Caspers Weltformel - Victoria Grader - E-Book

Caspers Weltformel E-Book

Victoria Grader

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Beschreibung

Liebe kann man nicht berechnen

»Ich habe eine Formel. Hab‘ es zwar noch nicht nachgerechnet, aber eigentlich müsste es funktionieren. Ich mach‘ einfach immer das Gegenteil von dem, was ich sonst machen würde. Verstehst du?«

Der Physik-Doktorand Casper aus Berlin hat eine Formel entwickelt, mit der er soziale Interaktionen berechnen kann. Mit Hilfe der Formel kann er all das, was ihm widerfährt, vorherbestimmen. Seine Lebensfreude geht in der Gleichförmigkeit verloren - bis er die erstbeste Gelegenheit am Schopfe packt, um auszubrechen: Eine Reihe von Zufällen verschlägt Casper nach Budapest, wo er auf Ilona trifft. Im Bemühen, die Dinge und Menschen vorherzusehen, kommt Casper bei ihr an seine Grenzen. Mit ihrer verträumten Lebensweise ist sie so ganz das Gegenteil von ihm. Doch gerade die Unterschiede sind es, die beiden helfen, einen neuen Blick auf das Leben zu gewinnen.

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Inhalt

»Ich habe eine Formel. Hab es nachgerechnet, also müsste es funktionieren. Ich mach einfach immer das Gegenteil von dem, was ich sonst machen würde.«

Casper macht gerade seinen Doktor in Physik und lebt in Berlin. Er hat eine Formel entwickelt, mit der er all das, was ihm widerfährt, vorherbestimmen kann. Doch der Preis ist hoch. Je komplexer der Algorithmus wird, umso mehr verliert er seine Lebensfreude. Genervt davon beschließt er kurzerhand auszubrechen.

Eine Reihe von Zufällen verschlägt Casper in das faszinierende Budapest, wo er auf die impulsive Ilona trifft. Mit ihrer verträumten Lebensweise ist sie so ganz das Gegenteil von ihm. Doch genau die Unterschiede sind es, die beiden helfen, einen neuen Blick auf das Leben zu gewinnen.

Autorin

Victoria Grader (Jg. 1992) hat in München und Venedig Romanische Literaturwissenschaft und Praktische Philosophie studiert. Sie promoviert im Bereich der Technikphilosophie und lehrt Ethik für Naturwissenschaftler. Die Autoren der Münchner Autorengruppe Prosathek sagen von ihr: »Victoria erzählt vom Surrealen im Sinnesmeer.«

VICTORIA GRADER

CASPERS WELTFORMEL

ROMAN

Diederichs

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Copyright © 2021 Diederichs Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: Gettyimages / Milan Sillik / EyeEm

ISBN 978-3-641-25545-9V001

www.diederichs-verlag.de

Verlasse dich nicht auf den Zufall, aber baue ihm goldene Brücken.

Ungarisches Sprichwort

Der Kopf dröhnt, das Blut rauscht mit wahrscheinlich 1,3 Metern pro Sekunde durch seine Venen. Casper steht auf dem Seitenstreifen der Autobahnbrücke, klammert sich an die Brüstung und starrt in die Dunkelheit.

Er hat das Gefühl, schon jetzt zu fallen.

Irgendwo da unten ist Boden. Kiesel, Schotter, Geröll oder Wasser, vielleicht ein Nadelwald, der das Mondlicht schluckt. Die Höhenmeter lassen sich nicht abschätzen.

Casper schließt die Augen und breitet die Arme aus. Hinter ihm liegt der Fall, vor ihm das Rauschen. Er atmet langsam ein und aus. Er muss es tun.

Was bleibt ihm auch anderes übrig?

CASPER

An diesem Sonntag im August ist es so heiß, dass sich selbst die Tauben ein schattiges Plätzchen suchen, um nicht unter der Sonne zu verbrennen. Casper schultert seine Reisetasche, in der anderen Hand schwebt die Aktenmappe über glühendem Asphalt.

Für die Bahnreise nach München wird ein ganzer Tag draufgehen. Was bleibt ihm auch anderes übrig? Er hat versprochen zu kommen, jetzt muss er sich daran halten.

Die Mutter wird sein Bett frisch beziehen, ein neues vegetarisches Rezept ausprobieren. Am Montag werden sie zu zweit eine Ausstellung besuchen, nach jedem Mittagessen spazieren gehen. Am Samstag wird er in einer Bar sitzen und belanglose Gespräche führen, nachts in die Tasten seines Laptops hacken, dann wieder nach Berlin fahren.

Morgens aufstehen, in die Uni radeln, irgendwas essen, zu Bett gehen und so weiter, bis er wieder nach München muss. Er seufzt, dann ist er an der Reihe am Ticketschalter.

»Unjünstiges Wetter, um lange Bahnreisen anzutreten«, näselt der Service-Mitarbeiter, als er das Ticket durch den Schlitz der Glaswand schiebt. Mit dem Ticket entweicht stickige Luft aus dem Schalterkabuff. Casper kann sie fast schmecken.

»Wahrscheinlich schon.«

Casper öffnet seine Aktentasche, legt das Ticket hinein und schließt sie wieder.

»Und der Hut? Mene Jüte, muss doch janz schön heiß unter dem Ding sein …!«

Casper zuckt mit den Schultern.

»Ihnen einen schönen Tag noch.« Er zieht den Hut zur Verabschiedung. Als er sich im Fortgehen noch mal umdreht, sieht er, dass der Mitarbeiter den Kopf schüttelt. Während er den Abriss faltet und den Locher ansetzt, murmelt er vor sich hin, offensichtlich leicht verstört.

Es ist nicht im Geringsten verwunderlich, dass ausgerechnet der Service-Mitarbeiter so auf den Hut reagiert: Hüte sind heutzutage nicht mehr allgegenwärtig. Casper zieht sein Notizbuch aus der Jackentasche und blättert, bis er die richtige Seite gefunden hat, macht ein Kreuz, schließt das Notizbuch und lässt es wieder in die Tasche gleiten.

Es ist der hundertzwölfte Service-Mitarbeiter, der seinen Hut anstarrt, der einundneunzigste, der einen Kommentar dazu abgibt. Casper dreht sich erneut um, der Schaltermensch sagt irgendwas zur Trennwand und nickt. Die Kabine neben ihm ist leer. Ein sauberer Schlag mit der flachen Hand auf den Locher, dann zieht er ein kariertes Tuch aus der Brusttasche und wischt sich die Schweißperlen von der Halbglatze, bevor er das Stück Papier abheftet.

Jeden Tag sitzt er da, wahrscheinlich acht Stunden lang und atmet die stickige Luft. Druckt Fahrscheine aus und heftet Quittungen ab. Wenn er sich umdreht, sieht er eine graue Wand. Wenn er sich nach links dreht, sieht er eine graue Wand. Wenn er sich nach rechts dreht, sieht er eine graue Wand. Er schiebt Papier durch die Luke in der Glaswand und fragt Leute, warum sie bei heißen Temperaturen Hüte tragen.

Wo er wohl abends hingeht, wenn er sein Kabuff absperrt? Kippt er noch ein Pils in seiner Stammkneipe hinter dem Hauptbahnhof? Oder wandert er direkt nach Hause, in seine Schuhschachtel-Wohnung? Setzt sich vor den Fernseher, wie ein Hamster ins Laufrad?

Casper seufzt. Irgendwie ist es auch egal, wo der Mann hinter dem Schalter hingeht. Casper selbst ist nämlich genau so ein Schaltertyp, im übertragenen Sinn.

Caspers Kabuff ist ein bisschen größer. Sein Büro in der Uni hat richtige Wände, die etwas mehr Raum einschließen, und ein Fenster gibt es auch – aber alles in allem ist es ein fader, farbloser Raum.

Er druckt Matrizen anstatt Fahrscheine, heftet Berichte anstatt Quittungen ab. Manchmal geht er in die Stammkneipe hinter der Uni und gönnt sich ein Bier nach der Arbeit. Kein Pils, sondern ein Helles, trinkt es schweigend und langsam. Manchmal fährt er direkt in seine Schuhschachtel zurück.

