Cassie - Verborgen im Silbererz - Bridget Sabeth - E-Book

Cassie - Verborgen im Silbererz E-Book

Bridget Sabeth

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Beschreibung

'Cassie, ich hoffe, du wirst mich eines Tages verstehen.' Einen Zettel – mehr hat Leonard nicht hinterlassen, nachdem er bei der Wanderung mit Cassandra überstürzt Reißaus genommen hat. Seither ist er wie vom Erdboden verschluckt. Cassie schwankt zwischen Besorgnis und Unverständnis. Sind ihm Nähe und Verantwortung in ihrer Liebe zu viel geworden? Oder steckt er in Schwierigkeiten, weil ihn seine kriminelle Vergangenheit eingeholt hat? Sie beschließt, die brennenden Fragen mithilfe ihrer Hexenmagie zu lösen. Dabei schlittert Cassie in die Fänge eines skrupellosen Verbrechers, dem sie hilflos ausgeliefert ist. Während für ihre Retter ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt, kämpft sie mit ihren eignen Ängsten und Schwächen.

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Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cassie –
Verborgen im Silbererz
Serge – Prolog
Friedas Besuch
Römische Zeiten
Nächtliche Fragmente
Italien – Recherche
Suche
Unter Tage
Komplikationen?
Finsternis
Verwirrung
Das Amulett
Bedrängnis
Kontaktaufnahme
Wiedersehen
Fragmente
Eisige Fluten
Kein Zaudern
Ein ehrenwerter Kampf?
Teamwork?
Die Schlinge zieht sich enger
Detonationen
Zugriff?
Am Krankenbett
Vollmondenergien
Glossar
Anhang – Weitere Werke der Autorin Bridget Sabeth

Cassie –

Verborgen im Silbererz

Hexenkrimi

Band 4

Bridget Sabeth

Serge – Prolog

Mai 2023

Leonard lief den Berghang der Hohen Ranach[Fußnote 1]hinunter. Vor wenigen Minuten hatte er gemeinsam mit Cassandra einen herrlichen Sonnenaufgang bestaunt. Dabei ein intensives Kribbeln verspürt, das vor allem der Schönheit neben ihm galt. Nach Wochen, in denen sie freundschaftlich miteinander kommuniziert hatten, war er drauf und dran gewesen, ihr seine Liebe zu gestehen.

Alles schien perfekt: das Ambiente, die Natur, der Zeitpunkt! Leo hatte gespürt, dass auch Cassie mehr für ihn empfand. Eine Zukunft? Darin sollte sie die Hauptrolle spielen!

Ein Anruf hatte alles zunichtegemacht. Statt liebevollen Blicken und heißen Küssen wummerte in Leo ein tiefer Groll. Serge! Der Geschäftspartner seines Vaters besaß ein verflucht schlechtes Timing! Dem war es nie um seriöse Dinge gegangen und die ausgesprochene Drohung via Telefon war unmissverständlich gewesen. Sofern Leonard nicht Cassies Leben aufs Spiel setzen wollte, musste er parieren.

Leo hielt auf dem Mistkerl zu, der lachend und applaudierend neben einem dunklen Bus stand. Das Fahrzeug befand sich am Parkplatz in der Nähe der Soldatenkirche. Daneben lehnte ein E-Bike. So ausgeruht, wie Serge wirkte, war er damit unterwegs gewesen und keinem weiter aufgefallen. Die Mountainbike-Strecke nutzten viele in der Gegend.

»Super Junge, du hast sogar die Zeit eingehalten!« Serges Stimme tropfte vor Spott.

Leo hätte ihm am liebsten das falsche Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Er stoppte vor ihm und schöpfte nach Atem. Vom Gerenne und der Eile stach es schmerzhaft in seiner Seite.

»Du solltest mehr Ausdauer trainieren. Nur Gewichte stemmen, ist zu wenig. Da wird man zu behäbig und das kann in brenzligen Situationen von Nachteil sein.«

Leo ging nicht auf Serges Bemerkung ein. »Was willst du?«

Ein Brummen näherte sich. Beide wandten die Köpfe. Zwei Personen in einem hellblauen VW Polo parkten unweit von ihnen entfernt.

»Sperr auf und lass uns losfahren, da sind wir unter uns«, bestimmte Serge und wartete nicht darauf, dass das Wanderpärchen ausstieg.

Leo öffnete per Schlüsselklick seinen Skoda Kodiaq. Lieber wollte er zu Cassandra, sie beschützen! Sie war ohne Begleitung am Berg, während sich Serges Komplize in der Gegend befand. Dass weitere Wanderer die schöne Region aufsuchten, war für sie sicher kein Nachteil. Leonard wischte sich über die schweißnasse Stirn und danach die feuchten Hände an der Hose ab.

Serge klopfte ungeduldig auf das Armaturenbrett. »Hopp, hopp. Oder willst du Zeit schinden?«

Leo schluckte das ‚Mistkerl‘ hinunter, das auf seiner Zunge lag, startete und fuhr an.

»Ich muss sagen, du besitzt sowohl bei Autos als auch bei Frauen Geschmack«, sprach Serge nach einer Weile.

Leo wollte weder das eine noch das andere erörtern und verbiss sich eine Antwort.

»Allzu gesprächig bist du nicht. Noch immer außer Atem oder ein wenig angepisst?«

»Kannst du dir das nicht denken?!«

»Entspann dich. Ich will nur herausfinden, ob ich mich auf dein Wort verlassen kann, oder du mich ans Messer liefern willst, so, wie du es bei deinem Vater Jens getan hast.«

Leonard durchfuhr es heiß. Dass sein alter Herr erschossen wurde, lag daran, dass er ein verkackter Frauenmörder gewesen war! »Muss ich nicht eher auf dein Wort zählen?«

»Ich habe das Geld und die Ware nicht verschusselt.«

»Ich genauso wenig«, wurde Leo laut. »Es waren deine Männer, die dich hintergehen wollten!«

Serge lachte freudlos. »Ja, aber du hast überlebt und hättest mir meinen Anteil zurückgeben können. Hättest du es getan, dann würden wir nicht gemeinsam im Wagen sitzen.«

Leo brummte. Serge drehte und wendete es so, wie es ihm beliebte. Ihm zu erklären, dass er gar nicht die Möglichkeit gehabt hätte, etwas von den beiden Sachen zu sichern, würde der Scheißkerl niemals gelten lassen. Nach wie vor rauschten dessen drohende Worte in seinem Ohr: ‚Mein Kompagnon sieht dich – euch – perfekt durch das Vergrößerungsglas des Gewehrs … Glaub nicht, ich hätte alles vergessen. Du schuldest mir Kohle und Ware! Inzwischen sind die Preise gestiegen! – Um mir deinen guten Willen zu zeigen, bewege dich von deiner Süßen weg. – Komm ja nicht auf blöde Ideen, sonst geht es ihr und dem Baby an den Kragen. Ich weiß, wo sie wohnen! – Bestimmt werden wir ins Geschäft kommen, bin ja kein Unmensch, sondern ein Händler und habe in Wahrheit ein weiches Herz. Ab jetzt hast du fünfundzwanzig Minuten, sonst lasse ich die Treibjagd auf dein Zuckermäuschen eröffnen.‘

