Carved in Stone - T. Stern - E-Book

Carved in Stone E-Book

T. Stern

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Beschreibung

Im Jahre 1680 lebt der neunzehnjährige Aleksandar unter ärmlichsten Verhältnissen und eine hartnäckige Erkrankung droht ihn dahinzuraffen. Völlig unerwartet tritt der geheimnisvolle Nicholas in sein Leben und bietet ihm die Ewigkeit, wenn Aleksandar bereit ist, den Preis dafür zu zahlen. Durch seinen rettenden Engel eröffnet sich Aleksandar eine Zukunft, von der er nie zu träumen gewagt hätte. Gefestigt durch ihre Liebe und das Familienband der Romanovs erkunden sie gemeinsam die Ewigkeit, bis sich ihnen eine scheinbar unbesiegbare Gefahr in den Weg stellt. Die feurigen Fäden des Schicksals führen allesamt zum Schlüssel, der Antworten auf unzählige Fragen birgt: der steinerne Engel.

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T. Stern

Carved in Stone

Bloody Ages

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Titel

Vorwort

 

Das Buch:

 

Im Jahre 1680 lebt der neunzehnjährige Aleksandar unter ärmlichsten Verhältnissen und eine hartnäckige Erkrankung droht ihn dahinzuraffen. Völlig unerwartet tritt der geheimnisvolle Nicholas in sein Leben und bietet ihm die Ewigkeit, wenn Aleksandar bereit ist, den Preis dafür zu zahlen.

Durch seinen rettenden Engel eröffnet sich Aleksandar eine Zukunft, von der er nie zu träumen gewagt hätte.

Gefestigt durch ihre Liebe und das Familienband der Romanovs erkunden sie gemeinsam die Ewigkeit, bis sich ihnen eine scheinbar unbesiegbare Gefahr in den Weg stellt.

Die feurigen Fäden des Schicksals führen allesamt zum Schlüssel, der Antworten auf unzählige Fragen birgt: der steinerne Engel.

 

Der Autor:

 

«Ich schreibe und hoffe, meinen LeserInnen Gefühle vermitteln zu können und sie fühlen zu lassen. Ich wünsche mir, dass meine LeserInnen durch meine Augen sehen.»

T. Stern

Danksagung

 

Mein aufrichtiger Dank gilt der Wampüräh-Arbeitsgruppe:

Diana B.

Tirsi H.

Nadja F.

Nakia S.

Angelika J.

 

Ebenso an die Testleser:

Sandra G.

Beate M.

Anke L.

Jacqueline N.

Luna T.

 

Für Lektorat/Beta:

Wampüräh-Gruppe / Nadja F., Jacqueline N.

 

Und für den Klappentext:

Klappentextkätzchen

Prolog: Der steinerne Engel

  ~im Jahre 2019~

 

Eiligen Schrittes sprintete er den Weg entlang, der direkt zum gut verborgenen Eingang führte. Unaufhörlich prasselte der Regen zu Boden, hinterließ einen nassen, glänzenden Schleier auf der Umgebung. Dicke Tropfen trommelten auf den Untergrund, versammelten sich und formten Pfützen. Nach der Hitzewelle, die fast vierzehn Tage anhielt, konnte man allerdings nicht von einer Abkühlung sprechen. Ihm kam es vor, als würde ein Großteil des Wassers auf dem heißen Terrain schlichtweg verdampfen. Immerhin hätte es erklärt, weshalb die Luft, trotz zweistündigen Niederschlags, noch immer stickig, warm und vernichtend war.

Vor einer Stunde hatte ihn seine Truppe informiert, dass sie vermuteten, fündig geworden zu sein. So wirklich glauben konnte er es noch nicht. Zu groß war die Befürchtung einer erneut herben Enttäuschung.

Der Trampelpfad, nicht mehr als eine schmale erdige Rinne, die sich wie eine gebogene Linie durch wildgewachsenes, hohes Gras zog, führte ihn durch die Überreste eines alten Friedhofs. Die Verstorbenen, welche hier zur letzten Ruhe gebettet wurden, störten sich gewiss nicht an seiner Anwesenheit. Von den Gräbern war nicht mehr viel zu erkennen, lediglich die Grabsteine gaben Aufschluss, wo jemand vor langer Zeit seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Die schlichten Steine waren zu lange der gnadenlosen Witterung der Natur ausgesetzt, halb zerstört, halb von der Flora in Beschlag genommen. Kein Vergleich zu aktuellen Begräbnisstätten, die akribisch gepflegt und teilweise mit luxuriösen Gedenksteinen ausgestattet wurden. Heutzutage schien es nicht mehr mit der banalen Erinnerung an die Verstorbenen getan zu sein. Kaum vorstellbar, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen Menschen nicht den Hauch einer Möglichkeit hatten, um ihre verlorenen Familienmitglieder zu trauern. Es fehlte an Zeit und Platz, um allen eine gebührende Stätte unter der Erde zu errichten.

Der Tod kannte keine Gnade und er machte keine Unterschiede, wenn er sich mit Kriegen, Krankheiten und Hungersnöten vereinte. Nicht zu glauben, dass er sich sehr gut daran erinnerte. An Epochen längst vergangener Tage, von deren Existenz heute nur noch vage Niederschriften zeugten. Zu wenig, um das wahre Ausmaß brutaler Perioden verständlich zu machen. Die Menschen der heutigen Zeit blickten kaum zurück, um wahrzunehmen, welche Katastrophen und Dramen die Vergangenheit für ihre Vorfahren schrieb.

Die vom Efeu verschlungene Krypta betrachtete er nur flüchtig, fehlte ihm die Ehrfurcht, die er vor zwei Wochen verspürt hatte, als er sie das erste Mal erblicken durfte.

Unzählige Jahre verbrachte er bereits mit der Suche, reiste von einem möglichen Ort zum Nächsten, in der Hoffnung, endlich fündig zu werden. Zu oft hatte er solche Situationen bereits erlebt. Die Zuversicht, endlich Erfolg verbuchen zu können, wurde getrübt durch immer wiederkehrende Rückschläge. Es minderte nicht die Stärke seines Wunsches, war der Antrieb dahinter mehr als die Gier nach Reichtum. Das, wonach er seit so vielen Jahren suchte, war nicht in Gold aufzuwiegen. Es war ein Juwel, doch fern von jedem Edelstein.

Vorsichtig wischte er die hängenden Efeuranken zur Seite, schob sich gebückt ins Innere. Zwei Schritte waren nötig, um der Enge des steinernen Durchgangs zu entkommen und sich in einem ungefähr drei mal drei Meter großen Raum wiederzufinden. Die Luft war stickig und modrig, erfüllt von einer Schwere, die man dem Tod durchaus zuschreiben konnte. Sein Eindringen wirbelte Jahrhunderte alten Staub auf, doch vermochte dieser in der Dichte nicht wirklich weite Wege zu absolvieren, als würde die fehlende Luftzirkulation sogar die Gravitation aufheben.

Ohne lange Umschweife begab er sich zu einer gegenüberliegenden Öffnung. Zur Linken davon lagen die Steine, die sie aus dem alten, noch immer stabilen Mauerwerk geschlagen hatten, um den dahinter befindlichen, sonst nicht mehr zugänglichen Weg zu erreichen. Im Laufe der Jahre hatte er viele mögliche Orte aufgesucht, an denen er vermutete, zu finden, was er aus tiefstem Herzen begehrte. Immer wieder stellte er sich Gruppen aus fähigen Persönlichkeiten zusammen. Es war nicht schwer, sie für sein Vorhaben zu begeistern, denn was er suchte, war jedem bekannt, der es mochte, im Dreck der Vergangenheit zu wühlen.

Der steinerne Engel.

So betitelte man die von einem unbekannten Künstler erschaffene mystische Statue, deren bloßen Anblick man zuschrieb, die Menschen zu verzaubern. Unabhängig von den Geheimnissen, bezogen auf ihren Schöpfer, das verarbeitete Material und ihren Entstehungsprozess, ihre Herkunft oder gar ihr Auftauchen selbst. In den kurzen Phasen, in denen Forscher und Wissenschaftler Zugang zur Statue hatten, stellten sie Untersuchungen und Ermittlungen an, doch diese ergaben nichts. Dieses Kunstwerk barg etwas Magisches, das sich niemand erklären konnte. Genauso mysteriös war ihr stetiges Verschwinden. Rätsel um Rätsel. Doch über eines waren sich alle sicher: Der Anblick des Engels berührte die Seele.

Im Gegensatz zu allen anderen, die versuchten das Mysterium um den Engel aus Stein zu klären, wusste er jedoch mehr. Sehr viel mehr.

