Die Ehre meiner Seele - Bridget Sabeth - E-Book

Die Ehre meiner Seele E-Book

Bridget Sabeth

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Beschreibung

Doppelband: Sara Böhmer ist die Stieftochter von Baron Carl Königshofer von Eichstätt. Sie wird von Stephan Krüger zum Ball eingeladen. Noch auf der Kutschenfahrt offenbart sich Stephan, dass er ihre jüngere Schwester Alma liebt. Aber diese Liebe stößt auf große Ablehnung. Stephan verschwindet in derselben Nacht spurlos. Als Sara ihren Freund, Thomas Heine, aufsucht, trifft sie in dessen Wohnung auf ihre Schwester. Bestürzt erkennt sie, dass die beiden die Nacht gemeinsam verbracht haben. Sie ist enttäuscht, verletzt und stimmt zu, darüber Stillschweigen zu bewahren. Doch als Alma bekennt, dass sie schwanger ist, wirbelt es das Leben der Familie völlig durcheinander. In einer Winternacht wird ein Mädchen geboren. Doch plötzlich stellt sich die Frage, wer ist der Vater? Wie viel kann eine Liebe verzeihen? Und wer verbirgt welches Geheimnis?

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Die Ehre meiner Seele
Erstes Buch
Prolog
Ein Schloss in Eichstätt
Meine Einladung zum Tanz
Stephan
Eine verborgene Liebe
In anderen Umständen
Verstoßen und missachtet
Schmerzliches Sehnen
Der Verdacht
Die Niederkunft
Hab Vertrauen
Zweites Buch
Prolog
Geheimnisse
Melancholie
Heimtücke oder Hoffnung
Wagnisse
Kristina, mein Mädchen
Die Rückkehr
Zwei Schicksalsschläge
Die Beerdigung
Aussprache
Die wahre Identität
Kristinas Mörder
Eine ehrbare Frau
Epilog

 

 

Die Ehre meiner Seele

 

Bridget Sabeth

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorbemerkung

 

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Das Schloss in Eichstätt hat es nie gegeben.

Einige historische Aspekte sind eingeflossen, die jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, und gelegentlich etwas abgeändert wurden.

 

 

 

 

Impressum

Texte: © Copyright by Bridget Sabeth Umschlag: © Copyright by Bridget Sabeth

Cover: Coverbearbeitung Bridget Sabeth unter Verwendung einer Lizenz von shutterstock.com

Cover-Bildnummer: 60331717

Urheberrecht: conrado

Vektor-Bildnummer: 158442545

Urheberrecht: Ekaterina Verlag: Brigitte Kreuzer

Raningerweg 2 8761 Pöls-Oberkurzheim [email protected]

 

 

Erstes Buch

Prolog

1888 – Bayern

Der Wind strich über das Land und die Äste der Bäume wiegten sich sanft in einer luftigen Brise. Langsam brach die Nacht herein und Düsternis legte sich auf den kleinen Hain. Hinter einer Laubhecke verbarg sich eine junge Frau. In der Hand hielt sie eine Laterne. In deren Widerschein offenbarte sich ein harter Zug um den Mund, der ihre Angespanntheit verriet und ein geheimes Treffen vermuten ließ. Nervös schaute sie sich um, als hätte sie Sorge, von jemandem entdeckt zu werden.

Der Schrei einer Eule zerriss die Stille. Es raschelte im Unterholz und ein feiner Lichtstrahl zeigte sich in der Dunkelheit. Die Frau zog die Mantille fester um die Schultern zusammen, als suche sie Schutz darin. Sie erkannte eine schemenhafte Gestalt, hörte alsbald Atemgeräusche. Ein Mann von großer, kräftiger Statur trat hervor und leuchtete mit seiner Laterne in ihr Gesicht.

»Baronin Teresa Königshofer von Eichstätt, welche Freude, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Du weißt sicherlich, was ich erwarte!« Trotz der vertraulichen Anrede schwang in seiner Stimme eine spürbare Missachtung mit. Sein Blick verweilte länger an ihren Rundungen, als es der Anstand gebot.

