämpft gemeinsam die islamistischen Netzwerke des Terrors. Das intellektuelle Durchdringen dieser veränderten Bedrohungslage und eine strategische Neuorientierung des Denkens und Handelns ist in Ansätzen – vergleichbar zu der Entdeckung Galileo Galileis und der Reaktion der katholischen Kirche – eine schwierige Aufgabe. So erweist sich der in den Siebzigerjahren oft zitierte Frieden als Ernstfall als zeitgemäße Metapher, mit einem gefährlichen Gegner, der mit rückwärtsgewandten Denkschemata nicht zu erfassen ist.

Ein weiterer Gesichtspunkt verbietet jeden friedfertigen Optimismus: Obgleich die überwiegende Anzahl der Krisen und kriegerischen Auseinandersetzungen sich heute in Gesellschaften hinein verlagert und zugleich transnational verknüpft ist, wird es auch herkömmliche Kriege weiter geben. Zwischen Demokratien westlichen Zuschnitts gehören Staatenkriege endgültig zur Geschichte. Deshalb erhebt sich die Frage, inwieweit eine staatliche Sicherheitsvorsorge postheroischer Staaten das ganze Spektrum moderner militärischer Fähigkeiten für Staatenkriege aufrechterhalten muss. Aufgaben der klassischen Landesverteidigung und der Kampf gegen den internationalen islamistischen Terrorismus erfordern völlig unterschiedliche Denkweisen, Strategien und Fähigkeitsprofile moderner Streitkräfte. Die divergierenden Aufgabenschwerpunkte zwingen angesichts begrenzter Ressourcen an Finanzen und Personal zu Schwerpunkten bei den Fähigkeitsprofilen sowie bei der Auswahl und Ausbildung des Führungspersonals. Es fällt Entscheidungsträgern ausgesprochen schwer, in den globalen Konfliktszenarien unterschiedlicher Wertesysteme, Kulturbereiche und fundamentalistischer Radikalisierung ihre antiquierten Analyse- und Entscheidungsverfahren in der Sicherheitspolitik abzulegen und sich auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts einzustellen. Weiter kann es Zweifel geben, ob bürokratische Großorganisationen überhaupt zu einem Wandel überkommener Denkweisen bereit sind. Angesichts der Herausforderungen sind das strategische Denken und Handeln von Grund auf neu zu begründen, um dann Folgerungen für Vorgehensweisen, Fähigkeitsprofile und Streitkräftestrukturen zu ziehen.

Um Veränderungen zukunftsweisend zu initialisieren, ist das Verstehen der Phänomene der Gegenwart unserer Zeit eine wichtige Voraussetzung. Goethe postuliert in Maximen und Reflexionen: »Das Wahre, Gute und Vortreffliche ist einfach und sich immer gleich, wie es auch erscheine« (Koopmann, 2006, 187). Diese zeitgenössische Erkenntnis verdichtet Carl von Clausewitz in seiner empirischen Analyse des Krieges und folgert: »Viele Dinge im Leben sind einfach, aber das Einfache ist oft schwierig« (Vom Kriege, 261)1. Dieser Satz verallgemeinert eine Erkenntnis des preußischen Denkers Clausewitz, der diese Lebensweisheit ausschließlich auf das Kriegsgeschehen bezieht.

Die gegenwärtigen internationalen Militäreinsätze in Zentralasien, Nah- und Mittelost und in Afrika zeigen ein analoges Muster. Sie sind ohne eindeutige politische Zweckvorgabe, ganzheitliche Ziele und Zwischenziele sowie entsprechend kontingentierte Mittel auf operativer Ebene geplant, mit militärischen und zivilen Ressourcen ausgestattet und postheroisch geprägt in der Durchführung. Sie erreichen bisher keine stabilen Friedenszustände und drohen zu scheitern, wenn ein Abzug einzuleiten ist.

In Deutschland kommt eine moralisierende Grundeinstellung zu Auslandseinsätzen hinzu. Diese wird in Parlamentsausschüssen aus parteitaktischen Gründen verstärkt durch das Vorschieben von Normen, um rationale Entscheidungen der Regierung zu reglementieren. Eine folgerichtige Steuerung von Bundeswehreinsätzen kann nur mit einer strategisch orientierten Sicherheitspolitik gelingen. Wichtige Voraussetzungen für langjährige Einsätze von Streitkräften zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind deren militärische Fähigkeiten und eine zukunftsorientierte Führungskultur. Konsensuale Innovationen und Umstrukturierungen sind in militärischen wie in zivilen Großunternehmen nur schwer vorstellbar. Dabei werden in der Managementtheorie die hierarchischen Organisationsformen hinsichtlich deren Adaptionsfähigkeit und Veränderungsgeschwindigkeit eher positiv angesehen. Sofern eine innovative und flexible Führungsspitze vorhanden ist, können sich gerade in diesen schnell neue Arbeitsweisen durchsetzen. Diese Erkenntnisse durchwirken auch die weiterführenden Reformbestrebungen der Bundeswehr. Da die Komplexität und Gefährlichkeit sicherheitspolitischer Herausforderungen im 21. Jahrhundert fortschreitet, sind die staatlichen Methoden der Analyse und des Handelns kritisch zu sichten und weiterzuentwickeln. Es ist erforderlich – bevor in regionale Konflikte eingegriffen wird –, eine ganzheitliche Strategie für einen stabilen Friedenszustand zu konzipieren. Sie bestimmt zuerst den politischen Zweck, bevor sie einen Militäreinsatz plant, und sucht dann im Diskurs eine breite öffentliche Unterstützung.

Die in der internationalen Politik gestiegene nationale und kollektive Verantwortung für globale Entwicklungen bei gleichzeitig beobachteter Schwierigkeit, die Dinge im Ganzen und vom Ziel her intellektuell zu durchdringen, sowie ein an den Operationsweisen der Vergangenheit orientierter Einsatz von Streitkräften führen in Zeiten der Globalisierung zu einer gefährlichen Ausgangslage.

Es drohen Schwelbrände von regionalen Dauerkriegen, terroristische Attentate und ein Scheitern der internationalen politischen Kooperation wegen nationaler Präferenzen. Als Maßstab für die Wirksamkeit islamistischer Anschläge sind die Zerstörung des World Trade Centers und die Beschädigung des Pentagons am 11. September 2001 zu bewerten, bei denen 19 Selbstmordattentäter mit einem Mitteleinsatz von etwa 100.000 US-Dollar mehr als 3.000 Menschen getötet und einen Schaden von mehr als einer Billion US-Dollar verursacht haben.

Die Durchschlagskraft islamistischer Terroristen richtet sich gegen die Einflüsse westlicher Gestaltungskultur und nutzt die Angst der medialen Öffentlichkeit als Waffe, um ihre Ziele zu erreichen. In einem Klima der Armut, hoher Bevölkerungsdichte mit starker Zuwachsrate, schlechter Bildung, fehlender Perspektiven und hoher Jugendarbeitslosigkeit, der Korruption, unzureichender staatlicher Kontrolle in gescheiterten oder scheiternden Staaten und dem Terrorismus wachsen muslimische Generationen im Maghreb, Kaukasus, in Nah- und Mittelost, Zentralasien, Südasien, Südostasien, Teilen Europas und in den USA heran. Verschärft werden diese desolaten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen durch ethnische und religiöse Konflikte, Sezessionsbestrebungen, Bürgerkriege und mangelnde staatliche Kontrolle. Regionale Terrororganisationen, wie zum Beispiel Hisbollah und Hamas, taktieren in einem solchen politischen Klima mit sozialfürsorglichen Einrichtungen islamischen Glaubens und finanzieren Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Moscheen. Sie provozieren, polarisieren, mobilisieren und radikalisieren heranwachsende Jugendliche. Die Terroristen rekrutieren aus diesem Reservoir ihre Kämpfer, die sie indoktrinieren, terroristisch ausbilden, ausrüsten und schließlich einsetzen (vgl. Rice, 2005).

Um den Teufelskreis aus Armut, Perspektivlosigkeit, Gewaltsamkeit und fehlgeleiteter islamistischer Glaubenslehre wirksam zu durchbrechen, ist ein tiefergehendes Verständnis dieser Lage im 21. Jahrhundert zu entwickeln, das politische, wirtschaftliche, soziale, religiöse und historische Rahmenbedingungen mit einschließt. Dabei hilft es erkenntnisleitende Fragen zu stellen zur Macht der islamistischen Glaubenslehre, zur sozialen Wirklichkeit in den Staaten des islamischen Halbmondes, zur ursprünglichen Gewaltsamkeit der Völker und den politischen Machteliten sowie deren Ziele. Ebenso sind die Wahrnehmung der Politik und die Einflussnahme westlicher Demokratien kritisch zu beurteilen. Erst wenn die Summe der Wesenselemente terroristischer Indoktrinierung verstanden wird, sind Methoden des Handelns zu entwickeln, um diesen Bedrohungen wirksam zu begegnen. Jede Form terroristischer Gewalt und jedes Gefecht ist durch ein Handeln und Gegenhandeln der jeweiligen Akteure gekennzeichnet. Dabei sind Überlegungen zu Ursache und Wirkung, den Einflüssen von Zufällen, Wahrscheinlichkeiten, Gefahren, Anstrengungen und der Zweck-Mittel-Relation von zentraler Bedeutung.