Ganz abgesehen davon, dass er den Pfad des Engels seit langer Zeit verfolgte, dabei über alte Schriften stolperte, die ihm immerhin einen Weg vorgaben, dem er folgen konnte, um den Engel wiederzufinden, war er der Zeuge unzähliger Vermutungen und Behauptungen. Doch sein Wissen war anders. Es beruhte auf Tatsachen. Er benötigte keine wissenschaftlichen Untersuchungen, keine ausufernden Vermutungen, denn er kannte den Engel, wusste mehr über ihn, als jemals irgendjemand wissen würde. Es war seine Aufgabe, ihn zu beschützen, nicht aus den Augen zu lassen, das Geheimnis hinter dem steinernen Engel zu wahren.

1833 erblickte das Kunstwerk das Licht der Welt, doch blieb es den Augen der Menschen bis ins Jahr 1846 verborgen. Erst als in Europa auf Grund wirtschaftlicher Schwierigkeiten, dem Wunsch nach persönlicher Freiheit und Mitspracherecht in politischen Bereichen eine Revolutionswelle ausbrach, in die viele Staaten involviert waren, geschah das Desaster. Während der Aufstände geriet er in Bedrängnis, musste untertauchen und als er zurückkehrte, war der Engel fort. Jemand hatte ihn gefunden und entwendet.

Nun gestaltete es sich schwerer als erwartet, eine lebensgroße Statue wiederzufinden, wenn man nicht wusste, wohin diese gebracht worden war. Jahrelang blieb der steinerne Engel verschollen, bis er eines Tages durch Zufall einen Bericht in einer Zeitung las, die von einer Museumsausstellung sprach, welche mit dem steinernen Engel warb. Die Reise begann und zog sich hin, hielt bis heute an. Denn immer wieder verschwand der Engel wie vom Erdboden, war nicht mehr aufzuspüren.

In dieser Zeitspanne folgte er dem Kunstwerk über die halbe Welt, bis die Spur ihn nach Deutschland führte. Doch bereits während seiner Reise dorthin, erfuhr er davon, dass der Krieg das Land eingeholt hatte. Der Zweite Weltkrieg ließ ihn zerschmettert zurück, mit der Befürchtung, der Engel wäre zerstört und sein größter Schatz damit für immer verloren. Jahre versank er in Finsternis, bis er sich selbst leid war und alle Dokumente der vergangenen Zeit erneut durchforstete, in der Hoffnung etwas übersehen zu haben. Und das hatte er.

Niemand war perfekt. Auch er nicht.

Zu seiner Überraschung hatte der Engel es wohl nie nach Deutschland geschafft, sondern war vorher gestohlen worden. So fing er erneut an zu recherchieren und ging jeder noch so kleinen Spur nach. Unzählige Länder, viele davon hatte er schon mehrfach in seinem Leben besucht, durchforstete er auf der Suche nach einer Statue, die für ihn von unvorstellbarem Wert war.

Aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Er hatte vor sehr langer Zeit ein Versprechen gegeben und dieses würde er halten.

So hegte er wieder einmal mehr die Hoffnung, dass endlich der Zeitpunkt gekommen war, an dem er den Engel nach einer grausamen Ewigkeit wiedersehen würde.

Zeit spielte für ihn keine Rolle. Er war kein Mensch. Nun, doch, eigentlich schon. Einst war er menschlich, doch wurde ihm die Last der Sterblichkeit genommen, ein Leben ohne zeitliche Begrenzung geschenkt. Allerdings ist nichts umsonst. Der Tribut für seine Gabe, sorglos die Zeit betrachten zu können, forderte natürlich Opfer. Die musste er bringen, größtenteils eher andere. Alles hatte seinen Preis. Vor allem die Ewigkeit.

Vampyr. Ein alter Begriff für das, was er verkörperte. Im Laufe der Zeit waren die Menschen sehr erfinderisch, wenn es darum ging, Behauptungen über diese Wesen aufzustellen. Betrachtete man jedoch die ersten Aufzeichnungen, die es über Vampyre gab, folgte dem Stammbaum dieser zurück, so wurde schnell klar, dass es Vampyre schon viel länger gab, als der menschliche Verstand es hinnehmen könnte.

Er musste es wissen, schließlich gehörte die Ahnenkunde zu den Themen, um die kein Vampyr herumkam. Heutzutage würde man sagen, er musste die Schulbank drücken.

Es gab viele Namen, die man ihnen gegeben hatte. Ebenso wurde noch immer viel über sie philosophiert. Nach wie vor hielten manche sie für einen Mythos, nicht real, etwas, was den Hirngespinsten damals verängstigter Dorfbewohner entsprungen war.

Vor allem in dem Land, aus dem er selbst stammte, war der Vampyr, wahlweise auch Vampir, ein Volksglaube. Noch heute ringen Ethnologen darum, eine sinnvolle Erklärung für diesen Mythos zu finden.

Doch in Rumänien, der Nation, in der er geboren worden war und einst gelebt hatte, war Aberglaube etwas tief Verwurzeltes. Gerade die ländlicheren Gegenden waren lange Zeit dazu verdammt, für unerklärliche Vorfälle eigene Erklärungen zu finden. Wissenschaftliche Forschungen fanden zwar irgendwann sinnvolle Begründungen, um den Mystizismus zu widerlegen und seine Existenz zu erklären, doch die Rumänen hielten an ihrer Folklore fest. Der Vampyr in seiner bekannten Darstellung zählte nicht dazu. Dieser wurde erst durch den Schriftsteller Bram Stoker geboren. Dracula. Eine literarische Erfindung, so sagte man. Ein Hauch Wahrheit jedoch wohnte dieser fiktiven Figur inne. Die Rumänen hatten weit vor dem allseitsbekannten Vampyr Namen für die bösen oder untoten Geister, die sich von menschlichem Blut und deren Energie ernährten. Strigoi.

Es lag so viel Faszination in der Vorstellungskraft der Menschen. Fürwahr, Einfallsreichtum war ihnen gegeben, vor allem dann, wenn sie sich etwas nicht rational erklären konnten.

Seufzend folgte er dem engen Gang, der ihn immer tiefer ins Nichts führte. Sein Herz füllte sich mit Leben und die Vorfreude wurde von Zuversicht geschürt. Blieb nur zu hoffen, dass es keine weitere Enttäuschung war, die auf ihn wartete.

«Aleksandar! Da bist du ja!», hörte er die aufgebracht klingende Stimme durch den Gang schallen, ehe ihn das grelle Licht der auf ihn gerichteten Taschenlampe kurz in den Augen blendete. Es brauchte nur ein Murren seinerseits, schon senkte sich der Lichtstrahl. Licht war etwas Wunderschönes, nicht aber, wenn einem damit in an die Dunkelheit gewöhnte Augen geleuchtet wurde. Finster lag der Weg vor ihm, tastete er sich aus Gewohnheit, nicht weil es nötig gewesen wäre, mit der Hand an den rauen Steinen entlang. Die Frau sah ihm freudig entgegen, musterte ihn, erfüllt von einem Hauch aufkommender Lust. Er nahm es hin, ignorierte es gekonnt. Es war ihm nicht fremd, solchen Blicken standzuhalten.

Aleksandar, so hieß er. Er wurde im Jahre 1661 in Ardeal, besser bekannt als Transsylvanien, als Aleksandar Dalca geboren. Im Jahr 1681, er zählte noch neunzehn Lebensjahre, erlebte er seine zweite Geburt. Insgesamt ergab sich eine Lebensspanne von 358 Jahren.

Zeit – für einen Vampyr hatte sie eine ganz andere Bedeutung, wenn sie überhaupt noch eine besaß.

Sein Team bestand aus acht Personen und zu seiner Überraschung, hielten es alle für nötig hier zu sein. Für gewöhnlich wechselten sie sich in zwei Schichten ab. Es schien also wirklich eine wichtige Entdeckung gemacht worden zu sein.

Aleksandar folgte der, gewiss durch die Situation bedingt, überdrehten Monique, deren Aufregung für ihn greifbar war. Sie führte ihn durch einen schmalen Gang, der vom Hauptgang abzweigte. Diesen musste sein Team erst entdeckt haben, zumindest kannte Aleksandar ihn noch nicht. Die Luft war schwer und bot nur wenig Sauerstoff. Kein Wunder, dass selbst Moniques zierlicher und sportlicher Körper, vor Schweiß nur so triefte. Aleksandar hingegen wies nicht eine Schweißperle auf. Er empfand gerade keinerlei Leidenschaft, weswegen sein Körper auf minimalem Energieverbrauch beschränkt blieb.

«Wir haben diesen Gang gefunden und sind ihm gefolgt. Er führte uns direkt vor das, weswegen wir dich hergebeten haben», erklärte sie ihm, ging unbeirrt weiter, leuchtete mit der Taschenlampe den Weg.