»Mathias Krüger. Zügelt Euer Verlangen!« Die junge Frau presste die Lippen aufeinander. Vor gar nicht langer Zeit hatte sie sich ihm hingegeben, aus freien Stücken, doch eine tiefergehende Verbindung wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. »Und senkt das Licht, es blendet mich! Oder wollt Ihr Aufmerksamkeit erregen?«

Der Mann folgte ihrer Aufforderung mit einem leisen Grollen. »Ich bin so allein, seit dem Tod meiner Frau …« Er brach ab, als würde er das tragische Unglück tatsächlich bedauern, aber Teresa wusste es besser.

»Verschont mich mit dieser Heuchelei, denn wie man sich erzählt, haltet Ihr Euch seit Jahren an mancher Dirne schadlos.« Sie war selbst verwundert, dass ihre Stimme nicht derart zittrig klang, wie sie sich im Inneren anfühlte. In der Ferne vernahm sie das Heulen eines Wolfes. Hektisch suchte Teresa mit ihren Augen die Umgebung ab, doch in den dunklen Schatten konnte sie niemanden ausmachen. Sie hoffte indes, dass der Wind ihre Worte nicht für andere hörbar weitertrug. Die Baronin raffte den Umhang fest um sich, bedeckte ihre weiblichen Kurven, die sich unter dem hochgeschlossenen Kleid abzeichneten.

Für eine Weile verschwand Mathias‘ Argwohn. »Ich würde alles für dich tun.« Er klang irritierend liebevoll.

»Mir scheint, Eure hehren Absichten kommen eher einer Erpressung gleich!«

»Erpressung? Was für ein abscheuliches Wort. Nennen wir es eine Vereinbarung. Außerdem, meine Schöne, tu nicht so, als würde ich dir missfallen, sonst hättest du dich wohl kaum an mich gewandt und mir deine Süße geschenkt.«

Wie konnte ich mich nur hinreißen lassen? Übelkeit stieg in Teresa hoch. Sie kannte die bittere Antwort: Sie sah keinen anderen Ausweg. »Ich bin glücklich mit meinem Gemahl. Ich liebe ihn!«

»Liebe …« Abfällig spuckte Mathias auf den Boden. »Da entsinne ich mich an deine wunderschönen Töchter.« Er betonte jedes Wort. »Was für ein Glücksfall, dass sie dir ähneln und nicht …«

»Was wollt Ihr?« Sie stoppte ihn impulsiv im Satz und erntete ein überhebliches Lachen. Mit seinem Hass konnte sie umgehen, nicht jedoch damit, dass er ihr Geheimnis ausplaudern könnte. Er dürfte weder ihre Familie noch ihre Liebe zerstören!

»Bei deinem ersten Mann hast du kein Glück gefunden! Zumal er nicht deine freie Wahl war.«

»Ich bedaure meine frühe Witwenschaft nicht, und bin auch kein unbedarftes Ding mehr.«

Spöttisch verzog Mathias seinen Mund. »Das stimmt. Außerdem wurdest du durch Heinrichs Tod eine reiche Frau. Damals dachte ich, dass ich der Mann an deiner Seite werden könnte, nur war ich nicht standesgemäß.«

Teresas Gesicht glühte vor Aufregung und Scham. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie senkte das Licht. »Ihr wisst, dass mir diese Standesdünkel nichts bedeuten!«

»Ach ja, ich vergaß, du bist Carl – deiner großen Liebe – begegnet«, spottete er. »Dennoch scheint es mir, dass sich unsere Wege immer wieder kreuzen. In deiner größten Not kamst du zu mir und nun erstaunt es dich, dass ich dafür einen Dankeszoll verlange? Du stehst vor mir wie ein scheues Reh, dabei kenne ich – nur ich – deine geheimen Abgründe.«

Der drohende Unterton blieb ihr nicht verborgen. Sie schluckte ihren Ekel hinunter und reckte stolz das Kinn nach oben. »Erspart mir Eure Belehrungen! Ihr habt mich kaum deswegen zur nächtlichen Stunde an diesen Platz rufen lassen.«

»Stimmt.« Mathias seufzte. »Du bist so sehr um Haltung bemüht, nur gelingt dir das nicht, meine Schöne …« Er strich mit einem Finger über Teresas Gesicht.