Alle Formen und Intensitäten von Kriegen haben ihren Charakter in der Menschheitsgeschichte ständig geändert. »Halbgebildete Tataren, Republiken der Alten Welt, Lehnsherren und Handelsstädte des Mittelalters, Könige des achtzehnten Jahrhunderts, endlich Fürsten und Völker des neunzehnten Jahrhunderts: alle führen den Krieg auf ihre Weise, führen ihn anders, mit anderen Mitteln und nach einem anderen Ziel« (Vom Kriege, 962). Deren zugrunde liegenden Wesensmerkmale sind: blinder Naturtrieb, Spiel der Wahrscheinlichkeiten, des Zufalls und des bloßen Verstandes, die ein Kontinuum bilden, und Zwecke und Ziele im Krieg, die sich mit der Gefahr, der körperlichen Anstrengung, den nebelhaften Nachrichten und weiterer Friktionen verbinden.

Es ist trivial, von den postmodernen Nationen ein geistiges Durchdringen von Inhalten und deren Ursachen sowie kluges strategisches Handeln einzufordern gegen eine fortdauernde Denkweise, die noch in den Dimensionen von klassischen Staatenkriegen verhaftet ist und sich andererseits in der Hektik des Tagesgeschehens verzettelt. Zudem gibt es in der realen Welt zahlreiche schwierige Hindernisse bei der strategischen Orientierung des Einsatzes von Streitkräften im Rahmen der Politik zu überwinden. Dieses Phänomen ist ebenso bei der langfristigen Zweckverfolgung in allen wesentlichen Bereichen der Politik oder im Bereich von Großunternehmen in der Wirtschaft zu beobachten. Die Mehrzahl der aktuellen Herausforderungen ist im tagespolitischen Rahmen weder zu begreifen noch zu lösen. Der Mut, den eigenen Verstand zu nutzen, Dinge im großen Zusammenhang kritisch abzuschätzen, einen eigenen Standpunkt zu bestimmen und mit dem Blick auf das Ganze zu strukturieren sind bereits zentrale Forderungen des Philosophen Immanuel Kant und Kernideen der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Er zerstört die Illusion, dass es eine Wahrheit ohne zu denken gibt. Diese Feststellung gilt es zu beherzigen, zumal der politische Transformationsprozess im Hinblick auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts spätestens jetzt beginnen sollte, da der Kalte Krieg seit mehr als einer Generation Geschichte ist.

Im 21. Jahrhundert ist ein Besinnen auf strategisches Denken und Handeln – im Sinne einer erneuten Aufklärung – notwendig, die den Mut erzeugt, den eigenen Verstand und den der anderen zukunftsorientiert einzusetzen. Gefragt ist nicht das individuelle Nachdenken zur taktischen Optimierung der eigenen Erfolgsaussichten. Erforderlich ist ein kluges Streben und Ringen um eine gemeinsame Strategie, die interdisziplinäre Intelligenz und Erfahrungen nutzt, analytisch Lösungswege durchforscht, sich sorgfältig mit kritischen Einwänden auseinandersetzt und schließlich – ideenreich, initiativ, mutig und mit kühlem Verstand – nachhaltig orientierte Entscheidungen trifft. Ein Zusammenspiel kreativer, kenntnisreicher und erfahrener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, der Politik, der Diplomatie, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Streitkräfte ist hervorragend geeignet, Strategien für komplexe gesellschaftspolitische und internationale Problemstellungen zu finden. Dies betrifft alle Bereiche der Politik und der Wirtschaft – besonders die Sicherheitspolitik.

Die Boston Consulting Group hat 2001 eine Denkschule begründet, welche die Metapher Krieg und Feldherr nutzt, um Konflikte im wirtschaftlichen Bereich und die Handlungsweisen involvierter Entscheidungsträger darzustellen. Sie bietet Wege an, wie man sich strategischen Entscheidungen in großer Unsicherheit und mit weitreichenden Konsequenzen nähert. Der Verfasser dieses Buches geht einen Schritt weiter und legt die heutige Situation in Politik, Streitkräften, Wirtschaft und weiteren gesellschaftlichen Bereichen zugrunde und untersucht, wie ausgewählte Grundzüge der Theorie von Clausewitz ganz allgemein als Basis für das strategische Denken und Handeln sowie für einen Studiengang zukünftiger Führungspersönlichkeiten dienen können. Diese realitätszentrierte Herangehensweise zur Nutzung der Clausewitz-Theorie ist neu.

Es gibt Zeiten, in denen sich die Komplexität von Entscheidungssituationen tektonisch verändert, strategisches Denkvermögen gefragt ist und das geistige Potenzial auszuschöpfen ist. Wir befinden uns mitten in einer solchen aufklärerischen Phase, sofern die Zeichen der Zeit von den Entscheidungsträgern erkannt werden. Demgegenüber überwiegen heute taktische Vorteilsnahme und vordergründiges Durchwursteln in zahlreichen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Es hat sich eine selbstverständliche Übernahme vielfach erprobter Einsichten breit gemacht. Prioritäres Handeln dominiert das langfristig Sinnvolle. Nun beschreibt bekanntermaßen die Taktik, bei der man sich direkt auf ein sich veränderndes Ziel hin orientiert, den längsten Weg zum Ziel. Zum Zweiten ist der größte Feind des Aktionisten sein schneller Erfolg und eine zügige Beförderung, die ihn in seiner Handlungsweise auf das Arbeitsleben fixiert hält, ihn bestätigt und somit den Blick für das Ganzheitliche verstellt. Auch dadurch wird strategisches Denken von vornherein blockiert.

Ein Stratege denkt in großen Zusammenhängen, sieht das Ganze vor den Teilen und richtet seine Maßnahmen auf den gewünschten Endzustand aus. Für ihn ist Fortschritt ein Synonym für erfolgreiches Handeln im Sinne eines zielgerichteten Erreichens eines übergeordneten Zwecks mit den hierzu bereitgestellten Mitteln. Der Endzweck eines jeden Krieges ist nach Clausewitz ein vorteilhafter Frieden. Krieg schließt das gesamte Spektrum des Einsatzes von Streitkräften, von der bewaffneten Beobachtung im Frieden bis hin zum Niederwerfungskrieg und somit Krise, Konflikt und Krieg im heutigen Verständnis mit ein. Diese instrumentale Begriffsbestimmung gilt als Rahmen und gedankliche Grundlage in diesem Buch.

Die Verbindung des staatlichen Willens mit militärischer Gewalt ist in Deutschland in ein demokratisch legitimiertes Verfahren, den Parlamentsvorbehalt, eingebunden, der für die Regierung und die Streitkräfte verbindlich ist. Deren Zusammenwirken regelt der Primat der Politik, der eine kluge militärische Führungspersönlichkeit nicht von seinen staatsbürgerlichen Pflichten zur aktiven Partizipation in der Vorbereitung politischer Entscheidungen entbindet. Er erhält die Zwecksetzung seiner Vorhaben von der Politik, handelt verantwortungsvoll als militärischer Führer und bleibt zugleich ein Staatsbürger in Uniform. Diese gesellschaftliche Einbindung geht auf die Vorstellungen des preußischen Reformers Scharnhorst zurück (s. Kap. 2.). Dabei ist der übergeordnete politische Zweck kein despotischer Gesetzgeber, sondern eine variable Größe, die sich der Natur des Mittels zu fügen hat und dadurch oft ganz verändert wird (vgl. Vom Kriege, 210).

Den strategischen Zweck und das Maß der Mittel geistig zu durchdringen erfordert ein tiefgreifendes Studium und ist eine wichtige Aufgabe für Strategen. Primäres Ziel ist es, das Vorhandene im innersten Zusammenhang zu untersuchen und auf seine einfachsten Kernelemente zurückzuführen (vgl. Vom Kriege, 664). Heutige internationale Lösungsansätze mit Intervention und fortdauernder Stationierung von Streitkräften im Rahmen von Peace-keeping und deren Nutzung zu humanitären Zwecken oder zum Straßen- oder Schulbau sind Ergebnisse einer medialen Vermarktung und widersprechen den Kernfunktionen von Streitkräften. Diese sind Aufgaben für andere Akteure, wie beispielsweise das Technische Hilfswerk, das Rote Kreuz und für die zahlreichen Nichtregierungsorganisationen.

Wenn heute erhebliche Defizite im Bereich der Strategie diagnostizierbar sind, so gibt es zwei Vorgehensweisen, um diese Lage langfristig zu verbessern: Zum einen gilt es, heutige Entscheidungsträger kompetent zu beraten, damit diese die wichtigen sicherheitspolitischen Herausforderungen ganzheitlich erfassen, die Kernelemente einer Strategie begreifen und sich in ihren Entscheidungen entsprechend orientieren können. Hierzu wird eine Methodik zur strategischen Entscheidungsfindung und die Organisation und Herangehensweise für Strategieberatung auf Regierungsebene präsentiert. Zum anderen sind heranwachsende Führungspersönlichkeiten im strategischen Denken und Handeln auszubilden.

In der Philosophie gibt es als geistige Richtgröße für Führungspersönlichkeiten den Genius. In ihm verbindet sich kluges, ganzheitliches Denken auf der Grundlage einer breiten Bildung mit der Fähigkeit, zweckrational zu handeln. Um mit der Politik klug, professionell, ideenreich und zugleich kritisch im Dialog zu stehen, bedarf es weiterer Eigenschaften wie Mut, Phantasie, Augenmaß und einen eigenen klaren Standpunkt. Diese Anforderungen an einen militärischen Genius oder – im übertragenen Sinne – an einen Vorstandsvorsitzenden in der Wirtschaft sind sehr hoch. Aus diesem Grund ist eine theoriegestützte Ausbildung von Führungskräften einzuführen. Um diese zu ermöglichen, ist prioritär eine intensive Überzeugungsarbeit gegenüber heutigen Entscheidungsträgern in Streitkräften, Politik und Wirtschaft zu leisten und in einen breiten öffentlichen Diskurs einzubetten.

