Sissi - Numquam retro ... Niemals zurück? - Bridget Sabeth - E-Book
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Sissi - Numquam retro ... Niemals zurück? E-Book

Bridget Sabeth

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Beschreibung

"Sissi, du bist für mich ein zarter Schmetterling. Der Staub auf deinen Flügeln besteht aus bunten Schuppen. Ich habe dir zu viel von diesem Staub, deiner Farbe sowie Besonderheit abgekratzt, sodass sie inzwischen durchscheinend wirken. Würde ich es weiter tun, bekämen die Flügel Risse. Ich will dich nicht zerstören." Sissi Dörflers Leben wird ganz schön durcheinandergewirbelt, als zwei Männer auftauchen, die sie von früher her kennt. Arno hat sich als Soldat für gefährliche Einsätze verpflichtet. Günther geht einer geregelten Tätigkeit als Lehrer nach. Trotz der unterschiedlichen Lebensweisen haben sie eines gemeinsam: die Last der Vergangenheit. Mit feinem Gespür schafft sie es, die geheimen Mauern ihrer Freunde einzureißen. Als ihre Mama überraschend stirbt, sehnt sie sich nach einem Partner fürs Leben. Wer von den zweien ist der Richtige und für eine Liebe bereit? Günther, der in Sissi die verlorene Schwester sieht? Oder Arno, der sich fragt, ob er nach all den schlimmen Erlebnissen, die ihn ständig einholen, überhaupt glücklich sein darf?

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In den Sanddünen – Anfang Mai
Eine Süße
Ein alter Freund
In der Hölle
Neuer Auftrag
Ausgeliefert
Es geht los – Mitte Mai
Befreiung mit Hindernissen
Am Limit
Entsetzen
Alles geheim
Sissis Mutter
Wüste im Irgendwo
Freunde
Kämpfe
Ablenkung
Heimkehr
Warten auf Verstärkung – Ende Mai
Wieso? – Juni
Gewissensbisse
Lebenszeichen
Verzweifelt
Im Krankenhaus
Abtauchen
(Alb)Träume
Aufbruchsstimmung
Psychologin
Zweifel
Begräbnis
Eine Patientin – Mitte Juni
Durcheinanderwirbelnde Gedanken
Ruhelos
Sorge
Kurt – Vater
Ein neuer Tag
Fragen über Fragen
Ein Hin und Her – Ende Juni
Hoher Besuch
Nachtdienst
Neue Freundinnen – Juli
Telefonat
Grillerei – Mitte Juli
Nächtliche Aktionen
Emotionen
Besuch
Kranker Körper, kranke Seele
Tirol
Der Stein – Ende Juli
Nächtliche Treffen – Anfang August
Power
Achterbahnfahrten
Sorge um Marissa
Katerstimmung
Erleichterung
Tacheles
Suche
Verwunderung
Laura – mein Schatz
Ohne Kind
Ankunft
Wiedersehen
Planlos
Im Regen
In Günthers Armen
Ein Wrack
Anfang oder Ende – September
Arnos Begräbnis – Mitte September
Epilog – In den Dünen

Impressum neobooks

In den Sanddünen – Anfang Mai

Abenteuer pur, dachte Marissa, fuhr sich mit dem Ärmel ihrer beigen Jacke über die schweißnasse Stirn. Ihre Kleidung klebte am Körper. Sie spürte darunter den Sand, der gefühlsmäßig in jede Ritze vorgedrungen war und auf ihrer Haut rieb. Bestimmt wäre es im Augenblick am Pool einer Hotelanlage gemütlicher. Was versprachen die beeindruckenden Prospekte? Schlaraffenland-Feeling mit Sonne, all you can eat, am besten auf einer bequemen Liege mit einem Buch in der Hand …

Bei keinem solcher Urlaube habe ich mich so lebendig gefühlt! Sie blickte über die herrliche, sanft geschwungene Dünenlandschaft. »Wow!«, entwich es Marissa. Ihre Wehwehchen verblassten. Keine Aufnahmen, die es im Fernsehen, Internet oder in den Zeitschriften zu sehen gab, konnten es mit der Realität aufnehmen, die so viel mehr als nur Bilder bot: das Gefühl der Wärme, die sandige Luft, der helle Schein der Sonne … Nicht einmal der Dung der Kamele störte sie.

»Wenn du mich sehen könntest! Von wegen spießig, fad und feig!« Das hatte Markus ihr beim letzten Streit angekreidet. Die restlichen Zweifel fielen von Marissa ab. Bereits der Gang ins Reisebüro hatte wie ein Befreiungsschlag gewirkt. Ihr Blick war auf einem Plakat hängengeblieben: Eine zauberhafte Auberge am Rande der Sanddünen von Merzouga, stand es dort in großen Lettern.

Da muss ich hin!, hatte sie gleich gespürt. Afrika war jener Ort, der im Geheimen immer eine besondere Faszination in ihr entfachen konnte. Nun wehte ihr eine warme Brise ins Gesicht. Sie reiste allein, ohne Markus, den sie in den Wind geschossen hatte. Sie brauchte keinen Freund, der weder an sie glaubte noch bestärkte. Er mimte dann den liebenswerten Kerl, wenn es darum ging, ihm finanziell auszuhelfen.

Marissa schüttelte ihren Kopf, verbannte den Ex aus den Gedanken. Ihre kleine Gruppe war seit knapp einer Stunde unterwegs. Sie bestanden aus vier Personen: der Guide, der sich als Mohammed vorgestellt hatte, zwei deutsche Männer und sie selbst als einzige Frau. Die Karawane wurde mit einem locker durchhängenden Seil zusammengehalten. Die beiden Mitreisenden wirkten nett. Albert schätzte sie etwa in ihrem Alter, auf Ende zwanzig, und Simon war Pensionist, ein rüstiger, wie sein athletischer Körper bewies.

Marissa hatte sich inzwischen an die Sitzhöhe auf dem Kamel gewöhnt. Sie zückte ihr Handy, drehte ein kurzes Video, als sie schaukelnd vorwärts trabten. Im Takt schwangen die großen Packtaschen und der Rucksack mit, während sie auf einer zusammengefalteten Wolldecke saß. Sie entdeckte einen verdorrten Ast, der Wind blies ein Gestrüpp über den Boden, malte lustige Figuren in den Sand. Bald würden diese, ebenso wie ihre eigenen Spuren, weggeweht werden.

»In einer halben Stunde schlagen wir das Lager am Fuße der größten Sanddüne auf«, erklang im tiefen Timbre die Stimme des Guides.

Marissa bewunderte, wie mühelos er sich in der Weite der Landschaft orientierte. Seine dunklen Augen funkelten vertrauensvoll. Mohammeds bräunliche ledrige Haut stand im Kontrast zum grau-weißen Haar. Er trug eine weite Hose sowie einen hellen Mantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Marissa rückte ihren Turban zurecht, steckte unter das Tuch eine widerspenstige braune Locke zurück und genoss den langsamen Ritt im Einklang mit der Natur.

»Wir sind da!« Mohammed dirigierte die Dromedare, die sich folgsam auf den Boden legten, sodass die Reisenden absteigen konnten. Marissa bedankte sich bei ihrem Kamel mit Streicheleinheiten am Hals. Die Gruppe befand sich im Außencamp, windgeschützt in einer Vertiefung, in der sich rundherum die Sanddünen anschlossen. Mohammed bot Marissa ein paar Mandarinenspalten an, die sie gerne entgegennahm. Das saftige Obst löschte ihren Durst und vertrieb zugleich die knirschenden Sandkörner im Mund. Als sie nicht aufpasste, stibitzte ihr Dromedar etwas von der leckeren Frucht, verschlang geschwind die Köstlichkeit. Dankend rieb das Tier die Stirn an ihrer Schulter, was Marissa zum Kichern brachte.

»Wie es ausschaut, hast du einen neuen Freund gefunden«, meinte Albert gut gelaunt. Er lüftete seinen Turban, strich sich über den haarlosen Kopf.

»Vor allem einen hungrigen«, entgegnete Marissa. »Ich kann ihm nicht böse sein, wo er mich so brav den langen Weg getragen hat.«

»Stimmt. Zudem hat er einen hervorragenden Geschmack.«

Flirtet er mit mir? Marissa ergriff rasch ihren Rucksack, damit sie die aufsteigende Hitze im Gesicht verbergen konnte. Nach dem Reinfall mit Markus hatte sie keinen Bedarf an irgendeiner Liebelei, doch solch ein kleines Kompliment gefiel ihr sehr. Wie sehr, das musste Albert allerdings nicht wissen!