Sie entdeckte ein gefährliches Glitzern in seinen Augen. Unbewusst hielt sie den Atem an und verbannte den abstrusen Gedanken, Mathias würde ihr in der nächsten Sekunde die Kleider vom Leib reißen und sich ihrer bemächtigen. Sie zitterte.

»Es gab Zeiten, da hat meine Berührung dir lustvolle Laute entlockt.« Gequält ließ er seine Hand sinken.

»Ich hab mich zu Dingen hinreißen lassen, die Carl sehr verletzen würden. Dafür trage ich ganz allein die Konsequenzen. Also bitte, kommt endlich zur Sache, oder ich werde mich verabschieden.«

»Gut. Wie dir sicher zugetragen wurde, habe ich einen finanziellen Engpass. Deshalb dachte ich mir, du könntest in mich investieren.«

Im ersten Moment spürte sie Erleichterung, dass er nur Geld forderte und nicht ihren Körper. »An welche Summe habt Ihr gedacht?«

»Nun, es wäre mir eine große Hilfe, wenn ich zweitausend Gulden sofort erhalten könnte.«

»Zweitausend?«, wiederholte sie bestürzt.

»Und zu jedem Monatsersten weitere zweihundert Gulden, solange ich lebe. Immerhin muss ich für meinen Sohn sorgen und möchte ihm eine umfassende Schulausbildung ermöglichen.«

»Weitere zweihundert Gulden monatlich? Seid Ihr von Sinnen?«

»Dies wäre nur eine minimale Gegenleistung dafür, dass das Geheimnis bei mir sicher verwahrt bleibt und ich deinen Ehebund nicht stören werde. So kann sich Carl auch künftig mit Hingabe um eure Töchter kümmern. Du willst ihn keineswegs erzürnen, oder? Am Ende hast du mehr zu verlieren als ich.«

Die Baronin hätte ihm am liebsten das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. »Das ist mehr, als ich beschaffen kann.«

»Ach Weib, lamentiere nicht! Die frühe Ehe hat dich mündig und dein verstorbener Mann wohlhabend gemacht. Du kannst über dein Vermögen frei bestimmen und bist keineswegs vom Wohlwollen des Barons abhängig.

Seit Luitpold das Zepter in der Hand hält, befindet sich unser Land spürbar im wirtschaftlichen Wachstum, weshalb ich mit dem Gedanken spiele, in die Bierbrauerei einzusteigen. Doch dafür fehlt mir gerade das nötige Kleingeld.«

»Wo wollt Ihr Euch noch überall profilieren? Mit Eurem Verstand sollte meine Unterstützung nicht nötig sein!«

»Du irrst. Gerade deshalb brauche ich deine Unterstützung, da die Bedingungen für eine gewinnbringende Anlage im Moment sehr günstig sind. Als Berater in Geldangelegenheiten weiß ich sehr wohl, wie viel deine Besitztümer wert sind. Natürlich achte ich darauf, deinen Schaden gering zu halten, immerhin bin ich kein Unmensch.«

»Eintausendfünfhundert Gulden«, feilschte sie, »und monatlich werdet Ihr nicht mehr als hundert Gulden erhalten.«

»Eintausendfünfhundert Gulden sofort und hundertfünfzig pro Monat.«

»Hundertzwanzig, das ist mein letztes Wort.«

»Du bist nicht in der Position, um zu verhandeln. Was würde Carl sagen, wenn er …«

»Hundertzwanzig«, fiel sie ihm ins Wort, »ansonsten könnte ich mich erinnern, Euch in der Todesnacht Eures Weibes an deren Boot hantieren gesehen zu haben.«

»Was sagst du da?« Seine Hand schnellte nach vorn und umfasste hart ihren Oberarm.

»Ihr tut mir weh!« Gewiss würden Abdrücke seiner Finger zurückbleiben. Sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu entwinden.