Leo räusperte sich. Er musste gute Miene zum bösen Spiel machen. »Sag schon, was du von mir möchtest. Ich denke nicht, dass du stundenlang meine Autofahrkünste bewundern willst.«

Serge grinste. »Oh, der Sarkasmus in deiner Stimme demonstriert einen geheimen Groll. Das gefällt mir.«

Leos Finger krallten sich um das Sportlenkrad. Gut, dass er etwas zum Festhalten hatte, sonst hätte er seinem Beifahrer definitiv eine gescheuert. In ihm brodelte eine Mordlust. Aber Serge agierte niemals unvorbereitet. Im Falle, dass dem etwas passieren würde, hätte das erst recht für Cassie und ihre Tochter Konsequenzen!

»Nun gut, aber ja, du hast recht. Ich will keinesfalls ewig herumkutschiert werden. Wenn es passt, wird mich mein Kompagnon auflesen.«

»Also willst du Geld?«, fragte Leo und versuchte, die Unterredung zu beschleunigen.

»Nicht von dir, da habe ich eine andere und weitaus lukrativere Quelle.«

»Aber du …?«

»Pst, pst, pst – lass dir erklären.«

Leo atmete tief durch und wartete ab.

»Wir haben eine gemeinsame Bekannte.«

»Wen? Ich habe schon länger nichts mehr mit krummen Geschichten zu tun.«

»Ach, ist das so? Und was ist mit Salomea? Frau Monika? Der Rotlichtszene?«

Ein Frösteln lief über Leonards Nacken. Salomea hatte sich den Suizid ihrer Partnerin Marysia zunutze gemacht und konnte nicht wegen Polizeimord, Menschen- und Drogenhandel belangt werden. Leo war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass die beiden Frauen ihr kriminelles Treiben nicht weiterführen konnten. Weshalb wusste Serge davon? Weder in den Akten noch im Prozess war sein Name erwähnt worden! ‚Es sei denn …?‘

»Du solltest dankbar sein, dass Salomea in der Verhandlung deine Identität nicht preisgegeben hat. Sie hat deinen Hintern ebenso gerettet.«

Leo hustete. Er durfte nichts davon sagen, dass er mit der Polizei gemeinsame Sache gemacht hatte. Oder wusste Serge davon? Hatte er eins und eins zusammengezählt, weil er Cassies Freund war? Oje, das war viel wahrscheinlicher! Und er wurde dadurch zu Serges Spielzeug, nein, zu einer Marionette! Das wollte er nicht! Doch was war, wenn er es nutzte, damit weit größere Fische aufflogen? Fische wie Serge?

»Tja, so hatte Salomea anfangs gedacht. Inzwischen weiß sie, dass du daran beteiligt warst, sie in die Falle zu locken. Puh, war die sauer, das kann ich dir sagen. Ich denke, sie war sogar ein wenig in dich verschossen. Und dann angelst du dir die Witwe des Polizisten?«

Leo ächzte.

»Doch Salomea ist ein schlaues Kind. Unterm Strich trifft sie Entscheidungen durchdacht, die ihr einen Vorteil bringen.«

»Daraus schließe ich, dass sie keinen schnellen Tod meinerseits will. Was ist es dann, Rache?«

»Nein, in Wahrheit hast du ihr ein feines Geschenk gemacht.«

Leo runzelte die Stirn, er verstand gar nichts mehr.

»Salomea hat einen Ausweg gesucht, um aus der Verbindung zu Marysia auszubrechen. So wie alles abgelaufen ist, konnte sie ihre Geliebte belasten und ist laut Rechtsprechung mit einem blauen Auge davongekommen. Der einzige Wermutstropfen ist, dass Viktor nicht die Füße stillhalten wird. Er fühlt sich verraten! Salomea hat nicht nur seine Tochter belogen und betrogen, sondern ihn ebenfalls. Das lässt er nicht auf sich sitzen.«

»Was soll ich tun?«

»Womöglich ist das eine Nummer zu groß für dich. Trotzdem solltest du es versuchen, denn du weißt, was bei einem Scheitern passiert.«

‚Cassie und Renilda – ich muss ihre Leben schützen!‘ »Das bedeutet?«

»Es geht darum, Viktor aufzuspüren und ihn auszuschalten.«

Leo bremste abrupt ab und kam gefährlich an den Straßenrand, an dem es steil bergab ging.

»Hallo Freundchen, pass auf! Ich habe mit dem Leben noch nicht abgeschlossen!« Serge lockerte den Gurt, in den es ihn hineingepresst hatte.

»Viktor? Bist du verrückt?«

»Nana, wenn andere mich verrückt nennen, sind sie meist innerhalb einer Sekunde tot.«

Leonard stierte Serge unbeirrt an. »Weshalb?«

»Das liegt doch auf der Hand. Viktor will verständlicherweise Salomeas Tod. Marysia, sein einziges geliebtes Kind hat Selbstmord begangen. Obendrein hat Salomea Insider-Infos weitergegeben, weshalb Viktors Kartell in Polen beinahe aufgelöst wurde. Das tut weh.«

»Damit erzählst du mir nichts Neues. Ich will wissen, was du mit Salomea zu schaffen hast?«

Serge grinste. »Fahr weiter.«

Leo startete den Wagen neu.

»Salomea war meine Gespielin, ganz zu Beginn, als sie unter Viktors Fittiche kam. Sie war damals scheu, hat selbst schlimme Erfahrungen mit Männern gemacht, und war von mir als Gentleman überrascht.«

Leo hätte am liebsten gekotzt.

»Ich erspare dir die Details, aber ich habe ihr ein paar Überlebenstipps gegeben. Als sich Marysia in sie verliebt hatte, begriff Salomea rasch, was das Beste für ihr Weiterkommen war«, plauderte Serge offen aus. »Wir sind stets gut miteinander gewesen. Salomea ist eine kluge Frau, sie hat sich gemausert. Sie hat sich in ihrer Not an mich gewandt, da die Behörden ihr nach wie vor eine neue Identität verweigern, die ihr Schutz vor Viktor bieten könnte. Sie ist keine Frau, die wartet. Selbst kann sie schlecht nach Viktor suchen. Solange sie auf Bewährung ist, muss sie sich zumindest weitestgehend ruhig verhalten. Ich bin einfach ihr Vermittler, der sich den Arsch vergolden lässt. Dafür, dass du die Schmutzarbeit machst.«

Leo verzog unwillig das Gesicht.