Marissa bekam den Schlafplatz zugewiesen. Vom Guide erfuhren sie, dass sie heute Nacht die einzigen Touristen bleiben würden. Darüber war sie froh. So konnte sie in einem Einzelzelt, ohne die störenden Geräusche anderer Urlauber, nächtigen. Nach dem Verstauen ihrer Siebensachen ging sie zu Mohammed, der mittlerweile ein Feuer entfacht hatte. Es gab Tee, Kekse sowie Erdnüsse zu knabbern. Die geleerten Packtaschen lagen drapiert um einen großen Teppich, dienten als Rückenlehnen, die gefalteten Wolldecken waren zu Sitzkissen geworden. Marissa nippte am Getränk, während sie den Männergesprächen lauschte.

»Ich wurde in diesem Land geboren«, gab Mohammed bereitwillig Auskunft. »Seit vielen Generationen lebt meine Familie hier. Ursprünglich stammen wir vom Volksstamm der Berber ab. Lieber bezeichnen wir uns als Imazighen – freie Menschen.«

»Wusstest du, dass Berber ein Schimpfwort ist«, flüsterte Albert in Marissas Ohr.

»Nein, das ist mir neu.«

»Doch, doch. Es kommt von den Römern, damit wurden jene Leute abfällig bezeichnet, die die damalige Weltsprache Latein nicht beherrschten.«

»Oh«, hauchte sie. »Woher weißt du das?«

»Ich muss gestehen, es ist nicht meine erste Sahara-Tour, und wird hoffentlich nicht die letzte sein.«

Das konnte Marissa nachvollziehen, dieses Land hatte sie ebenso spürbar mit einer besonderen Magie ausgefüllt. Schon jetzt bedauerte sie, dass ihre Reise nach einer läppischen Woche vorbei sein würde.

»Unsere Vorfahren waren früher Nomaden, zogen von einem Ort zum anderen«, fuhr Mohammed fort. »Inzwischen sind wir sesshaft, verdienen den Lebensunterhalt in der Landwirtschaft sowie im Tourismus. Für mich gibt es keine schönere Tätigkeit, als den Besuchern die Vorzüge unseres Landes näherzubringen.«

Albert wandte sich Simon zu, der zu seiner Linken saß. Das Feuer knisterte. Marissa sehnte sich nach etwas Zeit für sich selbst. Sie erklomm die nächstgelegene Düne. Dort zog sie die Schuhe aus, spürte den feinen Sand unter den Fußsohlen, fühlte die verschwindende Wärme. Die Sonne wich der Dämmerung. Es wurde merklich kühler. Ausgelassen rannte Marissa ein paar Schritte, ehe sie sich kichernd wie ein übermütiges Kind in den weichen Sand fallen ließ.

Ich hab alles richtig gemacht! Die letzten Sonnenstrahlen waren dabei, sich zu verabschieden. Sandkörner rieselten zwischen ihren Fingern hindurch. Im Hintergrund rief irgendwer ihren Namen. Es war Albert, der mit Simon unten beim Feuer stand und ihr entgegenwinkte. Schweren Herzens erhob sie sich von dem Aussichtspunkt. Da bemerkte sie im Schatten ihres Schlafzeltes eine Bewegung.

Zwei Männer? Hat Mohammed einen Besucher? Sollten wir hier nicht ungestört bleiben? Sie blinzelte, der Hauch eines unguten Gefühls durchfuhr sie. Nun schien die Stelle daneben leer zu sein. Mir haben die Augen wohl einen Streich gespielt. Ihr Magen knurrte. Rasch ging Marissa ins Lager zurück, freute sich aufs Abendessen.

Als Vorspeise gab es eine heiße Nudelsuppe. Darauf folgte Huhn mit Gemüse, zubereitet im Tajine, dem traditionellen Lehmtopf, der für solche Zwecke über dem offenen Feuer hing. Verfeinert mit den orientalischen Gewürzen schmeckte es exotisch. Als Nachspeise naschten sie Obst, ehe sich die gesellige Runde gegen zweiundzwanzig Uhr ins Nachtlager verabschiedete.

Marissa verharrte eine Weile am Eingang des Zeltes, starrte in die tiefdunkle Nacht, sah über ihr die Milchstraße. Der Himmel wirkte wie ein schwarzer Teppich mit funkelnden Diamanten. Neuerlich schlich sich Markus in ihre Gedanken ein. Ob ich zu hart zu ihm bin? Bei diesem friedvollen Anblick regte sich ihr schlechtes Gewissen. Die Beziehung war ein stetiges Auf und Ab gewesen, wie Ebbe und Flut. Wenn er etwas brauchte, überschwemmte er sie mit Liebesschwüren, um sie hinterher am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Er kam und ging, wie es ihm beliebte. Seine egoistischen Verhaltensweisen ertrug sie nicht länger.

Du hast jemand Besseres verdient, hatte die Freundin Gerti mehrmals zu ihr gesagt. Weißt, ich habe ein dummes Gefühl bei ihm. Im Grunde genommen ist er okay, aber immer wieder, und das im regelmäßigen Rhythmus, musst du ihm Geld vorstrecken, das du meist nicht im vollen Ausmaß zurückbekommst. Ich glaube, er hat ein Problem.

Marissa fröstelte es, das lag nicht nur daran, dass es mittlerweile empfindlich kühl geworden war. »Spielsüchtig«, hauchte sie in die Nacht. Sie hatte ihn darauf angesprochen. Markus war ihr ausgewichen, gab halbherzige Antworten, unter anderem, dass er das im Griff hätte.

»Warum siehst du nicht, dass ich dir helfen möchte? Wieso kannst du nicht ehrlich sein, zu dir, zu mir?« Am meisten tat es Marissa weh, dass sich ihr Freund selbst belog, in den Ausreden und Geschichten stetig einfallsreicher wurde, aber an seinem Lebensstil nichts veränderte. Du wärst so ein lieber Kerl, wenn …

Ein Funke glomm in ihr empor, dass er es schaffen könnte, von diesem Laster loszukommen. Soll ich ihm nach der Reise eine Chance geben, wenn er mich darum bittet? – Bist du dumm!, schalt sie sich innerlich. Insgeheim ahnte sie jedoch, dass sie genau das machen würde. Es gab auch gute Seiten an ihm. Zumindest dann, wenn er sein Hoch hatte, was im Gegenzug bedeutete, dass Fortuna ihm wohlgesonnen war und er gewonnen hatte. Marissa verließ ihren Aussichtsplatz, zog sich zurück, kuschelte sich in den mitgebrachten Schlafsack, der sie vor den kalten Temperaturen schützte und sie behaglich einhüllte.

Marissa schreckte hoch! Ist da ein Geräusch? Unbewusst hielt sie den Atem an, lauschte. Da wieder! Ein Rascheln. Vorsichtig schälte sie sich aus dem Schlafsack, schlüpfte notdürftig in die Schuhe. Hat sich ein Tier ins Lager verirrt? Albert schlief gleich nebenan, sie wollte zu ihm rüber, denn auf einmal hatte sie Angst in ihrem Zelt. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie schluckte, nahm den gesamten Mut zusammen. Ehe sie die Zeltplanen auseinanderzog, hielt sie erneut inne. Es wirkte alles ruhig, wenn sie von dem Rauschen in ihren Ohren absah.

Bestimmt hält er mich für eine Mimose, so wie Markus – für den ich eine feige Nuss bin! Marissa nagte an ihrer Unterlippe.Gerade, als sie den nächtlichen Ausflug abbrechen wollte, tauchte ein Schatten vor dem Zelt auf. Marissa schrie auf. Da stürmte jemand herein. Sie stürzte rücklings auf den Boden, schlug um sich, probierte, die Hände wegzuzerren, die sie gepackt hatten. Ein Tuch wurde ihr mitten ins Gesicht gedrückt. Panisch sog sie Luft ein, hatte Angst zu ersticken. Es roch seltsam.

Nein! … Nein! Es erklang ihr ersticktes Gemurmel, der Körper gehorchte nicht mehr, ihr Geist zog sich in den Tiefen zurück und hüllte sie tiefschwarz ein.

Eine Süße

»He, wer ist das denn?« Arno blickte auf die neue Freundschaftsanfrage im Facebook, die er soeben entdeckt hatte. Elisabeth Dörfler, las er. Sie war süß, in seinem Alter, um die fünfunddreißig, blondes langes Haar, genau nach seinem Geschmack. Arno unterdrückte ein Gähnen. Bald hatte er drei Tage Schlafentzug hinter sich, und er versuchte, die restlichen Stunden wach durchzuhalten. Mit seinen Kameraden, einer Untergruppe des Jagdkommandos, befand er sich bei einer Übung in den Bergen. Sie waren ein eingeschweißtes Team, mussten quasi auf Abruf einsatzbereit bleiben. Da war mentale sowie körperliche Fitness das oberste Credo, um auf etwaige Ausnahmesituationen gut vorbereitet zu sein und diese meistern zu können.