Er lockerte den Griff. »Du hast es gewusst? All die Zeit?«

»Nun weiß ich es. Ein Mord verjährt nicht!«

»Es würde gewiss sehr eigenartig wirken, wenn du erst jetzt mit dieser Anschuldigung herausrückst. Ohne Beweise steht mein Wort gegen deines.«

»Wollt Ihr es tatsächlich darauf ankommen lassen? Es wäre sicher allein der Verdacht hinlänglich, sodass manche Geschäftspartner eine künftige Kooperation mit Euch genauestens überdenken würden. Womöglich stünde Eure Stellung beim Bankinstitut in Gefahr.«

»Dieses Wissen kann dein Untergang sein!«

»Ihr seid doch kein Narr und verzichtet auf Eure Geldeinnahmequelle, mit der Möglichkeit, Euch weiter hervorzutun!«

»Dann sieh es als Rückversicherung für dein Leben, für das deines Mannes und der Töchter.« Mit diesen Worten ließ er ihren Arm los und Teresa taumelte zurück.

Sie unterdrückte das Bedürfnis, die schmerzende Stelle zu berühren. »Gebt zu, das Geld ist Euch in Wahrheit einerlei, Ihr wollt nur Rache nehmen, da ich mein Glück gefunden habe, nur nicht an Eurer Seite.«

»Baronin, dein Kapital werde ich gewinnbringend einsetzen, und ansonsten sollst du dich zu jedem Ersten im Monat daran erinnern, welche Schuld du auf dich geladen hast. Lass dir gesagt sein: Früher oder später wirst du erkennen, dass deine Verfehlungen nicht geringer sind als meine.«

»Es ging nur um die Erfüllung von Carls sehnlichstem Wunsch. Er wollte einen Erben.«

»Du hättest ihn sicherlich ausreichend zu trösten vermocht, auch ohne Nachfolger!«

»Carl hat mich vor der Einmischung meiner Eltern gerettet, die sich wie Schmarotzer im Böhmer-Hof eingenistet hatten, und holte mich zu sich ins Schloss. Er schenkt mir seine bedingungslose Liebe. Da ist es wohl legitim, dass ich ihm etwas zurückgeben wollte.«

»Dir ging es nie um Carl, sondern nur um dich! Viel zu sehr lechztest du nach einem Adelstitel und wolltest im Reigen der Hochwohlgeborenen aufgenommen werden. Aber glaub mir, ein Kind macht deine einfache Abstammung nicht unvergessen.«

»Am besten schaut Ihr Euch selbst nach einer privilegierten Frau um, dann müsst Ihr mir meinen Aufstieg nicht länger neiden.«

»Ich brauche kein farbloses Weib an meiner Seite, sondern eine, die mich fordert.«

»Wenn ich das sein soll, dann ist Euch nicht zu helfen!«

»Wir beide sind uns ähnlicher, als dir lieb ist. Dein Gemahl hält dich hingegen für eine Heilige und ich weiß schon jetzt, dass du ihn ins Verderben stürzen wirst. Ich habe dich längst durchschaut. Du hast die falsche Wahl getroffen, als du mit ihm zum Traualtar schrittest!«

»Mein Herz hat entschieden!«

Er lachte bitter. »Dein Herz? Wo war dein Herz in jener Nacht, als du zu mir kamst und …?«

»Schweigt!«

»Daher ist Kalkül wohl die passendere Bezeichnung.«

»Nennt es, wie es Euch beliebt. Dessen ungeachtet solltet Ihr endlich aufhören, meiner nachzutrauern, denn ich war niemals Euer Weib und werde es nie sein! Somit ist Eure gekränkte Eitelkeit mehr als unangebracht. Erfreut Euch besser an all den anderen Frauen, die gewiss williger sind als ich, und Euch ihre Gunst schenken.«

»Wir bleiben auch ohne Ehebund aneinandergekettet«, sprach Mathias voller Häme.

Es fröstelte Teresa. »Mein Geld gibt es nur, wenn Ihr meine Bedingungen erfüllt!«

»Aber Liebste, welche?«, spottete er.