Der Laptop ist sein Laufrad. Außerdem ist da noch Berlin. Eine feine Ablenkung vom Abheften im Alltag – aber eben nichts Echtes.

Casper ist eingefroren, steht stumm zwischen all der Bewegung, zwischen den hetzenden Reisenden, den rollenden Trolleys, starrt auf den Schaltermenschen in seinem grauen Kabuff, der ihn schon längst nicht mehr sieht, der nicht ahnt, welche Beklemmung seine Existenz bei dem jungen Herren mit Hut auslöst.

Wie kommt man da raus? Wie zum Teufel kommt man da raus?, denkt Casper, während er sich endlich wieder in Bewegung setzt und auf die Fernzüge zusteuert.

Casper nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche, bevor er sich die letzte Zigarette anzündet.

Diese eine noch und dann nie wieder, denkt er. Diesmal wird er es schaffen. Aus München zurückkommen und Nichtraucher sein. Andächtig inhaliert er. Der heiße Rauch trocknet seinen Mund aus, er schüttet sich lauwarmes Wasser aus der fast leeren Flasche hinterher. Es schmeckt nach Zigarette. Zwischen den letzten Zügen trinkt er den Rest und schlendert zum Mülleimer auf dem Bahngleis.

Nachdem er seine ausgedrückte Zigarette weggeschmissen hat, sieht er ihr bedauernd dabei zu, wie sie zwischen Bananenschalen, Flaschendeckeln und Papiertüten rutscht. Soll das die eine letzte gewesen sein?

Casper seufzt wieder.

Die allerletzte Zigarette muss man zelebrieren und mit einem feierlichen Gefühl im Bahnhofsaschenbecher versenken, bis der Filter ganz mit Sand bedeckt ist. Darauf hat er sich gefreut. Das muss sein, damit er abschließen kann.

Schon steht er vor einem Tabakladen und steuert auf den Eingang zu. Kurz vor der Ladenschwelle rempelt ihn ein hustender, nach Rauch riechender Typ an, der aus dem Geschäft kommt.

Ekelhaft. Casper zögert. So will er nicht werden.

Er muss weg, egal wohin. Hauptsache nicht Zigaretten kaufen. Er zwingt sich umzudrehen und weiterzugehen, genau in die entgegengesetzte Richtung.

Dann sieht er es. Stolpernd bleibt er stehen, starrt auf die riesige Werbetafel, die sich fast bis zur Decke der Bahnhofshalle erstreckt.

»Wann fühlen Sie sich wirklich lebendig?«, steht da in riesigen Lettern vor einem Bergpanorama mit Sonnenaufgang. Casper schluckt.

»Wann fühlen Sie sich wirklich lebendig?«

Die Frage ist ganz allein an ihn gerichtet. Hier in diesem Bahnhof, zwischen all den anderen, die pünktlich in ihre Züge steigen, abfahren, ankommen und weitermachen.

»Wann fühlen Sie sich wirklich lebendig?«, liest er noch mal und formt dann mit den Lippen den einen Satz, der all seine Zweifel auf den Punkt bringt.

»Lebendig fühle ich mich nicht.«

Casper kann seinen Blick nicht von den Wolken lösen, die wie Milchschaum um den höchsten Gipfel wabern.

Was ist das überhaupt für eine Frage?

Wer fühlt sich denn lebendig, morgens in den Öffentlichen, auf dem Weg zur Arbeit? Wahrscheinlich die Wenigsten.

Sich lebendig fühlen kann nur das Gegenteil davon sein.

Das Gegenteil von Vorhersehbarkeit.

Und Casper? Wann fühlt er sich wirklich lebendig?

Eigentlich immer dann, wenn er sein Leben verlieren könnte.

Eben wie früher, auf einer Bergtour. Damals war Lebendigsein wertvoll. Das Kochen auf dem Feuer, das Einkuscheln in den warmen Schlafsack, das Laufen, Klettern, Festhalten.

Der Geruch von Harz, Tannen, Kräutern und irgendwann dann Schnee. Sternenklare Nächte, die beißende Kälte im Zelt, umgeben von Eis und Wind. Tagelang ging es nur ums Überleben und die unvergleichliche Müdigkeit danach. Ums Aufpassen, Nicht-Abrutschen. Um die richtige Einteilung der Ration, das Trotzdem-satt-Werden. Ums Improvisieren, wenn einem das letzte Sturmfeuerzeug kaputtgeht.

Während er jeden Zentimeter des Bergpanoramas sehnsüchtig aufsaugt, fällt ihm plötzlich der untere Rand des Plakats ins Auge. »Fotografiere die Freiheit, halte sie fest!«, steht da kleiner, neben dem Bild einer sicher viel zu teuren Profi-Outdoor-Kamera.

Erschreckt von seinem eigenen lauten Auflachen wird ihm bewusst, dass er wie versteinert auf eine Werbetafel inmitten der Bahnhofshalle starrt und wirres Zeug vor sich hin murmelt. Und, dass die Zeit dabei nicht stehen geblieben ist. Hektisch fängt er an, seine Hosentaschen nach dem Handy abzuklopfen. »Entschuldigen Sie, wie viel Uhr ist es?«, fragt er einen Westenträger neben sich, der nur mit den Schultern zuckt. Er stürmt zurück in die Haupthalle, bis er vor der großen Uhr bei den Fernzügen steht.

Sein Zug ist bereits vor drei Minuten abgefahren.

Einen Moment braucht Casper, um zu begreifen, was gerade passiert ist. Dann zuckt er mit den Schultern, geht geradewegs in den Tabakladen, kauft sich zwei Packungen Rattray’s Pfeifentabak, Öko-Zigarettenpapier und abbaubare Filter. Fotografiere die Freiheit? Na warte.

Er kramt sein Smartphone aus der Aktentasche, macht ein unscharfes Foto von sich selbst vor der Abfahrtstafel und nickt. Schön. Mit dem Pfeifentabak dreht er sich eine Zigarette und analysiert das Foto, während er tief inhaliert. Es ist leicht verschwommen, aber doch ausdrucksstark. Er stellt sich vor, dass es irgendwann mal in einer Galerie hängt. Blasser Typ mit Hut, der seinen Zug verpasst hat. Ein toller Titel. Das Foto macht diesen Moment zwar nicht besser, aber nach der Zigarette sieht er plötzlich klar. Er hat tatsächlich gerade die Freiheit fotografiert. Einen Zug zu verpassen, heißt nämlich immer, dass man einen anderen nehmen kann. Einen, der woanders hinfährt. Er beginnt zu grinsen. Der Zug nach München ist weg. Und Casper ist ganz zufrieden mit der Welt.

Er setzt sich auf die Bank gegenüber des Fahrkartenschalters und denkt darüber nach, was er jetzt wirklich tun möchte. Soll er erst mal nach Hause fahren?

Casper stellt sich vor, wie er in die U-Bahn steigt, aus dem Fenster schaut. Wie die Tunnelwände am Fenster vorbeiziehen, bis er aussteigt, durch die Dänenstraße läuft, anhält.

Dann die Einzimmerwohnung aufsperrt, seine Jacke in den Flur hängt, den Rucksack neben dem Eingang zur Küche abstellt, sich am Wäscheständer vorbeischiebt. Wie er nach ein bisschen Hausarbeit erleichtert ins Bett fällt. Er stellt sich vor, wie am nächsten Tag der Wecker klingelt, seine Hand schlaftrunken danach tastet und ihn aus Versehen gegen den Teller schiebt, der noch von gestern herumsteht.