Es wurde gehörig eng vor ihnen, als sie auf die anderen trafen, die ihre Ankunft erwarteten. Ratlos waren sie, wenngleich sie wild am Fachsimpeln waren, was das vor ihnen Liegende zu bedeuten hatte und wie es ihnen gelingen könnte, die bleierne Tür zu öffnen. Aleksandars aufmerksamer Blick musterte jedes noch so kleine Detail. Die Tür war alt und aus hochwertigem Material, passte so gar nicht in die Katakomben eines alten Klosters. Ein bisschen wirkte es, als hätte man versucht, den Leibhaftigen persönlich auf ewig einzusperren. Viel war über das ehemalige Gebäude nicht mehr bekannt, nur dass es in einem Krieg zerstört und die Überreste seither dem Hunger der Natur und dem naturbelassenen Verfall überlassen worden waren. Oberirdisch erinnern verwitterte Grabsteine und zwei Grabkammern an den Friedhof, sowie von Efeu überwucherte Mauerreste, an das einst hier stehende Gebäude. Niedergebrannt und vollkommen zerstört, so hieß es in den alten Berichten. Doch Aleksandar fand mehr. Einen alten Plan, der darauf hindeutete, dass es unterirdische Katakomben gab. Wo, wenn nicht dort, war der perfekte Platz, um etwas zu verstecken, was Unruhe stiftete, weil jeder es für sich besitzen wollte? Zugleich konnten die gläubigen Bewohner so dafür sorgen, dass sie selbst in ihrem gottesfürchtigen Leben nicht in Versuchung geführt würden, der Götzenanbetung zu verfallen. Der steinerne Engel galt hier wohl mehr als Fluch, denn als wunderschöne Ikone.

Die Tür vor der er nun mit seinem Team stand, stählte seine Vermutung. Noch mehr aber, was er über dieser entdeckte. In dem umrahmenden Steinportal war im Bogenfeld oben eine Schmuckfläche eingearbeitet. Eine Art Wappen, das ein Symbol zeigte, welches seine Begleiter allem Anschein nach nicht kannten, doch Aleksandar wusste sehr wohl etwas damit anzufangen. Wer auch immer die Statue hier versteckt hatte, wusste genau, dass Aleksandar irgendwann kommen würde.

«Was bedeutet dieses Zeichen?», hörte er Ben fragen.

Auf Aleksandars Lippen bildete sich ein Grinsen, ehe er darauf antwortete: «Eine geheime Botschaft.»

Er verstand sie und wusste: Hier war er richtig!

Nach all den Jahren hatte er den Engel endlich wieder gefunden. Nur noch diese Tür trennte ihn davon, den so lange schmerzlich vermissten Anblick wieder genießen zu können.

«Die Tür kriegen wir nicht so einfach auf», stöhnte Bruno seinem Zwillingsbruder Ben entgegen. Die beiden waren nicht besonders schlau, aber sie konnten gut anpacken. Gerade, um Wege freizuräumen, waren sie perfekt. Doch an dieser Tür, musste sich Aleksandar eingestehen, würden auch die beiden lebenden Abrissbirnen sich die Zähne ausbeißen.

Wortlos drängte er sich nach vorne, kam direkt vor dem versperrten Durchgang zum Stehen.

«Wir haben schon alles versucht. Tritte, Schläge, sie auframmen», erklärte Ben überzeugt, lächelte Aleksandar über die Banalität, mit der gedacht wurde.

«Manchmal ist es nicht Gewalt, die eine Pforte öffnet, sondern Magie», erklärte Aleksandar und legte seine Hand auf das schwere Material des Türflügels.

«Romanov», raunte er mit tiefer Stimme und wie durch Zauberhand ertönte ein klickendes Geräusch, dem sofort ein weiteres folgte, ehe der alte Schlossmechanismus mit einem lauten Klacken aufsprang.

«Jetzt hilft nur rabiate Gewalt», machte Aleksandar Platz für Bruno und Ben, die sich kurz ansahen, die Ärmel hochkrempelten und sich mit vollem Körpereinsatz ins Zeug legten. Nur widerwillig gaben die alten Scharniere nach, doch die Zwillinge waren stur und sie gaben ebenso wenig auf.

Sie wurden von einem dunklen Raum empfangen, den Daniel sofort mit einer Taschenlampe erleuchtete.

Aleksandar schluckte schwer, denn schon jetzt erkannte er mehr, als alle anderen.

«Ich fasse es nicht!», entwich es Max und Sören, deren Augen sich wohl als Erstes an die Lichtverhältnisse angepasst hatten.

Aleksandar zögerte nicht länger, trat ein und steuerte direkt auf das zu, was mittig des Raumes auf ihn wartete.

«Mein Herz», flüsterte er, während seine Augen die nach wie vor makellose Statue in ihrer erhabenen Schönheit und magischen Perfektion betrachteten. Er trat direkt vor den Engel, sah ihm ins Gesicht, hob die Hand und legte sie auf die Wange der Figur. Was diese Statue so besonders machte, war nicht zwingend das Material, aus dem sie gefertigt wurde, geschweige denn das große Rätsel um ihre Herkunft oder ihren Schöpfer. Ebenso wenig war es die makellose Perfektion, das Sinnbild von engelsgleicher Schönheit, was die Menschen, die diese Skulptur bewunderten, verzauberte. Es war der Ausdruck in ihrem Gesicht. Schmerz, Sehnsucht, Melancholie, Liebe. Ewigkeit.

Aleksandar verringerte den Abstand zwischen ihren Gesichtern, küsste die steinernen Lippen des Engels und spürte sein Herz endlich wieder pochen. In dem Moment schlug hinter ihnen die Tür zu und fiel mit einem lauten Klacken ins Schloss. Schreckenslaute fluteten den Raum.

Nur Aleksandar blieb ruhig, lächelte und wich in eine dunkle Ecke zurück.

Vor 339 Jahren hatte er das erste Mal Lippen so süß wie diese geküsst.

173 Jahre hatte er darauf gewartet, das stumme Liebesgeständnis zu erneuern.

 

1. Der Tanz mit dem Sensenmann

 

~im Jahre 1680~

 

Das Leben im Fürstentum Siebenbürgen war alles andere als leicht. Wobei, das Leben an sich war eigentlich nie leicht, wenn man nicht gerade das Glück hatte, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren zu werden, was wiederum voraussetzte, dass man seine Geburt überhaupt überlebte.

Aleksandar Dalca zählte neunzehn bittere, von Armut, Verlust und Krankheit geprägte, Lebensjahre. Er hatte das Glück, das Licht der Welt zu erblicken, als einziges von vier möglichen Kindern. Vor drei Jahren versuchte seine Mutter dem vierten Kind, einem kleinen Mädchen, das Leben zu schenken. Es endete damit, dass die Kleine, kaum dass sie das Licht der Welt erblickt hatte, keinen einzigen Atemzug tat. Wenige Tage darauf, erlag seine Mutter den Strapazen der Niederkunft.

Für diese Zeiten war das nichts Außergewöhnliches. Immer öfter starben Kinder während der Geburt. Oft kostete es auch die werdenden oder erst gewordenen Mütter das Leben. Vielleicht war es für manche von ihnen der gnädigere Weg, denn so blieb ihnen ein von Verzicht, Leid und Krankheit geprägtes Leben oder Weiterleben erspart. Kinder großzuziehen war ein schweres Unterfangen, denn wo nichts war, wovon man sein Dasein bestreiten konnte, gab es auch nichts, um eine Familie zu ernähren. Wäre Aleksandar nicht schon gewohnt gewesen, dass der Tod ein tagtäglicher Begleiter war, hätte es ihn gewiss schwer getroffen. Doch für Trauer war keine Zeit, denn das eigene Überleben hing stetig am seidenen Faden. Im Verlauf von neunzehn Jahren lernte er schnell, dass der Tod oftmals noch die größte Gnade war, die einem widerfahren konnte.

Das ganze Leben war ein einziger Überlebenskampf. Es begann mit der Geburt und endete erst mit dem Tod.

Vor einem Jahr verlor er mit seinem Vater die letzte ihn unterstützende Kraft. Krankheit zwang ihn ins Bett, verschlechterte seinen Zustand von Tag zu Tag, plagten ihn Schmerzen und hohes Fieber. Aleksandars Bemühen ihm zu helfen war vergebens. Am Ende konnte er nur an seiner Seite weilen, ihm beistehen, während sein schwacher Vater um die Gnade des Todes flehte, gegen die Qual weiterzuleben, ankämpfte.

Er hätte Trauer verspüren müssen, als sein lieber Vater den letzten Atemzug tat, der ausgemergelte Körper endlich erschlaffte und jegliches Leben aus den blutunterlaufenen Augen wich, doch er war erleichtert. Froh darum, dass das Elend ein Ende hatte, sein einstiger Beschützer nicht länger leiden musste.

Neunzehn Jahre jung und in einer brutalen, harten Welt auf sich alleine gestellt. Egal wie viel er von seinen Eltern gelernt hatte, nichts machte es leichter, zu überleben. Sie waren schon immer arm, hatten kaum genug, um wirklich satt zu werden, dennoch waren sie glücklich, denn sie hatten sich.