Als Marineoffizier und Wissenschaftler bin ich mit der Grundsatzfrage nach der Rationalität militärischer Planung und des Einsatzes von Streitkräften konfrontiert worden, ohne zunächst überzeugende Antworten zu finden. Welche theoretischen Grundprinzipien und Philosophien bestimmen strategisches Handeln? Werden die Dinge im Kern verstanden? Ist das Denken unparteiisch und ergebnisoffen? Wie wird mit Kritik umgegangen? Walten Verstand und Vernunft? Werden klare Standpunkte eingenommen sowie darin begründete Entscheidungen klug und mutig getroffen? Vertrete ich meinen Standpunkt argumentativ richtig und überzeugend?

Die meisten dieser substanziellen Fragen erscheinen heute in der Kurzlebigkeit der Tagesabläufe als Nebensache und bleiben somit unbeantwortet. Ein Gefühl der tief sitzenden Unsicherheit, der Unzufriedenheit, aber auch eine kritische Neugier entsteht. Bei der Suche nach theoretischen Grundlagen habe ich die Werke von Sun Tzu, Machiavelli, Hegel, Clausewitz, Jomini, Moltke, Mahan, Ruge, Liddell Hart und Aron studiert. Clausewitz ist m. E. der Einzige, der die Substanz und Rationalität der Strategie aus der Natur der Sache heraus erkenntnisleitend beleuchtet und von der praktischen Erfahrung ausgehend in einem übergeordneten theoretischen Zusammenhang begründet. Dabei sieht sich auch Clausewitz mit großem Widerspruch und erheblicher Kritik konfrontiert. Sein Hauptwerk Vom Kriege ist in seiner tiefgründigen und dichotomischen Präsentation, die komplementäre Begriffspaare und deren Wechselwirkungen ergründet, nicht leicht zu entschlüsseln. Dennoch ist die Substanz seines Werkes besonders wertvoll und als Grundlage für ein Studium der Strategie und für strategisches Denken und Handeln von singulärer Tragweite. Faszinierende zeitlose Erkenntnisse, aber auch Widersprüchlichkeiten und Unschärfen beflügeln und erschweren das Studium seiner vor knapp 200 Jahren gewonnenen Einsichten, die jedoch keinesfalls apologetisch generalisiert, doktrinär verklärt oder gar kanonisiert werden dürfen.

Meine Überlegungen und Zweifel an der Rationalität des politischen Handelns führen zur praktischen Frage: Wie kann strategisches Denken in der Politik, in den Streitkräften und in vielen gesellschaftlichen Bereichen instrumentalisiert werden? Mitte derAchtzigerjahre bin ich als Admiralstabsoffizier im Verteidigungsministerium verantwortlich für den Entwurf der Konzeption der Marine und für Beiträge zur Konzeption der Bundeswehr, dem Weißbuch 85 und der Militärstrategischen Zielsetzung der Bundeswehr gewesen. Jede dieser Aufgaben habe ich mit einem leeren Blatt Papier begonnen. Meine Frage nach einer Definition von »Konzeption« hat niemand in meiner Umgebung schlüssig beantworten können. Nach genauer Recherche ist mir klar geworden, dass eine Konzeption eine klar umrissene Grundvorstellung ist – mehr nicht. Sie ist keine Strategie, geschweige denn ein Kriegsplan. Dieses Vakuum an strategischen Vorstellungen und die Defizite im strategischen Denken setzen sich bis heute fort. So wird beispielsweise das Weißbuch der Bundeswehr 2006 der Öffentlichkeit als Strategie präsentiert, ohne die – im Vergleich zu entsprechenden amerikanischen, britischen oder französischen Dokumenten – erforderliche stringente Logik und klaren Aussagen zur Zweck-Ziel-Mittel-Relation der Clausewitz-Kernaussagen zu reflektieren. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien (2011) sind die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland durch das Verteidigungsministerium neu definiert worden. Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese im Rahmen der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge weiterhin umgesetzt werden.

Die Ablösung des geozentrischen ptolemäischen Weltbildes durch das heliozentrische von Kopernikus und Galileo hat Hunderte von Jahren gedauert. Ein Studiengang weg vom tagesopportunen Improvisieren und hin zum strategischen Denken und Handeln ist ein langer Prozess, wenn er überhaupt je erfolgreich gelingt. Auf den Ruf eppur si muove können wir jedenfalls gespannt sein.

1 Alle Textstellen, die aus dem Werk Vom Kriege zitiert werden, beziehen sich auf Carl von Clausewitz’ hinterlassenes Werk. Vom Kriege. Achtzehnte Auflage mit erweiterter historisch-kritischer Würdigung von Professor Dr. Werner Hahlweg, das 1973 im Dümmler Verlag in Bonn erschienen ist. Sofern Seitenhinweise auf Seiten 1–1251 verweisen, gelten diese ebenso für die 1980 erschienene 19. Auflage. Das jeweilige Buch wird durch römische, die einzelnen Kapitel werden durch arabische Ziffern gekennzeichnet.

Einführung

Als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über eine Flugverbotszone in Libyen (17.3.2011) abstimmt, enthalten sich Deutschland, Russland und China. Dies ist ein Debakel deutscher Sicherheitspolitik, weil Deutschland – ohne Konsultationen im Atlantischen Bündnis – die engsten Verbündeten USA, Frankreich und Großbritannien in einer wichtigen Entscheidung nicht unterstützt und in der handwerklichen Umsetzung einer singulären Entscheidungsfindung brüskiert hat. Ist dieser nationale Alleingang das Ergebnis einer sorgfältigen strategischen Analyse?

Interessen und Ziele deutscher Sicherheitspolitik sind bisher im wiedervereinigten Deutschland nicht definiert worden. Gehandelt wird unter dem Druck der Medien – die Peter Sloterdijk treffenderweise als »Stressdienstleiter« bezeichnet (Sloterdijk, 2011) –, nach tagespolitischen Prioritäten, bei denen sich oft Sach- und Parteipolitik vermischen, und nicht nach langfristigen politischen Zwecken, geschweige denn im Rahmen einer übergeordneten nationalen Strategievorstellung. Überbordende Ministerialbürokratien, ideenlose politische Stiftungen und Forschungseinrichtungen sowie eine theorieorientierte Wissenschaft arbeiten meist isoliert nebeneinander her oder häufig gegeneinander. Es fehlt der Mut, gewichtige Entscheidungen konzentriert auf den Sachgehalt zu treffen. Multilateralismus ist in den internationalen Beziehungen eine Methode und wird dennoch in der deutschen Politik als Strategie propagiert. Dabei zwingen die Beschlussverfahren in der Europäischen Union und in der NATO, bei denen jede Nation zustimmen muss, zur substanziellen Begründung des eigenen Standpunktes. Der politische Wille, diesen zu formulieren, ist ein wichtiger Faktor für politische Gestaltungs- und Kompromissfähigkeit der Mitgliedstaaten.

Eine nationale Sicherheitsstrategie oder Grand Strategy formuliert – in regelmäßigen Zeitintervallen – Werte, Interessen, Risiken, Ziele, Methoden des Handelns, setzt Prioritäten und verbindet den politischen Willen mit Methoden des Handelns sowie den erforderlichen Mitteln und ist Gegenstand eines öffentlichen Diskurses. Vorbilder für diese Verfahrensweise finden wir in Frankreich, Großbritannien und den USA. Eine Grand Strategy hat nur Sinn, sofern die interessierte Öffentlichkeit konsequent informiert und tiefgreifend involviert wird. Eine intensive Kommunikation und kritische Auseinandersetzung mit allen politisch und gesellschaftlich relevanten Einrichtungen ist zudem erforderlich, um eine Strategie abzubilden und deren Kontinuität zu ermöglichen.

Die Sicherheit der europäischen Staaten gefährdet im 21. Jahrhundert neben dem islamistischen Terrorismus, Staatenzerfall, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, organisierte Kriminalität sowie Privatisierung von Gewaltakteuren. Diese global vernetzte Bedrohung ist in ihrer Kombination überaus gefährlich, weil der terroristische Gegner die Initiative ergreift und an einem von ihm ausgewählten Ort zu seiner Zeit Kriegshandlungen durchführt. Er lebt und denkt geprägt von Religion, Ideologien sowie Sitten und Gebräuchen seines Kulturkreises, missachtet internationale Rechtsnormen und westliche Moralvorstellungen und nimmt seinen eigenen Tod oft billigend in Kauf. Gegen einen solchen Gegner ziehen westliche Streitkräfte ins Feld, eingebunden in abendländische Wertvorstellungen mit strikter Selbstverpflichtung und mit einer postheroischen Führungskultur, die von einem Gefühl moralischer und waffentechnischer Überlegenheit getragen wird. Die tektonische Verschiebung der Natur kriegerischer Auseinandersetzung wird heute im Kern nicht erfasst. Der zehnjährige ISAF-Einsatz der NATO in Afghanistan legt diese Lücke schonungslos offen.

Das Defizit an strategischer Kultur betrifft Deutschland in besonderem Maße. Es gibt die bereits erwähnten zwei Wege, um diesem entgegenzuwirken: Zum einen ist für die Regierung eine zeitgemäße kompetente Strategieberatung einzurichten, welche die wesentlichen sicherheitspolitischen Risiken und Herausforderungen ex ante erfasst und strategische Entscheidungen ganzheitlich und zukunftsorientiert in einem kurzen Zeitraum vorbereitet. Zum anderen sind heranwachsende Führungsgenerationen im strategischen Denken auszubilden, damit diese ihre Verstandes- und Gemütskräfte gleichermaßen einsetzen und lernen, praktische Tätigkeiten mit gesteigerter Geisteskraft so zu erfüllen, dass politische Zwecke mit einem kontingentierten Maß der Mittel erreicht werden. Offen bleibt, um es zu wiederholen, wer den Mut zur Entscheidung lehrt?