Casper kann fast fühlen, wie er unter die eiskalte Dusche steigt, um richtig aufzuwachen. Um sich zu bestrafen, weil er gestern im Bett wieder bis spät in die Nacht aufs Laptop geschaut hat. Er stellt sich vor, wie er sich auf sein Fahrrad schwingt, ohne Handzeichen durch die Berliner Innenstadt kurvt, die Aktentasche im klappernden Fahrradkorb. Wie oft hat er genau diesen Morgen erlebt, wie viele Fast-Unfälle hat er um halb zehn gebaut, weil er nicht eher aus den Federn kam? Wie viele Male hat er sein Fahrrad an die Mauer des Physikbaus geknallt, keine Zeit mehr gehabt, um abzusperren? Er sieht sich selbst die Treppen hochrennen, den rasselnden Atem drosseln, um noch schnell unbemerkt am Büro des Lehrstuhlinhabers vorbeizuschleichen. Dann das hämische Gesicht von Hendrik, das sich am Ende des Flurs aus der Türe schiebt. Wie sich seine Mundwinkel kräuseln, wenn er »Guten Morgen, Casper« flötet, sodass es jeder hört. Dabei kann er eigentlich kommen und gehen, wann er will, hat keiner festen Arbeitszeit zugestimmt. Trotzdem ist das schlechte Gewissen da, der Stress echt. Während der Computer hochfährt, noch schnell einen Kaffee holen, die Sekretärin Frau Meyer begrüßen, die ihn verstohlen mustert. Deren Blick ein bisschen zu lange auf sein Hemd gerichtet bleibt, das wieder aus der Hose hängt. Casper schüttelt den Kopf.

Nein, er wird erst mal nicht nach Hause fahren.

Anfangs war Berlin anders. Roch nach Abenteuer, Freiheit und Zuckerwatte, nach buntem Rausch, endlosen Möglichkeiten.

Und dann? War jeder Tag gleich. Casper ist versumpft und Berlin zu grau geworden. Aber jetzt einfach zurück nach München, obwohl er seinen Zug verpasst hat? Auf keinen Fall. Für Casper ist München einfach nichts. Gab ja einen Grund, dass er damals abgehauen ist. Das ständige Bemühen um den guten Ruf. Dieses ewige Herumtanzen um die Meinung der anderen. Dabei wären die hässlichen Ecken und chronischen Makel, die krampfhaft verborgen werden, eigentlich charmant. So wie die Rattenplage im Bayerischen Hof. Casper muss lächeln, wenn er daran denkt. Er mag die Vorstellung, dass die Ratten unter den Betten der reichen Leute wohnen.

In den Wänden herumkriechen und sich von Kaviarresten und Champagnermousse ernähren. Es hat einfach was.

So sitzt er auf der Bank gegenüber vom Fahrkartenschalter und träumt mit offenen Augen von Städten und von Ratten.

Wie viel Zeit dabei vergeht, ist ihm egal. Er weiß jetzt zumindest, was er nicht will. Nicht München, nicht Berlin.

Es muss etwas Echtes sein, wie damals in den Bergen.

Keine Fassaden mehr. Das Leben hat für ihn entschieden, dass er sich heute ein neues Ziel aussuchen darf. Gut so.

Entschlossen steht er auf und steuert den Fahrkartenschalter an.

»Welche Züge fahren in der nächsten halben Stunde ab?«, fragt Casper den Herren mit der Halbglatze, der erschrocken von seinem Formular aufsieht und das karierte Taschentuch an die Stirn hebt. Dann räuspert er sich und tippt etwas in den Computer ein. »Entweder der Schnellzug nach Venedig oder ein Nachtzug nach Budapest«, näselt er monoton. »Ich würde Venedig empfehlen.«

Für welches Ticket sich Casper entscheidet, ist in dem Moment klar, als die Halbglatze beide Möglichkeiten ausgesprochen hat. Zufrieden schaut er sein Ticket an. Budapest Keleti pályaudvar, klingt spannend, denkt er.

Diesmal geht alles gut. Er kauft sich noch eine Flasche Wasser und ein paar Nüsse, dann macht er sich auf den Weg zum Gleis. Er raucht nicht, vertrödelt keine Zeit vor Werbetafeln und sitzt kurz darauf im richtigen Fernzug.

Als Berlin an ihm vorbeizieht, fängt er wieder an zu grinsen. Einmal entfährt ihm sogar dieses peinliche, glucksende Freudengeräusch, das er manchmal macht.

Zufrieden lehnt er sich zurück. Er hat das Glück am Schopf gepackt. Hat sich selbst überrascht, dem Pflichtbewusstsein ein Bein gestellt. Es ist so unheimlich befreiend, wenn die Dinge unerwartet kommen. Besser als Nacktbaden oder Ballonfahren. Fast hat er vergessen, wie es sich anfühlt. Plötzlich fällt ihm wieder dieser Spruch ein, der in der Küche in München hing, auf dem Kalenderblatt für irgendeinen Sommermonat. Verlasse dich nicht auf den Zufall, aber baue ihm goldene Brücken. Angeblich ein ungarisches Sprichwort. Casper gluckst noch mal. Hat er dem Zufall eine goldene Brücke gebaut? Na ja, egal. Diesen Moment wird er auf jeden Fall genießen, ihn aufsaugen.

Neugierig sieht er sich um. Drei Personen sitzen mit ihm im Wagen. Ein Mann mittleren Alters, der sich Sonnenblumenkerne in den Mund schiebt, eine ältere Dame gegenüber, die aus dem Fenster starrt, und eine junge Frau vor ihm, die telefoniert. Was machen diese Menschen im selben Zug wie er? Soll er jemanden fragen? Sein Wunder-Zug ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Zweck-Zug für jeden anderen Passagier. Casper tastet nach dem Notizbuch in seiner Jackentasche. Wenn er mit jemandem redet, muss er sich neue Notizen machen. Außerdem könnten ihn die Gespräche deprimieren.

Er lehnt sich wieder zurück. Lieber aus dem Fenster sehen. Sich treiben lassen. Irgendwohin schwimmen.

Der Zug brummt, Casper konzentriert sich auf das Dröhnen und die Vibration seines Sitzes. Er fährt in einer Metall-Raupe nach Budapest, und sonst ist nichts von Wichtigkeit. Ja, auf dieser Reise ins Ungewisse wird er das Denken einfach sein lassen. Er wird einfach nur da sein und Schluss.

Ab und zu versteht er Fetzen des Telefongesprächs der Frau vor ihm. Immer wenn er anfangen will nachzugrübeln, was der Mensch am anderen Ende des Hörers sagt, schüttelt er den Gedanken ab, wie eine lästige Stechmücke. Er versucht das Gespräch zu ignorieren, aber die Stimme ist so laut, dass er sich die Ohren zuhalten müsste, um sie auszublenden.

Nichtdenken ist ein bisschen wie stumm sein. Man darf die Welt sehen und hören, aber kann sich nicht einmischen.

Casper wird sich einfach auf die Landschaft konzentrieren.

Die Gegend um ihn herum wird immer ländlicher, der Horizont weiter und die Farben echter. Sein Herz macht einen Hüpfer. In dem Moment muss er sich eingestehen, dass das Fühlen anfängt, wo das Denken endet. Ausgerechnet das ist die Erkenntnis, die er aus dem Nichtdenken zieht. Nach einiger Zeit fallen ihm die Augen zu.

Casper wird von der Durchsage geweckt. Noch mit geschlossenen Augen freut er sich über den Beweis, dass seine spontane Reise kein Traum war. Bald wird er ankommen, in einer fremden Stadt, ohne Plan, ohne Verpflichtungen.

Verdammt, was für ein gutes Gefühl! Irgendwie muss es ihm gelingen, dass es auch so bleibt. Er öffnet die Augen, gähnt und streckt sich, sieht gelbe Felder und den blauen Himmel an den Fenstern vorbeiziehen.

Casper holt sein Notizbuch aus der Aktentasche und blättert zur Mitte, datiert eine noch leere Seite, die in kurzer Zeit bis oben hin voll mit eng stehenden Lettern übersät ist.

Den Stift setzt er erst nach der dritten Seite ab.

Zufrieden blättert er zurück und liest noch mal alles durch.

Die Sache ist eigentlich ganz einfach, denkt Casper und setzt den Stift wieder an.

Wenn sich alle Teilchen wie gewöhnlich verhalten, dann reicht es eigentlich auch schon, wenn nur ein Teilchen aus der Reihe tanzt. Und wenn sich um ihn herum alles wie immer verhält, dann muss eben er selbst aus der Reihe tanzen.

Laut seinen Berechnungen dürften dann unberechenbare Dinge geschehen. Das universelle Gesetz der Entropie, explizit der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, besagt eigentlich schon, dass jedes isolierte System einem unumkehrbaren Zerfall unterliegt. Was unweigerlich zur Selbstzerstörung führt.