»Wir werden künftig kein privates Wort mehr miteinander wechseln und vermeiden persönlichen Kontakt. Zudem: Haltet Euch von meinen Töchtern fern!«

»Sollten die Zahlungen pünktlich eintreffen, wird das kein Problem darstellen. Ich hoffe nur, dass du nicht dein Wissen ausnützt und versuchst, meine Geschäfte zu untergraben, ansonsten wird Carl von uns erfahren. Dann dürftest du all deine Privilegien verlieren.«

»Solange meine Interessen nicht leiden, werde ich Eure Geschäfte nicht ruinieren.«

»So sei es.« Mathias ergriff Teresas Hand und deutete einen Kuss an. »Dann sind wir uns einig. Aber ich bin mir sicher, auch wenn du mich aus deinem Leben verbannst, wirst du keine Ruhe finden und dich meiner entsinnen.«

»Diese Erinnerung wird nur Schmerz und Hass hervorrufen.«

»Meine ebenso.« Er ließ ihre Hand los.

Sie sah dem Schein seiner Laterne nach, bis dieser gänzlich in der Dunkelheit verschwand. Angewidert wendete sie sich ab. Was für einen abscheulichen Pakt habe ich geschlossen? Das gutmütige Lächeln ihres Gemahls drängte in den Gedanken empor. Ich tue es für ihn, versicherte sie sich, und für das Wohl meiner Familie.

*

 

»Herr Baron, ich bitte Euch auf ein Wort«, rief die Hofmeisterin, als sie den Freiherrn Carl Königshofer von Eichstätt erblickte.

»Magdalena, gewiss. Komm, begleite mich ein Stück des Weges.«

Die Bedienstete unterbrach die Arbeit im Garten und strich ihre Hände an der Schürze ab, die sie über dem groben Wollkleid trug.

»Du bist mitten in der Rosenblütenernte, wie ich sehe.«

»Diese Pracht will gut genützt sein, zumal das feine Aroma in den handgemachten Seifen herrlich zur Geltung kommt.«

»Ich hoffe allerdings, dass wir auch die Rosenzucker-Vorräte auffüllen. Du weißt, wie sehr Teresa diesen erlesen Geschmack in ihrem Tee liebt.«

»Natürlich Herr Baron, dafür werde ich sorgen.«

»Fein.«

Seite an Seite gingen die beiden nebeneinander her. Carl war ein herrschaftlicher Mann mit braunem Haar und einem Schnauzer mit nach oben gezwirbelten Spitzen. Die Sonne schien heiß vom Himmel herab, deshalb suchten sie im Schatten eines Kirschbaumes Schutz.

Der Baron wandte sich an Magdalena, die ihm gegenüberstand. »Nun sag schon, worüber möchtest du mit mir sprechen?«

»Ich hätte ein Anliegen und es wirkt mitunter etwas unverfroren.«

»Dies zu beurteilen, obliegt mir.«

»Nun, wie ich von Eurer Gemahlin erfahren habe, soll künftig Eure Stieftochter Sara unterrichtet werden.«

»Ja, das stimmt.«

»Deshalb wollte ich Euch bitten, ob nicht Thomas ebenfalls an den Lehrstunden teilnehmen könnte. Er ist so ein wissbegieriger Bursch, hat sich bereits selbst die Welt der Buchstaben und Zahlen angeeignet und dennoch ist seine Neugierde unstillbar.« Aus treuherzig bittenden, blauen Augen blickte sie ihm entgegen. Nervös tastete sie über ihr blondes Haar, das streng zurückfrisiert und mit Nadeln fixiert war. Aber nicht einmal eine feine Strähne vermochte es, sich daraus zu lösen.

»Er ist doch Euer, ich meine unser … natürlich werde ich niemals ein Sterbenswort darüber verlieren, weder an die Baronin noch an sonst jemanden, ganz gleich wie Eure Entscheidung ausfallen mag. Ich bitte Euch lediglich, es zu überdenken. Und nun verzeiht die Störung.«

»Warte!«

Magdalena hielt inne. Würde der Freiherr ihr Ansinnen gutheißen oder ablehnen? Die Zeit, in der Carl Wärme in ihren Armen suchte, gehörte längst der Vergangenheit an.

»Ich erkenne sehr viel von mir in Thomas wieder. Er erinnert mich daran, als du mir in einsamen Stunden Trost und Liebe geschenkt hast.«

Magdalena wich seinem Blick aus und schaute zu Boden, wo sich Grashalme hartnäckig durch den steinigen Fußweg kämpften. Ihre Hoffnung verflüchtigte sich zusehends.