Aleksandar hatte nun ausschließlich seine eigenen Sorgen zu tragen. Nur noch ein hungriges Maul zu stopfen, doch nicht mal dafür gab es genug. Frühling und Sommer waren leichter zu ertragen als der Herbst, doch am schlimmsten war der Winter. Keine Beeren, Pilze oder Früchte. Kein Grün. Selbst die Tierwelt verkroch sich während der eisigen Monate.

An manchen Tagen stand er noch vor der Sonne mit Hunger auf, um mit demselben am Abend ins Bett zu gehen. Schlaf war kaum zu finden, denn die Hütte war kalt. Es zog durch alle Ritzen, genügte das Feuerholz nicht, um für ordentliche Wärme zu sorgen.

Aleksandar hasste Kälte, fast so sehr wie Hunger. Ihm erschien es gnädiger im Schlaf überraschend vom Frost dahingerafft zu werden, als ständig zu hungern und den langsamen Verfall seines Körpers zu spüren.

Verzweifelt kauerte er sich enger zusammen, zog das alte Bärenfell höher und hoffte darauf, dass es ihn irgendwann noch einmal wärmen würde. Doch die Hoffnung blieb vergebens.

Die Feuerstelle war kalt, kein Holz mehr da, um für Wärme zu sorgen. Es gab nur noch das alte Nachtlager, in dem seine Eltern einst schliefen. Das, in dem seine Mutter ihn und drei tote Kinder geboren und letztlich ihren letzten Atemzug darin getan hatte. Wie auch sein Vater vor einem Jahr.

Das feuchte Stroh lieferte keine Wärme, war klirrend kalt und noch weniger bot es Schutz vor dem harten Holz darunter.

Vor den zwei Fenstern, deren kaputte Fensterläden schon lange nicht mehr schlossen, die mehr auseinanderfielen, als dass sie einen Nutzen hatten, hingen die spärlichen Überreste von Stoff, mit dem sie schon damals die Kälte abwehren wollten. Nutzlos. Der Wind und der Frost pfiffen durch jede Ritze ins Innere. Die von jahrelanger Witterung zersetzten, morschen Bretter, knarzten, knackten, doch boten sie seit Langem keinen Schutz mehr.

Sein Umfeld war ein ebenso trostloser Ort, wie es sein Herz geworden war. Jegliche Freude, Lebensmut und Überlebenswille schon seit geraumer Zeit erloschen.

Einem kläglichen Wimmern, ob der Kälte, die an seinem Körper nagte, wie Ratten an einem Kadaver, folgte ein tiefes Luftholen. Schmerz durchzuckte seinen hageren Leib, brannte in seinem Oberkörper, als würden Flammen in ihm toben. Sie jagten ihm eine vorgetäuschte Hitze in die Glieder, welche eine eisige Kälte hinterließ, kaum dass sie erloschen war.

Er war krank. Das wusste er. Schon seit Tagen hatte er Schmerzen beim Atmen. Sein Oberkörper fühlte sich entweder fast taub an oder wurde von stechenden Beschwerden geplagt.

Unweigerlich lenkten sich seine Gedanken immer mehr zu seinem Vater. Vielleicht würde er genauso enden wie er. Aleksandar hoffte innigst, dass der Tod ihm gnädiger gesonnen war und er keinen langen Tanz mit ihm führen musste. Wobei, eigentlich tat er genau das bereits seit seiner Geburt. Bisher verschmähte ihn der knochige Tänzer der Erlösung lediglich.

Ein Lächeln schlich sich auf seine trockenen, spröden Lippen, als der Gedanke sich manifestierte, dass sein Elend womöglich bald ein Ende haben könnte.

Er würde den Schmerz nicht mehr wahrnehmen, den Hunger nicht mehr verspüren, der in seinem Bauch tobte wie ein Sturm, und er müsste sich keine Sorgen mehr darüber machen, wie er den nächsten Tag überstehen sollte.

Es wäre einfach vorbei. Alles Leid, jegliche Pein, die endlose Qual. Es würde endlich aufhören.

Der Hunger und die Kraftlosigkeit rissen ihm die Lider nieder, sog die Dunkelheit ihn in ihre Endlosigkeit, doch war es kein friedvoller Schlaf, der ihn erwartete.

_.~~°~~._

Als Aleksandar die Augen öffnete, spürte er die Veränderung sehr deutlich. Er rang nach Luft, vermochte nur noch kaum spürbar zu atmen. Sein Brustkorb schmerzte und ihm war so kalt wie nie zuvor. Der Versuch, sich zu bewegen, entlockte ihm ein schmerzvolles Ächzen. Es fühlte sich an, als wäre das Bärenfell an ihm festgefroren, als er seinen Arm hervorholte, um sich mit der Hand über die Stirn zu wischen.

Schweiß. Eiskalt. Es wurde schlimmer. Sein Zustand verschlechterte sich zunehmend. Selbst das Schlucken bereitete ihm Probleme, fühlte sich seine Kehle zugeschnürt an.

Wenn er hier liegen blieb, würde sich sein Ableben gewiss noch hinziehen. Wahrscheinlich über Tage. Vielleicht sollte er sich aufraffen, rausgehen und die Kälte des Winters nachhelfen lassen. Die Vorstellung erschien ihm verlockend. Sicher wäre es angenehmer, von der Kälte zerfressen zu werden, als hier weiterhin mühselig und elendig dahinzusiechen, bis der Knochige sich gnädig zeigte, ihn zu besuchen.

Nur wie sollte er die Kraft dazu in seinen schwachen Leib bekommen? Genügte es als Antrieb, ein schnelles Ende in Aussicht zu haben?

Aleksandar hörte in sich, vernahm das Rasseln bei jedem Atemzug, den er tat. Er war fiebrig, sein Körper schwach, doch sein Wille festigte sich, Gevatter Tod zuvorzukommen.

Er sah es als nahende Erlösung, nutzte die Wärme des Fiebers in seinem dröhnenden Kopf, schob das alte Bärenfell beiseite und kämpfte sich langsam in eine aufrechte Position. Als er saß, sah er sich um. Der Weg zur Tür erschien elend lang, doch war es das Einzige, was er überwinden musste. Erst einmal vor der Tür, könnte er sich getrost in den Schnee fallen und die Kälte ihren Zauber vollbringen lassen.

Rettung musste er nicht fürchten. Schon seit langem waren die wenigen umliegenden Häuser unbewohnt, die kläglichen Überreste dem Verfall überlassen worden, nachdem die einst dort lebenden Familien entweder weitergezogen oder verstorben waren. Es lebten ohnehin nie viele Menschen in der Umgebung, aber jene, die es taten, kämpften immer um Vorräte. Jegliche Ressourcen waren knapp. Seine Eltern und er waren die Letzten, die hier gelebt hatten. So bitter es klang, er war der Allerletzte, der hier lebte, und er würde ebenso der Allerletzte sein, der hier sterben würde. Zumindest vorerst. Was nach ihm mit dieser Gegend geschah, das vermochte er nicht vorherzusagen. Es war möglich, dass hier irgendwann wieder Familien siedeln würden. Mitbekommen würde er es nicht mehr.

Aleksandar sah seine Zeit gekommen.

Ein letztes Mal musste er sich alles abverlangen, seinen ohnehin halbtoten Körper in Bewegung setzen und das Unvorstellbare vollbringen. Nach draußen gehen, um sich der eisigen Kälte in den Schoß zu werfen.

Vier Versuche waren nötig, ehe er es schaffte, aufzustehen. Seine Beine waren kaum in der Lage sein Gewicht zu tragen. Sein Allgemeinzustand war bereits sehr schlecht. Er war schon immer dürr, doch die letzten Monate waren härter als die Zeiten zuvor. Haut und Knochen, das war von ihm übrig geblieben. Ein Skelett, gehalten von schwachen Muskeln, die kaum mehr fähig waren, koordinierte Bewegungen zu vollbringen.

Mühsam schleppte er sich über den feuchten Boden, kroch die Kälte durch seine nackten Fußsohlen empor, fing an ihn von unten herauf zu verschlingen.

Die löchrige Leinenhose wurde nurmehr vom Schmutz zusammengehalten. Er bekam sie von seiner Mutter zum fünfzehnten Geburtstag. Es war üblich, dass gerade bei ärmeren Familien die Kleidung über Jahre getragen wurde. Wie sollte man sich auch etwas Neues leisten? Das Oberteil aus demselben Material sah nicht besser aus. Beides spendete weder Wärme noch Schutz, doch wenigstens verbarg es seine Blöße.

Jeder Schritt kostete ihn viel Mühe und Kraft. Er brachte alles auf, was er irgendwie aus seinem todesnahen Leib pressen konnte, um die Tür zu erreichen.

Erschöpft, zugleich aber auch erleichtert, stieß er sie auf, empfing ihn kalter Wind, schmeichelte seiner Haut, erklomm ihn die frostige Erlösung und ergriff Besitz von ihm.