Arno schaute hoch in den Nachthimmel. Obwohl er das Sternenzelt über ihm schon oft gesehen hatte, liebte er den Anblick und die friedvolle Umgebung stets aufs Neue. Das Firmament schenkte ihm Ruhe, wenn er sich rastlos und Geborgenheit, falls er sich einsam fühlte. Er kannte ebenso die Kehrseite, wusste, wie minimalistisch andere Menschen hausten, die um ihre Leben und der Leben ihrer Lieben bangten.

Bald sind es neun Jahre, in denen ich der Task Group – der Elite – angehöre. Arno hatte kaum überlegen müssen, als man ihm vorschlug, ein Teil des Jagdkommando-Teams zu werden. Voller Elan, nein – eher verbissen – absolvierte er die erforderlichen Tests, führte seinen Körper an Grenzen und überwand diese. Solch einen Beruf ergriff man nicht aus einer Laune heraus, sondern aus tiefer Überzeugung. Im Team sorgten sie dafür, den Frieden im eigenen Land zu erhalten. Sie wollten verhindern, dass sich das Übel weiter ausbreitete, damit Unschuldige nicht zu Opfern gemacht wurden. So agierten sie vielfach geheim, über die Grenzen hinweg, halfen befreundeten Nationen.

Wie hart der Beruf tatsächlich war, davon hatte Arno als Jungspund keine Ahnung. All die Jahre zollten inzwischen ihren Tribut. Er spürte nach jedem Einsatz stetig mehr, dass es ihm schwerer fiel, sich zu regenerieren und die Lasten auf der Seele sich summierten. Sein Körper war mit Narben übersät, doch die Narben im Inneren wogen härter.

Arno atmete tief ein und aus. Der Wunsch in ihm, alles umzukrempeln und auf sich zu achten, wurde zusehends stärker. Es waren halbherzige Versuche, seinem Idealismus zu entfliehen. In sechs Monaten ist meine Verpflichtungsperiode zu Ende … Niemals werde ich mich aus der Verantwortung stehlen!, dachte er kämpferisch. Zwar mochte er nicht ganz so flink wie die Jungen sein, dafür konnte er auf manchen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Bei jedem Befehl, jedem Einsatz, wirkte es, als hätte er einen Schalter umgelegt, der ihn zu einer Maschine machte. Dann agierte er ohne Kompromiss, verdrängte den Gedanken, nicht mehr heimzukehren. Missing in Action.

Arno lockerte in der Sitzposition die Arme und Beine aus. Hätte ich Schlosser bleiben sollen?, fragte er sich emotional zerrissen. In diesem Beruf könnte er wohl jene Normalität leben, nach der er sich öfters sehnte.

»Das ist der verfluchte Schlafentzug«, brummte er kaum hörbar, wollte seine Grübeleien zum Stillstand bringen. Insgeheim wusste er jedoch, dass es am gewaltsamen Tod des Mädchens lag, den er nicht aus dem Kopf brachte, irgendwo ein Stück in ihm zerbrochen hatte. Arno schloss wenige Sekunden die Augen. Sein Körper fühlte sich schwer wie Blei an, sein Geist hatte ständig Phasen, in denen er in den wohlverdienten Schlaf abdriften wollte. Gegen Mitternacht sollte ein langer Marsch mit Gepäck anstehen. Das wird hart werden, wie immer.

Arno bemerkte eine Bewegung neben sich, er öffnete die Lider. Der Heeresarzt war herangetreten, überprüfte seine Vitalwerte, nahm Blutproben. Arno sah zu, wie der Doktor einen Tupfer auf die Einstichstelle presste. »Draufdrücken!«, wies der knapp an und entfernte sich, um zu einem anderen Kameraden zu gehen und das Prozedere zu wiederholen.

Ob diese Elisabeth zur späten Stunde wach ist? Arno griff zum Smartphone, um sich abzulenken und ein Einschlafen zu verhindern.

Wie komme ich zu der Ehre?, hakte er per Messenger bei ihr nach.

Ein alter Freund

Ich saß im Schneidersitz auf dem Bett, der Laptop lagerte zu meinen Füßen. Diese Position würde ich nicht ewig durchhalten. Ein dezentes Ziehen in der Leistengegend erinnerte mich daran, dass ich nach meinen Sporteinheiten zum Ausgleich das Stretchen vermehrt einbauen sollte. Mittlerweile war es spät, und ich diesbezüglich total unmotiviert. Ich scrollte über die Nachrichten auf Facebook runter, likte einige Fotos oder Sprüche, die manche Freunde ins Netz gestellt hatten. Ein paar eingespielte Vorschläge von ehemaligen Bekannten griff ich auf, sodass meine Freundesliste stetig anwuchs. In diesem Punkt gefiel mir Facebook, denn so konnte man zu Leuten eine Verbindung herstellen, die man aus den Augen verloren hatte, Kontakte über die Grenzen hinweg knüpfen, oder ein wenig in andere Gepflogenheiten hineinschnuppern.

Ich massierte mir die verspannten Schultern, geschuldet an meiner ungesunden vornübergebeugten Sitzhaltung. »Genug für heute«, sprach ich zu mir selbst. Mein Kater Amadeus schielte zu mir, gähnte herzhaft und zeigte seine scharfen spitzen Zähne. Dieser Anblick wirkte furchteinflößend, dabei zählte er mit Abstand zu den bequemsten und faulsten Vierbeinern, die ich kannte. Gepaart mit seiner Fressleidenschaft war er mittlerweile kuschelig rund. Mit dem Cursor wanderte ich zum Abmelde-Button, da blinkte eine Nachricht auf, sie war von Arno Schuster. »Oh, er hat meine Anfrage schon angenommen!« Ich öffnete das virtuelle Fenster.

Wie komme ich zu der Ehre?, las ich schmunzelnd und entgegnete:

Hey, kennst du mich nicht mehr? Wir waren früher Nachbarn, hab dich als Freundesvorschlag bekommen, da dachte ich, warum nicht.

Arno runzelte die Stirn, es dauerte eine Weile, bis seine müden Gehirnzellen begriffen, wen er vor sich hatte. Elisabeth Dörfler – Sissi! Nein, das gibt es nicht, oder? Die mollige Sissi! Stimmt, die wohnte zwei Häuser von mir entfernt, ist etwa ein Jahr jünger als ich. Autsch – die ist hübsch geworden. Mit einem Schlag war die Müdigkeit verflogen.

Sorry, bin ich blöd. Na klar, wie geht es dir?

Danke, ich wollte grad schlafen gehen. Und du?

Ich bin unter freiem Himmel.

Wow, wie cool!

Ist nicht so cool, wie du denkst. Aber egal. Bei dir alles okay?

Danke ja.

Verheiratet bist nicht, oder?

»Typisch, er lotet gleich direkt aus, ob ich vergeben bin«, murmelte ich kichernd. Arno war schon als Jugendlicher nie einer gewesen, der um den heißen Brei herumredete, wenn ihn etwas interessierte. Mein Kater Amadeus beschwerte sich maunzend, als ob ich mit ihm gesprochen hätte. Er erhob sich, tappte über das Spannleintuch zu meinen Füßen, um die er schnurrend strich. »Machst du wieder auf Garfield?«, tadelte ich ihn. »Dein Nachtsnack muss warten.« Als ob er mich verstanden hätte, ließ er sich aufs Bett fallen: seine altbewährte Belagerungstaktik.

Nein, bis jetzt war nicht der Richtige für mich dabei.

Siehst, und ich dachte, ich hätte die Richtige gefunden, war nicht so.

Leider hat man für so etwas nie eine Garantie.

Schau, ich hab ein paar Fotos für dich.

Okay, zweifellos war das kein Thema, über das er sich ausführlicher auslassen wollte. Stattdessen beäugte ich neugierig die geschickten Bilder im Messenger: Das blaue Haus, den Garten mit dem Biotop und zudem gab es knackige Aufnahmen von ihm selbst. Ich grinste, als ich den muskulösen Oberkörper betrachtete. Sein Haar war schwarz. Im Äußeren wirkte er wie ein Macho, der jede Frau haben könnte, wenn er nur mit dem Finger schnippte. Doch die obigen Zeilen deuteten darauf hin, dass er immer noch mit dem Ende seiner alten Beziehung haderte. Nichtsdestotrotz wusste er, dass er mit seinem Body beeindrucken konnte, und hatte bestimmt gezielt die Fotos geschickt.