»Ich weiß, dass ich dich sehr verletzt habe, als ich Teresa wählte und sie zur Herrin machte.«

»Ich war keine Sekunde derart vermessen zu glauben, dass wir jemals eine gemeinsame Zukunft hätten.« Sie sah auf. »Mit Thomas habt Ihr mir allerdings das schönste Geschenk gemacht, somit ist der Schmerz von damals längst gewichen. Ansonsten könnte ich Euch keinen Tag länger zu Diensten sein. Ihr habt in Teresa die Frau fürs Leben gefunden. Ich verstehe sehr wohl, dass es fern jeglicher Etikette ist, den Sohn einer Bediensteten auszubilden. Bitte, verzeiht meine Unbedachtheit.«

»Du missverstehst mich. Ich werde deinem Ansinnen nachkommen.«

»Tatsächlich?« Hatte er soeben zugestimmt? Sie konnte es kaum glauben.

»Ich wäre ein Narr, wenn ich seine Begabung noch länger brachliegen lassen würde. Du hast darauf verzichtet, mich als Vater zu benennen, vielleicht kann ich meine Schuld an ihm auf diese Art ein wenig sühnen.«

»Für Eure Gemahlin wird es befremdlich wirken.«

»Das lass meine Sorge sein. Zumal schon einige Freiherren, wie mein Freund Otto von Wolbrand, die Ausbildung ihrer Angestellten gutheißen.«

»Wie kann ich Euch jemals danken?«

Nun trat der Baron zur Hofmeisterin heran. Er legte eine Hand auf ihre Schulter. »Magdalena, deine Loyalität beweist du mir täglich, und nun gebe ich dir etwas von meiner Dankbarkeit zurück.«

»Ihr beschämt mich. Nichtsdestotrotz macht Ihr mich gerade überaus glücklich. Nun gehe ich wieder an meine Arbeit.« Die Hofmeisterin entfernte sich.

 

Carl blickte Magdalena nach, bis sie sich von Neuem den Rosen widmete. Er fühlte eine tiefe, freundschaftliche Verbindung zu ihr. Was hätte er ohne ihren Beistand getan, als der Krieg seinen Bruder Maximilian raubte? Nur einen Tag später trieb der Vater leblos im Wasserlauf, und entfloh womöglich auf diese Weise der Last des Verlustes seines ältesten Sohns. Wenige Monate darauf entschlief die Mutter. Magdalena gab ihm damals die Hoffnung durchzuhalten, und er fand Trost in ihren Armen.

Als er erfuhr, dass sie sich in anderen Umständen befand, zögerte er keinen Moment und holte sie ins Haus, um ihr eine sichere Stellung am Gut zu verschaffen. Bald ernannte er sie zur Hofmeisterin, denn hinter ihrem hübschen Äußeren steckte ein wacher Geist. Sie agierte mit großer Sorgfalt und Umsicht. Ab sofort trug Magdalena die Aufsicht über die Dienerschaft, stellte den Wochenspeiseplan zusammen und überwachte die Arbeiten in Haus und Garten. Dann trat Teresa wie ein Engel in sein Leben und erfüllte ihn mit heißer, inniger Liebe. Carl lächelte beim Gedanken an seine Frau.

Magdalena trat von sich aus die Dienstbotenstube ab und zog mit dem kleinen Sohn in eine bescheidene Wohnung in einen separaten Bereich für das Gesinde, das an der Südseite des Anwesens lag. Sie beschwerte sich kein einziges Mal, sondern stellte ihre Bedürfnisse hintan. Pflichtgetreu erledigte sie all die aufgetragenen Arbeiten und respektierte Teresa an seiner Seite.

»Sie ist eine starke Frau.« Carl löste den Blick von Magdalena und führte seinen Spaziergang fort. Die Erfüllung dieses Wunsches war somit das Mindeste, was er ihr erweisen konnte.

 

Ein Schloss in Eichstätt

Juni 1901

Völlig in sich gekehrt saß Thomas Heine in der breiten Fensternische der Küche des Ostflügels und wartete auf das angekündigte Eintreffen des Fuhrwerkes, um die Ladung entgegenzunehmen. Eine Tätigkeit, für die normalerweise der Knecht Erich Furtner zuständig war. Doch ein schlimmer Husten und hohes Fieber drückten ihn aufs Krankenlager.