Gleich hatte er es geschafft. Seine Füße versanken im Schnee, schaffte er nur zwei Schritte, ehe er stehenblieb und seinen Blick schweifen ließ.

Welch unfassbare Schönheit selbst in diesem Zauber des eiskalten Todes lag. Weiß, wohin seine Augen auch blickten. Es hatte aufgehört zu schneien. Die grauen Wolken machten Platz und zeigten einen lieblichen Blauton, der ihn an den Sommer erinnerte. An Zeiten, wo alles noch besser gewesen war.

Das Kribbeln in seinem Brustkorb nahm zu, übermannte ihn der Husten. Vor Schmerz krümmte er sich nach vorne, ergriff ein düsterer Nebel Besitz von seinem Sehvermögen, verschwamm alles und er vermochte nicht mehr klar zu sehen.

Insgeheim kam in ihm die Frage auf, wie es sich anfühlte zu sterben? Tat es weh? Mehr als er jetzt schon unter den Schmerzen litt, die ihn fest umklammert hielten, jegliche Kraft aus seinem ausgezehrten Leib pressten?

Kaum glaubte er, der Reiz wäre vorbei, erlag er erneut dem Kratzen in seinem Oberkörper. Immer wieder raffte der Husten ihn nieder. Mit jedem Mal schmerzte es mehr. Als würde sein Atemorgan in seinem Brustkorb zerreißen. Stechend und durchdringend bis in die letzte Faser, mit jedem Atemzug mehr, als würde ihm sein Körper das Weiterleben verwehren. Verwunderlich war es nicht. Er hoffte doch genau darauf. Nein, eigentlich wünschte er sich ein schnelles Ende. Nicht noch mehr dieser Qualen, seinen bis ins Mark geschwächten Körper noch länger zum Weitermachen antreiben zu müssen.

«Sei mir gnädig, Gevatter Tod», flüsterte er schwach, war es mehr ein leises Krächzen, welches seiner rauen Kehle entwich.

«Tu es schnell», fügte er hinzu, gab nach und sank auf die Knie. Das Aufkommen im weichen Bett aus Schnee schmerzte. Es gab nichts, was er tun konnte, ohne das Leid in seinem Leib zu spüren.

Wie lange es wohl dauern würde, bis es vorbei wäre? Das war die Frage, die ihm unentwegt durch den Kopf fegte, dafür alles andere verdrängte. Für einen kurzen Moment zumindest. Dann kamen die Erinnerungen. Memoiren an längst vergangene Tage seines bitteren Lebens.

Seine Mutter, deren Liebe ihn in jungen Jahren nährte, selbst wenn das Essen oftmals nicht reichte, um den Magen zu füllen. Sein Vater, der ihn lehrte, welche Pilze und Beeren essbar waren, immer darum bemüht, seinem Sohn zu zeigen, dass man auch mit wenig glücklich sein konnte.

Nun kam ihm die Frage, was seine Eltern von ihm denken würden, wüssten sie um sein Bestreben. Würden sie es verstehen? Wären sie gar wütend, da er das ihm von ihnen geschenkte und ermöglichte Leben so leichtfertig aufgab?

Doch was sollte er tun? Was blieb ihm übrig?

Er war krank. Der Hunger trieb ihn in den Wahnsinn. Ihm fehlte jegliche Kraft, um weiterzumachen. Nicht einmal ein Funke Hoffnung war da, der den Lebenswillen wieder hätte entfachen können. Aleksandar war am Ende. Und er beschloss, sich nicht dafür zu schämen, genau dies anzuerkennen und sich dem zu fügen, was unausweichlich war. Sein Ende.

Plötzlich vernahm er Geräusche. Solche, die er hier in dieser verlassenen Einöde das letzte Mal vor langer Zeit gehört hatte. Es dauerte eine Weile, bis er erkannte, worum es sich handelte.

Langsam drehte er den Kopf zur Seite, erfasste einen dunklen Fleck im weißen Umfeld, der alsbald von den wabernden schwarzen Schleiern, die seinen Blick immer weiter trübten, unkenntlich gemacht wurde. Was auch immer es letztlich war, kam näher.

Knarzendes Holz. Etwas gab quietschende Geräusche von sich. Lautes Schnauben, welches von Anstrengung zeugte. Schritte von vielen Füßen. Nein, von Hufen.

Eine Kutsche? Hier? Um diese Zeit? Wer konnte so verzweifelt sein hierher zu reisen? Er senkte seine Lider zur Hälfte, wollte die Außenwelt nicht länger wahrnehmen, bewunderte die weiße Pracht kleiner Eiskristalle direkt vor sich, entwich ihm ein tiefes Seufzen.

Was kümmerte es ihn? Wer es sich leisten konnte, in einer Kutsche herumzufahren, der musste sich keine Gedanken ums Überleben machen. Das war ein Luxus, den sich nur wenige erlauben konnten. Wer auch immer sich hier auf Durchreise befand, würde kaum Notiz von ihm nehmen und wenn doch, dann würde man ihn ignorieren, als einen von vielen, den die Hungersnot oder eine Krankheitswelle dahingerafft hatte.

Um Abschaum trauerte hier niemand.

Aleksandar lächelte bei dem Gedanken, dass wenigstens jemand um seine Eltern trauerte. Er selbst.

Wer würde ihm einen letzten Gruß senden, wenn er den letzten Atemzug getan hatte? Niemand. Es war niemand hier, der das hätte tun können. Er war der Letzte.

Die Kutsche fuhr weiter, machte keine Anstalten anzuhalten. Wenigstens, so dachte er, könnte er in Würde verrecken und musste nicht befürchten, dass ihm irgendwer dabei zusah. Wahrscheinlich noch angeekelt über sein Auftreten, angewidert von seinem Erscheinungsbild. Erzürnt über sein Dasein, genießend, wie er sich quälte, ehe der Tod endlich Erbarmen haben würde.

Ein letztes Mal erlag er dem Reiz des Hustens, nahm den Schmerz hin, führte sich vor Augen, dass es bald aufhören würde, wehzutun. Mit einem schweren Seufzen gab er auf, lag im weichen Bett aus kaltem Schnee und war bereit, endlich alles Leid für immer hinter sich zu lassen. Innigst hoffte er, dass es nach dem Tod nicht genauso schrecklich weitergehen würde. Er wusste nicht, was danach passierte, ob etwas Folgendes kam. Grundlegend war es ihm auch egal. Für den Moment wollte er einfach nur frei sein. Frei von all den Zwängen des Lebens.

Er schloss die Augen, lächelte und glaubte, Gevatter Tod käme ihm endlich versöhnlich entgegen. Schritte vernahm er, die auf ihn zuhielten. Es waren die von Hufen. Sie verstummten so plötzlich, wie sie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Lautes Schnauben war zu hören, ehe das leise Wiehern eines Pferdes folgte. Der Tod ritt auf einem Pferd? Nun, wieso auch nicht? Weshalb sollte er alle Wege zu Fuß zurücklegen? So viele Leben, wie er täglich nahm, war ein Pferd eine deutlich angenehmere und schnellere Möglichkeit der Reise.

Ein dumpfer Ton verwirrte Aleksandar. Anscheinend war der Knochenmann vom Rücken des Reittiers gestiegen, doch klang es nicht danach, als wären es nur Gebeine.

Er wollte doch nur sterben, sein eigenes Leid beenden.

Dem Drang die Augen zu öffnen, konnte er nicht widerstehen. Wer konnte schon sagen, wer da neben ihm war?

Vielleicht war es der Tod und er wurde immer falsch beschrieben? Oder war es am Ende vielleicht doch jemand oder etwas anderes?

Die dunklen Schleier vor seinen Augen wollten nicht weichen. Umso überraschter war er, als er etwas auf seiner Wange spürte. Es war warm und sanft, gefolgt von einer Geste, die ihm die langen dunklen Haarsträhnen nach hinten wischte.

«Bleib bei mir», sagte eine Stimme, deren wohliger Klang Aleksandar fast so sehr einlullte, wie der Nachdruck, mit dem sie zu ihm sprach.

Diese Wärme auf seiner Haut wirkte verlockend, führte ihn in Versuchung, fast so sehr wie die liebliche Klangfarbe dieser wenigen Worte.

Wer oder was war das? In dieser verlassenen Einöde hatte sich Gottes Gnade in all den Jahren nie blicken lassen. Warum sollte es sich ändern?

Dennoch vermochte Aleksandar nicht, dass seine Gedanken unermüdlich um diese eine Vermutung kreisten.

Ein Engel.

2. Die Gnade eines Engels

 

Den Tod hatte er sich immer anders vorgestellt. Gehörten Erzählungen nach, handelte es sich dabei um den knöchernen Mann, der sein Antlitz manchmal hinter einem schwarzen Gewand verbarg. Was Aleksandar zu erkennen glaubte, war von diesen Überlieferungen jedoch weit entfernt.