So wie das ständige Anwachsen der Entropie das Grundgesetz des Universums ist, ist das Grundgesetz von Caspers Leben – und allem Leben überhaupt, – gegen die Entropie anzukämpfen. Aber damit ist jetzt Schluss. Ab jetzt wird er seinen Kopf austricksen. Wenn er einfach nicht mehr so handelt wie ein vernünftiger Mensch, dann wird alles – und zwar wirklich alles – chaotisch und fantastisch werden.

Unvorhersehbar eben, bis es irgendwann vorbei ist.

Als der Zug in Budapest einfährt, muss Casper sich anstrengen, nicht darüber nachzudenken, was er jetzt vorhat. Er will seinem Kopf gar nicht erst die Chance geben, sich einzumischen, was als Nächstes passieren wird. Als er aus dem Zug aussteigt, nimmt er ein paar tiefe Atemzüge. Der Duft von Frittiertem vermischt sich mit dem Lärm von Backpack-Touristen, Kindern, Eltern und Pärchen. Dieser Bahnhof fühlt sich anders an als jeder deutsche Bahnhof. So, als würde er in einer anderen Zeit existieren, vielleicht vor zwanzig Jahren. Die Uniformen der Bahnmitarbeiter, die Passanten, das Gebäude – alles sieht veraltet aus, aber auf eine charmante Art und Weise. Als ob irgendwer einen Sepia-Farbfilter über den Bahnhof gelegt hätte.

Casper durchquert die Haupthalle und versucht, die neuen Eindrücke in sich aufzusaugen. Das Sonnenlicht fällt zwischen den Torbögen auf der linken Seite der Haupthalle, darüber eine umgekehrte Parabel im Fenstergitter, der Himmel im Koordinatensystem. Glasstreifen ziehen sich an der Deckenwölbung entlang, goldenes Licht fällt auf die Fernzüge. Neben dem satten Blau der Züge leuchten quietschgelbe Fahrkartenautomaten, der ganze Bahnhof sieht wie überdimensionales Spielzeug aus. Begeistert liest er die Schilder, die über Torbögen und Türen hängen. Zwischen prunkvollen Säulen steht in verschnörkelter Schrift CSOMAGMEGÓRZÓ und ÉLELMISZER. Er versucht, die Worte mit den Lippen zu formen, tonlos, als er plötzlich angerempelt wird. Die Frau trägt einen roten Einteiler, schwere Goldohrringe, einen Damenbart.

Sie schimpft in lang gezogenen ä-Lauten, Silben, die sich ineinander verschlingen und ruckartig ausgestoßen werden.

Verträumt lächelt Casper die zeternde, unförmig wirkende Dampflok im roten Strampelanzug an. Die ganze Erscheinung – eine Darbietung. Und dann dieser Klang, dieses Zischen und Ziehen der Silben, die sie ausstößt.

Ungarisch ist wie Feuerspucken.

»Sorry«, sagt er und hebt entschuldigend die Hände.

Auf dem weiteren Weg durch die Haupthalle muss er noch einige Male scharf ausweichen, denn die anderen Passanten tun es nicht. Im Gegenteil, er hat das Gefühl, dass sie versuchen, ihn noch zu erwischen.

Am Ausgang angekommen, dirigiert ihn sein Magen den Düften entgegen, an Brathähnchen und Würsten vorbei.

Schon steht er vor einem Stand, drückt dem Verkäufer zwei Euro in die Hand und deutet auf den Kessel, in dem zischende Teigfladen ausgebraten werden.

Nachdem der Verkäufer die Silbermünze kritisch beäugt hat, nickt er und lässt sie in seine Hosentasche gleiten.

Dann widmet er sich einem neuen Fladen, sagt etwas, das wie eine Beleidigung klingt, wiederholt es lauter.

Ach, das war eine Frage. Casper deutet auf das Bild, das am besten aussieht. Sekunden später beißt er in ein herzhaftes Lángos, was er sonst nur vom Weihnachtsmarkt kennt. Er kaut und schmeckt Salz, Fett, Knoblauch und Sauerrahm. So schmeckt Glückseligkeit. Tausend Mal besser als auf allen Weihnachtsmärkten der Welt zusammen.

Als sein Magen zufriedengestellt ist, meldet sich die Vernunft zu Wort. »Du solltest dringend Geld wechseln, bevor die Nacht einbricht«, mahnt sie ihn. »Danach musst du im Internet nachsehen, in welchem Viertel du die günstigste Unterkunft findest.«

Das mit dem Geld ist wohl richtig. Mit den Euros kommt er an Essen, aber ein Fahrkartenautomat wird wohl kaum eine Ausnahme für ihn machen. Casper reiht sich in die Schlange der erstbesten Wechselstube ein, tauscht sein Bargeld in 63 611 Forint und 60 Fillér und kauft sich danach den ersten ungarischen Kávé, der zwar wie Filterkaffee aussieht, aber kein bisschen wässrig ist. Der Kaffee riecht schwer und süß. Casper nimmt einen Schluck. Das Zeug ist so stark, dass eine Zigarette gut passen würde.

Er schlendert aus der Bahnhofshalle, sucht sich einen Platz im Schatten, lehnt Rucksack und Aktenkoffer gegen die Wand, stellt seinen Pappbecher vorsichtig darauf ab und beginnt, sich eine Zigarette zu drehen. Er will sein Drehzeug gerade wegpacken, als er einen festen Schlag auf seinem rechten Oberarm spürt.

»Hey!«, sagt Casper wütend, während er sich suchend umsieht.

Der Typ steht direkt hinter ihm, nuschelt Unverständliches. Er hat schmutzige Füße, seine Anziehsachen sind zerfleddert, er riecht nach Kloake. Sein Gesicht ist sonnenverbrannt und aus irgendeinem Grund verschmiert von Ruß. Oder einfach Straßendreck? Der Mann macht ein gequältes Gesicht, deutet auf den Tabak.

»Ahh«, sagt Casper und gibt ihm seine fertige Zigarette.

Der andere nickt, zeigt auf Caspers Hände und hebt seine eigenen, als würde er beten.

»Noch eine?«

Er führt die Hand zum Mund, dann fällt der Groschen.

»Du hast Hunger?«, fragt Casper. »Hab leider nichts mehr zum Essen. Nur Geld.«

»Euro, Euro«, sagt der Fremde mit leuchtenden Augen und bekommt von Casper tausend Forint in die offene Hand.

Der zufriedene Penner will gerade von dannen ziehen, als Casper ihm noch: »Where is the cheapest place to stay in Budapest?« nachschreit.

»In the Streets«, krächzt er in gebrochenem Englisch, bevor er in der Menschenmenge untertaucht und mit ihr verschmilzt.

»So wirst auch du in ein paar Tagen aussehen, wenn du deinen Kopf weiterhin ausschaltest«, höhnt sein Verstand.

Casper öffnet seine Aktentasche, zieht sein Smartphone heraus, überfliegt die Übersicht der unbeantworteten Mails, verpassten Anrufe, ungelesenen Nachrichten und drückt auf den seitlichen Knopf, um das Handy auszuschalten. Dann hält er kurz inne. Er wählt »Abbrechen«, dann »Kurzmitteilung verfassen«, ohne die ungelesenen Nachrichten zu sichten. »Endlich ausgebrochen – aber anders«, tippt er. Scrollt die Empfängerliste herunter, bis er ihn gefunden hat.

Seine Fingerspitze landet auf »Papa«. Er wartet, bis die Mitteilung gesendet wurde und schaltet dann das Handy aus.

Is’ gut, denkt er. Dann lass ich den Kopf ein bisschen an und mach stattdessen das Handy aus.

Damit er das Nörgeln der Vernunft nicht weiter ertragen muss, pfeift er die Tetris-Titelmelodie, während er sich eine neue Zigarette dreht, und konzentriert sich beim Rauchen auf die Geschmackskomposition aus süßem, fast kaltem Kaffee, bitterem Kaffeesatz und trockenem Rauch. Mit jedem Knirschen zwischen den Zähnen kommt ein bisschen von dem Enthusiasmus zurück, der ihn nach Budapest gebracht hat.