Eine Strategieberatung kann nur gelingen, wenn sie – so wird im vorliegenden Buch argumentiert – in einem zweckorientierten und eng vernetzten Beratungskollegium auf Kabinettsebene systematisch erarbeitet wird. Diese Vorgehensweise sucht keine Erklärungen im Nachhinein, sondern fordert eine rationale, sachbezogene Analyse und Bewertung sowie eine kritische Diskussion und Abwägung von Lösungsmöglichkeiten, bevor das Ereignis eintritt. Ein solches Beratungsprojekt ist schwierig zu realisieren, da alle höheren Bildungseinrichtungen in Deutschland die Konzepte und Strategien der NATO, der Europäischen Union sowie ausgewählter Nationen zwar oberflächlich referieren, aber nicht rational ergründen. Zudem erziehen bürokratische Großorganisationen in Deutschland ihren Führungsnachwuchs weniger zum selbstständigen Denken, kritischen Diskurs und mutigen Handeln, sondern eher zum effizienten Erfüllen vorgegebener Ziele unter stringenten Rahmenbedingungen. Letzteres lässt keine ganzheitliche Ausrichtung, kritische Erörterung und logische Transparenz zu. In Deutschland ist Strategie im gegenwärtigen Tagesgeschehen zu einer vielfach genutzten Worthülse verkümmert. Angesichts dieses Dilemmas ist es höchste Zeit, ausgewählte Führungspersönlichkeiten zielgerecht weiterzubilden, damit sie das strategische Denken beherrschen. Wie kann dies erreicht werden?

Zunächst ist die Begriffswelt von Politik und Krieg, Primat der Politik und Strategie zu klären. Des Weiteren sind ein eigener Standpunkt und darauf aufbauende politische Ziele zu definieren. Das Wahre ist vom Falschen zu unterscheiden und im Kern logisch zu begründen. In allen Problembereichen der internationalen Politik ist zwischen Theorie und der Praxis ein stringenter Bezug herzustellen. Abschließend sind Vorgehensweisen unter der Einwirkung von Zufällen und Wahrscheinlichkeiten mit einzuplanen, die die Charakter- und Führungseigenschaften der politischen und militärischen Entscheidungsträger berücksichtigen. Die Intelligenz der Strategietheorie von Clausewitz reicht weit über den sicherheitspolitischen Bereich hinaus und trifft für Auseinandersetzungen von Wirtschaftskonzernen im Kampf um Märkte oder gegen feindliche Übernahmen ebenso zu wie für die Entwicklung einer werteorientierten Führungskultur innerhalb großer Unternehmen.

Bei international geführten Interventionen fehlen meist klar formulierte politische Zwecke. Ebenso wichtig sind Ziele und Zwischenziele, stringente Zeitvorgaben und entsprechend kontingentierte Mittel sowie die Fähigkeit, im Einsatz professionell und initiativ das gegnerische Handeln zu evaluieren und darauf wirksam zu reagieren. Ohne Strategie und ohne vorherige Zweck-Mittel-Abschätzungen gehen Soldaten mit einem Flickwerk von taktischen Vorgaben in den Einsatz und werden für das Nichterreichen von unklar formulierten Zielen schließlich verantwortlich gemacht. Somit ist nachdenken angesagt im Sinne des sapere aude von Kant. Die Fähigkeit, heutige Herausforderungen im Kern zu begreifen, zu strukturieren und Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, wird zur wichtigen Ressource moderner Sicherheitspolitik und setzt Maßstäbe für die Auswahl und Ausbildung zukünftiger Führungseliten.

Für das Studium der Prinzipien von Clausewitz und deren Anwendung auf Probleme der internationalen Politik, in den Streitkräften oder in der Wirtschaft im 21. Jahrhundert fehlt eine moderne, gegenwartsorientierte Interpretation seiner Kernaussagen und Denkmethode. Die Überlegungen, mit welchen Schwerpunkten, in welcher Systematik und in welchen Intensitätsstufen man Clausewitz zur Analyse eines Krieges und zur Beratung von Entscheidungsträgern nutzen kann, sind bisher nur wenig untersucht worden. Um auf dem Fundament der Theorie von Clausewitz konkrete Entscheidungslagen ganzheitlich zu erfassen, zu beurteilen und Möglichkeiten des strategischen Handelns zu entwickeln, ist es erforderlich, ein allgemeingültiges und verständliches Gedankengebäude zu erarbeiten. Hierzu werden im Folgenden konkrete Vorstellungen präsentiert.

Das vorliegende Buch wird den an strategischen Fragen Interessierten eine Grundlage zum Studium der Strategie anhand der Clausewitz-Theorie bieten. Es ist zugleich ein gegliedertes Kompendium, das zu bestimmten Denk- und Vorgehensweisen ein theoretisches Fundament sowie für deren Umsetzung in der Sicherheitspolitik eigenständige Ausführungen entwickelt: Es beginnt mit einer politikwissenschaftlichen Einführung zum Thema Krieg als Teil des gesellschaftlichen Lebens und nicht der Kunst oder Wissenschaft. Es legt offen, wie spät in der Menschheitsgeschichte ungezügelte Eroberungszüge gepaart mit rücksichtsloser Machtexpansion oder der existenzielle Überlebenskampf von Gesellschaften in der Theorie durchdacht worden sind. Die Geschichte der Strategie beginnt zweifellos bei den Griechen. Allerdings sind ganzheitliche Begründungen der Strategie erst ab dem 18. Jahrhundert zu finden. Da wir heute in einer langen Friedensperiode leben, hilft der Blick in die europäische Geschichte, moderne Probleme in Perspektive zu sehen. Viele große Kriege der Vergangenheit haben mit einer Anzahl von kleinen Kriegen begonnen, die sich in einzelnen Brandherden zu einem verheerenden Flächenfeuer verbunden haben und erst in der Rückschau in ihren strategischen Dimensionen erfasst worden sind. Es gibt heute zahlreiche kleine Kriege in Afrika, Nah- und Mittelost, in Asien und Südamerika. Die Unfähigkeit, mit diesen in strategischem Zusammenhang umzugehen, ist offensichtlich. Das bedeutet, dass die gefährlichen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts bisher in ihren Dimensionen und Wesensmerkmalen weder erkannt noch ganzheitlich begriffen worden sind.

Die Frage, was ein Stratege von einem sozialwissenschaftlichen Denker lernen kann, dessen Vorstellungen im Erfahrungskontext der napoleonischen Ära entstanden sind, wird in diesem Buch kritisch durchleuchtet und beantwortet werden. Dabei kommt es auf die Methodik der Analyse und Erkenntnisse an. Die Axiome des Carl von Clausewitz bauen auf eine breite Interpretation des historischen Erfahrungsraumes auf und sind mit philosophischer Gedankenschärfe formuliert. Seine Lehre vom Krieg fokussiert das real Erkennbare, das an den Fakten überprüfbar erklärt und beurteilt wird. Diese phänomenologische Herangehensweise in Verbindung mit der klassischen Rationalität legt den Wesensgehalt von Kriegen offen. Clausewitz behandelt Politik, Krieg, Frieden und Strategie in einem ganzheitlichen Kontext, bringt Licht in komplizierte Zusammenhänge und formuliert seine Erkenntnisse mit einer ausgefeilten philosophischen Abstraktion. Diese hermeneutische Interpretation der Realität, die daraus resultierenden Folgerungen und deren Abstraktion sind als Methode des Erkenntnisgewinns im 21. Jahrhundert bedeutsam. Seine Theorie ist – bei realitätsorientierter Anwendung – von zeitlosem Wert und für uns in Deutschland unverzichtbar.

In diesem Buch werden die historischen Lebensumstände, die Entwicklung und die Kernaussagen des preußischen Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz dargestellt. Er profitiert von einem einzigartigen philosophischen Klima in Berlin und verfasst sein Hauptwerk mit dem Titel: Vom Kriege, womit er die Grundzüge der strategischen Kultur bis in unsere Zeit prägt. Der Plan, das strategische Denken, Handeln und die Strategiebildung im 21. Jahrhundert zu verbessern, beginnt somit nicht bei null und kann, sofern dieser entlang der Kernaussagen von Clausewitz gedacht, geordnet, abstrahiert und formuliert wird, ganzheitlich und substanziell erfüllt werden. Ausgewählte Erkenntnisse der Theorie von Clausewitz werden – erstmalig aus holistischer oder gegenwartsbezogener Sicht – interpretiert und in Beziehung gesetzt. Mit Blick auf terroristische Kriegsformen im 21. Jahrhundert und der Ohnmacht kollektiver Institutionen sowie einzelner Nationen, diesen wirkungsvoll zu begegnen, wird eine Anwendung der Clausewitz-Theorie auf sicherheitspolitische Großereignisse zur methodischen Strategiefindung argumentiert.

Zur Entstehung des Buches ist festzustellen: In den vergangenen Jahrzehnten haben zahlreiche Darstellungen und historische Interpretationen seines Werkes in deutscher, englischer, französischer, russischer und japanischer sowie in zahlreichen weiteren Sprachen zum internationalen Ruf seines Werkes beigetragen. Es existiert eine breite Palette von Fachbüchern über Clausewitz, deren überragender Nukleus die theoretischen Arbeiten von Hahlweg, Paret, Howard, Bassford, Aron, Schössler, Strachan, Herberg-Rothe und Echevarria II sind.

Demgegenüber setzt sich nur ein kleines Segment der gegenwärtigen Literatur über zukünftige Kriege mit den Erkenntnissen von Carl von Clausewitz auseinander. Ein wesentliches Hindernis bei der Implementierung des Clausewitz-Werkes ist die Komplexität der eingangs erwähnten dichotomisch formulierten Aussagen und die umfangreiche Sekundärliteratur, die meist militärhistorische Inhalte referieren oder die philosophische Methodik exegesieren. Überzeugende hermeneutische Interpretationen seiner Erkenntnisse aus holistischer oder gegenwartszentrierter Sicht und zur Durchdringung zukünftiger Herausforderungen sind mir nicht bekannt.