Engel. Das war das Wort, welches jeden anderen Gedanken aus seinem Kopf drängte. Es blieb zugegen, die ganze Zeit, selbst als er in die Schwärze der Erschöpfung sank und dieser nicht mehr entkommen konnte.

War dies der Tod? Würde er nun so weiterleben? Körperlos? Seine Seele gefangen in einem Zustand, ähnlich des Schlafens?

Wenigstens, so stellte er erleichtert fest, war es hier nicht kalt und der Schmerz, der seinen Körper so lange in eiserner Klaue hielt, ließ endlich nach.

Es war befremdlich. Körperlos konnte er nicht sein, denn er fühlte leichte Wärme, die sich dem Eis in seinen Knochen entgegenstellte, spürte Bewegung, obwohl er sich sicher war, keinen Schritt tun zu können. Sein Kopf schien ihm Streiche zu spielen. Vielleicht waren es die Erinnerungen an sein Leben? Er wusste es nicht, aber es verlor immer mehr an Bedeutung, als er sich der betörenden Umarmung der Behaglichkeit ergab und mit einem seligen Seufzen erneut in die Stille der Dunkelheit abtauchte.

_.~~°~~._

Gleichmäßige Bewegungen nahm er wahr, als er die Augen einen kleinen Spalt aufschlug. Er war nicht tot. Der Knochenmann hatte ihn erneut verschmäht, gewährte ihm nicht die Gnade des ewigen Friedens und der Schmerzlosigkeit.

«Schlaf, mein Prinz», hörte er die Stimme mit dieser wohlklingenden Sprachfärbung, die ihn tief im Herz berührte. Erklären konnte es sich Aleksandar nicht. Eine unvorstellbare Hitze flutete seinen Leib von innen heraus und ließ ihn erneut die Augen schließen, kehrte er in die Schwärze zurück, den Zustand der Schwebe zwischen Leben und Tod.

_.~~°~~._

«Nimm ihn. Sei vorsichtig.»

Wieder diese reizende Aussprache, die ihm unter die Haut ging. Das starke Rollen des R. Diese gewisse Schärfe, die jedem Wort innewohnte. Vielleicht war das normal, Aleksandar konnte es nicht wissen. Sein Leben beschränkte sich auf das Umfeld der Hütte. Anderen Menschen begegnete er sehr selten, was unweigerlich dazu führte, dass es nie zu Gesprächen kommen konnte, die sein Weltbild vielleicht erweitert hätten.

«Er ist sehr schwach», ertönte eine tiefere Stimme mit derselben Betonung der Worte, dennoch fehlte ihr der melodiöse Klang. Zumindest empfand Aleksandar es so.

«Ich weiß. Aber ich konnte ihn nicht liegen lassen», rechtfertigte sich der andere.

«Dem Tod näher als dem Leben. Krankheit zerfrisst seinen Körper von innen heraus. Seine Aussichten sind düster, Nicholas.»

Diese Aussagen überraschten Aleksandar weniger. Er wusste selbst, dass er am Ende war, nur schien der Tod ihn erneut nicht beachten zu wollen, als hätte er die Gnade der Erlösung nicht verdient.

Nicholas. Ein schöner Name. Nur schwach konnte Aleksandar ihn erkennen, als er auf ihn zutrat und sich neben ihm niederließ, aber es genügte, um ihn als Engel zu manifestieren.

Rettung. Vielleicht verschmähte der Tod ihn, weil Aleksandar noch nicht bereit war, zu gehen. Doch was hielt ihn am Leben?

Er war schwach und krank, da war keine Aussicht auf Besserung. Auf ewig würde er dieses trostlose, von Schmerz und Hunger geprägte Leben führen. Wie hätte er daran etwas ändern sollen, wie dem sich stetig drehenden Mühlrad entkommen?

«Ich gebe ihn nicht auf! In ihm brennt Feuer!»

Aleksandar zuckte zusammen, als er den grollenden Unterton wahrnahm, der so gar nicht nach lieblicher Melodie klang.

«Diese Flamme ist bereits erloschen, die Glut kaum mehr am glimmen.»

Bewegung. Vermutlich Schritte. Aleksandar fragte sich, wie viel Kraft diesen Männern innewohnen musste, wenn sie seinen Körper ohne einen Laut der Anstrengung tragen konnten. Dann kehrte die Erkenntnis zurück, dass er durch den anhaltenden Hunger nur noch Haut und Knochen war.

«Helena, wir brauchen heißes Wasser. Isabella, kümmere dich um Essen und Trinken. Sébastien, frische Kleidung und Felle. Nicholas, entzünde das Feuer im Kamin. Du wirst dich um ihn kümmern, ich helfe nur am Anfang, so bleibt mir der Schmerz des Verlustes erspart.»

Aleksandar versuchte vergebens, die Augen zu öffnen, doch waren seine Lider bleischwer.

«Danke, Vater.»

Viel lieber hätte Aleksandar weiter zugehört, doch da war wieder diese grenzenlose Erschöpfung, die ihn gnadenlos mit sich riss und deren dunkler Umarmung er nicht entfliehen konnte.

Doch er fühlte, spürte die vorsichtigen Bewegungen, die man seinem hageren Leib aufzwang, gefolgt von zärtlichen Berührungen, die eine reinigende Wirkung hinterließen. Stück für Stück wich die Kälte aus seinem Körper. Wärme legte sich auf seine Haut und drang langsam in sein kühles Fleisch vor. Vielleicht würde er sterben, doch es war beruhigend, dass er dabei nicht alleine sein musste.

_.~~°~~._

«Aufwachen, mein Prinz», flüsterte die liebliche Stimme ihm zu, wurde Aleksandars Oberkörper aufgerichtet. Der Antrieb war da, doch die Umsetzung alles andere als einfach.

«Hier, trink.» Diesen Worten folgte etwas, was sich gegen Aleksandars Lippen drückte. Wie ferngelenkt teilte er diese und Wasser flutete seinen Mund. Es tat so unfassbar gut, dass ihm nur wegen etwas Flüssigkeit die Tränen in die geschlossenen Augen stiegen. Eifrig, aus Angst die Quelle würde versiegen, nahm er den Mund voll, doch das Schlucken bereitete ihm Probleme. Schon musste er husten. Da war er wieder, der Schmerz, vor dem er sich beinahe in Sicherheit gewogen hatte. Sein Oberkörper bebte und das Stechen bei jedem Atemzug entlockte ihm ein gepeinigtes Keuchen.

«Langsam», beruhigte ihn sein Nebenmann, tupfte das Wasser von Aleksandars Kinn. «Nicht so übereifrig», fügte Nicholas hinzu und klang dabei keineswegs vorwurfsvoll.

Zu gerne hätte Aleksandar ihn angesehen, hoffend, dass er mehr von diesem engelsgleichen Wesen erkennen könnte, als beim ersten Mal. Verschwommen und vage, so hatte er ihn wahrgenommen, konnte er sich nur ausmalen, welch wunderschönes Wesen sich hinter dieser reizenden Stimme verbarg. Dennoch genügte es ihm, um diesen Unbekannten als Engel zu betiteln. Da war nie etwas Schöneres gewesen, was Aleksandars Augen je erblickt hatten.

«Hier. Versuch zu essen. Langsam.»

Essen? Aleksandar wusste nicht, wann er zuletzt etwas gegessen hatte. Dann stieg ihm ein verlockender Geruch in die Nase. Gekochtes Gemüse. Was hatte er es als Kind geliebt, wenn es Eintopf gab. Sehr selten war dies der Fall, doch die Erinnerung an die weichgekochten Wurzeln, an ihren Geschmack, blieb erhalten. Über all die Jahre.

Warum? Weshalb kümmerte sich Nicholas um ihn? Aleksandar war dem Tod geweiht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die allgemeine Schwäche seines Körpers oder die sich darin eingenistete Krankheit ihn dahinraffen würde. Wieso machte dieser Fremde sich all die Mühe?

Vielleicht wollte er Aleksandar einfach nur eine letzte schöne Erinnerung mit auf den Weg geben. Ein schöner Gedanke. Vielleicht der Schönste, den er seit sehr langer Zeit hatte.

«Nicht weinen», vernahm er es sanft direkt neben sich, als ihm erneut ein saftiges, weiches Stück Rübe in den Mund gesteckt wurde.

Wie nah dieser Nicholas ihm war, schaffte es nur hin und wieder in Aleksandars Kopf, war er viel zu beschäftigt damit, diesen wunderbaren Geschmack in seinem Mund zu genießen.

«Und? Isst er?», wollte die Stimme einer Frau wissen.

«Ja», teilte Nicholas ihr mit. Aleksandar glaubte Erleichterung in der Stimme seines Versorgers zu hören. Doch wieder schaffte es ein einfaches Stück gekochte Wurzel, seinen Kopf leerzufegen.