Schaut alles sehr schön aus. Und durchtrainiert. Ich schickte ein Zwinker-Smiley hinterher.

Hast ein Bild von dir?

Ohne zu zögern, richtete ich das Handy auf mich, drückte den Auslöser. Kurz überprüfte ich das Foto. Im Hintergrund sah man einen Teil des Eichenholzbettes, die Wand war in einem Zitronengelb gestrichen, was man im Licht der Nachttischlampe kaum erkannte. Mein blondes Haar, das ich zu einem Zopf gebunden hatte, lag linksseitig über der Brust. Obwohl ich ungeschminkt war, fand ich, dass meine grün-braunen Augen amüsiert glänzten. Brauchbar, entschied ich, loggte mich beim Handy ein, um es ihm weiterzuschicken.

Ich sehe etwas müde aus, merkte ich dazu.

Nein, keine Spur – bist richtig süß.

Süß! Mir schoss trotz der virtuellen Distanz die Hitze ins Gesicht. Anzunehmen, dass andere mich hübsch fanden, fiel mir nach wie vor etwas schwer. Dennoch genoss ich die kleine Flirterei mit ihm.

Danke. Gut, dass du nicht siehst, dass ich ganz rot werde.

Bald haben wir einen vierzig Kilometer Marsch vor uns.

Um diese Uhrzeit?, fragte ich mich insgeheim.

Wow, das klingt anstrengend.

Ist es auch, obendrein mit der großen Wolke.

Wolke? Meinst du damit deinen Rucksack? Wie schwer ist der denn?

Ja. Um die fünfzig Kilo.

Wahnsinn. Sowas schleppst du freiwillig?

Tja, bleibt mir nix anderes übrig.

Das klingt, als wärst du ein Soldat.

Kann man so sagen.

»Kann man so sagen?«, wiederholte ich irritiert. Ich hatte mit einem simplen Ja oder Nein gerechnet. Anscheinend machte er gerne auf geheimnisvoll.

Hast du nicht eine Ausbildung zum Schlosser absolviert?

Stimmt. Sorry. Ich muss nun auch los. Wäre schön, wenn wir uns die Tage wieder schreiben könnten. Schlaf gut.

Arno justierte sich, nahm den Rucksack. Sein Körper sehnte sich nach Erholung. Noch lagen einige Stunden vor ihm, die er durchbeißen musste. Es standen Schieß- sowie Gefechtsübungen am Programm, die den Ernstfall simulierten, ehe er sich in seinem herrlichen weichen Bett ausruhen durfte.

Sicher, bis bald. Ich wünsch dir schnelle Füße und viel Energie für deinen Marsch.

Danke, Hübsche!

Das Hübsche ließ mich schmunzeln, doch ich war auch nachdenklich, fühlte mich von ihm etwas abgefertigt. Will er nichts Genaueres erzählen, oder muss er tatsächlich aufbrechen? Ich schaltete den Laptop aus, holte eine Snackstange für meinen Stubentiger aus der Küche, auf die er sich erfreut stürzte. Später, nachdem er aufgegessen hatte, würde er sich zu mir ins Bett gesellen und am Fußende zusammenrollen, so wie er es jede Nacht machte. Ich löschte das Licht der Lampe, verbannte Arno aus den Gedanken und kuschelte mich unter die Decke.

In der Hölle

Marissas Schädel dröhnte. Mit Mühe schaffte sie es, ihre Augen zu öffnen. Sie hörte ein Stöhnen. Ihr eigenes, oder von jemand anderem? Sie wusste es nicht. Ihre Umgebung war düster und unscharf. Sie spürte die geschwollene Zunge am Gaumen, sehnte sich nach Wasser. Langsam wurde ihr Geist klarer. Feine Lichtstrahlen kämpften sich durch ein Fenster, vor dem eine Art Rollo oder Holzläden angebracht waren. So genau konnte sie das im Moment nicht sagen. Wo bin ich? Was für ein Tag ist heute? Da, auf einmal sprach wer. Fremdländische Laute. Zwei Männer? Ein Schnalzen!

Marissa zuckte zusammen, als wäre das zischende Geräusch durch ihren Körper gefahren. Sie bemerkte Albert, geknebelt und gefesselt. Sahara-Tour! Geschockt starrte sie auf seinen Mund, Blut tropfte heraus. Alberts Augen wirkten wie hypnotisiert, waren weit geöffnet. Er kniete, während hinter ihm ein Kerl ein ausgefranstes Stromkabel in der Hand hielt. Obwohl ihr Urlaubsfreund nichts tat, außer starr sowie stumm da zu sitzen, schlug der Fremde hart zu, traf den Urlaubsfreund im Nacken. Albert kippte nach vorne.

Marissa keuchte auf, zog damit den Fokus auf sich. Schon war ein weiterer Kerl bei ihr, fasste grob ins Haar, schleifte sie über den Boden. »Dein Mann?«, herrschte der Peiniger sie an. »Du auch Deutsche?«

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Nein, Österreicherin … Ich bin Österreicherin«, brachte sie stockend hervor. Ihre Zunge reagierte ungewohnt lahm. Ist Albert tot?

In der äußeren Ecke lag Simon, unnatürlich verdreht, als hätte man ihm sämtliche Glieder und den Rücken gebrochen. Tränen schossen aus Marissas Augen. Sie zitterte. Bin ich das nächste Opfer?

Der Kerl, mit dem Kabel in der Hand, raunte ihrem Peiniger etwas ins Ohr. Daraufhin ließ er sie los, hart prallte Marissa auf den Boden. Die beiden Männer drehten sich abrupt ab, verließen den Raum.

Ihr war schwindlig. Sie robbte zu Albert. Mit bebenden Fingern tastete sie nach seinem Puls. Er lebt. Gott sei Dank. Sie wagte nicht, zu Simon zu kriechen. Sie erkannte auch so, dass es für ihn keine Hilfe mehr geben würde. Marissa rutschte zurück in die nächstgelegene Ecke. Sie zog ihre Beine an, umklammerte diese. Wenigstens haben sie mich nicht gefesselt … Als sich etwas bewegte, erschrak sie. Da war eine Ratte, die über den Boden huschte. Bald darauf folgte eine weitere, die Nagetiere suchten nach Essen.

»Nein!«, rief Marissa, als sie bemerkte, dass sie sich Simon als Nahrungsquelle auserkoren hatten. »Scht!« Sie warf einen Schuh, dann den zweiten. Die Biester quiekten erbost auf, huschten durch ein Loch an der Seitenwand ins Freie. Marissa war klar, dass sie nur kurzfristig das Getier vertreiben konnte. Trotzdem nahm sie einen Schuh und steckte diesen in den kleinen Hohlraum, in der Hoffnung, sie damit auszusperren.

Eine neue Woge Panik brach über ihr herein, der Innenraum fühlte sich unnatürlich heiß an. Sie schielte zum Toten. Simon hatte zumindest alles hinter sich. Sie schluchzte unkontrolliert, wiegte den Körper ruckartig nach vor und zurück, bis ein Ächzen sie innehalten ließ. Albert!

Sie kroch an seine Seite. »Ich bin’s, Marissa. Wie geht es dir?«

Alberts Augen öffneten sich zögerlich. Seine Lippen waren blutig verkrustet. »Wasscher«, bat er kaum hörbar.

»Tut mir leid, ich hab keines.« Mit Mühe schaffte sie es, ihre Tränen zurückzuhalten, sie wollte stark bleiben.

»Scheiß…kerle.«

Dem konnte Marissa nichts hinzufügen. Es wirkte wie ein absurder Albtraum, und sie wünschte sich sehnlichst, daraus zu erwachen. Es sah nicht danach aus.

Marissa lauschte. Leise Gebetsrufe ertönten, waren wie ein Weckruf für den beginnenden Morgen. Deutlich vernahm sie männliche Stimmen. Werden wir von drei oder vier Männern gefangen gehalten? Die Wahrnehmung neben dem Zelt kam ihr in den Sinn. Hat Mohammed mit ihnen gemeinsame Sache gemacht?Oder hab ich mich getäuscht und der Guide ist ebenso schuldlos diesen Kerlen zum Opfer gefallen?

Marissa grub ihre Fingernägel tief ins eigene Fleisch. Mit einem Mal sehnte sie sich nach Markus, ihrem Ex, dessen hochnäsigem Gehabe und der Besserwisserei. Eine weitere Familie gab es bei ihr nicht. Ob ich ihm fehlen werde, wenn ich nicht mehr heimkomme? Oder zumindest Gerti? Aber sie war in letzter Zeit auch so sonderbar … Schien keine rechte Lust zu haben, auf meine Pflanzen zu achten.