Die Zielvorgabe dieses Buches ist deshalb dreifach orientiert: Erstens soll es die Erkenntnisse von Clausewitz aus gegenwartsbezogener Sicht holistisch offen legen, vertieft interpretieren und deren zeitlose Bedeutung für das Verständnis von gesellschaftlichen Konflikten verdeutlichen. Zweitens soll die Frage beantwortet werden, ob und wie das Potenzial der Clausewitz-Wesenselemente für die Methodik und Gedankentiefe von strategischen Überlegungen im 21. Jahrhundert geeignet ist. Drittens wird zu klären sein, ob diese ein Beitrag zur Strategiebildung sowie zu deren Umsetzung sind und zur Verbesserung der strategischen Kultur in Gänze dienen. Zwischen diesen Zielsetzungen gibt es zahlreiche Schnittmengen, aber auch gravierende Unterschiede.

Mit anderen Worten, die Kriegserscheinungen im 21. Jahrhundert sind mit Hilfe seiner Erkenntnisse zu ergründen. Nur mit dieser Herangehensweise kann es gelingen, diese zu verstehen, Tendenzen und Akteure zu erfassen und das strategische Denken und Handeln zu entwickeln. Diese Herangehensweise und Methodik, einen Krieg analytisch zu durchdringen, ist zugleich – wie bereits erläutert – als Grundlage zur Ausbildung von Strategen konzipiert. Sie wird den Geist zukünftiger Führungspersönlichkeiten – ob Befehlshaber, Politiker, Präsidenten oder Vorstandsvorsitzende – ausbilden oder ist Wegweiser für deren Selbsterziehung. Große Feldherren werden nicht geboren. Ihr Wissen und Können sind Ergebnis einer intensiven geistigen Auseinandersetzung mit der Theorie des Kriegs in Verbindung mit praktischen Erfahrungen. Gleichermaßen werden Strategien nicht aus einem Lichtblick heraus formuliert, sondern sind entlang der wegweisenden Erkenntnisse, die sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt haben, methodisch und zielgerichtet zu entwickeln.

Diese Genesis soll hier kurz erläutert werden: Das Nachdenken über das Führen großer Heere beginnt vor etwa zweitausendfünfhundert Jahren in der Zeit von Konfuzius. Als eine wichtige Erkenntnis des chinesischen Strategen Sun Tzu (ca. 550–480 v. Chr.) ist das Kriegsziel überliefert, den Gegner ohne Kampf zu unterwerfen. Seine Prinzipien der umsichtigen Kriegführung sind zeitlos wertvoll. Von den griechischen zu den römischen Denkern, von Machiavelli bis zu Friedrich dem Großen gibt es zahlreiche Überlegungen, die Wesenselemente des Krieges zu erfassen und niederzuschreiben. Die meisten dieser Schriften sind nur in ihrer Zeitperiode und in der Verknüpfung mit den damaligen Waffenarsenalen, militärischen Fähigkeiten und Taktiken zu verstehen und enthalten für uns keinerlei Aussagen von nachhaltiger Bedeutung.

Zwei Strategietheoretiker des beginnenden 19. Jahrhunderts, Carl von Clausewitz und Antoine-Henri Jomini, begründen zwei konträre Denkschulen, die auch heute sehr aktuell sind. Mit ihnen ziehen die analytische Betrachtung sowie die Forderung nach Wissen, Vernunft und Verantwortung im politischen und militärischen Handeln in die Entwicklung von Kriegstheorien ein. Beide offerieren Denkweisen zur Analyse komplexer sicherheitspolitischer Zusammenhänge, welche Verstandes- und Gemütskräfte gleichermaßen berücksichtigen.

Jomini gilt als Systematiker der Kriegführung, der lehrbuchartig die Feldzüge Napoleons geistig strukturiert, gefechtsorientiert analysiert und in seinem Abriss der Kriegskunst (1837) als ein Regelwerk mit Rezepten für den erfolgreichen Feldherrn publiziert. Er besitzt die besondere Fähigkeit, eine strategische Lage mit allen Facetten und Schwierigkeiten zu begreifen und deren Entwicklung prognostizieren zu können. Er hat Napoleon I. – vor dem Beginn des Russland-Feldzuges – die operativen und logistischen Engpässe und das mögliche Scheitern vorhergesagt, die dieser jedoch nicht weiter ernst nimmt. Das Desaster der französischen Armee im Russlandkrieg 1812/13 und deren völlige Vernichtung entsprechen im Ergebnis der Einschätzung Jominis (vgl. Langendorf, 2008, 243). Seinem Wirken ist ein Exkurs im 4. Kapitel gewidmet.

Quasi als Gegenpol zu der Regelorientierung von Jomini abstrahiert Clausewitz den Krieg auf der theoretischen Ebene, unterscheidet dessen Kernelemente und Erscheinungen und setzt diese in seinem Werk Vom Kriege in Beziehung zur übergeordneten Politik. Seine Begriffsgenauigkeit, Logik, dichotomische Denkweise und die sorgfältige Abwägung der Wirkungselemente, die er in einer abstrakten Gesamtschau der Tendenzen und Eigenschaften von Kriegen zusammenfügt, sind ein bedeutendes Zeugnis der Ideengeschichte und international hoch anerkannt. Heuss würdigt das Clausewitz-Werk mit den Worten: »Weil das Buch in seiner denkerischen Exaktheit auf das Bleibende und Einfache dringt, (ist es, Verf.) das Werk eines Logikers, der über seinen Stoff mit sprachlicher Gewalt und doch mit einer Art von Anmut zu reden weiß« (Heuss, 1951, 67). In seiner 2009 erschienenen Analyse mit dem Titel »Clausewitz-Engels-Mahan: Grundriss einer Ideengeschichte militärischen Denkens« mahnt Schössler, die Clausewitz-Erkenntnisse tiefgründig zu studieren: »Entscheidend ist jedoch, nur mit einem an Hegel bzw. an der gesamten klassischen Philosophie geschulten Blick ist es m. E. überhaupt erst möglich, solche Dimensionen im Text Vom Kriege aufzudecken« (Schössler, 2009, 106).

Hier wird das ganze Dilemma deutlich. Dem flüchtigen Leser erscheint Vom Kriege – ähnlich wie Goethes Faust I – wie einer Aneinderreihung von bekannten Textstellen, die man à la carte zitiert, um eigene Argumente höherwertig zu legitimieren, ohne jedoch deren tiefere Bedeutung zu ergründen. Andere verfälschen die Aussagen von Clausewitz, beispielsweise Aron und van Creveld, die den Sinngehalt der Wunderlichen Dreifaltigkeit auf Volk, Armee und Regierung verkürzen, um ihn dann als Apologet von Staatenkriegen und Vernichtungsschlachten zu verwerfen. Der britische Stratege Liddell Hart wirft Clausewitz vor, seine Kriegstheorie in viel zu abstrakter und komplizierter Form ausgedrückt zu haben. Ohne sich selbst mit der Substanz der Aussagen gründlich auseinanderzusetzen, polemisiert er: “By the iteration of such phrases Clausewitz blurred the outlines of his philosophy, already indistinct, and made it into a mere marching refrain – a Prussian Marseillaise which inflamed the blood and intoxicated the mind. In transfusion it became a doctrine fit to form corporals not generals … and reduced the art of war to the mechanics of mass-slaughter” (Liddell Hart, 1967, 355). Diese emotionale Kritik, die mit zweifelhaften Annahmen begründet ist, offenbart die Unterschiede in den geistigen Abstraktionsebenen. Liddell Hart pflegt ein Bild der militärischen Kräfte “tended to ensure that the forces were composed of good ‘fighting animals’ ” (ebd. 353).

Die Vorstellungen von Clausewitz zur konzeptionellen Durchdringung des Krieges und der Strategie sowie seine Anforderungen an den Feldherrn – oder im übertragenen Sinne an Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft – sind oberhalb der »fighting animals« und von fortdauerndem Wert für das strategische Denken bis in unsere Zeit. Sein Buch enthält keine militärspezifische Einsatzlehre, ist kein Feldhandbuch oder dogmatisches Regelwerk für Oberbefehlshaber. Eine solche Klassifikation seines Werkes ist grundfalsch.

Clausewitz abstrahiert den Krieg in seiner Wirkungsbreite als fortgesetzte Staatspolitik und verurteilt jede unreife Kritik in der Nachricht (s. Textauszüge Kap. 4). Er offeriert uns eine Theorie mit einer philosophischen Argumentation und analysiert weit über den Charakter eines Krieges hinausgehend auch die menschlichen Faktoren, die moralischen Größen – im Sinne von Verstand und Gemüt – des Feldherrn und die Tugenden der Armee. Mit nicht einmal vierundzwanzig Jahren formuliert er erste Thesen und konzipiert Leitgedanken zum Thema Strategie, an denen er sein ganzes Leben festhält. Erst gegen Ende seines Schaffens (ca. 1827–1830) gelingt es ihm, diese in eine übergeordnete Ganzheit systematisch einzufügen (vgl. Aron, 1980a, 25).