»Ich habe schon immer geahnt, dass in dir ein schauspielerisches Talent steckt. Als Michael und Elektriker hast du Salomea um den Finger gewickelt. Dein Vater Jens hat nie erkannt, welchen rohen Diamanten er an seiner Seite hatte. Das hat ihm sein Leben gekostet.«

Serge lobte ihn! Ein Lob, auf das Leonard getrost einen fahren lassen konnte. Und doch war es gefühlsmäßig der Zuckerwürfel, der an seiner dunklen Seite kratzte. »Ach, dann ist deine Wahl nicht deshalb auf mich gefallen, weil du weißt, wo ich angreifbar bin? Und du selbst eine alte Rechnung mit diesem Viktor offen hast?«

»Das sind durchaus ausschlaggebende Punkte. Wobei, erpressbar ist jeder Mensch. Es war herrlich, die zarte Annäherung zwischen dir und dieser Cassie zu beobachten. Sie hat sich echt lange nach Philipps Tod geziert. Liegt wohl an dem kleinen Mädchen … So ein süßes Ding.«

Leo rümpfte die Nase. Bald hatten sie den bergigen Teil des Fahrwegs hinter sich. »Mit dieser Annäherung ist es ja endgültig vorbei. Ich habe sie versetzt, zum wiederholten Male, das verzeiht sie mir niemals.«

»Entschuldige.« In Serges Stimme schwang sogar ein wenig Anteilnahme mit. »Du solltest nicht deswegen böse sein, immerhin schenke ich ihr das Leben. Vorerst. Sieh es als Vertrauensvorschuss. Es liegt allein an dir, wie sich alles entwickeln wird.«

‚Verdammte Ratte!‘ Leo fuhr, so rasch es das Tempo erlaubte, durch die S-Kurve. Ein Auto kam ihnen entgegen. Er erkannte darin Herbert. Stur blickte Leonard geradeaus und unterließ einen freundschaftlichen Gruß. Er folgte der ebeneren Talstraße. In ein paar Minuten würde Cassie erfahren, dass sich an seiner Seite eine weitere Person befunden hatte. ‚Von wegen Notfall Mama.‘ – Cassandra war nicht dumm! Ob sie irgendwann begreifen würde, dass er deshalb gelogen und seine Mutter vorgeschoben hatte, um sie und Renilda zu schützen? Ihm verzeihen …? Wenn er nicht dabei draufging! »Okay, falls ich das mache, wo soll dieser Viktor sein? Habe ich Komplizen?«

»Es ist schwer, gute und loyale Mitarbeiter zu finden. Und du verstehst sicher, dass ich nicht neuerlich eigene Leute verlieren möchte.«

»Das heißt?«

»Es geht für dich nach Bella Italia.«

»Und weiter?«

Serge zupfte sein Hemd zurecht. »Du wirst die Dinge richtig erledigen. Ob mit bloßen Händen, Messer oder einer Waffe, ganz egal, nur es muss beendet werden. Wenn Salomea mich bezahlt hat, bist auch du deine Schulden los. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

»Und das ist alles an Information?«

»Das ist das, was du einstweilen wissen musst.« Serge setzte sich auf. »Redest du mit der Polizei, ist die Familie Rosenrauch plus Anhang ausgelöscht.«

»Du weißt aber, dass Herbert pensionierter Polizist ist?«

»Sicher, das erhöht den Spaßfaktor! Und wo er uns gerade erst entgegengekommen ist.« Serge tippte bei der Frontscheibe nach links. »Ach, komm – sei so gut, lass mich da vorne raus.«

Leo hielt auf dem schottrigen Parkplatz.

Serge öffnete die Beifahrertür, ließ eine Sim-Karte, die in zwei Hälften geschnitten war, auf die Fußmatte fallen. »Meine alte Nummer ist ab jetzt inaktiv. Ich melde mich demnächst, dann werden wir alles fixieren.« Er nestelte etwas aus seiner Hosentasche und Leo erkannte eine Fernsteuerung, die Serge per Knopfdruck aktivierte. »Du hast fünfzehn Minuten, um die Bombe zu entsorgen, die unter dem rechten Radkasten hängt. Wähle ein gutes Plätzchen. Tick … tick … tick!« Er warf die Beifahrertür zu.

‚Bombe!‘ Leo zweifelte keine Sekunde an der Echtheit dieser Aussage. Und zeitgleich war der Sprengkörper Serges Freibrief, damit der Mistkerl gefahrlos abhauen konnte! Wutentbrannt gab Leonard Gas, die Räder drehten am Schotter durch. In seinem Kopf raste es. Allzu viel Zeit blieb ihn nicht. Er musste aus der Stadt hinaus! Ein leerer Parkplatz? Vor allem durfte er niemanden gefährden! Und ihn sollte keiner dabei sehen, wenn er die Bombe abmontierte! Zudem war er am besten über alle Berge, wenn sie tatsächlich detonierte …

‚Mur! – Im Fluss versenken!‘

Leo fuhr im Höllentempo weiter, mit der Angst im Nacken, eine Strafe oder sogar eine Verfolgung zu riskieren, falls die Polizei auf ihn aufmerksam wurde. Nach einem Baumarkt bog er in eine Seitenstraße ein. Hinter den Wohnhäusern führte ein Forstweg unter die Grünhübel-Brücke.

Um diese Uhrzeit war dort meist nicht viel los. Leo wurde mächtig im Sitz durcheinandergebeutelt, als er den unebenen Pfad folgte. Er nahm weder auf den Wagen noch auf sich Rücksicht. Abrupt bremste er schließlich ab. Sein Blick auf die Uhr am Display bewies, dass er etwa zehn Minuten bis zur Detonation hatte. Leo ließ den Motor laufen, als er aus dem Fahrzeug hastete.

Er schnaufte erleichtert durch, als er feststellte, dass die Bombe nur mit einem Klebeband befestigt war, das er schnell lösen konnte. Mit Sender und dem Sprengsatz in der Hand lief er Richtung Ufer, schleuderte alles so weit weg, wie er konnte. Dann rannte er zurück, sprang in den Wagen und fuhr los. ‚Fünf Minuten …‘ Da befand er sich locker aus der Gefahrenzone!