Richtig halbherzig hatte Gerti den Wohnungsschlüssel entgegengenommen, ein: Ich hab’s eilig, tschüss gemurmelt, Marissa quasi die Tür vor der Nase zugeschlagen. In der Aufregung, allein wegzufahren, hatte Marissa dem nicht viel beigemessen, es als Laune oder Hektik der Freundin abgetan. In dieser Sekunde fragte sie sich, ob irgendetwas vorgefallen war, von dem sie nichts wusste. Hätte ich nachfragen sollen?– Zu spät …

In ihr bemächtigte sich das Gefühl, das zwischen ihnen etwas gründlich schieflief. Marissas Stirn sank auf die angewinkelten Knie, der Körper wurde von stummen Schluchzern gebeutelt. Bestimmt liegt es an mir … Ich … ich wollte die Trennung wegschieben, beweisen, wie mutig und taff ich sein kann … Wir werden uns nie mehr aussprechen können.Verzeih, wenn ich etwas falsch gemacht habe … Ich sterbe hier …

Neuer Auftrag

Arno ächzte, als er sich die Luftaufnahmen anschaute, die ihnen vom Vorgesetzten zugespielt wurden. Seine Kameraden und er befanden sich bei einer Besprechung in Wiener Neustadt. Sie hatten erst eine anstrengende Übung hinter sich gebracht, und schon war der Ernstfall eingetreten. Es ging um eine Geiselbefreiung: Zwei Männer und eine Frau … keine Soldaten, sondern Zivile, so war der aktuelle Stand. Er prägte sich die Gesichter der Geiseln ein, von denen es Fotos gab.

Drei Menschen, gefangen gehalten … Wieder einmal wird die Allgemeinheit nichts davon erfahren, es in keinem Nachrichtensender gebracht werden. Ebenso wenig falls etwas schiefgeht. Er strich sich über seine buschigen schwarzen Augenbrauen. Die mangelnde Wertschätzung kränkte ihn, auch wenn er wusste, dass es nicht nur zu ihrem Schutz diente, sondern einen Schutz für die eigene Familie vor den Feinden und möglichen Angriffen darstellte. Unter keinen Umständen wollte er, dass seine Lieben oder Freunde zur Zielscheibe würden. Es war eine Extreme, die er stetig weniger ertrug, da es sich anfühlte, als würde er zwei Leben parallel leben.

Wenigstens ist kein Kind dabei! Arno schluckte, kämpfte gegen die emporsteigende Erinnerung an, weil er damals das Mädchen nicht retten konnte. Unschuldig war es zwischen die Fronten geraten.

Hör auf zu zweifeln, dadurch machst du dich angreifbar! Es geht um die Sicherheit in unserem Land – um alle, damit ihnen nicht dasselbe wie diesem unschuldigen Mädchen passiert! Er schüttelte den Kopf, verbannte sein privates Ich in die Tiefen, wurde zu Alpha – zu demjenigen, der die Befindlichkeiten hintanstellte, funktionieren würde, wie er über Jahre ausgebildet worden war und wie man es von ihm erwartete.

»Von dieser Seite müsste es gehen«, warf er ein, da sie als Team das taktische Konzept besprachen. Der geplante Ausgangspunkt befand sich in unwegsamem Gelände, es gab Bäume und Dickicht, in denen sie sich unauffälliger fortbewegen konnten. Dieser Einsatz würde heikel werden, das wusste er schon jetzt. Die Aufzeichnungen der Drohne zeigten eine versteckte Hütte, die Tür ging nach außen auf, zwei kleine Fenster, vergittert, die Geiseln wurden von drei Rebellen bewacht – das konnte sich rasch ändern. Sie selbst würden zu fünft sein, zusammengestellt nach ihren spezialisierten Fähigkeiten sowie dem erwarteten Aufgabengebiet.

Rastlos verließ Arno als Erster die Besprechung. In zwei oder drei Tagen sollte der Zugriff erfolgen, bis dahin würde auch die Koordination zwischen den befreundeten Nationen stehen. Er ging in seine Unterkunft, die er stets bezog, um nicht jedes Mal den weiten Weg von Wiener Neustadt in die Steiermark in Kauf nehmen zu müssen. Er holte sich aus dem Kühlschrank eine Dose Bier, die er zischend öffnete.

»Ich weiß, keine gute Idee«, schimpfte er mit sich. Er trank zeitweise zu viel, ein vager Versuch, den verdammten Erinnerungen zu entfliehen. Seufzend schritt er auf den schlichten Balkon, auf dem gerade so ein kleiner runder Tisch und ein Stuhl Platz fanden. Er zündete sich eine Zigarette an, die er inhalierte. Ebenso keine gute Idee, doch wenn die Sehnsucht in ihm nach Freiheit überhandnahm, musste er eine rauchen. Er schielte zum Aschenbecher, der im Begriff war überzuquellen. Okay, womöglich rauche ich auch zwei oder drei …

Sein Blick glitt weiter zu den Sternen hinauf, ihn umfing eine kühle nächtliche Brise. Bald bin ich auf einem anderen Kontinent. Ungewiss, ob ich jemals mein Kind Laura, oder die Familie wiedersehen werde. Mein Mäuschen … Arno sehnte sich nach dem Mädchen, vermisste ihre Nähe, die dunklen neugierigen Augen, ihre zierlichen Finger in seiner Hand … Er nahm ein paar große Schlucke Bier.

Seit der Scheidung sah er die Kleine selten. Doris, seine Ex-Frau, zählte ihm jedes Mal seine vermeintlichen Unzulänglichkeiten auf, da schottete er sich lieber ab. Sogar dann, wenn sie nichts sagte, reichte ein Blick ihrerseits und er hörte die anklagenden Worte in den Ohren: Du hast uns ständig allein gelassen, um alles musste ich mich selbst kümmern. Und wenn der gnädige Herr einmal da war, bist du nur auf der Couch gelegen, hast dich bedienen lassen! Deine Launen waren unerträglich! In solchen Verhältnissen kann kein Kind groß werden! Wie oft hast du geschrien und damit unsere Kleine zum Weinen gebracht? Sie hatte Angst – vor dir! Und glaub mir, ich lasse es nicht zu, dass sie jemals wieder Angst vor dir haben muss!

Arno dämpfte seine Tschick wütend zwischen den anderen Glimmstängeln aus, sodass Asche auf die Tischplatte quoll. Hör endlich mit dem absurden Selbstbedauern auf! Du hast eh alles verloren, was dir je etwas bedeutet hat, maßregelte er sich stumm. Es gibt kein Zurück, es ist dein Job! Dein Sinn!

Ausgeliefert

Marissa bewegte ihre steifen, verkrampften Glieder. Es war ungewohnt für sie auf einem harten Boden zu schlafen. Die Entführer gaben kurze Anweisungen, die sie bloß anhand der Gestik zuordnen konnte. Sie besaß kein Zeitgefühl mehr. Zudem war ihr übel, vom brackigen Wasser, das sie kaum hinunterbekam und der stinkenden Glocke, in die sie allesamt gehüllt waren.

Über Simons aufgeblähten Körper flogen Fliegen, die bald ihre Eier darin ablegen würden, wenn sie es nicht schon getan hatten. Marissa wollte nicht weiter darüber nachdenken, wünschte sich, sie könnte sich an einen anderen Ort beamen. Doch die schabenden Geräusche holten sie stets unbarmherzig in die Realität zurück.

Es waren die Ratten, die am Holz nagten, um einen besseren Zugang in die Hütte zu bekommen. Albert ging es indes schlecht. Sein Körper zuckte manchmal ganz komisch, und diese Phasen schienen sich zu verstärken. Hysterisch lachte sie auf, strich sich durch das verfilzte Haar.

Bestimmt sind die Injektionen schuld! Von was haben die Kerle gefaselt? Ketamin?Ist das nicht ein Narkosemittel? Etliche Male hatten sie in Alberts Fleisch gestochen, um ihn damit weiter ruhigzustellen und gefügigzumachen. Die Einstiche wirkten wie rote, kleine Mahnmale auf seiner Haut. Bislang war sie vor solchen Injektionen verschont geblieben.

»Gebt mir auch eine!«, wimmerte Marissa, beneidete in ihren schwachen Stunden den Urlaubsfreund, der kaum zwischen den wachen und den abgedrifteten Phasen unterscheiden konnte. Nein – sie kommen nicht, schenken mir kein Vergessen, sondern schauen mich an, als wäre ich ein unzulängliches Vieh.

»Wieso? Wieso? Wieso – ich?« Marissa lag da, wie eingefroren, steif, versuchte den Gestank sowie das Ungeziefer zu ignorieren, schloss die Augen, in der Hoffnung, sie nie wieder aufmachen zu müssen.