«Nicht zu viel auf einmal, Nicholas. Er hat lange nichts gegessen. Wenn du ihm zu viel gibst, wird er erbrechen.» Zu dieser Aussage gesellte sich eine weiche Berührung auf seiner Stirn. Ein lieblicher Duft kroch in seine Nase und berauschte ihm die Sinne.

«Er hat Fieber, ist sehr schwach. Hoffe nicht zu viel, Nicholas. Es erspart dir vielleicht eine bittere Enttäuschung, wenn der Tod ihn dir nimmt.»

Aleksandar lauschte aufmerksam, doch blieb es für einen Augenblick still, bis Nicholas sprach: «Den Tod muss man nicht fürchten, nur die Ewigkeit in einer Hölle finsterer Erinnerungen.»

«Du bist und bleibst ein Poet der dunklen Worte. Warum er?»

Die letzte Frage brannte Aleksandar selbst auch schon mehrfach im Kopf. Wieso ausgerechnet er? Warum versuchte Nicholas ihm zu helfen?

«Seine Augen», erfolgte die Antwort. «Das sehnsüchtige Verlangen nach Erlösung durch den Tod, ein Ende dieses unwürdigen Lebens, geprägt durch Schmerz, Leid und Qual. Zugleich der Wunsch, nicht alleine sein zu müssen, wenn der letzte Atemzug über seine Lippen kommt.»

Erneut herrschte kurz Stille, wieder war es Nicholas, der sie brach: «Er will nicht sterben, Isabella, aber er weiß, dass er es muss, weil er keine Aussicht auf ein besseres Leben hat.»

«Und du denkst, du kannst ihm ein besseres Leben ermöglichen?», entgegnete die Frauenstimme, schwang eine Art Bedauern darin, was bei Aleksandar für Unwohlsein sorgte.

«Ist das, was wir Leben nennen, wirklich besser?» Nicholas klang wütend und verzweifelt zugleich.

Der einkehrenden Stille folgten Schritte, kurz darauf glaubte Aleksandar, dass die Tür geschlossen wurde. Sie waren wieder alleine. Er und sein geheimnisvoller Engel.

«Sie hat Recht. Wir sollten es mit dem Essen nicht übertreiben. Ruh dich aus, mein Prinz. Ich bleibe bei dir. Wenn du Hunger oder Durst hast, lass es mich wissen.»

Ausruhen. Aleksandar wusste, dass er genau das tun musste. So ergab er sich erneut der wohligen Umarmung des Schlafes, umhüllt von Wärme, mit gefülltem Magen und der Gewissheit, dass er nicht alleine war.

_.~~°~~._

Ein Zeitgefühl hatte Aleksandar sowieso nie wirklich besessen, half ihm nur der Wechsel von Tag und Nacht oder der Stand der Sonne, sich zurechtzufinden. Hier jedoch blieben ihm diese Hilfen verwehrt, weswegen er, auch durch die ständigen Schlafphasen, unmöglich bestimmen konnte, wie lange er bereits im Hause seines Retters verweilte. Unermüdlich hatte Nicholas ihn immer wieder geweckt, um ihm Wasser und Nahrung zu reichen. Die anhaltende Wärme und das regelmäßige Essen wirkten Wunder, fühlte sich sein Körper schon stärker, wenngleich der Husten ihm nach wie vor zu schaffen machte.

Diesmal aber verließ er die Dunkelheit mit einem ungewöhnlichen Antrieb. Aleksandar fühlte sich, als würde er vor Kraft strotzen. So gelang es ihm das erste Mal, seit er hier war, die Augen zu öffnen, weil das bleierne Gefühl aus seinen Lidern verschwunden war. Vorsichtig sah er sich um, doch verlor alles an Bedeutung, als er ihn erblickte.

Da saß er, zwischen Kamin und Bett, auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, vertieft in ein Buch.

Noch nie zuvor hatte Aleksandar etwas Schöneres als diesen jungen Mann gesehen. Kein Sonnenaufgang, kein klarer Sternenhimmel konnte mit Nicholas konkurrieren.

Plötzlich richtete sich der Blick aus unbeschreiblichen Augen auf ihn. Aleksandar stieg Hitze in den Leib. Er spürte deutlich, dass sein Herz in eminenter Raschheit schlug.

«Sieh an, mein Prinz ist erwacht. Hunger? Durst?», fragte er ihn und legte das Buch beiseite. Unschlüssig, was er mehr bewundern sollte, Nicholas oder das Buch, wechselte Aleksandars Blick mehrmals hin und her. Der hübsche Mann stand auf, was den Mittelpunkt von Aleksandar unweigerlich auf den bildschönen Fremden zog. Mehr oder weniger fremd. Aleksandar kannte Nicholas nicht, dennoch wusste er durch die geführten Gespräche anderer, mehr über ihn als sein Gegenüber von ihm.

Wie selbstverständlich half diese faszinierende engelsgleiche Schönheit ihm wieder, sich aufzusetzen. Ein zusammengerolltes Fell gab die nötige Stütze in Aleksandars Rücken.

Mutig öffnete er den Mund, wollte etwas sagen, doch kein Laut vermochte sich seiner Kehle zu entwinden. Er wollte Nicholas seinen Namen nennen, damit dieser ihn nicht länger als Prinz betiteln musste, denn Aleksandar war alles, aber sicher nicht königlicher Abstammung.

Der zweite Versuch scheiterte erneut und auch der dritte wollte keinen Ton offenbaren, doch dann, endlich, löste sich dieser Knoten in seinem Hals und ermöglichte ihm, zu sprechen.

«Aleksandar», nannte er seinen Namen, sah voller Ehrfurcht zu Nicholas, auf dessen rosige Lippen sich ein Lächeln legte.

«Ein schöner Name für einen Prinzen.»

Aleksandar wusste nicht einzuschätzen, ob Nicholas das ernst meinte oder ob er ihn verspotten wollte, doch zurückhalten konnte er sich in der Euphorie, seine Stimme wieder gefunden zu haben, auch nicht. «Ich bin kein Prinz, nur ein Bauernsohn, wenn überhaupt.»

«Nun», fing Nicholas an, reichte einen frisch gefüllten Becher Wasser an den vor ihm sitzenden Mann, ehe er weitersprach. «Für mich bist du ein Prinz. Finde dich damit ab, Aleksandar.»

Natürlich wollte er aufbegehren und widersprechen, soweit sollte es aber nicht kommen. Nicholas drehte sich von ihm weg, ging zur Feuerstelle, legte ein Stück Holz auf und schob einen kleinen Kessel in die Flammen, ehe er mit einer Kelle dessen Inhalt umrührte. Aleksandar streckte die Nase. Es roch lecker. Aber nicht nur nach Gemüse. Er nutzte den Moment, in dem er überlegte, woran ihn dieser herbe Geruch erinnerte, und ließ seinen Blick erneut durch den Raum schweifen. Sein erster Gedanke war Fleisch, je intensiver er seine Umgebung wahrnahm, umso unwichtiger erschien ihm das plötzlich.

Das Zimmer war groß, mit Wänden aus grauem Stein. Es gab ein Fenster, dessen Läden verschlossen waren, weswegen kein Licht in den Raum fallen konnte. Insofern gerade draußen ein solches herrschte. Aleksandar wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war.

Unweigerlich führte sein Umsehen dazu, dass er an sich selbst herabsah. Kein Schmutz war auf seiner Haut und er trug ein helles Leinenhemd. Überrascht hob er eine Hand und strich sich einige Haare aus dem Gesicht, stellte fest, dass diese nicht strähnig und verschmutzt, sondern fein und glänzend waren.

Hatte Nicholas ihn gewaschen? Natürlich hatte er das. Sicher hätte er ihn nicht stinkend und verdreckt hier liegen lassen. Waren das diese sanften Berührungen, die er wahrgenommen hatte, als er die Wärme seinen Körper ergreifen spürte?

Nicholas hatte ihn also nackt gesehen? Gänzlich entblößt?

Ein wenig suchte Aleksandar die Scham heim. Es war schließlich das erste Mal, dass jemand außer seinen Eltern ihn nackt sah. Jeder Mann hätte sich dafür wahrscheinlich eine Frau gewünscht, doch der Gedanke kam ihm nicht wirklich. Vielmehr war er damit beschäftigt, sich zu fragen, was wohl durch den Kopf seines Retters gegangen war, als dieser ihm den Dreck von der Haut gewaschen hatte. Was ihm selbst durch den Kopf ging, war fernab von allem, was zu seiner Beruhigung beitrug. Aleksandar hatte keine Kraft lange wach zu bleiben, schaffte meistens, etwas zu trinken und zu essen, ehe er wieder in die Schwärze zurückkehrte, aus der Nicholas ihn regelmäßig genau dafür herausrief. Was geschah mit seinen ...? Nicht einmal in Gedanken vermochte er es zu formulieren.