Nach knapp zweihundert Jahren gilt das intensive Interesse seiner Theorie, die die innersten Zusammenhänge und Wesensmerkmale gesellschaftlicher Konflikte offenlegt. Er begreift den Krieg in seinen rationalen, irrationalen und emotionalen Elementen in seiner Gesamterscheinung und zugleich als ein Instrument der Politik. Clausewitz formuliert – nach dem gründlichen Studium von mehr als 130 Feldzügen und dem Erfahrungsaustausch mit Gneisenau, der zwei Jahre lang am Kampf der 13 nordamerikanischen Kolonien gegen die britische Kolonialherrschaft teilgenommen hat – die Wesensmerkmale und Bedingtheiten von Kriegen seiner Epoche. Seine Gedankengänge sind in ihrer überzeugenden Logik, präzisen, jedoch nicht immer transparenten Sprache seiner Zeit so vielschichtig und umfassend, dass sie das große Interesse in der Wissenschaft, in der Politik, in den Streitkräften und weit darüber hinaus in der Wirtschaft bis in die heutige Zeit entsprechend begründen. Im Unterschied zu den Philosophen im 18. und 19. Jahrhundert – Kant, Hegel, Fichte und Kiesewetter – beziehen sich seine empirischen Kriegsanalysen auf durchlebte Praxis. Clausewitz entwickelt eigenständig ausgewählte Kernelemente des Krieges und deren Relationen. Seine theoretischen Analysen und praxisorientierten Abwägungen, die er dichotomisch strukturiert und in wechselnden Betrachtungsebenen deduktiv verdichtet, bilden ein logisches Ganzes.

Andererseits hinterlässt uns Clausewitz kein in sich widerspruchsfreies Gesamtkompendium, sondern eine induktive Materialiensammlung unterschiedlicher Bearbeitungszustände, die er über Jahrzehnte hindurch zusammengetragen, aber nicht abschließend geordnet hat. Eine Konzentration auf die Grundzüge hilft schließlich über viele Schwierigkeiten hinweg. Wenn die wichtigsten Argumentationen, Prinzipien und Handlungsempfehlungen in ihren Kernaussagen und Wesensmerkmalen offen liegen, können Folgerungen formuliert werden, die zeitlos gültig sind. Clausewitz bietet hierfür das intellektuelle Rüstzeug.

Für unsere Zwecke der wissenschaftlichen und militärischen Analyse nutzen wir ausgewählte Grundzüge seiner Theorie, um die paradigmischen Kriege im 21. Jahrhundert geistig zu durchdringen und deren Wesenskerne zu begreifen. In Zeiten der Unsicherheit, des politischen Umbruchs oder angesichts gefährlicher Risikokombinationen vermittelt das Studium seiner Kernaussagen vielschichtige Denkanstöße und wertvolle Erkenntnisse, um das Wesen des Krieges, die Gesamtlage, wichtige Einflussfaktoren, auftretende Friktionen und Anforderungen an die moralischen Größen der Handelnden systematisch zu erfassen, in Relation zu setzen und zu beurteilen. Natürlich kann die Gedankenfolge, Argumentation, Wortwahl und der Schreibstil eines deutschen Klassikers nicht mehr modernen sprachlichen Erwartungen entsprechen. Vielmehr sind Kenntnisse der Geschichte und Philosophie, ein hohes Abstraktionsvermögen und etwas sprachliches Empfinden für die Interpretation seines Werkes überaus hilfreich.

Die Wesenselemente des preußischen Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz und seine Synthese des Erkenntnisganges über den Krieg in Gestalt der Wunderlichen Dreifaltigkeit, welche die ursprüngliche Gewaltsamkeit, das Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls mit dem politischen Werkzeug verbindet (s. Kap. 3), sind als geistiger Raum für strategisches Denken und Handeln von einzigartiger Qualität. Sie öffnen den Blick auf die Gesamtheit der Wesensmerkmale von Ereignissen, ermöglichen einen hermeneutischen Zugriff auf die Rationalität zweckorientierten Handelns unter Berücksichtigung der Auswirkungen von Zufällen und Wahrscheinlichkeiten und ein Begreifen der Wirkung von Emotionalität und von moralischen Größen im tatsächlichen Verlauf eines jeden Krieges. Sie sind – der Wesenslogik von Hegel folgend – eine fortdauernde Verbindung zwischen dem expliziten Zustand des Krieges und den impliziten Ereignissen in einem Krieg. Sie vermitteln zwischen Sein und Aktion im Krieg.

Besonders hilfreich sind die Erkenntnisse von Clausewitz, um in komplexen Entscheidungssituationen des 21. Jahrhunderts zielgerichtet das Wesentliche zu erkennen, diese zu ordnen und eigene Handlungsoptionen zu entwickeln. Diese interdisziplinäre Interpretation seiner Theorie wird im vorliegenden Buch als ein eigener Ansatz entwickelt. Es hat sich gezeigt, dass das Kennenlernen, Begreifen und Beherrschen der Einsichten von Carl von Clausewitz eine Lagebeurteilung heutiger Kriege in Asien, Nahost, Afrika sowie in Mittel- und Südamerika – aus der Natur der Sache heraus – wirkungsvoll strukturiert, zu einem tiefem Verständnis der Einflussfaktoren und zur ganzheitlichen Beurteilung der involvierten Akteure führt und sich nicht im heute üblichen rückwärtsgewandten Denken oberflächlich verfängt.

Wenn die Tendenzen und Einflussfaktoren der Wunderlichen Dreifaltigkeit beispielsweise auf weit entfernte Kriegsschauplätze angewendet werden, gelingt es – aus der Perspektive des Politikers und des Feldherrn – den Gegner, das freie Spiel der Kräfte und die Einflüsse von ursprünglicher Gewaltsamkeit, Hass und Feindschaft zu identifizieren und in ihren Relationen bezogen auf ein übergeordnetes Ganzes zu bewerten. In einer komplexen internationalen Einsatzlage kann die Analyse mit der Wunderlichen Dreifaltigkeit, dem Maß der Mittel, in dem die eigenen Fähigkeiten mit denen des Gegners verglichen werden und der Zweck-Ziel-Mittel-Relation, die gedankliche Klarheit des strategischen Denkens befördern und tiefgreifend das individuelle Urteilsvermögen verbessern. Diese logische Schrittfolge, von der Theorie zur praktischen Anwendung, kann zu wesentlichen Einsichten führen, um die zukünftige Sicherheitspolitik zu gestalten. Gelingt dies, so ist die zugegebenermaßen schwierige Exkursion in seine Theorie höchst erfolgreich.

Um die Entwicklung des strategischen Denkens entlang der Kernaussagen von Clausewitz – mit der Synthese in der Wunderlichen Dreifaltigkeit – darzustellen und deren gewinnbringende Anwendungen in heutiger Zeit zu postulieren, ist dieses Buch folgendermaßen gegliedert:

Zunächst wird im ersten Kapitel die Geschichte Europas als ein kriegerisches Werden bis hin zu den tektonischen Veränderungen nach der Ost-West-Konfrontation aus politikwissenschaftlicher Sicht aufgezeichnet. Die erste aller strategischen Fragen nach den Motiven und Ursachen des Krieges macht den Blick nach Preußen und in die Französische Revolution auch deshalb interessant, weil das Verhältnis des Bürgertums zum Krieg auch heute ein bestimmendes gesellschaftliches Element des Krieges ist.

Im 21. Jahrhundert sind Staatenkriege mit großen Armeen zur Verteidigung des eigenen Territoriums gegen einen eindeutig identifizierten Feind zur seltenen Randerscheinung geworden. An ihre Stelle treten Kriege niedriger Intensität in geografisch weit entfernten Regionen. Der Gegner kämpft verdeckt, mit leichten Waffen und nutzt örtliche Vertrautheiten zu seinem Vorteil. Er lernt schnell und passt seine Vorgehensweisen je nach Lageveränderung rasch an. Einen solchen Gegner zu bekämpfen ist eine sehr schwierige Herausforderung. Der fundamentale Wandel des Charakters von Kriegen zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfordert daher die Ausbildung zum strategischen Denken und – darauf aufbauend – eine veränderte Methode der Kriegführung.

Eine Anwendung Clausewitz’ Theorie zur Analyse von zukünftigen Kriegen setzt zwei erkenntnisleitende Betrachtungen voraus: Zunächst werden – im zweiten Kapitel – die Lage Preußens zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie das Leben und das Wirken des Carl von Clausewitz in seiner Zeit und in seinem kriegerischen sowie philosophischen Umfeld dargestellt. Die Großmacht Preußen ist nach der Niederlage 1806 zu einem französischen Satellitenstaat degradiert. Das Ende preußischer Eigenständigkeit und rationaler Politik bei gleichzeitiger vasallenartiger Unterwerfung unter das Zepter Napoleons inspiriert ein gewaltiges Reformvorhaben im sozialen und militärischen Bereich, das von einer Revolution des Bildungswesens gestützt wird. Die soziale Neuorganisation Preußens geschieht mit großer geistiger Tiefe in einem Klima positiver politischer Gestaltungskraft. Es werden sodann drei Interpretationen seiner Lehre, die historische, die philosophische und die gegenwartszentrierte, diskutiert. In den nachfolgenden Kapiteln dient in erster Linie die dritte auf die Gegenwart bezogene holistische Interpretation – zusammen mit dem tiefen Verständnis philosophischer Wortbedeutungen und des Prozesscharakters der Realität – als ganzheitliche Grundlage zur Analyse und Bewertung von Kriegen und den Folgerungen für strategisches Denken in der Zukunft.

Den Schwerpunkt des dritten Kapitels bilden die bekannten und meist zitierten Wesenselemente und Kernaussagen des Werkes Vom Kriege aus der Perspektive der Strategie: die Wunderliche Dreifaltigkeit, das Maß der Mittel, die Zweck, Ziel und Mittel-Relation, die Friktionen sowie die moralischen Größen und die Tugenden der Armee. Sie werden aus gegenwartsorientierter Sichtweise tiefschürfend und ganzheitlich exegesiert. Eine inhaltlich vollständige Interpretation gelingt, da im Werk Vom Kriege weit verstreute Textpassagen themenorientiert geordnet und im Gesamtzusammenhang betrachtet werden.