Das hölzerne Türblatt kratzte über den Boden. Marissa erschrak, kniff reflexartig die Lider vor dem grellen Licht zusammen, das direkt auf sie fiel. Schon wie der Kerl hereinkam, mit festem Schritt und einer Spritze in der Hand, ließ sie instinktiv in die Ecke zurückweichen. Albert brachte irgendein Kauderwelsch hervor, das seinen Peiniger auflachen ließ. Dann funkelten dessen Augen kalt. »Weißt du, dass Frauen aus dem Westen untreu werden, wenn ihre Männer verschwinden, bumsen einen anderen – so wie sie – schau sie dir an!«

Albert wirkte verwirrt, war zu keiner Gegenwehr imstande, als der Geiselnehmer die Nadel in dessen Fleisch versenkte. Der fremdländische Kerl visierte Marissa an. Mit einem Ruck zog er sie hoch, zerriss die Bluse. Ihr Mund war zum Schrei geöffnet, aus der trockenen Kehle entwich nur ein heiserer Krächzer, der kaum die Umgebung störte. Seine harten Hände kneteten ihr zartes Fleisch. Er presste sie gegen die Wand. Inzwischen, nach tagelangem Essensentzug, der abnormen Hitze am Tag, der Kühle in der Nacht und dem Wasser, das kaum reichte, war sie wie eine willenlose Puppe.

Schmerz und Ekel überfluteten Marissa, als er sein Glied brutal in ihre Scheide rammte. So nah, roch sie einen Mix aus Schweiß, Dreck sowie Kamelen. Ihr war speiübel, matt ließ sie die Gliedmaßen hängen, während er ihr seine Lust weiter aufzwang. Als er endlich von ihr abließ, sackte sie zu Boden. Er warf ein paar Brotkrumen neben ihren Körper. »Dein Verdienst!«

Ungelenk zog Marissa die Hose nach oben, spürte die Nässe zwischen den Beinen, die sie zutiefst anwiderte. Ihr Magen knurrte, reagierte instinktiv auf die Krumen. Der Peiniger hatte bereits die Tür verschlossen, als sie danach suchte und bevor sich die Ratten über das minimalistische Essen hermachen konnten. Sie steckte die mickrigen Stückchen in den Mund, verbarg ein paar in ihrer Hosentasche, die sie später Albert geben wollte, sobald der zu sich gekommen wäre. Erst jetzt schlang sie die losen Enden der zerrissenen Bluse zusammen, kroch zurück in ihren Winkel. Sie fühlte sich leer und hatte nicht einmal mehr Tränen.

Marissa schreckte auf. Albert brabbelte unzusammenhängende Wörter. Nein, nicht du … Gibt keinen Gott, der dich sterben lässt. Ich bin schuld, mein Sohn … Währenddem zuckte sein gesamter Körper wild, die Fesseln rieben an den Armen und Beinen. Speichel rann aus dem Mund.

Rasch kroch sie an seine Seite. So heftig! Kann das ein epileptischer Anfall sein? Eine Nebenwirkung des Ketamins, oder ist er wirklich krank?

Alberts Kopf schlug hart am Boden auf. Marissa versuchte, die Seile zu lösen, schaffte es nicht. Ein weiterer Anfall rauschte über ihn hinweg. Sie umschloss ihn fest mit ihren Armen, damit er sich nicht selbst verletzte. Da traf seine Stirn sie mitten im Gesicht. Mist-Idee! Sie wich ab. Tränen traten in ihre Augen, sie registrierte gleich eine dumpfe Schwellung am Backenknochen.

»Albert, hörst du mich? Albert?« Er stöhnte, ohne auf sie zu reagieren. Was kann ich tun? Unschlüssig schaute sie sich um. Es gab nichts, keine Decke oder Kissen, auf die sie ihn hätte weicher betten können. Wie lange krampft er schon?Eine Minute oder zwei? Marissa wusste es nicht mit Sicherheit. Ab wann wird es richtig gefährlich für ihn? Auch diese Frage konnte sie nicht beantworten.

Langsam wurde Albert ruhiger. Vorsichtig rückte sie an seine Seite, bemerkte die rot aufgescheuerten Gelenke. Er lag am Rücken, röchelte. Sein Körper war schweißnass. Marissa brachte ihn in die stabile Seitenlage, die sie vom Erste-Hilfe-Kurs kannte, und war froh darüber, als sein Atem sich normalisierte. Matt lehnte sie sich an den hölzernen Bretterverschlag, der die Wand darstellte. Mit zittrigen Händen betastete sie die schmerzhafte Beule in ihrem Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, und hasste sich für die jammernden Laute, die unkontrolliert ihrer Kehle entwichen.

Marissa konnte die vermummten Männer, die hereinkamen, nicht auseinanderhalten. »Ma, Ma!«, bat sie verzweifelt. Es war das arabische Wort für Wasser, das sie in den letzten Tagen aufgeschnappt hatte. Kurz erhaschte sie den Blick von dunklen Augen, rasch senkte sie das Kinn. Sie starrte auf den Boden, auch als sie weitere Schritte vernahm, schaute sie nicht auf. Erst ein Guss kaltes Wasser ließ sie zusammenfahren. Derart durchnässt spürte sie einen Moment weder die klebrige Haut noch den Juckreiz, sondern wirkte wie eine kleine Wohltat, die etwas von ihrer Schmach abwusch. Später würde sie hingegen in der nassen Kleidung elendig frieren, sobald die nächtliche Kühle die Hitze verdrängt hatte.

Über Albert wurde ebenso ein Kübel Wasser gegossen, der dadurch zu sich kam. Ein Kerl drückte ihn gewaltsam in die Sitzposition. Vor ihnen wurde ein Laptop hochgefahren, um mit dem ein Video mit absurden Szenen abzuspielen. Marissa sah darin andere Menschen, Geiseln sowie Soldaten, Blut, Enthauptungen, wie Männer ausgelassen ihre Waffen in die Höhe streckten …

Die Peiniger jauchzten freudig. Als sie wegschauen wollte, spreizte ein Kerl ihre Lider gewaltsam auseinander, hielt den Kopf wie in einem Schraubstock umklammert, sodass es für sie keine Möglichkeit gab, sich von den grausigen Szenen abzuwenden. Ihr Mund wurde ganz trocken, als ein vermummter Kerl eine Motorsäge bei einem Wehrlosen ansetzte. Der kniende, geknebelte Mann wusste längst, dass es seine letzten Sekunden sein mussten.

Nie hatte sie solche entsetzten Augen gesehen, wie hypnotisiert und leer. Genauso fühlte sie sich selbst. Die Säge zerriss mühelos die Haut am Hals, Blut spritzte schwallartig heraus, der Schädel rollte weg und hinterließ einen zuckenden Körper. Marissa übergab sich auf den Boden. Ihr Peiniger drückte sie mit dem Gesicht voran in das Erbrochene.

»Hast du gesehen, was die ISIS mit den Leuten macht? Soll ich das auch mit dir machen?«

Erbrochenes tropfte von ihrem Haar. Der Fremde deutete zu Albert. »Oder mit ihm?«

Panisch schaute Marissa sich um, die Stelle, wo sich der Leichnam befunden hatte, war leer. Wo ist Simon? Wann haben sie ihn aus der Hütte hinausgeschafft? Erst jetzt, als ich den schrecklichen Szenen folgen musste? Oder früher? Ich … ich hab’s nicht bemerkt. Bin ich ebenfalls ruhiggestellt worden? Mit irgendeinem Mittel im Wasser? »Bitte nicht«, wisperte sie.

Die Kidnapper lachten höhnisch. Von draußen erklang ebenso ein heiseres Gelächter herein. »Wir bauen ein Kalifat auf, keiner wird uns daran hindern!«, rief ein Kerl, während der andere überschwänglich jubelnd eine Hand nach oben in die Luft stieß.

Wie viele Komplizen gibt es noch? Marissa saß stumm und starr da. Sie wusste nur vage, wovon er sprach, hatte sich nie sonderlich für die Kriegsgeschichten oder politischen Angelegenheiten jenseits der Grenzen von Österreich interessiert.

»Dann sind wir vom Westen unabhängig, erzeugen eigene Waffen, können unsere Leute ernähren. Keinem, der uns angehört, wird es schlechtgehen. Wir sind eine riesige Familie.«

Der zweite Kerl nickte, dessen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als wollte er abschätzen, was Marissa von diesem Vorhaben hielt. Sie war zu durcheinander, um etwas entgegnen zu können. Albert nuschelte indes: »Ein guter Plan, ein guter Plan.« Am Laptop liefen weitere Szenen von den Kriegern. Die Entführer juchzten! Gehören sie zur ISIS? Die Bilder vor ihr verschwammen, erst das Zuklappen des Laptops ließ Marissa zusammenzucken.