»Und dann? … Dann fängt der richtige Scheiß erst an!«

Friedas Besuch

Anfang Juni 2023

Dumpf erklangen Stimmen aus dem Esszimmer. Mama und Herbert wollten Frieda moralisch beistehen, denn ihr Sohn Leonard war seit Mai verschwunden. Nur ein Zimmer weiter befand ich mich, stieß die Wiege im gleichmäßigen Rhythmus an, in der meine Tochter Renilda schlummerte.

Ich sorgte mich kein Stück weniger. Wehmutsvoll dachte ich an Leonard. Die Umstände seines Weggehens blieben mysteriös. ‚Cassie, ich hoffe, du wirst mich eines Tages verstehen‘, hatte er auf einen kleinen Zettel notiert und für mich sichtbar auf der Küchenablage seiner Wohnung hinterlegt. Auch seiner Mutter hatte er eine Nachricht per WhatsApp geschickt. ‚Sorry, ich weiß, es klingt seltsam. Aber ich bin vermutlich für längere Zeit nicht erreichbar. Such mich nicht. Ich werde nicht auf irgendwelche Nachrichten oder Anrufe reagieren können. Pass auf dich auf.‘

Sollte ich Philipp rufen, der nach seinem Tod zum Dschinn geworden war, und mit dem ich telepathisch kommunizieren konnte? Vielleicht schaffte er es mit seinen Geisterkräften, Licht ins Dunkel zu bringen. Zumindest hatte er versprochen, unsere Tochter Renilda und mich zu beschützen. Aber wir beide befanden uns nicht in Gefahr. ‚Und Philipp ist sicher nicht erfreut, wenn ich ihn bitte, nach meinem Lover zu suchen. Oder hat Leo bezüglich unserer Liebe erneut kalte Füße bekommen?‘

Ich stoppte die sanften Wiegebewegungen und blickte auf Renis zierliches Gesicht. Sie schlief tief und fest, und bekam zum Glück von meinem Kummer nichts mit.

Sanft strich ich über ihre Wange. »Träum schön.« Ich stand auf und ging ins Esszimmer. Frieda saß mit hängenden Schultern da. Ihre Lippen waren ganz schmal.

»Schläft Reni?«, wollte meine Mutter wissen.

Ich nickte. »Tief und fest.«

Herbert zog einen Stuhl zurück. »Setz dich an meine Seite.«

»Gibt es denn Neuigkeiten?«

Frieda blickte mit verhangenen Augen auf. »Ihm … ihm wird doch nichts geschehen sein?«, sprach sie mit dünner Stimme.

Mama rückte näher zu ihr und fasste nach ihrer Hand. »Leo lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Es gibt sicher einen guten Grund für sein Verschwinden.«

»Bestimmt geht es um etwas Illegales, sonst hätte er erzählt, was los ist. War ihm das mit Jens noch immer keine Lehre? Wie oft habe ich gezittert, dass sein Vater ihn völlig auf die dunkle Seite zieht. Und nun? Nun kann ich seinem Erzeuger nicht die Schuld geben, denn der ist tot«, fuhr Leos Mutter fort.

Herbert räusperte sich. »Die Polizei geht zumindest von keiner Entführung aus.«

»Das macht es kaum besser«, brummte ich. Herbert hatte Lea gebeten, als Polizistin in der Sache zu recherchieren. Es gab Mutmaßungen, aber keine konkreten Beweise. So viele Fragen blieben unbeantwortet. Wer war der Kerl neben Leonard im Fahrzeug, als mich Herbert außerplanmäßig vom Berg holen musste? Smartphone und Autoschlüssel hatte Leo in seiner Wohnung zurückgelassen, sein Auto parkte unberührt vor dem Gebäude. Es gab keine Hinweise, dass er von dort ein Taxi genommen hätte, und wo er sich gegenwärtig befand. Hatte ihn der ominöse Unbekannte abgeholt? War er zu Fuß Richtung Bahnhof aufgebrochen und in den Menschenmassen untergegangen? Sogar von der Arbeitsstelle hatte er sich per SMS an seinen Chef auf unbestimmte Zeit freistellen lassen.

Somit musste sein Weggehen in voller Absicht geschehen sein! Ich verstand nicht, weshalb sich Leo mir nicht anvertraut hatte. Er wusste von meinen Fähigkeiten! Wir waren Freunde, kurz davor es neuerlich als Paar zu versuchen! Oder befand er sich doch in Gefahr? …

So schwankte ich zwischen Besorgnis und Unverständnis, was mich eher darin bestärkte, abzuwarten. Hätte Leonard es anders gewollt, hätte er dementsprechend reagiert! Punkt.

»Was ist, wenn … wenn er nie mehr heimkommt?« Frieda presste ein Stofftaschentuch an ihre zitternden Lippen.

»Das darfst du nicht denken«, meinte Mama sanft. »Glaub daran, dass alles gut werden wird. Komm, lass uns ein bisschen Spazierengehen, draußen scheint herrlich warm die Sonne. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.«

Frieda ließ sich mitziehen, während Herbert und ich beim Esstisch sitzen blieben.

»Was denkst du, ist wirklich los?«, fragte ich ihn rundheraus.

»Hm, es bleibt seltsam. Trotzdem habe ich ein paar Neuigkeiten für dich.«

»Ach ja? Hat Lea dir diese zukommen lassen?«

Herbert nickte. »Kannst du dich noch an das Polizeiaufgebot erinnern, als wir im Mai von der Hohen Ranach runtergefahren sind?«

»Wie könnte ich das vergessen. Es gab eine Detonation in der Mur. Gibt es dazu neue Erkenntnisse?«

»Erkenntnisse ist zu viel gesagt. Taucher haben eine Fernsteuerung sowie Hartplastikreste gefunden, die wohl zu einer Autobombe gehört haben. Darauf lässt auch die Sprengkraft schließen, sonst hätte es ein größeres unterirdisches Loch gegeben. Bis auf ein paar umgekommene Fische ist alles glimpflich verlaufen. Im nahegelegenen Wasserkraftwerk wurden keine weiteren Teile angeschwemmt. Wie es ausschaut, wurde die Bombe im Wasser entsorgt, um nicht anderweitig einen größeren Schaden anzurichten.«

»Könnte Leo das gemacht haben?«

»Es wurde ein dunkles Fahrzeug gesehen, der Fahrzeugtyp stimmt überein. Mittlerweile wurde das Reifenprofil ausgewertet, das auf dem Waldweg sichergestellt werden konnte.«

Ich setzte mich aufrechter hin. »Und? Habt ihr es mit den Rädern seines Skodas abgeglichen?«

»Es ist identisch.«

Baff fand ich keine Antwort.