Die Sonne hüllt das Bahnhofsgebäude in ihr abendliches Leuchten ein, Casper beobachtet, wie sie nach und nach tiefer wandert. Kurz bevor die Sonne untergegangen ist, kauft er ein Ticket für die Metro. Casper findet, dass es langsam Zeit ist, etwas zu erleben. Er entschließt sich, in eine Bar zu gehen und muss nicht lange suchen, bis er eine zwielichtige Ecke gefunden hat.

Die Bar sieht von außen ziemlich düster aus, von innen aber gar nicht mal so sehr. Bukowski’s Dream heißt der Laden.

Die Wände sind grau, nackt und vollgekritzelt. Von Weitem wirkt es einfach nur dreckig, aber von Nahem gibt es ein oder zwei interessante Zeichnungen zwischen den Schmierereien. Hocker, Tische, Lampen und Kissen sind bunt zusammengewürfelt, offensichtlich aus möglichst vielen verschiedenen Stilen und Farbtönen. Vor der Holzvertäfelung hinter der Bar stehen eine Reihe schöner Flaschen, in jeder möglichen Form und Größe. Casper setzt sich auf einen freien Barhocker aus Rauleder und Messing, zwei Hocker entfernt von einem großen Mann mit Pferdeschwanz und Bart. Er wirft ihm einen Blick von der Seite zu. Ein grimmiger Bär vor einem Whiskyglas, der den Hocker begräbt. Casper bestellt sich auch einen Whisky auf Englisch, der Barmann sagt etwas auf Ungarisch.

»Ah.« Casper nickt, öffnet seinen Geldbeutel und schiebt ihn über die Bar, sodass der Barmann sich die passenden Scheine aussuchen kann.

»Das solltest du nicht tun«, brummt der Bär neben ihm in gebrochenem Englisch.

»Warum?«, fragt Casper und zuckt mit den Schultern.

»Weil sonst jeder von dir stehlen kann.«

»Davon möchte ich nicht ausgehen.«

»Wo kommst du denn her?«, lacht der Bär und haut mit seiner Pranke auf die Theke, sodass alles wackelt.

»Aus Berlin.«

»Ahhh«, macht der Bär und trinkt einen Schluck.

»Deutsch, deutsch. Ich weiß noch aus Schule.«

»Ihr lernt Deutsch in der Schule?«, fragt Casper verwundert.

»Jetzt auch Englisch. Früher nur Deutsch.« Er nimmt einen Schluck.

»Gibt’s da kein Dieb in Berlin, hä?«, krächzt er in seinem deutschen Kauderwelsch, das Casper noch viel besser gefällt als das Englisch zuvor. »Jetzt ganz ehrlich. Geldbeutel aufmachen und so gucken. Das solltest du nicht tun, für Zukunft. Nie wieder, nicht hier.«

Bekräftigend schüttelt er den Kopf, Casper nickt.

Irgendwie nett, dass er es erwähnt.

»Kommst du aus Budapest?«, fragt Casper.

Nun nickt der Bär.

»Warum bist du hier gekommen?«, stellt er seine Gegenfrage.

»Die Bar sah ganz gut aus.«

Der Bär zieht eine Augenbraue hoch.

»Ich meine, warum du für Urlaub in Budapest gekommen bist.«

»Urlaub?«, fragt Casper. »Ich hab so ziemlich alles Wichtige dabei, was ich besitze. Weiß nicht, ob das ein Urlaub ist.«

»Das lieber auch keinem erzählen.«

Er zwinkert verschwörerisch, und Casper muss grinsen.

»Also du kommst hier nur durch, willst woanders hin, hä?«

»Vielleicht.«

Beide nehmen einen Schluck Whisky.

»Berlin ist nichts mehr für mich.«

Der Bär sieht ihn fragend an.

»Warum?«

»Berlin ist wie ein Theaterstück, das man immer wieder, aber stets mit verschiedenen Schauspielern gesehen hat.«

»Hä?«, macht der Bär. »Wie meinst du?«

»Berlin ist vorhersehbar. Alles ist so scheinbar-verrückt. Und gleichzeitig zu sehr gewollt.«

Der Bär legt den Kopf schief.

»Mach ein Beispiel.«

»Okay.« Er muss kein bisschen überlegen.

»Also, vor zwei Wochen war ich auf einer Einweihungsparty. Da steht eine aufgeblasene Badeinsel, so ein Teil für den Strand, mitten im Wohnzimmer. Alle Gäste tragen ganz komische Klamotten, Radlerhosen und Tanktops in Übergröße, Neon-Farben. So absichtlich weird, weißt du. Der Gastgeber hat Glitzer im Gesicht und schmeißt Penis-Konfetti auf einen kotzenden Typen, während auf zwei Fernsehern Pornos laufen, deren Darsteller heute so alt wie meine Großeltern sein dürften.«

»Ist doch gut!«, lacht der Bär, und der Tresen fängt wieder an zu wackeln.

»Aber nicht, wenn du weißt, dass die Veranstalter ein paar Jahre später Anzüge tragen, sich ab und zu neue Möbel kaufen, in der Freizeit etwas Gartenarbeit machen und dann unerwartet sterben. Wer so eine Party schmeißt, der versteht die wichtigste Komponente des Unkonventionellen nicht. Der peilt es einfach nicht.«

»Die Komponente vom was?«, fragt der Bär sichtlich belustigt.

Er hat freundliche Augen.

»Es ist nicht wirklich neu, verstehst du? Solche Partys gibt’s doch immer wieder, und ihre Veranstalter sind tief im Herzen richtige Spießer, die sich ein paar Jahre austoben wollen, um sich selbst davon abzulenken, dass sie auf den Tod warten. Berlin ist voll von denen.«

»Haben Spaß, paar Jahre lang. Ist gut. Ist verruckt.«

Er hebt sein Glas, prostet Casper zu.

»Das ist es eben nicht. Es ist Müll und macht Müll.«

Casper seufzt.

»Na ja. Es läuft halt immer so. Irgendwann sind die Partys in Berlin auf jeden Fall genauso vorhersehbar wie der Rest der Stadt. Nichts ist schlimmer als die Einsamkeit zwischen Gin Tonics, Bauernmärkten und Goa-Raves, glaub mir.«

»Ich kenn nur Gin Tonic.«

Casper lacht. Irgendwie mag er den Bär.

»Also fühlst dich einsam. Einsam in großer Stadt.«

Casper nickt, der Bär seufzt.

»Weiß ich, das Gefühl. Viele Menschen sind wie …« Er denkt angestrengt nach. »… niemand«, beendet er seinen Satz.

»Viele Menschen sind wie niemand«, wiederholt er noch mal.

»Ja, ja!« Casper hopst freudig auf dem Barhocker herum. Endlich kapiert das mal einer. Schon ergießt sich der Schwall, den er seit Ewigkeiten unterdrücken muss. Schimpftiraden über Berlin will einfach keiner hören.

»Genauso ist es. Das hast du poetisch ausgedrückt, damit triffst du voll ins Schwarze. Und in Berlin ist die Masse an Niemanden so gewaltig, das gibt’s gar nicht. Angeblich geht alles in Berlin, alles. Aber irgendwie treff ich nur Leute, die immer dasselbe machen. Keiner, der mich überrascht. Nicht mal der Obdachlose in der U-Bahn weicht von seinem täglichen Monolog ab. Hallo, mein Name ist Mike. Leider bin ich gezwungen, hier nach Kleingeld zu fragen.«

Bei den letzten zwei Sätzen verstellt Casper seine Stimme, nuschelt monoton vor sich hin.

»Ich geb ihm manchmal was. Aber die anderen sehen einfach nur weg. Dann fahren sie weiter zur Warschauer Straße, verprassen ihr Geld im Club. Danach Döner im Morgengrauen, pennen, arbeiten und am nächsten Tag wieder so tun, als ob man frei wäre. Aber im Endeffekt entscheiden sich alle doch für dieselbe beschissene Handlung und dasselbe beschissene Dasein. Ich kapier die nicht, die Menschen. Wieso sind die so?«

Es ist ihm egal, ob der Bär jedes Wort versteht. Es ist ihm egal, ob er auf die Frage antworten kann. Sie auszusprechen, tut verdammt gut.