Im vierten Kapitel werden die elementaren Begriffe und deren Relation Form und Inhalt, Arten von Kriegen, Politik und Streitkräfte, Theorie und Praxis sowie Strategie und Kriegsplan als die wesentlichen Bausteine Clausewitz’ Theorie erklärt und Folgerungen gezogen.

Im fünften Kapitel sind charakteristische Merkmale von hybriden Kriegen im 21. Jahrhundert unter Bedingungen der Globalisierung, der Arm-Reich-Konfrontation, begrenzter Ressourcen und des Klimawandels formuliert. Kombinationen aus fundamentalem islamistischem Terrorismus, der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen, von Staatenzerfall und organisierter Kriminalität, die von Angriffen aus dem Cyberspace intensiviert werden, zwingen die westliche Staatengemeinschaft zur gründlichen Neubewertung aller strategischen Vorgehensweisen, die bisher in der Praxis nur in Ansätzen erfolgt ist. Die außerordentliche Bedeutung der Strategie für die langfristig erfolgreiche Bewältigung der zweckorientierten politischen Praxis ist in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten. Eine fundierte Auswertung von Sachinformationen und eine alle Faktoren gesellschaftlichen Lebens einschließende Beschlussfassung finden auf Ebene der Strategie nicht statt. Diese Defizite sind bekannt und werden durch taktisches Operieren rudimentär auszugleichen versucht. Mit der Organisation von Exzellenzclustern wird im Clausewitz-Netzwerk für Strategische Studien (CNSS) ein erfolgversprechender Weg beschritten, diesen eklatanten Defiziten langfristig zu begegnen.

Im sechsten Kapitel werden exemplarisch ausgewählte Kriegslagen zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Theorie von Clausewitz bezogen interpretiert. Es zeigt sich, dass die Grundgedanken des Carl von Clausewitz substanziell zur Reformation strategischer Bewertungen aktueller Kriege beitragen. Konkrete Folgerungen hinsichtlich der Anwendung der Clausewitz-Theorie zur Begründung einer neuen Kultur des strategischen Denkens und Handelns und zur Ausbildung zukünftiger Strategen werden formuliert und als methodische Vorgehensweise zur Strategieberatung auf Regierungsebene verdichtet.

Ziel dieses Buches ist es, im Sinne des Lehrgebäudes von Clausewitz, das Strategiedefizit in Deutschland zu beseitigen. Hierzu ist ein geistiges Fundament für eine strategische Kultur im 21. Jahrhundert zu präsentieren und ein Studiengang zu offerieren, der den Geist zukünftiger Führungspersönlichkeiten erzieht. »Sie wird dann demjenigen ein Führer, der sich mit dem Kriege aus Büchern vertraut machen will; sie hellt ihm überall den Weg auf, erleichtert seine Schritte, erzieht sein Urteil und bewahrt ihn vor Abwegen« (Vom Kriege, 291). Dabei kommt es darauf an, ein aus heutiger Sicht einzigartiges Wissen und ganzheitliches Denken entlang der Kernaussagen des Carl von Clausewitz zu vermitteln, die in Verbindung mit praktischen Erfahrungen zum Können führen.

Das vorliegende Buch richtet sich auch gegen die Denunziation des Werkes von Clausewitz als Anleitung zum totalen Krieg der Ludendorff-Prägung. Es wirkt in seiner nüchternen, auf den historischen Wesenskern der Theorie konzentrierten Analyse und in den Folgerungen für Kriege im 21. Jahrhundert auch jeder apologetischen oder doktrinären Verherrlichung entgegen. Schließlich »lassen sich gerade die abstraktesten Bestimmungen ohne die historischen Erfahrungsgehalte, die in sie eingegangen sind, nicht verstehen« (vgl. Senghaas, 1980, 335). Für die bessere Verständlichkeit des vorliegenden Buches ist es erforderlich, zunächst einige Begriffe zu klären, was im folgenden Kapitel geschehen wird.

Terminologie

Bevor die Grundzüge Clausewitz’ Theorie analysiert werden, ist es nützlich, die zentralen Begriffe Politik, Strategie und Krieg aus heutiger Sicht zu klären, um ein Grundverständnis für die Kernaussagen von Clausewitz aus dem frühen 19. Jahrhundert zu ermöglichen.

Politik

Politik ist die Summe aller Versuche, öffentliches Leben zu gestalten. Sie ist als ein kontinuierlicher Prozess des rationalen Verhaltens und zielgerichteten Handelns zu verstehen, in dem Staaten bei der Umsetzung eigener Ziele und Vorstellungen mit denen anderer Staaten rivalisieren und dabei von außen und innen beeinflusst werden (vgl. Haftendorn, 2007). Politik ist ein zeitorientierter Prozess, in dem notwendige Entscheidungen bei interessengeleiteten Alternativen und begrenzten eigenen Mitteln gefällt werden. In modernen europäischen Staaten kann man Politik nach Sachgebieten (z.B. Außen-, Verteidigungsund Bildungspolitik), nach Entscheidungsebenen (z.B. Europa-, Bundes- oder Landespolitik) und nach Interessengruppen (Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen) differenzieren.

Es hat sich durchgesetzt – wie im angelsächsischen Raum –, das Wort Politik in drei Dimensionen zu verstehen: Erstens bezeichnet Politik konkrete staats- und gesellschaftsrelevante Programme längerfristiger Orientierung, die – im Sinne des englischen Wortes Policy – interessengeleitet auf allgemeinen Wertvorstellungen und Weltanschauungen basieren. Darüber hinaus bezeichnet das Wort Politik – im englischen Sprachgebrauch Politics – das zielgerichtete Handeln im Rahmen eines übergeordneten Ganzen zur Willensbildung, Entscheidungsfindung und Implementierung (z. B. Bildungs-, Gesundheits- und Verteidigungspolitik). Schließlich findet Politik – englisch Polity – in politischen Institutionen und Strukturen nach allgemein verbindlichen Regeln sozialer Gemeinschaften oder Staaten statt, z. B. in Parteien, im Kabinett, in den Ministerien und im Parlament (vgl. Strickmann, 2008, 74 f.).

Bei Clausewitz ist die Politik die Intelligenz des personifizierten Staates und wird von ihm nicht weiter begründet. Er verwendet das Wort Politik im Sinne langfristiger Orientierungen sowie für konkrete Handlungsabläufe. In seinem Werk Vom Kriege findet sich häufig das Wort Politik und nur einmal Staatspolitik. »Man klammert sich an das Wort ›Regierung‹, ohne zu erkennen, dass Clausewitz damit die politische Leitung im Allgemeinen meint« (Paret, 2008, 2). Paret unterscheidet die Begriffe Politik und Regierung und betont zugleich deren allgemeingültigen Zusammenhang. Er argumentiert, dass Clausewitz den Eindruck erweckt, dass Regierung und staatliche Politik dasselbe bedeuten: »Dass zu allen Zeiten, auch in einem Volk ohne komplexe politische Institutionen, dieselben Wechselwirkungen von Krieg und Politik existieren und zu analysieren sind, ob in einem prähistorischen Hirtenvolk oder, wie er sagt ›halbgebildete Tataren‹, einem Kaiserreich oder einer Republik des 19. Jahrhunderts« (ebd.). Diese Interpretation ist wichtig, weil zahlreiche Kritiker die Begrifflichkeit Politik fälschlicherweise als Beweis für die ausschließliche Zulässigkeit des Clausewitz-Werkes auf der Ebene von Staaten anführen.

Gleichermaßen ist der Krieg als die fortgesetzte Staatspolitik, wie Clausewitz ihn in der Nachricht (Textauszüge s. Kap. 4) verwendet, als Handlung einer fest geschlossenen Gemeinschaft zu verstehen, die durch eine gemeinsame politisch-soziale Verfassung geformt wird (vgl. Delbrück, 1907, 1 ff.). »Dass die Politik alle Interessen der inneren Verwaltung, auch die der Menschlichkeit, und was sonst der philosophische Verstand zur Sprache bringen könnte, in sich vereinigt und ausgleicht, wird vorausgesetzt; denn die Politik ist ja nichts an sich, sondern ein bloßer Sachwalter aller dieser Interessen gegen andere Staaten. Dass sie eine falsche Richtung haben, dem Ehrgeiz, dem Privatinteresse, der Eitelkeit der Regierenden vorzugsweise dienen kann, gehört nicht hierher« (Vom Kriege, 993).

Clausewitz definiert ganz allgemein, dass die Politik nichts als ein bloßer Sachwalter aller dieser Interessen gegen andere Staaten ist. Clausewitz betrachtet die Politik ganz allgemein »als Repräsentanten aller Interessen der ganzen Gesellschaft« (ebd.).

Woermann urteilt über den Humanisten Clausewitz: »Wenn er den Krieg erfasst als Fortsetzung eben dieser Politik mit den Mitteln der Gewalt, so sieht er auch den Frieden als politischen Akt fortschrittlichen Interessenausgleichs unter Verzicht auf eben dieses Mittel der Gewalt« (Woermann, 2007, 35). Hier unterscheidet sich Clausewitz durch große analytische Genauigkeit, weil er durch die komplementäre Einteilung in Krieg und Frieden alle dazwischenliegenden Aggregatzustände mit einschließt.