»Wie du weißt, habe ich den Beifahrer von Leonard in der Kurve nur kurz gesehen. Lea und ich haben es trotzdem mit einem Phantombild probiert. Leider sind wir über die Suchfunktion zu keinem Ergebnis gekommen, wer der Kerl sein könnte.«

»Denkst du, Leonard wurde bedroht?«

»Bedrohungen schließen meist die Familie oder enge Freunde mit ein.«

Ich fuhr von meinem Sessel auf. »Das … das … seine Mutter?«

»Oder dich … euch. Allein, wenn ich danach gehe, wo der Unbekannte ihm aufgelauert hat. Er muss von eurer Wanderung gewusst haben.«

Ein Beben flirrte in mir nach oben.

»Ist dir irgendetwas aufgefallen? Menschen, Autos … die auf einmal häufiger aufgetaucht sind? Wirkte Leo nervöser als sonst?«

Ich schüttelte abwehrend den Kopf. »So viel Kontakt hatten Leo und ich auch wieder nicht. Meist haben wir geschrieben oder telefoniert … Erst in den letzten Wochen … Ich verstehe einfach nicht, wer an uns Interesse haben könnte.«

»Die Frauenmorde durch Jens, Alinas Entführung, die Geschichte mit den Polinnen und Philipp … Das sind alles Fälle, die eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, nicht nur in unserer Region. Für mich ist die einzige Erklärung für den Telefonanruf am Gipfelkreuz und Leonards überstürztes Wegrennen, dass ihr beobachtet wurdet.«

»Leonard wurde bei allem rausgehalten. Zumindest so gut es ging.«

Herbert stellte sich mir gegenüber. »Irgendwo bei den Fällen gibt es eine Verbindung. Ein Insider, der über Leos kriminelle Vergangenheit Bescheid weiß.«

»Noch aus der Zeit, als er die krummen Dinge mit seinem Vater gedreht hat?«

»Möglich. Die Kurierfahrer der gegnerischen Seite sind damals gestorben und das Geld hat der Besitzer der beschlagnahmten Ware nie gesehen. Kennst du zufällig einen Namen?«

»Leider nicht.« Mein Mund wurde trocken. Da war Leonard dabei gewesen, die alten Geschichten hinter sich zu lassen, neu anzufangen, ehrlich zu leben … und dann … dann holte ihn seine Vergangenheit ein! Meine Beine gaben nach und ich plumpste auf den nächstbesten Stuhl.

Herbert legte die Hand auf meine Schulter. »Vielleicht hilft dir deine Magie dabei, etwas in Erfahrung zu bringen. Und falls du kannst, ich denke, es wäre an der Zeit Philipp zu rufen.«

»Wir sollten Frieda nichts von den Verdächtigungen erzählen. Das verträgt ihr zartes Gemüt nicht.«

»Stimmt. Frieda ist labil. Leo ist ihr einziger Halt im Leben. Außer Gerti hat sie keine Freundinnen.«

Ich suchte seinen Blick. »Und? Was können wir sonst tun?«

»Vorsichtig sein.«

Römische Zeiten

Es war wie verhext. Zum x-ten Mal probierte ich, einen Kontakt zu Philipp herzustellen, aber es fühlte sich nicht so an, als hätte ich dabei Erfolg. Die Glut meiner Räuchermischung erlosch und wollte partout keine Aromen verströmen. Beim innerlichen Fokussieren auf Philipp trifteten meine Gedanken stets ab und stattdessen schob sich Leonard hinein. Das verstärkte meine Sorge um ihn! Auch hierbei gab es eine unsichtbare Barriere. Solch eine Distanz zwischen uns hatte ich zum letzten Mal wahrgenommen, als ich mich für Philipp als Lebenspartner und gegen Leonard entschieden hatte. So, als ob er mit Absicht eine abwehrende Wand zwischen uns aufgestellt hätte. Es fröstelte kalt über meine Haut. Unverrichteter Dinge kehrte ich der Kellerkräuterstube den Rücken und suchte mir ein beschauliches Plätzchen auf der Gartenbank. Reni befand sich bei Mama und Herbert, die mit ihr einen Spaziergang machten.

Mich umfing das vertraute Zwitschern der Vögel, das Summen der Insekten, lauer Wind fuhr durch meine Locken und liebkoste meine Haut. Tja, wirklich ruhiger wurde ich trotzdem nicht. Ich blickte zu einem gefüllten Kräutersäckchen. Insgesamt gab es vier Stück davon, die ich von Zeit zu Zeit an der Grundstücksgrenze erneuerte. Sie waren ein Dankeschön für die Wächter des Nordens, Ostens, Südens und Westens, die dafür sorgten, den negativen Energien auf diesem Grundstück keinen Einlass zu geben. Das war mir besonders wegen Renilda wichtig.

»Braucht es andere Schutzkräuter für uns?« Mein Körper neigte sich leicht nach hinten, was so viel wie ein Nein bedeutete. Irgendwie war ich mit meinem Latein am Ende. Ich griff nach dem Smartphone und öffnete die Suchleiste, da sprang mir ein Körperöl-Rezept entgegen.

»Römisch … hm.« Ich scrollte über die Zutatenliste. »Olivenöl, Zimtstangen, Lorbeerblätter … Das habe ich alles da!« Und Zeit! Entschlossen lief ich neuerlich in die Kräuterstube.

Das Mischen diverser Tinkturen, Extrakten, Salben … war für mich eine herrlich erdende Tätigkeit. Dass ich die richtige Wahl getroffen hatte, bewies die Ruhe, die sich bei mir einstellte. Mit niedriger Temperatur erwärmte ich einhundertfünfzig Milliliter Olivenöl und fügte vier Zimtstangen sowie acht Lorbeerblätter hinzu. Gleichförmig rührte ich mit einem Glasstab in dem Gemisch, und stellte die Hitze schließlich aus.

‚Abkühlen lassen und danach abfüllen …‘

Eine dünne Hitzesäule schlängelte sich in meine Nase. Ich schöpfte nach Atem, die Lunge füllte sich mit einem feinen Duft. Dieser zog mich fort und …

Im Jahre 416

… wandelte sich in nasskalte modrige Luft, die mich umfing. Ich stieß mit meiner Sandale gegen einen Pflasterstein. Gerade noch fing ich mich an einem grob gehauenen Mauerwerk ab. Verwirrt sah ich an mir hinab. Über meiner Tunika, die mit Fibeln[Fußnote 2] zusammengehalten wurde, umschlang mich eine gelbe Stola, die einen ledernen breiten Saum aufwies. Instinktiv wusste ich, dass dieser Kleidungsstil mich als verheiratete Frau auswies. Es dämmerte mir, dass mir die Aromen des Körperöls einen Zugang in die römische Zeit geschenkt hatten. Zu meinem älteren Ich! Bilder prasselten auf mich ein, zeigten mich als Hebamme und Heilerin.Die meiste Zeit lebte ich von meinem Mann Emilius getrennt. Während er ein kleines Landgut außerhalb der Stadt bewirtschaftete, wohnte ich in einem mehrstöckigen Haus. Ich hatte mir gegen geringes Entgelt ein Quartier gemietet, die für meine Kundschaft zentraler gelegen und damit besser zu erreichen war. Der Umstand, Emilius nicht ständig um mich zu haben, empfand ich nicht als Nachteil. Sein Haar war grau, grobe raue Hände zeugten von harter Arbeit, sein Interesse galt dem Wein und nicht mir. So war ich sein angetrautes Weib und lebte trotzdem derartig, als würde es diese Verbindung nicht geben.