»Vielleicht, die denken nicht so viel wie du«, sagt der Bär und tippt sich zweimal hintereinander mit dem Zeigefinger an die Stirn. Dann hebt er das leere Whiskyglas.

Casper ist sprachlos. Blinzelt zwei, drei Mal.

»Krass«, sagt er. Der Bär hat es kapiert. Genug, um das Problem anzusprechen, das da wirklich ist. Casper schluckt. Was für eine Analyse.

Nach kurzem Schweigen fragt der Bär: »Magst du Absinth?«

»Ich trink ihn auf jeden Fall.«

Der Bär lacht und bestellt auf Ungarisch.

»János«, sagt er und reicht Casper die behaarte Pranke, bevor dieser sich ebenfalls vorstellt.

»Cazspr?«, fragt János und übt noch zwei Mal, bevor er es schafft, den Namen einigermaßen ordentlich auszusprechen. Nur mit der Endung tut er sich schwer. Aber Casper mag es.

»Also Caschpa. Wo wohnt eigentlich dein Hotel? Gibt Haufen Müllbuden. Musst vorsichtig sein.«

»Hab keins«, grinst Casper, und János schüttelt ungläubig den Kopf.

»Du bist wirklich ein verrückter Typ. Total crazy. A crazy guy.«

Casper nickt.

»Neuerdings schon.«

Ja, das passt. Das ist sein neues Ich. Der verrückte Typ, ein crazy guy, mit all seinen Habseligkeiten im Gepäck auf der Suche nach Leben.

»Was arbeitet so einer wie du?«, will János wissen.

Vor dieser Frage hat er sich gefürchtet. Aber jetzt muss es raus.

»So einer wie ich sitzt jeden Tag zwischen vier leeren Wänden, neben einem Whiteboard und einer Azalee im Topf und hackt Daten in einen Computer. Dann sieht er sich Vektoren und Matrizen an und versucht es wieder mit anderen Daten, anderen Vektoren und Matrizen. Und irgendwann bekommt er dafür einen Doktortitel.«

János sieht verwirrt aus.

»Also ein Doktor? Ein Arzt?«

Casper schüttelt den Kopf.

»Nein, ein Doktor der Physik.«

»Ach so. Also, was sind diese? Vektore und Matratze?«, dann lacht er. »Weiß nichts. Bin Lastwagenfahrer.«

»Ahh.« Casper nickt. Das passt zu den großen Händen.

»Also. Vektoren und Matrizen. Hmm. Im Endeffekt ist es buntes Zeug, das ein Computer ausspuckt, wenn du ihm eine Funktion gibst. Man beschreibt damit kleine Teilbereiche der Welt. Aber meistens nicht ganz so, wie sie wirklich sind.«

Casper versucht, das Brennen herunterzuschlucken, das aus seiner Magengegend nach oben kriecht.

»Super, buntes Zeug!« János sieht ehrlich begeistert aus.

Casper nickt, schluckt noch mal, aber das Gefühl will nicht verschwinden. Dann schüttelt er den Kopf.

»Ist irgendwie immer dasselbe. Nicht super.«

Sein ganzer Mund schmeckt nach bitterer Säure.

Vergiss die Physik, vergiss den Alltag, vergiss die Formel. Vergiss es einfach, betet er sich selbst vor.

»Was denkst du da?«, fragt János und tippt sich an die Stirn, aber Casper schüttelt nur den Kopf, kämpft immer noch gegen das Gefühl.

»Ich will nie wieder dorthin zurück«, sagt Casper trocken.

János kneift die Augen zusammen.

»Also, Caschpa. Dann Berlin ist nicht das Problem. Du läufst vor was anderes, oder?«

Ob er vor was anderem wegläuft? Mit ziemlicher Sicherheit wieder ein Treffer ins Schwarze. János, der Lastwagenfahrer, ist ein verdammt guter Zuhörer. Und er hat verdammt noch mal recht.

Gut, Berlin ist vorhersehbar. Aber sein eigenes Leben ist ein fader Brei, der immer nach demselben Rezept gekocht wird: Aufstehen, U-Bahn, Whiteboard, PC, U-Bahn, Bier, austauschbare Unterhaltung, Schlafen. Natürlich gibt es ab und zu mal eine Rosine, aber die schmeckt eben auch nicht, wenn man sie kommen sieht oder sogar eingeplant hat.

Damit ist jetzt Schluss.

Endlich stellt der Barmann die zwei Gläser mit der lodernden grünen Flüssigkeit auf den Tresen. Sobald die Flammen erloschen sind, kippt Casper das Zeug in einem Zug runter, schüttelt sich, um das Brennen im Rachen loszuwerden.

»Auf der Zugfahrt nach Budapest hab ich beschlossen, dass ab jetzt alles anders wird«, sagt Casper, als er das miese Gefühl endlich im Absinth ertränkt hat.

»Dass ich nicht mehr so sein werde wie bisher.«

János trinkt den Absinth langsam, bestellt wieder etwas beim Barmann und wendet sich dann Casper zu.

»Und wie willst du machen? Kommst doch nicht aus dir selber raus.« Mit jedem Schluck klingt János’ Deutsch ungarischer, aber Casper versteht ihn trotzdem. Er rutscht etwas näher zum Bären, beugt sich vor, senkt die Stimme verschwörerisch. Als ob ihn jemand anderes belauschen könnte.

»Ich hab eine Formel. Hab es nachgerechnet, also müsste es funktionieren. Ich mach einfach immer das Gegenteil von dem, was ich sonst machen würde. Weißt du?«

Dann muss er aufstoßen, bekommt Schluckauf.

Mit seiner riesigen Hand tätschelt János ihm den Rücken, wuchtet Casper nach vorne, ein Wunder, dass sein Genick nicht abknickt wie ein Strohhalm.

»Ruhig, Junge.« János fischt eine Zigarette aus seiner Brusttasche, die er Casper anbietet.

»Das hilft.«

Casper nickt und beobachtet, wie János versucht, ein Streichholz anzuzünden, das ihm immer wieder zwischen den Fingern zerbricht. Irgendwann gelingt es. Er gibt Casper Feuer, danach zündet er sich eine eigene Zigarette an.

»Also erzähl. Was das für Formula?«

»Die ist echt alt. Die Idee ist mir sogar schon als Kind eingefallen.« Casper schluckt. Er weiß noch genau, wie das mit der Formel anfing, könnte den Tag in seinem Kopf abspielen, wie einen Film. Er hat gelernt, ihn rechtzeitig abzuschalten. Jetzt will er ihn nicht sehen. Und auch nicht drüber reden.

»Alles in allem soll sie vorhersagen, wie Menschen sich verhalten. Sie basiert auf einer Menge an statistischen Daten. Aber die formale Darstellung ist schwierig.«

János runzelt die Stirn, hört konzentriert zu.

»Was formal? Malen?«

Auch Casper muss sich jetzt konzentrieren.

»Also fast, ja. Du bringst etwas aus der echten Welt aufs Papier. Schon eine Art Skizze, aber als Formel. Und das ist sehr komplex.«

»Warum?«, fragt János, der Unersättliche. Aber wer hat gesagt, dass es keine neugierigen Lastwagenfahrer gibt?

»Pass auf. Es gibt verschiedene Teilformeln, die relevant sind …«

»Hä? Warum teilst du Formel noch?«

»Ich teile sie nicht. Eine Formel besteht eben immer aus mehreren Teilen. Ein Teil davon, was zwischen Menschen passiert, ist eben der Mensch. Der Mensch an sich, weißt du? Und um den Menschen formal darzustellen oder auch einfach nur zu malen, muss man erst mal bestimmen, was ihn ausmacht. Man muss ihn gut beobachten und dann erkennen, was jeder Mensch mit den anderen gemeinsam hat.«

»Ich versteh nix. Außer ein Sache. Du kannst damit rechnen, was Menschen machen, oder?«

»So ungefähr, ja.«

»Dann weißt du immer, was passiert für Zukunft?«

»Oft. Wenn nichts Unvorhersehbares dazwischenkommt, was leider wirklich sehr selten ist.«

»Cool.« János sieht beeindruckt aus. Er schweigt, zieht an seiner Zigarette und runzelt angestrengt die Stirn.