»Genug gesehen!«, kam es barsch.

»Hunger«, bat sie mit dünner Stimme.

Ihr Peiniger grinste. »Das musst du dir später verdienen, dann, wenn ich es möchte.« Er beachtete Marissa nicht weiter, sondern wandte sich mit dem Komplizen ihrem Urlaubsfreund zu. Albert wurde in die Fötusstellung gebracht, richtiggehend verschnürt, ehe die Kerle neuerlich eine Injektion in dessen Fleisch versenkten.

Alberts Stöhnen bohrte sich wie ein schmerzhafter Stich durch Marissas Körper. Geht es ihnen tatsächlich um einen eigenen Staat? Ist dieses Agieren nicht eher eine Art Selbstzweck, etwas, dass sie mächtig macht? Empfinden sie Spaß dabei, wenn sie uns quälen? Ist es ihr Weg, um glücklich zu sein?

Die Tür wurde zugezogen, tauchte alles in Dunkelheit. Quälend überrannte sie die verfluchte Frustration. Ich halte es nicht mehr aus! Bitte, lass mich sterben! Es gab nichts in diesem Raum, was ihr hierbei behilflich sein konnte. Sie bebte, als sie daran dachte, dass der verdammte Kerl nachher wiederkommen würde, um sich an ihrem Körper zu bedienen und seine Lust zu befriedigen. Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch die Holzläden direkt auf ihr Handgelenk.

Marissa biss zu, vergrub die Zähne im eigenen Fleisch, schabte damit über die Haut, schmeckte das eisenhaltige Blut, saugte daran. Bitte, lass mich sterben …

Es geht los – Mitte Mai

Die Transportmaschine war startklar für den Einsatz. Bald würden Arno und seine Kameraden darin Platz nehmen. Er erhielt das Zeichen für den Aufbruch, deaktivierte sein Smartphone, schüttelte die privaten Gedanken ab und wurde zu Alpha.

Sein Rucksack war mit den nötigsten Dingen gepackt. Bei solchen Kurzeinsätzen benötigte man nicht viel: etwas Nahrung, Waffen und vor allem Munition. Omikron, der im realen Leben Peter hieß, führte Erste-Hilfe-Materialien mit. In Alphas Tasche befand sich eine Universaltrage zum Abtransport eines Verletzten, die sich mit wenigen Griffen zusammenstecken ließ. Im Geheimlager, in der Nähe des Einsatzortes, wartete die Verstärkung. Des Weiteren könnten sie dort Unterschlupf finden, falls Unerwartetes passieren sollte.

Die Soldaten standen in einer Reihe, eingehakt in einem Seil. Bald würden sie achttausend Meter über der Erde abgelassen werden. Sie befanden sich knapp vierzig Kilometer vom geplanten Landepunkt entfernt. Das entsprach der Strategie, damit die Maschine nicht gefährdet wurde und ihr Ankommen unbemerkt bliebe. Alpha hoffte, dass die Windbedingungen nicht zu sehr wechselten, um ohne große Abweichung das Ziel zu erreichen. Fünf Männer – fünf Freunde. Bei der geöffneten Luke blies heftig der Wind in den Innenraum. Noch waren sie gesichert.

»Glück ab!«, wünschte Alpha seinem Vordermann, drückte damit aus, dass dessen Flug verletzungsfrei verlaufen sollte. Sissi … Wollte mich melden, hab es nicht getan. – Nicht ablenken lassen, sonst wirst du anfällig für Fehlentscheidungen! Er wurde ausgehakt, sprang, verließ bei ein paar hundert Kilometer pro Stunde den Fluguntersatz. Ein Adrenalinschub durchflutete ihn. Der starke kühle Wind wirkte wie ein Luftkissen, das den Fall etwas bremste. Hopptausend, Zwotausend, Dreitausend … Nach wenigen Sekunden hatte er sich im Freifall stabilisiert.

Alpha öffnete den Schirm. Obwohl ein Slider – ein rechteckiges Stückchen Stoff mit Metallösen an jeder Ecke – die Fangleinenbündel zusammenhielt, damit sich die Kappe nicht schlagartig entfaltete, spürte er die Bremswirkung. Es ruckelte ihn nach hinten, er wurde hochgezogen. Nun musste er sich auf sein Gespür verlassen. Bei einer guten Strömung schafften seine Kameraden und er auf diese Weise bis an die fünfzehn Kilometer, oft sogar mehr.

Sie schwebten wie blind durch die nächtliche Dunkelheit. Am Handgelenk trugen sie überdimensional wirkende Armbanduhren, die mit einem Display sowie integriertem Kompass und GPS ausgestattet waren. Darauf befanden sich die wichtigsten Wegpunkte abgespeichert. Die Gleitphase glich der berühmten Ruhe vor dem Sturm. Schemenhaft konnte er die Umgebung erkennen. Dort unten lauerten Gefahren, dazu zählten die wilden Tiere, die unbekannte Vegetation oder Landschaft, aber vor allem die Aufständischen. Mit Glück würden diese ihr Eindringen nicht bemerken.

Es raschelte und knackste, als Alpha mitten in den Kronen eines Baumes landete. Irgendwo protestierte ein Vogel wegen der nächtlichen Störung. Rasch zückte er sein Messer, ritzte ein gespanntes Seil an, das ihn hielt und wie ein überstrapazierter Gummi zerriss. Jäh ging es ein Stück nach unten. Ein euphorisches Hochgefühl setzte sich dabei in ihm frei, Alpha unterdrückte ein Jauchzen. Er zerschnitt nacheinander die weiteren Seile, bis er gefahrlos den Boden erreichte. Arno schaute sich um, die Kameraden waren unweit von ihm gelandet. Beinahe lautlos formierten sie sich und schlichen weiter durch die Nacht.

Das Team hatte den Tag verdeckt verbracht. Alpha blinzelte, bemerkte Kappa, der dabei war, Omikron vom Aussichtsposten abzulösen. Nun würde Kappa die Gegend aufmerksam beobachten, während die anderen Kameraden und er, geschützt durch dichtes Geäst der Bäume, rasten konnten.

Den Fallschirmsprung hatten sie heil überstanden, bloß Kappa humpelte leicht. Das war Alpha aufgefallen, obwohl sein Freund kein Wort darüber verlor. Wahrscheinlich hatte er sich bei der Landung den Fuß verdreht. Doch wenn man aufrecht weggehen konnte, war es eine gute Landung. Schmerzen wurden heruntergeschluckt und ausgeblendet, sofern man nicht den Spott der anderen riskieren wollte.

Alpha schloss fest die Augen. An Schlaf war nicht zu denken. Er horchte auf jedes Geräusch, Knacksen, das Flattern der Vögel … Der Wind strich sanft durch die Bäume und Sträucher. Alles in ihm war angespannt. So nah am Zielort mussten sie damit rechnen, dass sie jederzeit entdeckt werden konnten. Die Wartezeit, die einer Stagnation glich, war für ihn mitunter das Härteste. Seine Gedanken schweiften ab, holten Zweifel in ihm empor.

Es ist kein läppischer Spielfilm, in dem es meist ein Happy End gibt. Wir haben so oft Glück gehabt. Ich bin mit meinen Mitte Dreißig kein naiver Jungspund mehr. Nur wenige hielten so einen Job bis zu diesem Alter durch, agierten noch an vorderster Front. Viele schieden vorzeitig in der Verpflichtungszeit aus, sowohl freiwillig als auch unfreiwillig, oder wechselten zu einem ungefährlicheren Posten. Rückblickend wirkte für Alpha jedes Jahr, als hätte man ihm ein ganzes Jahrzehnt geraubt.

»Alles gut bei dir?«, fragte Omikron leise, der sich neben ihm niederließ.

Alpha visierte seinen Freund an. »Wieso?«

»Du schneidest Grimassen und stöhnst dabei, als hättest du Schmerzen.«

»Bin von der Warterei ganz verspannt.«

»Bald geht es eh los.«

»Bei dir klingt das, als wäre es ein simpler Wanderausflug.«

»Ach, ist es gar kein simpler Wanderausflug?«

»Idiot«, zischte Alpha, ohne es böse zu meinen. Beide lachten gedämpft.

Der Abend dämmerte, die Soldaten nahmen ihre Rucksäcke und brachen auf. Sie marschierten durch unwegsames Gelände, mussten an die fünf Kilometer Fußmarsch hinter sich bringen. Die Waffen hielten sie griffbereit, ein Teil der Munition lag in einem Gurt quer über den Körper. Die Route war durchgesprochen, ebenso die Positionen, trainiert in etlichen Stunden, bis die Abläufe wie automatisiert wirkten. Dennoch ähnelte kein Einsatz dem anderen. Sie mussten sich ihre Flexibilität erhalten, durften nicht blindlings agieren.