Ich setzte meinen Heimweg fort. Wie von selbst trugen mich die Füße drei Stufen hinauf zum Eingang. Ich zog einen Schlüssel aus der Gewandtasche und öffnete die Tür. Wärme strömte mir aus meiner Behausung entgegen. Ich betrachtete das Innere des Raumes. Auf Regalen fanden sich Schüsseln und Töpfe, darin lagerten Kräuter. Die Ansammlung erinnerte mich an meine Kräuterstube – Wirkstätte und Zufluchtsort in einem. Manches änderte sich selbst in den unterschiedlichsten Epochen nicht. Im Ofen glühte Kohle. Ich bückte mich und legte ein paar Holzscheite nach. Flammen züngelten empor.

Ein Klopfen ließ mich hochfahren. Wer kam um diese Zeit? Mein Gemahl Emilius? Nein, so spät am Tag war er meist stockbesoffen. Kundschaft?

»Quis est? – Wer ist es?« Mühelos kam mir die fremd anmutende Sprache[Fußnote 3] über die Lippen. Ich öffnete die Tür einen Spalt, blickte auf eine unbekannte Frau mit verquollenen Augen.

»Minerva?«

Ich nickte und bestätigte ihr damit meinen Namen.

»Bitte … Es tut mir leid.« Sie drückte mir ein Bündel in die Hand, wandte sich ab und rannte davon.

»Warte!«, rief ich ihr hinterher.

Ihr lautes Schluchzen fuhr mir durch Mark und Bein. Die Fremde blieb nicht stehen. Sie verschwand hinter der nächsten Ecke und mit ihr das leiser werdende Klatschen ihrer Fußsohlen auf den harten Untergrund. Ein Säugling wimmerte in meinen Armen. Schmerzhaft durchschoss es mein Herz. Ich machte kehrt und besah mir das Kind. Es war ein Mädchen und erst wenige Stunden alt, wie mir die blutige Nabelschnur bewies. Auf den ersten Blick wirkte es gesund. Etliche Kinder waren bereits bei mir abgelegt worden. Vor gar nicht langer Zeit hatten die Mütter dafür belebte Plätze genutzt. Dieses Vorgehen war gesellschaftlich akzeptiert gewesen. Missbildungen, Armut oder Eheprobleme … galten als erlaubte Gründe. Jetzt, seit sich die Christianisierung unaufhaltsam ausbreitete, war das Aussetzen verpönt. Obwohl ich an mehrere Götter und Naturgeister glaubte, war ich froh, dass Mütter ihre Kinder nicht mehr verstohlen in den Wald brachten, wo sie Wildtieren als Leckerbissen dienten, sondern zu mir kamen. Damit sie straflos blieben und ihre Namen nicht preisgeben mussten, benötigten die Mütter Verbündete. Es hatte sich herumgesprochen, dass ich gut für die Kinder sorgte, ehe ich sie weitergab. In ein Kloster, zu einem nahegelegenen Bauern …

Meist handelte es sich keineswegs um unerwünschte Wesen, sondern waren Sprösslinge einer Liebe, die verboten und geheim unauslöschlich eingebrannt bleiben würde. Oder die Armut war zu groß, um ein Mäulchen mehr zu stopfen. Häufig traf es da die Mädchen. Sie besaßen nicht die Arbeitskraft eines Jungen, obendrein mussten die Eltern bei einer Heirat eine Mitgift beisteuern. Alles Dinge, weshalb sich viele kurz nach der Geburt von dem eigenen Kind trennten. Oft wartete dann Sklaverei auf die kleinen Wesen. Mit Glück erreichten sie das Erwachsenenalter, denn die Sterblichkeit war hoch. Kanäle und öffentliche Latrinen konnten den Durchfällen kaum Einhalt gebieten. Flöhe, Läuse und Zecken wimmelten im Schlammwasser, das dazu bestialisch stank. Selbst in den Badehäusern wurde kaum das Wasser ausgetauscht. So breiteten sich im Ort Krankheiten rasend schnell aus, nahmen keine Rücksicht auf Stand und Rang.

Dank meiner Arbeit wusste ich, wie wichtig es war, Wasser zu erhitzen. Wenn ich mich waschen wollte, wählte ich dafür ein fließendes Gewässer.

Das Mädchen greinte und holte mich aus meinen Gedanken. Schützend hielt ich es im Arm und griff nach einem Topf. Ein Mehlsüppchen musste vorerst reichen, um den ärgsten Hunger zu stillen. Eine Mahlzeit, die rasch angerührt war. Gleich danach wollte ich weiter zur Albinus-Bäuerin Inuia. Sie hatte vor drei Tagen eine Totgeburt erleiden müssen – zum dritten Mal in Folge ihr Kind verloren. Dieses wäre ein Mädchen gewesen … Ich hoffte, dass sie mein Mündel liebevoll aufnahm. Vielleicht konnte sie das Mädchen sogar noch an ihrer Brust säugen. Dafür war jede Stunde hilfreich, die ich mich eher zu ihr aufmachte – trotz des ungemütlichen Wetters.

Das Wimmern der Kleinen schwoll weiter an. Ich strich über die rosig-nassen Bäckchen. »Ich weiß, lieber wärst du bei deiner Mutter. Glaub mir, sie leidet nicht weniger als du, das habe ich in ihrem Gesicht gelesen. Aber ich werde dafür sorgen, dass du ein schönes Lebensplätzchen erhältst. Stärke dich für den Weg dorthin.«

Es dämmerte, als ich zur Behausung der Albinus’ kam. Dumpfes Licht schimmerte mir aus dem Fenster entgegen. Entschlossen pochte ich gegen die Tür. Als ein: »Herein« erklang, trat ich ins Innere. Der vertraute Geruch nach verbranntem Talg, der aus der Lampe strömte, umfing mich. Mein Blick fiel auf Inuia, die vor ihrem Abendmahl saß und kaum etwas angerührt hatte, während der Teller ihres Mannes fast geleert war. Ihre Schultern waren nach vorne gesunken, das Gesicht wirkte schmal. Sie sah nicht einmal auf.