In der englischen Übersetzung On War verwenden Howard und Paret für das Wort Politik textabhängig meist Policy und selten Politics. Es gelingt ihnen, mit einer als liberal eingestuften Übersetzung und einer vortrefflichen interpretativen Wortwahl die Lesbarkeit der englischen Übersetzung gegenüber dem Originaltext zu verbessern. Dabei werden Ungenauigkeiten bei den Übersetzungen des Originaltextes bewusst in Kauf genommen. Für einen bestimmten Terminus im Deutschen werden oft mehrere Begriffe im Englischen genutzt:

Abbildung 1: Deutsche Begriffe und englische Übersetzung

(Quelle: Honig, 2007, 60)

Die verschiedenen Übersetzungen in die englische Sprache für ein und denselben Begriff bei Clausewitz verursachen begriffliche Ungereimtheiten und Ungenauigkeiten, die zu Unschärfen, Missverständnissen und Fehlinterpretationen führen können.

Clausewitz gibt ohnehin mit der Wahl seiner Begriffe manche Rätsel auf. Beispielsweise verwendet er das Wort Zweck für jeden Betrachtungsgegenstand, den er beschreiben und analysieren will. Er nutzt das Wort Zweck insgesamt 219-mal in seinem Werk – ohne auf dessen Begriffsinhalt genauer einzugehen. Eine Korrelation des Zwecks mit den in der Politik möglichen Ordnungs- oder Zielvorstellungen, die mit militärischer Gewalt durchzusetzen sind, findet sich nicht in seinem Werk. Hinweise auf die Bindung des Zwecks an eine bestimmte Staatsform, Bundesrepublik, Monarchie oder Diktatur, gibt es nicht.

Im Rahmen dieses Buches wird in der Zweck-Ziel-Mittel-Relation das Wort Zweck dem politischen Endzustand zugeordnet, den es zu erreichen gilt. Ziele und Teilziele leiten sich aus dem übergeordneten politischen Zweck ab und liegen auf der Ebene des Feldherrn und seines Heeres. Diese Zuordnung wird mit Blick auf die gedankliche Klarheit und hermeneutische Verständlichkeit der Textexegese des Werkes Vom Kriege gewählt. Sie schließt die Ziele anderer Politikbereiche zunächst aus.

Nicht viel anders verhält es sich mit dem Wort Instrument, das sich sehr häufig im Text findet. Der prominente Satz »Krieg ist ein Instrument der Politik« bedeutet, dass er den Krieg als ein Mittel für einen bestimmten politischen Zweck einschätzt. An anderer Stelle nutzt er denselben Begriff beispielsweise für Handlungen: »Der Marsch außer dem Gefecht ist also ein strategisches Instrument« (Vom Kriege, 273), oder im taktischen Bereich: »Eine Flankenstellung … ist ein Instrument« (Vom Kriege, 706). Im heutigen Sprachgebrauch wird der Begriff Instrument meist im Sinne eines Werkzeuges genutzt, das in sich strukturiert einer Wesenslogik folgt. Weitere sprachliche Ungenauigkeiten und definitorische Ungereimtheiten finden sich bei der Nutzung der Begriffe Friktionen, Wahrscheinlichkeiten und Zufälle, die im Theoriekapitel näher untersucht werden.

Die englische Ausgabe On War ist im Unterschied zu Vom Kriege millionenfach verkauft und wird weltweit als wichtiges Grundlagendokument für die Interpretation von Clausewitz genutzt. Dabei fehlt die begriffliche Präzision des deutschsprachigen Textes. Völlig überzogen ist es, eine Interpretation von Clausewitz mit Textpassagen von Kant und Hegel – verfasst in englischer Sprache – in die deutsche Sprache zu übersetzen und dann zu publizieren.

Strategie

In der Diskussion des Begriffes Strategie existieren vielfältige historische Begriffsinhalte neben modernen Interpretationen. Das Bestreben, Kriege geistig zu erfassen und Folgerungen zu systematisieren, ist mit dem vorher genannten mechanistischen Weltbild vereinbar. Nach dem Dreißigjährigen Krieg sind Kabinetts- und Staatenkriege vorwiegend ein Instrument der regierenden Monarchen, um Streitkräfte zur Durchsetzung ihres politischen Willens zweckrational einzusetzen. Die Weltkriege im 20. Jahrhundert verbinden mit ihren globalen Allianzen und zerstörerischen Ausmaßen des Flächenbombardements die Strategie mit fast allen Bereichen der menschlichen Existenz. Der totalen Mobilmachung folgt der totale Krieg. Mit der Entwicklung der Atombombe gibt es einen weiteren Quantensprung, der dem Menschen Waffen gibt, die geeignet sind, große Teile der Weltzivilisation zu zerstören. Eine Strategie, die sich auf das Kriegführen beschränkt, verliert ihren Stellenwert.

Mit dem Erscheinen des bereits erwähnten internationalen islamistischen Terrorismus in Verbindung mit Staatenzerfall und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen avanciert ein unerwartet komplexes Bedrohungsszenario, das in seinen Entwicklungen von der Beschleunigung der Zeit – im Sinne der Geschwindigkeit von Veränderungen – geprägt ist und von Angriffen aus dem Cyberspace weiter verschärft wird. Strategisches Handeln im 21. Jahrhundert ist eine Verknüpfung von globalen, transnationalen sowie regionalen und innergesellschaftlichen Methoden in einer in Echtzeit vernetzten Medien- und Finanzwelt. Migration- und Fluchtbewegungen, Waffenproliferation, internationale Kriminalität, störanfällige Seeverbindungen und Exportmärkte sowie der Teufelskreis aus Armut, Überbevölkerung, Ressourcenraubbau, Korruption und Gewalt, begleitet von Naturkatastrophen gewaltigen Ausmaßes und einem Klimawandel, sind als Einflussgrößen in einer strategischen Analyse mit zu berücksichtigen. Diese globalen Risikokombinationen werden verstärkt durch die wirtschaftliche und militärische Entwicklung aufstrebender Mächte wie beispielsweise der Volksrepublik China und den bevölkerungsreichen Demokratien Indien und Brasilien.

Angesichts dieser vielschichtigen Gefährdungen sind die innersten Zusammenhänge der Strategie zu entschlüsseln, Methoden der Einflussnahme und Gestaltung zu begründen und in einem öffentlichen Diskurs zu vermitteln. Das strategische Denken mit Blick auf die Verbindung der Zwecke mit den Mitteln ist mit den Fragen neu zu entwickeln: Wie handle ich, wenn Unerwartetes eintritt? Welche Alternativen habe ich und welche Reserven stehen mir zur Verfügung? Stattdessen ist eine Flucht in die Niederungen tagespolitischer Hyperaktivität und Illusion zu beobachten, die den Problemdimensionen nicht mehr gerecht werden kann. Nicht nur die qualitative, auch die dynamische Veränderung der Ereignisfolgen zwingt dazu, bisherige Methoden des Denkens und Handelns kritisch zu hinterfragen.

Entscheidende Voraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung politischer Vorstellungen gegenüber Konkurrenten sind: zweckrationale politische Ziele als Richtschnur, die Bereitstellung der erforderlichen Mittel und das Können der obersten Feldherren. Deren Kenntnisse und Fähigkeiten sind das Ergebnis langjähriger und intensiver Ausbildung mit dem Ziel, aufbauend auf die Praxis theoretisches Wissen zu vermitteln. Erst die Kombination von fundierter Bildung in Verbindung mit praktischer Erfahrung führt zum eigentlichen Können. Taktische Vorgehensweisen ohne Alternativen verbieten sich von selbst. Strategische Planungen sollten verschiedene ganzheitliche Optionen enthalten, deren erfolgversprechendste durchgeführt wird. Falls sich dieser Weg verstellt, werden alternative Planungen umgesetzt, die bereits vorher gründlich durchdacht worden sind.

Eine Synergie von Politik und Streitkräften kann nur auf der Basis einer Zweckorientierung, gegenseitiger Grundkenntnisse und vernunftgeleiteter Kooperation unter Einschluss wichtiger Einflussfaktoren gelingen. Sie verpflichtet die Politik und die Streitkräfte gleichermaßen zu einer gemeinsamen Beurteilung der strategischen Ausgangslage und nutzt die Expertise der Streitkräfte, um verschiedene Möglichkeiten des Handelns zu untersuchen, Konsequenzen einzelner Lösungsmodelle aufzuzeigen und abgewogene Empfehlungen als Entscheidungsgrundlagen im politischen Gesamtzusammenhang zu entwickeln. Dabei gilt der Primat der Politik: Nach intensiver Diskussion und kritischer Abwägung der Möglichkeiten des Handelns entscheidet die Politik über die Vorgehensweisen. Hier hat sich ein vielschichtiges Missverständnis breit gemacht. Der Primat der Politik ist ein dynamisches Prinzip, das vom Ergebnis her zu denken ist. Nach intensiver kritischer Beurteilung des Sachverhalts, in die Politik und Streitkräfte gleichermaßen involviert sind, trifft die Politik die Entscheidung. Der Primat der Politik ist kein Rede- oder Denkverbot für das Militär in sicherheitspolitischen Themen und darf nicht als Primat der Politiker missinterpretiert werden. Sonst wäre die Integration der Bundeswehr in Deutschland, Stichwort: Soldat als Staatsbürger in Uniform, ad absurdum geführt.

Kriegsplan

Eine Strategie verbindet, ganz allgemein formuliert, das Wollen mit dem Handeln auf abstrakter Ebene. Sie ist die Umwandlung der Politik in eine militärische Handlungsweise und legt den Zweck, die Prioritäten, Vorgehensweisen und erforderlichen Mittel fest. Strategie berücksichtigt interaktives Handeln einer ebenbürtigen Gegenmacht und die sie begleitende Friktionalität der Lageentwicklung. Sie schließt konzeptionelle, organisatorische und mentale Dimensionen des Entscheidungsprozesses mit ein und enthält Regeln. Sie ist nur in Bezug auf die ihr übergeordnete Zweckvorgabe, die alle relevanten Problembereiche mit ihren komplexen Dimensionen in einem Kriegsplan berücksichtigt, sinnvoll anwendbar.