Inkognito! Wir alle! Maulwürfe, gut getarnt, im Untergrund. Alpha stoppte. Er rückte sein Nachtsichtgerät zurecht, sah die Kameraden im grünlichen Schimmer. Ihre Bewegungen wurden achtsamer. Adrenalin strömte durch Alphas Adern, fast so wie früher in der Ausbildungszeit. Auch da hatte es ihn feurig heiß durchflutet, als er damals in dem eigenen dafür abgesperrten Areal die Munitionssalven hinausließ. Mit Farbmarkierungsmunition stellten sie bei Übungen ziemlich realistisch Gefechte nach, das Kunstblut durchtränkte die Kleidung, hinterließ blutige Pfützen am Boden.

Souverän, ohne mit der Wimper zu zucken, hab ich die Pappkartons weggeschossen. Verbiss die Schmerzen, wenn ich getroffen wurde, trug stolz jeden einzelnen blauen Fleck, die die Geschosse auf der Haut hinterlassen hatten. Sein erster richtiger Einsatz wirkte anfangs wie die Übungseinheiten. Als das Gesicht eines Rebellen auftauchte, zielte er ebenso genau, spürte den Rückstoß, Sand wirbelte auf … Erst, als sich dieser gelegt hatte, realisierte er langsam, dass das keine Pappfigur, sondern ein Mensch gewesen war. Seine Kameraden und er hatten die Feinde eliminiert. Sie klopften ihm auf die Schulter, beglückwünschten ihn, gaben ihm das Gefühl, Herausragendes geleistet zu haben. Damit verscheuchten sie in ihm den Gedanken, dass dieser Kerl, der tot im Sand lag, ebenfalls eine Familie haben musste.

»Scheiß Elite!«, fluchte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Auch dieses Mal ging es nicht um Pappkartons, sondern um Menschen aus Fleisch und Blut. Bald erreichen wir den Zielort. Zuvor müssen wir noch ein paar Vorbereitungen treffen, um später für die eine oder andere Überraschung zu sorgen!

Befreiung mit Hindernissen

Marissa hatte Fieber. Abwechselnd heiß und kalt jagten die unterschiedlichen Schauer über ihren Körper. Die Wunde am Handgelenk war rot, ganz entzündet, sah richtig böse aus, als stünde sie kurz vor einer Blutvergiftung. Ihr war es einerlei. Lass mich sterben, wimmerte sie. Eine fette Ratte tippelte auf sie zu. In einem hysterischen Anfall kreischte Marissa los, trat mit den Füßen nach dem Vieh, schlug mit den Händen umher, bis das Getier forthuschte.

»Gib nicht auf«, beschwor Albert sie, der eine seiner kurzen wachen Phasen hatte.

Marissa heulte.

»Man wird uns rausholen.«

»Das glaubst du wohl selbst nicht!«, fuhr sie ihn an. »Wer sollte Interesse daran haben, uns rauszuholen? Wir sind nichts, Mittel zum Zweck für die perversen Vorlieben!« In ihrer Erinnerung sah sie den davonrollenden Schädel. Übelkeit wallte hoch. Wenn sie mehr Nahrung bekommen hätten, hätte sie sich bestimmt erneut übergeben. So fühlte sie den scharfen Geschmack der Galle in ihrer Kehle, die sie grade noch herunterschlucken konnte. Matt kauerte sie sich auf dem Boden zusammen.

Alpha schlich sich lautlos an. Er ließ den Rebellen, der an einem Baum lehnte, nicht aus den Augen. Mit dem Nachtsichtgerät konnte er dessen Umrisse ausmachen. Seine Waffe war schussbereit, sollte erst zum Einsatz kommen, falls der Gegner ihn bemerken würde. Achtsam machte er einen Schritt vor den anderen, hoffte, nicht auf einen verräterischen Ast zu treten.

Nur mehr wenige Meter. – Jetzt! Alpha stürmte vorwärts. Mit einer gezielten Bewegung schnellte sein Arm nach vor, umfasste den Kopf von hinten, brach dem Kerl knacksend das Genick. Der Körper sackte zuckend auf den Untergrund.

Alpha wandte sich rasch ab, imitierte eine Vogelstimme. Es war das Zeichen für den Zugriff. Einer der Kameraden öffnete die Tür, während die anderen in die Hütte stürmten. Schüsse fielen. Schon kamen zwei seiner Leute heraus, rannten ihm mit einer Frau und einem Mann entgegen. Die beiden Geiseln wirkten mitgenommen, wurden eher mitgeschleift, als dass sie selber laufen konnten. Über ihnen erklang das Dröhnen eines Helikopters. Das Timing passte, der Suchscheinwerfer hatte sie bereits gefunden.

»Die dritte Geisel ist tot. Sie wissen nicht, wo sie hingeschafft wurde, wahrscheinlich irgendwo verscharrt«, rief Sigma. »Kappa wurde getroffen!«

»Mist!«, fluchte Alpha. »Bringt die beiden in Sicherheit.« Er eilte in die Hütte. Omikron kam ihm humpelnd mit einer blutenden Wunde am Oberschenkel entgegen. Sein Kamerad hatte den bewusstlosen Kappa über die Schulter geworfen.

Alpha nahm ihm den Verletzten ab. »Rückzug!«, stieß er aus. Sein Blick glitt kurz über die leblosen Körper der Aufständischen. Die können keinen Schaden mehr anrichten. Die Männer liefen Richtung Helikopter, etwas oberhalb flog eine zweite Maschine und sicherte den Luftraum. Die Geiseln sowie die beiden Kollegen, Rho und Sigma, wurden indes aufgenommen. Ein zischender Schmerz ließ Alpha in die Knie gehen. Er strauchelte, dennoch schaffte er es, Kappa nicht loszulassen.

Mist, es gibt einen vierten Mann, den wir bei den Recherchen übersehen haben! Sein eigenes warmes Blut floss über den Rücken hinunter. Omikron feuerte in jene Richtung, aus der offenbar der Schuss gekommen und im Dröhnen des Motors untergegangen war. Erde spritzte unweit vor ihnen empor, eine riesige Rauchwolke verteilte sich im Licht der Scheinwerfer. Die Feinde hatten außerhalb einen Granatwerfer abgeschossen. Es wurde auf den Hubschrauber gefeuert.

Alpha verschanzte sich mit dem bewusstlosen Kameraden und Omikron hinter den Büschen. Der Helikopter entfernte sich aus der Gefahrenzone, denn das Überleben der Geiseln hatte Priorität. Er gewann rasch an Höhe, das Rattern der Rotoren wurde leiser.

»Wir müssen ins Lager!«, presste Arno hervor.

»Mit unseren Verletzungen? Die gehören zuvor versorgt! Gib mir Deckung«, stellte Omikron unmissverständlich fest. Schon öffnete er den Rucksack, um zum Verbandsmaterial zu kommen. Eine Tretmine detonierte in der Nähe, wirbelte Erde, Steine, Pflanzen- und Wurzelstücke durch die Luft, wohl auch Teile eines Menschen. »Die hat er übersehen!«, meinte Omikron freudig, als damit die unmittelbaren Schüsse verstummten.

»In der Ferne kracht es nach wie vor, das bedeutet einen geringen Zeitvorsprung.« Alphas Hand lag fest auf Kappas Bauchwunde, die Finger färbten sich blutig. Der Kamerad blieb bewusstlos.

»Das geht ratzfatz.«

»Schaut übel aus!«

Omikron fixierte eine hämostyptische Kompresse über dessen offene Wunde. Diese enthielt Zeolithe, sogenannte Aluminiumsilikate vulkanischen Ursprungs, um die Blutung zu stillen. Rasch bauten die beiden eine Trage aus Steckrohren zusammen, auf die sie den verletzten Freund lagerten.

»Was ist mit deiner Wunde?« Omikron kontrollierte Alphas Verletzung.

»Die kannst du vernachlässigen.« Alpha verbiss sich die Schmerzen. Aus der Schussverletzung sickerte wenig Blut. Die Kugel hatte sich tief ins Fleisch gegraben, fungierte dadurch wie ein Pfropfen.

Mit geübten Griffen schlang Omikron indes eine elastische Binde um den eigenen blutenden Oberschenkel, was schnell erledigt war.

»Abmarsch!«, stieß Alpha aus. Gemeinsam hoben sie die Trage auf. Hoffentlich schaffen wir es rechtzeitig ins Camp, bevor die Verfolger unsere Spur aufnehmen!