»Entschuldigt die Störung zu dieser späten Stunde«, bat ich.

»Können wir etwas für dich tun?«, fragte der Albinus-Bauer.

Mein Mündel wimmerte.

Ein Ruck ging durch Inuia. Ich erkannte dunkle Schatten unter ihren verquollenen Augen, die davon zeugten, dass sie kaum schlief.

Ich räusperte mich. »Seht es mir nach, wenn ich den Säugling zu euch bringe. Er wurde bei mir abgegeben. Eine Mutter, die vor Schmerz vergeht, weil es dieses Mädchen nicht ernähren kann. Ich weiß nicht, ob es eure Qualen zu mindern vermag. Und doch braucht es Fürsorge und Liebe. Sagt, falls meine Bitte, euch um das Kinde zu kümmern, zu viel verlangt ist.«

»Ein Mädchen?«, wisperte Inuia. Sie erhob sich mit zittrigen Beinen.

Ich kam ihr entgegen. Selbst ihre Hände bebten, als sie das Tuch zurückschob, dass die Kleine vor der Kühle geschützt hatte.

»Hat es einen Namen?«

»Wenn ihr ihm einen gebt.«

Inuia blickte in die Richtung ihres Mannes. Er nickte. Ein erleichtertes Seufzen floss über ihre Lippen. Sie nahm mir das Mündel aus der Hand, schnupperte an ihm. »Aurelia Inuia Albinus.«

Der Albinus-Bauer trat an ihre Seite. »Aurelia Inuia Albinus«, wiederholte er und gab sein Einverständnis dafür, dass das Mädchen eine Familie gefunden hatte.

Ich wischte mir über die feuchten Augen. Aurelia stand für Gold – sie hatten einen Goldschatz erhalten!

Das Mädchen machte schmatzende Geräusche. »Aurelia hat Hunger.« Inuias Lächeln wirkte zaghaft. Doch ihre Stimme klang kräftiger und in ihren Augen lag ein freudiges Funkeln. Sie legte das Kind an ihre Brust.

»Dann werde ich mich verabschieden.«

Der Bauer begleitete mich zum Ausgang. »Es wird bald dunkel, du könntest bei uns nächtigen.«

»Danke für das Angebot, aber der Weg ist nicht allzu weit. Und was ist, wenn weitere arme Seelen meine Hilfe benötigen? Sie sollen nicht lange vor verschlossener Tür stehen.«

»Wenn, dann habe ich zu danken. Bei Jupiter[Fußnote 4], mit dem kleinen Wesen hast du mein Weib zu neuem Leben erweckt. Wir werden Aurelia behüten, als wäre sie aus eigenem Fleisch und Blut.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen. Euer Kind. Niemand braucht zu erfahren, dass es ein Findling ist.«

Der Albinus-Bauer nickte mir zu. Zum Abschied reichten wir uns die Hände. Mit leichtem Herzen zog ich von dannen. Die mütterliche Fürsorge hatte das bitterliche Weinen der Kleine verstummen lassen. Inuias Mann war bei diesem Anblick butterweich geworden. Er wusste, wie sehr sich seine Frau Nachwuchs wünschte. Dass es kein gemeinsames Kind gab, darunter hatten beide gelitten.

Es war eine besondere Wärme, die eine Familie zu umfangen vermochte. Ein Gefühl, das ich nicht vollumfänglich kannte. Die Mutter war bei meiner Geburt gestorben, mein Vater laut Erzählungen kurz zuvor an einer schwärenden Wunde. Ich verdankte ihrem Bruder, dass ich nicht ausgesetzt worden war, sondern gemeinsam mit seinen Kindern aufwachsen durfte. Wobei, ‚Dank‘ war das falsche Wort. Muttersbruder[Fußnote 5] war ein grausamer Herr, der mich häufig geschlagen hatte – meist grundlos. Es reichte, wenn ich zu laut atmete.

Eines Abends lauschte ich an der Stubentür und hörte, dass er mich verheiraten wollte. Er und sein Gast feilschten um die Mitgift. Muttersbruder jammerte, dabei hatte er sich durch den Tod meiner Eltern ins gemachte Nest gesetzt. Ich floh in derselben Nacht. Ließ mit knapp zwölf Jahren alles zurück. Nicht einmal von den Amitini[Fußnote 6] verabschiedete ich mich, was ich nach wie vor bedauerte. Tage hatte ich mich von Beeren ernährt, Wasser mit der hohlen Hand aus dem Bach geschöpft und getrunken. In der Früh naschte ich vom Tau der Pflanzen, der köstlich schmeckte, aber nicht mein verwundetes Herz zu heilen vermochte. Am Ende meiner Kräfte und weit weg vom Heimatort war ich unter einem Baum liegengeblieben. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen und wollte mich der Natur hingeben. Da kam ein ältliches Weib des Weges. Sie war es gewesen, die sich großherzig meiner annahm und ihr Wissen als Heilerin mit mir teilte. So war aus dem größten Schrecken in meinem Leben etwas Fruchtbares geworden. Ich hatte ein neues Zuhause gefunden, das zu meinem Lebensplatz wurde.

Eilig schritt ich aus und schloss die Erinnerungen, die Schmerz und Dankbarkeit vereinten, in meinen Tiefen ein. In der Dunkelheit kroch die feuchte Kälte hartnäckig durch mein Gewand. Hinzu öffnete der Himmel seine Schleusen und ließ erste Tropfen herniederfallen. Ich sehnte mich nach meiner warmen Stube. Inzwischen war es so finster, dass ich kaum die Hand vor dem Gesicht erkannte. Als ich den Eingang erreichte, stieß ich gegen etwas Weiches.

Das Stöhnen eines Mannes flog mir entgegen. »Matrona[Fußnote 7]?«, erklang es matt und so, als hätte derjenige Schmerzen.

Lag er deshalb vor den Stufen meiner Unterkunft, weil er Hilfe benötigte? »Kommt herein.« Ich öffnete die Tür.

Rücklings fiel der Leib des Unbekannten auf den Holzboden und er blieb regungslos liegen.

Er war verletzt! Rasch entzündete ich Lampen, um das Ausmaß zu erkennen. Blut sickerte durch den Stoff seiner Tunika. Der Purpursaum zeigte, dass er ein Angehöriger der Equites[Fußnote 8]war. Ein Messer steckte in seinem Bauch. Mein Handeln duldete keinen Aufschub! Ich legte den Schürhaken in die glühende Kohle, die zum Glück nicht erloschen war und darauf trockenes Holz, um dem Feuer neue Kraft zu schenken. Danach fasste ich nach seinen Beinen, zog ihn ins Innere, bis er auf dem Teppich zu liegen kam. Ich verschloss den Eingang, obwohl zu dieser abendlichen Stunde und bei dem Mistwetter sich ohnehin kaum jemand blicken ließe.