Er leckt sich mit der Zunge über die Lippen, ganz vorsichtig, als könnte er so besser nachdenken.

»Kannst du damit rechnen, ob mein Frau kommt zurück für Zukunft?«

»Ich könnte, ja. Wenn ich genug über sie wüsste. Genug über dich wüsste. Dann könnte ich sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie zurückkommt. Aber es ist besser, es nicht zu wissen. Glaub mir.«

»Kann mir nicht denken so.«

»Ist aber so.«

»Warum?«

Casper überlegt.

»Weil es sich dann nicht mehr so gut anfühlt, wenn es passiert.«

»Aber mir würde jetzt besser gehen!« Sein Jaulen hallt durch den ganzen Raum.

»Glaub mir, das denkst du nur.«

János’ Bärengesicht verdüstert sich.

Der Barmann stellt zwei weitere brennende Absinthe auf den Tresen. Casper wartet, pustet, trinkt. Wie soll er erklären, dass die Formel ein Fluch ist, den keiner aushält? Auf der Suche nach den richtigen Worten tastet er alte Erinnerungen ab. Wie in einem archivarischen Register ziehen die Bilder an ihm vorbei. Dann rastet es ein.

Er bleibt an Amelie hängen. Ein Tag im mannshohen Weizenfeld, gemeinsam gut versteckt in der Mitte auf einer Picknickdecke. Er spürt noch alles. Die Hitze, ihre schweißverklebten Haare, die aber herrlich süß duften, als er drüberstreicht. Sie küssen sich, so oft, dass keiner von ihnen einen Schluck Wasser braucht. Ein paar Mal steht sie auf und läuft in ein Versteck, wahrscheinlich um Caspers ganze Spucke auszupinkeln. Sie ertappt ihn, jedes Mal wieder, wenn sie zurückkommt, mit dem Notizbuch in den Händen.

»Nimmst du das Ding eigentlich überallhin mit?«, fragt sie amüsiert. Sie kennen sich noch nicht besonders lang.

»Schon, eigentlich.«

»Und was schreibst du da rein?«

Casper zuckt die Schultern und lässt das Notizbuch schnell wieder verschwinden.

»Ist das dein Tagebuch?«

»So was in der Art«, lacht Casper.

»Schreibst du da was über mich rein?«, will sie wissen, aber da hat Casper sich schon auf sie geworfen.

»Caschpa.«

Verdattert sieht er auf, vom blonden Haar im Weizenfeld zu János’ Bärengesicht. Verflucht, war das der Absinth?

»An was denkst du?«, fragt János.

»Deine Augen ganz klein. Kleine Punkte in Mitte drin. Und wieso machst du jetzt Auge so groß …«

János’ Stimme wird leiser.

Wusch. Ein Haufen schwarzer DIN-A5-Notizbücher, der aus dem Nichts auf ihn hinunterstürzt. Schützend hebt er die Hände über den Kopf, doch ein Buch nach dem anderen prasselt von oben herab, klatscht auf seine Schultern. All diese kleinen schwarzen Kladden hat er über die Jahre vollgekritzelt, nun sind sie in Budapest, hier in der Bukowski-Bar. Regnen auf ihn runter, verschwinden Stück für Stück aus den Lücken seines Bücherregals und dem ledernen Reisekoffer seines Vaters, um hier aufzutauchen, um ihn zu begraben, zu ersticken. Während es weiter Notizbücher regnet, schnappt er sich eines davon, blättert, liest. Die Buchstaben bewegen sich, werden zu einem Strudel, verdichten sich zu einem Sog und der Film beginnt.

Szene eins. Die Pausenglocke läutet den Konflikt ein.

Der andere Junge ist der Sohn der Haushälterin seiner Mutter, zu der Casper nicht Putzfrau sagen darf. Er steht vor dem Tor des Schulhofs, fletscht die Zähne, hat zwei Freunde dabei. Eine taktische Abschreckung, die fast einwandfrei funktioniert. Caspers Klassenkameraden fliehen in die Autos ihrer Eltern, Casper denkt nicht daran zu rennen, hat keine Angst. Er bleibt ruhig, nimmt seine Brille ab. Während er sie sicher im Rucksack verstaut, schwört er, sich mit allen Kräften zu wehren, das Klein-und-Drahtig-Sein mit Mut aufzuwiegen.

Die Einleitung ist abgeschlossen, der Film geht jetzt erst richtig los. Es beginnt mit den üblichen Beleidigungen.

Casper ist eingekreist, irgendwann kommt der erste Tritt, aber er weicht aus. Es geht noch mal gut, beim dritten Ausweichen fängt er sich einen Schlag ein, dann noch einen.

»Selbst deine Mutter ist ein SPAST!«

Die Spucke des Jungen, der das letzte Wort brüllt, trifft ihn im Gesicht.

»Ein spastischer Zitteraal!«

Zitteraal. SPAST. Zitteraal. SPAST.

Die Worte fallen wie in Zeitlupe, fallen in einen Brunnen, hallen dort nach. Legen einen Schalter um.

Sein Hirn ist aus, runtergefahren.

Ehe er sich’s versieht, ist Casper gesprungen. Mit aller Kraft krallt er sich am Hals des anderen Jungen fest und beißt zu, beißt in das, was er erwischt. Der Junge schreit. Casper schmeckt Blut, Fleisch, Eisen und etwas Saures. Er lässt nicht locker, bis der Junge ihn abgeschüttelt hat. Casper landet in einer Pfütze, spuckt das herausgebissene Backenstück auf den Asphalt. Der Junge mit dem blutenden Loch im Gesicht heult.

»Der spinnt, der kleine Pisser hat Reißzähne …«

Die anderen wollen ihre Haut behalten, rennen. Casper bleibt noch eine Weile auf dem Boden und wartet, bis alle weg sind. Sein Gesicht ist heiß, der Atem rasselt, das Herz trommelt gegen seine Brust. Er presst die Handfläche auf das Pochen, als ob dort der Knopf ist, mit dem man das Gehirn wieder anschaltet. Es fährt nicht hoch, weil es noch verarbeitet, was gerade passiert ist. Und immer wieder muss Casper auf das Stück Fleisch neben sich sehen. Dann rappelt er sich auf, klopft den Staub von seiner Kleidung, nimmt die Schultasche auf den Rücken. Zu Hause weist ihn seine Mutter auf die aufgeschürften Hände, das Loch in der Hose und die Wunde am Knie hin, während sie versucht, ihm ein Schinkenbrot zu schmieren.

»Ich hab keinen Hunger«, sagt er, während er beobachtet, wie sie versucht, den Wacholderschinken im richtigen Moment auf das Brot fallen zu lassen. Unbeholfen führt sie immer wieder dieselbe Bewegung aus, jedes Mal entgleitet ihr das Stück zu früh oder zu spät. Der Schinken hat dieselbe Farbe wie die ausgespuckte Backe des Jungen.

»Mama, soll ich dir helfen?«, fragt Casper, aber sie macht einen Laut, der zu bedeuten hat, dass sie es alleine schafft. Nach einiger Zeit landet der Schinken auf der Butter. Casper erzählt mit Unschuldsmiene, dass er auf den Stufen im Schulhof gestolpert sei.

»Ach Kind. Hört das denn nie auf?«

Er weiß, dass sie Ruhe gibt, weil sie beschäftigt ist zu überlegen, was man gegen sein fehlendes Schmerzempfinden tun kann. Casper bedankt sich, nimmt das Schinkenbrot, geht in sein Zimmer, direkt zum Schreibtisch, wo er den Teller abstellt. Zieht die oberste Schublade auf, kramt zwischen Stiften, Notizbüchern und Geburtstagskarten nach dem Kompass, bis er ihn findet.

Dann kippt er nach hinten auf sein Bett. Liegt nur so da und starrt auf den selbst gebastelten Pappmaché-Pilz, der über ihm an der Decke klebt. Das alte Metallding kalt und schwer in seiner Hand. Er analysiert die Situation und ihre Axiome.