«Du zerbrichst dir den Kopf über Belanglosigkeiten, Aleksandar. Im Angesicht des Todes gibt es nichts, was einem Menschen unangenehm sein sollte. Wir werden nackt geboren und wir werden nackt sterben. Kein Grund für Scham oder derartige Gedanken.»

Ertappt senkte Aleksandar sein Haupt und starrte auf das Fell, welches seinen Körper wärmend einhüllte. Nicholas redete leicht. Aleksandar vermochte nicht so einfach mit dieser Frage abzuschließen, doch war ihm das Thema zu unangenehm, um nachzufragen.

Aus seinen Gedanken wurde er durch eine liebliche Geste gerissen, spürte er einen bestimmten Griff an seinem Kinn, welcher es hochzog und kurz darauf sah er sich den wunderschönen blaugrauen Augen dieses Engels gegenüber. Mehr noch aber der Tatsache, dass dessen Gesicht sich seinem immer weiter näherte.

«Du hast wunderschöne Augen, mein Prinz», hauchte Nicholas ihm entgegen und Aleksandar spürte eine ihm unbekannte Hitze durch seinen Körper rauschen. Ihr Mittelpunkt schien an einer Stelle zu sein, an die er in den letzten Jahren nicht oft gedacht hatte. «Und unwiderstehliche Lippen. Vergib mir, Aleksandar, ich kann nicht anders.»

Was dann geschah, stürzte Aleksandar in ein Wechselbad der Gefühle. Noch nie zuvor fühlte er derart viel auf einmal, geschweige denn wurde er in seinem bisherigen Leben dieser Ehre zuteil, dass jemand ihn küsste. Noch dazu auf den Mund. Selbst seine Eltern hatten ihn nur auf den Kopf oder die Stirn geküsst. Für gewöhnlich war dies doch Verliebten vorbehalten oder nicht?

Warum küsste Nicholas ihn? Weshalb fühlte es sich so schön an?

Das anfängliche Zittern der Unsicherheit wich aus seinen Gliedern und machte diesem belebenden Gefühl Platz, welches einem Kribbeln gleichkam, das auch Käfer auslösten, die über die Haut krabbelten. Nur war es tief in Aleksandars Körper und viel angenehmer.

Sein erster Kuss. Von einem jungen Mann. Einem Engel.

Leider holte ihn sein Gesundheitszustand schneller ein, als ihm lieb war. Er musste husten und löste sich hastig von seinem Gegenüber, um diesem nicht ins Gesicht zu spucken. Er presste seine Hand vor den Mund, wollte sich den Schmerz nicht anmerken lassen. Als der Reiz aus seinem Oberkörper gewichen war, zog er die Hand zurück, doch was er sah, erlaubte keinen guten Blick in die Zukunft.

«Tu das besser nicht mehr, sonst steckst du dich an», hauchte er mit schwacher Stimme und zeigte Nicholas seine blutige Handinnenfläche. Ausgerechnet jetzt war da dieser Gedanke, dass er gerne weiterleben wollte.

 

3. Oh lieblich Kuss vom süßen Tod

 

~im Jahre 1681~

 

Es gab gute und weniger gute Tage. Aleksandars Körper gewann an Kraft, schaffte es nur deshalb, der Krankheit in seinen Atemwegen die Stirn zu bieten. Dennoch nahm der blutige Husten zu und immer öfter erlag er dem Reiz des Kratzens in seinem Brustkorb.

Heute war es wieder so weit. Nicholas hatte die große Waschschüssel bereits mit Wasser gefüllt und neben das Bett gestellt. Ein duftendes Öl verbreitete einen süßlichen Geruch, den nicht mal Aleksandar ausblenden konnte. Es erinnerte ihn an den Duft von Isabella. Er saß auf der Kante des Nachtlagers, ließ sich ohne weitere Gedanken aus dem hellen Leinenhemd helfen. Er war nackt, doch die Beschämung blieb aus. Mittlerweile hatte er für sich selbst festgestellt, dass er nicht in der Position war, sich Scham leisten zu können. Zumindest nicht vor Nicholas, der ihn bei deutlich abstoßenderen Dingen unterstützt und versorgt hatte.

Er konnte Nicholas auch nicht davon abbringen, ihn weiterhin Prinz zu nennen, wobei er seinen Namen ebenso oft und gerne nutzte. Aleksandar hörte es gerne, denn er mochte den Klang der Stimme, vor allem aber, wie Nicholas seinen Namen betonte. Melodiös mit einer scharfen Härte.

Die makabere Vorstellung, dass Nicholas manchmal zu gut wusste, was Aleksandar dachte, versuchte er auszublenden. Irgendwie fühlte er sich sehr zu Nicholas hingezogen. Vielleicht mehr, als er das tun sollte. Immerhin war er dem Tode geweiht und daran hatte sich, trotz des Bemühens seines Retters, nichts geändert. Zwar würde er nicht verhungern oder erfrieren, doch die Krankheit, die ihn in ihrer unnachgiebigen Klaue hielt, würde auf kurz oder lang sein Leben fordern.

Unvorstellbar, dass Aleksandar vor gar nicht allzu langer Zeit die Hütte seiner Eltern verlassen hatte, um endlich zu sterben. Nun saß er da, beobachtete Nicholas dabei, wie dieser andächtig und zärtlich mit einem Stück Leinen seinen Körper reinigte, und fühlte das erste Mal Wehmut bei dem Gedanken, dass der Tod ihn nicht verschonen würde.

Wie konnte das sein? Lag es einzig und alleine an Nicholas?

«Hast du dich je mit einer Frau vergnügt?», drang es an Aleksandars Ohren und er konnte nicht verhindern, dass ihm das Blut in die Wangen schoss. Wieso wollte Nicholas so etwas wissen?

«Nein», antwortete er wahrheitsgemäß, beobachtete die filigrane Hand, die den Lappen ausspülte und dann erneut über seine Brust glitt. «Du?», fragte Aleksandar, da stockte Nicholas in seinem Tun, sah ihn an und lächelte.

«Nein. Mit Frauen nicht.»

Aleksandar ließ diese Aussage einen Moment auf sich wirken, ehe er einfach aussprach, was er dachte: «Mit Männern?»

«Ja. Meine Leidenschaft entfacht nur bei Männern.»

Nicholas empfand keinerlei Scheu oder Scham, sprach es einfach aus, als wäre ihm vor Aleksandar nichts unangenehm. Das musste es auch nicht sein, denn es war klar, dass Aleksandar alles mit ins Grab nehmen würde, ohne vorher je mit jemandem darüber sprechen zu können. Wobei Aleksandar genau das ohnehin niemals getan hätte. Er mochte Nicholas. Für ihn war er ein Engel. Etwas, wovon er nie dachte, es je erblicken zu dürfen.

«Dann hast du sicher schon häufiger gehört, dass du so wunderschön wie ein Engel bist», flüsterte er vor sich hin, während er verträumt das Gesicht seines Gegenübers betrachtete. Wie konnte Nicholas nur so unbegreiflich betörend sein? Alles an ihm war perfekt. Er war makellos. Von unfassbarer Attraktivität. Weiche Gesichtszüge, helle Haut, lange Wimpern, fein geschwungene Brauen und alles umrahmt von diesen ungewöhnlich hellen, langen Haaren. Manchmal hatte er diese zu einem Zopf gebunden, doch heute nicht.

Wieder hielt Nicholas in seinem Tun inne, sah Aleksandar entgegen und lächelte ihm zu: «Nein. Es ist das erste Mal, dass mich jemand mit einem Engel gleichsetzt. Weißt du denn überhaupt, wie ein Engel aussieht?»

Aleksandar war nicht fähig, seinen Blick von diesem bezaubernden Gesicht anzuwenden, musterte jedes kleine Detail darin, ehe er überzeugt antwortete: «Wie du.»

Amüsiert lachte Nicholas und schüttelte den Kopf: «Du bist schlagfertig und sehr charmant, mein Prinz. Du machst es mir langsam wirklich schwer, dir zu widerstehen.»

«Mir zu widerstehen?», wiederholte Aleksandar und zog eine Augenbraue hoch, ehe ihm ein Keuchen entwich, welches Nicholas‘ Hand auslöste, die mit dem feuchten Stoff gleichbleibend zärtlich über seine Körpermitte strich.

«Schließe deine Augen, Aleksandar», wisperte Nicholas ihm rau entgegen, kam er gar nicht dagegen an, zu gehorchen.

Sein Herz schlug schneller, ihm wurde innerlich angenehm heiß, als da diese weichen Lippen auf den seinen waren. Im ersten Moment wollte er Nicholas wegstoßen, denn er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er ihn anstecken würde. So schnell wie dieser kam, war er jedoch wieder erloschen, kaum dass er Nicholas‘ nackte Hand spürte, die sich um seinen Schaft schloss und diesen mit festem Griff bearbeitete.