»Wer seid Ihr?«

Statt zu antworten, blieben seine Augen geschlossen. Sein Brustkorb senkte und hob sich unter Anstrengung bei jedem Atemzug. Ein Zittern lief über seinen Körper. Ich beugte mich über den Fremden und schob seine Tunika nach oben, zählte sechs Stichverletzungen unterschiedlicher Tiefe. Der Tod zog an seinem Leben.

»Ich werde Eure Wunden mit dem glühenden Eisen verschließen müssen.«

Sein Grunzen klang benommen, ließ weder Einverständnis noch Ablehnung erkennen und doch offenbarte es Kampfesgeist. Ich schob ihm einen Lappen in den Mund, damit seine Zunge heil blieb und er diese nicht abzubeißen vermochte.

Dann griff ich nach dem glühenden Haken, kniete neben ihm nieder. »Haltet still, so gut Ihr könnt. Ich löse zuerst das Messer aus Eurem Leib.«

Vorsichtig zog ich daran. Sobald sich der Blutfluss verstärkte, versenkte ich das erhitzte Eisen in seiner Wunde. Der Geruch von verbranntem Fleisch füllte meine Nase und den Raum gleichermaßen. Endlich war die scharfe Klinge draußen. Der Fremde bäumte sich ächzend auf. Seine dunkelbraunen Augen wirkten bange und verwirrt! Ich drückte ihn mit einer Hand an der Schulter nach unten, während ich unerbittlich mit der anderen den glimmenden Haken auf die Verletzung hielt.

»Bald habt Ihr es geschafft.«

Sein Körper wurde schlapp. Die Qualen hatten ihm die Besinnung geraubt. Der Geist den Kampf gegen das Unvermeidliche aufgegeben.

»Seht dieses Vergessen als Geschenk«, sprach ich mit mildtätiger Stimme, obwohl er mich nicht mehr zu hören vermochte. Noch war ich nicht fertig in meinem Tun. Zügig machte ich mich daran, die beiden weiteren Wunden zu verschließen, aus denen Leibessaft sickerte. Die anderen Blutungen waren von selbst zum Stillstand gekommen. Ob mein Einschreiten sein Leben retten konnte, würden erst die nächsten Tage zeigen.

Ich nahm den Lappen aus seinem Mund, musterte sein kantiges Gesicht, das schwarze Haar, den sehnigen Körper. So wie es aussah, war er keiner Fehde abgeneigt. Sein Alter, das wohl dem meinigen mit Mitte Zwanzig entsprach, wertete ich als Vorteil. Und doch bedeuteten für viele derartige Verletzungen den Tod, brachten die Körpersäfte aus dem Gleichgewicht und ließen die Wunden schwären.

Nein, das durfte nicht geschehen! Ich sprang auf und wählte Kräuter aus meinen gesammelten Schätzen: Schafgarbe, Brennnessel, Zinnkraut und Spitzwegerich. Nachdem ich die getrockneten Pflanzenteile zerstoßen hatte, vermengte ich das entstandene Pulver mit etwas Leindotteröl. Die breiartige Masse strich ich auf ein dünnes Leinen und deckte damit die Verletzungen ab. Über seinen Leib legte ich eine Decke. »Ruht Euch gut aus.«

Ich erhob mich, trat an den Herd, um Tee und Suppe zu kochen. Für später … für ihn. Gab es einen Grund dafür, dass der Fremde sich an meine Schwelle verirrt hatte? Er war mir völlig unbekannt. Ich trat an die Eingangstür, spähte hinaus in die Dunkelheit. Inzwischen goss es wie aus Kübeln. Damit vernichtete das Wasser jegliche Spuren. Trotzdem genoss ich für einen Moment die kühlende Brise, die über meine Wangen strich. ‚Hoffentlich stirbt er mir nicht weg …‘

»Willst du hinein oder hinaus?«

Ich blinzelte. Mutter stand mit Renilda im Arm vor mir und schaute mich erwartungsvoll an, während ich mich unter dem Türstock der Kräuterstube befand.

»Ähm.« Ich räusperte mich. »Ich habe ein Öl angerührt.« Ich trat an den Herd und überprüfte die Temperatur der Mischung, die so weit abgekühlt war, dass sie abgefüllt werden konnte.

»Stören wir?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin fast fertig.«

»Was hast du Feines gemacht?«

»Ein römisches Körperöl.« Ich platzierte den Trichter in einer Glasflasche, über den ich ein feines Sieb legte. Achtsam ließ ich die Mischung hineinfließen.

»Du warst vorhin aber weit weg mit deinen Gedanken.«

»Hmm.«

»Ich kann gut verstehen, dass dich das mit Leonard sehr beschäftigt.«

Ein wunder Strahl explodierte in mir. War Leo verletzt? So wie der Kerl in meiner Vision? »Ich denke, ich habe vorhin auf sein altes Ich im antiken Rom getroffen. Und auf meines.«

Mama setzte Renilda auf den am Boden liegenden Hochflorteppich ab. Die Kleine inspizierte die langen Fäden, zog glucksend daran. Sie dämpfte damit den Schmerz in meinem Inneren und füllte mich mit einer liebenden Wärme aus.

»Und?«, forschte Mama nach.

Ich ließ die letzten Ölreste in die Flasche rinnen. »Damals war ich eine Hebamme, verheiratet. Und Leo ein mir Unbekannter, der bei einer Auseinandersetzung schwer verletzt wurde … Mir ist absolut schleierhaft, was mir diese Erinnerung mitteilen möchte.«

»Oft erschließt sich erst im Nachhinein, weshalb gewisse Erlebnisse auftauchen. Doch ich bin sicher, du hast einen Weg gefunden, mit ihm eine Verbindung aufzubauen. Eine ohne Worte, aber dafür mit der Kraft der Aromen, die auf euer weiteres Tun einwirken wird.«

Renilda zupfte an meinem Hosenbein. Nachdenklich nahm ich sie hoch. Ja, da war so ein Gefühl in meiner Mitte rund um den Solarplexus. So, als befände sich dort ein Sender, der empfangsbereit war. Bloß hatte ich noch nicht die richtige Frequenz gefunden. Das Rauschen darin bewies jedoch, dass wir untrennbar verknüpft blieben. Ich tupfte ein klein wenig des Öls hinter Renis Ohr, was meine Tochter freudig aufquietschen ließ.

»Und, wie sieht es bezüglich Philipp aus? Konntest du einen Zugang zu ihm finden?«, wollte Mama wissen.