Da sind vier ganz verschiedene Menschen. Ein kleiner und drei große Jungen, ein Gymnasiast und drei Hauptschüler.

Die Machtverteilung scheint am Anfang schon festgelegt zu sein, trotzdem gibt es ein überraschendes, unerklärliches Ende. Was hätten Max Born oder Werner Heisenberg daraus abgeleitet? Die hätten sich für die Gesetze von Interaktionen interessiert. Handlungsgesetze, Reaktionsgesetze. Wie in der Quantenmechanik. Nur dass jetzt der Mensch das Elementarteilchen ist.

Welche Kraft treibt ihn an?

»Die Macht«, sagt Casper laut.

Casper schnappt sich ein neues Notizbuch aus der Schublade des Nachttischs, reißt die Verpackung auf und beginnt mit der Überschrift des neuen Projekts: Die Formel.

»Casper, verdammt, scheiße!«

Der Schlag ins Gesicht holt ihn wieder zurück.

Er sieht die Scheinwerfer eines Autos, das vorbeifährt. Hängt über János’ behaartem Arm, draußen auf dem Gehweg vor der Bar.

»Zum Teufel, sag doch, dass du nicht vertragen kannst Absinth!«, schimpft János, während er Casper vorsichtig zurück auf die Füße hebt. Casper taumelt, stützt sich an János’ Arm ab und beginnt dann zu grinsen.

»Ganz und garnicht vertrage ich Absinth nicht!«

János ist sichtlich irritiert über Caspers heiteren Tonfall.

»Mir ist gerade was klar geworden«, erklärt Casper, während er sein Gleichgewicht wiederfindet.

»Gerade bei Schlafen mit Augen offen, oder was, hä?«

»Ja.« Casper nickt eifrig. »Gerade eben.«

»Und was bitte sehr?«

»Alles hat mit der Formel angefangen. Alles.«

»Was?«

»Alles, vor dem ich weglaufe! Der ganze Einheitsbrei, das leere Leben, die Vorhersehbarkeit von einfach jedem beschissenen Detail in meinem langweiligen Dasein.«

»Hat ganz schön Angst gemacht«, sagt János und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Und bin ganz wach auch.«

»Sorry. Wollte dich nicht nüchtern machen.«

Casper fängt wieder an zu grinsen.

»Kommst wieder mit?«

Casper nickt.

»Aber kein Absinth mehr.«

»In Ordnung.«

János mustert Casper von unten bis oben. Nach kurzem Zögern erklärt er feierlich:

»Kannst später bei mir auf Couch schlafen.«

Zurück in der Bar erzählt János von der Trennung, eine ziemlich traurige Geschichte eben. Casper nickt, versucht wirklich zuzuhören, aber denkt eigentlich an nichts, außer an die Erkenntnis, die er dem Absinth verdankt:

Die Formel hat sein Leben im Griff.

Anfangs bestand sie nur aus drei Variablen. Nämlich Macht, Machtbedürfnis und soziale Schicht. Es kam ein Wert heraus, der bestimmte, wie einflussreich ein Individuum bei maximalem Potenzial sein konnte. Aber seine Formel funktionierte, so wie alle Formeln, erst mal nur im theoretischen Raum. Deshalb betrieb er Forschungsexkurse mit seiner ersten Freundin, den Nachbarsjungen, seiner zweiten Freundin – eigentlich mit ausnahmslos jedem Menschen.

Er feilte an der Handlungstheorie. Bediente sich der Spieltheorie. Dann konnte er die Formel im echten Leben anwenden. Auch wenn er nicht eingriff, konnte er den Verlauf vieler Dinge immer besser einschätzen. Irgendwann brauchte er dazu nicht mal mehr seine Formel. Es war durch und durch befriedigend zu wissen, wie die Dinge ausgehen würden. Zumindest zu Beginn.

Als seine Formel über eine Seite lang war, trennte sich Amelie von ihm.

»Ich bin doch keine Labor-Ratte.«

»Jetzt sei nicht so. War eben wichtig für die Statistik …«

Seitdem hat er keine Freundin mehr gehabt. Aber warum auch?

Solange er denken kann, ist die Formel das Wichtigste gewesen. Seit wie vielen Jahren sitzt er jetzt schon daran? Wie viele Notizbücher hat er gefüllt, wie wenig von der Welt erfasst? Dabei hätte er doch immer mehr verstehen müssen. Stattdessen ist sein Leben vorhersehbar geworden.

Was ist, wenn er die ganze Zeit verschwendet hat? Wenn er keinen Meilenstein in der Sozialphysik erreichen, sondern einfach nur depressiv wird? Sein Vater hätte dann auf jeden Fall total danebengelegen. Und all die Jahre wären verloren. Casper seufzt. Wenigstens hat er jetzt kapiert, was sein Problem ist. Die Formel wiegt mehr als der Rest seines Lebens. Aber damit ist jetzt Schluss.

Schluss mit der Vernunft, Schluss mit der Auswertung des Alltags, Schluss mit dem Funktionieren.

Er wartet, bis János seine Geschichte beendet hat, um ihm dann den Entschluss mitzuteilen, den er in diesem Moment gefasst hat.

»Ich glaub, ich schlaf heute draußen. In the streets. Frei, wie einer, der sein Leben lebt. Ganz minimalistisch. Starte sozusagen von null. Ohne frühere Erfahrungswerte.«

János legt den Kopf schief und zieht eine Augenbraue hoch. Dann fängt er an zu schmunzeln. Schließlich lacht er.

»Wie du meinst.«

Geht doch.

Nachdem sich Casper von János verabschiedet hat, läuft er noch ein bisschen durch Budapest, bis er am Ufer der Donau angekommen ist. Dort, wo er steht, zählt er drei riesige, strahlend helle Brücken, die das fließende Gewässer überqueren. Auf der anderen Seite erheben sich schwarze Hügel mit beleuchteten Burgtürmen. Eigentlich möchte er nach drüben, bemerkt aber einen seltsamen Knick der Brücke auf halbem Weg. Er folgt der Erweiterung und betritt kurz darauf eine Insel inmitten der Donau. Er sieht sich um, ein Weg führt zum Ufer. Von dort kann er auf die Seite sehen, wo er eben noch gestanden hat. Vielleicht ist er ja in Wirklichkeit immer noch drüben. Zumindest sein Körper. Sein Geist ist hier in Sicherheit, auf der Donau-Insel, die sonst keiner sehen kann. Casper gähnt, braucht bald einen Schlafplatz in der Nähe. Er findet einen Baum, der schützend aussieht, und holt ein paar Anziehsachen aus dem Rucksack, die er sich zum Bett zwischen den Wurzeln zurechtmacht.

Er schließt die Augen, dann knackt es hinter ihm.

Ein Schatten schleicht um den Baum, Casper zieht seinen Rucksack näher zu sich ran. Ohne von der Gestalt wegzusehen, setzt er sich auf sein Hab und Gut. Dann tritt ein gebückter, verzottelter Typ ins Laternenlicht, der sich glücklicherweise von ihm wegbewegt. In der einen Hand hat er eine Flasche, in der anderen schleift er eine Plastiktüte neben sich her. Casper atmet auf. Nur ein Müllsammler.

So exklusiv ist seine Schlafinsel wohl doch nicht. Als der Mann außer Sichtweite ist, legt er sich wieder hin, schließt die Augen und versucht zu schlafen, aber fröstelt. Der Wind raschelt durch die Zweige. Er zieht noch einen Pulli aus der Tasche, streift ihn über, friert immer noch. Er setzt sich auf, sieht aufs Wasser und denkt an den Geschichtsunterricht. An all die Juden, die am Flussufer erschossen und in die Donau geworfen wurden.

Als das Bellen mehrerer Hunde aus zwei verschiedenen Richtungen beginnt, wird ihm flau im Magen. Er muss sich eingestehen, dass diese spartanische Art des Reisens doch nicht unbedingt sein Ding ist. Nach ungefähr einer halben Stunde tastet er nach dem Zettel mit der Adresse, den János ihm mitgegeben hat, rappelt sich auf und verlässt die unheimliche Insel.

»Helló, das Schlafen in the streets ist wohl doch nichts für mich«, sagt Casper, als der Bär die Tür öffnet.