Thomas starrte zum Fenster hinaus. Er registrierte kaum das geschäftige Treiben hinter sich. Die beiden Köchinnen Susanne und Lina bereiteten das Abendmahl vor, das eine halbe Stunde früher als üblich angesetzt war. Heute würde noch der Sommernachtsball in Ingolstadt stattfinden, bei dem sich der Adel traf.

»Bin ich froh, dass ich nicht zu dieser hochnäsigen Gesellschaft geladen bin!« Susanne legte Holzscheiter nach. Sogleich züngelten die Flammen stärker empor.

»Ach, komm.« Lina rührte im großen Topf, in dem eine Rindssuppe vor sich hin köchelte. »So ein schönes Kleid, mit dem feinen Stoff, würdest du auch gerne tragen. Und die wundervollen Frisuren erst ...«

»Papperlapapp! Was haben die Betuchten davon? Verhungern würden sie ohne uns! Wir sind es, die alles machen, darauf achten, dass es warm und sauber ist!« Susanne strich ihre Hände an der Schürze ab.

»Du bist bloß neidisch, nicht auf der anderen Seite geboren worden zu sein. Wie siehst du das, Thomas?«

Der Angesprochene schreckte hoch, als er seinen Namen vernahm, und schaute irritiert zu den beiden Frauen.

»Diese Kerle! Nie hören sie einem zu!« Susanne schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

»Tut mir leid. Worüber habt ihr euch unterhalten?«

»Lina will mir tatsächlich unterstellen, dass ich insgeheim zum Adel gehören möchte! Dabei ist dieses scheinheilige Getue geschmacklos! Vielleicht sollte ich es wie Magret und Konstatin machen und mein Glück in Übersee suchen.«

»Der Baron bezahlt uns doch gut.« Thomas erhob sich von seinem Sitzplatz.

»Du bist selbst ja nur verblendet! Sei ehrlich, was hat dir deine Ausbildung in den Reihen der Oberschicht gebracht? Darfst dich Stallmeister nennen, aber im Endeffekt bist und bleibst auch du ein Knecht der Herrschaft!«

»Jetzt sei nicht so böse!«, warf Lina ein.

»Nein, du hast recht, ich bin und bleibe ein Knecht.« Von draußen erklang Hufgeklapper. »Und ich gehe nun meiner Arbeit nach.«

Thomas eilte über den separaten Kücheneingang ins Freie. Am Fuße der außenliegenden Steintreppe gelangte er zur Droschke. Er winkte dem Kutscher zu, damit der nicht absteigen bräuchte, und ergriff eines der Rosse am Halfter. Währendem sprang Stephan Krüger aus dem gefederten Fuhrwerk. Thomas musterte kurz seinen Freund. Heute sah Stephan besonders adrett aus. Der Anzug war maßgefertigt und aus teurem Stoff. Auf dem Kopf trug er einen Zylinder.

»Servus, Thomas!«

»Gott zum Gruße. Holst du Alma zum Tanz ab?«

Die beiden duzten sich trotz ihrer nicht gleichwertigen Ränge, waren im selben Alter und trafen sich häufiger in einem Wirtshaus im Dorf, um ihrer Kurzweil nachzugehen.

»Nein, heute darf die bezaubernde Sara meine Begleitung sein.«

Erstaunen breitete sich über Thomas’ Gesicht aus, wusste er, dass Stephan bisher an Alma, der jüngeren Tochter Königshofer von Eichstätt, Gefallen gefunden hatte.

»Entschuldige, ich möchte mich keinesfalls verspäten.« Hastig entfernte sich sein Freund.

Derart kurz angebunden kannte Thomas Stephan gar nicht. Irritiert sah er ihm nach, wie dieser die Steinstufen zum Eingangsportal hinaufeilte, die schwere, ornamentierte Holztür öffnete und im Gebäude verschwand.

»Sara?« Thomas beschlich ein eigentümliches Gefühl, das er nicht benennen konnte. Eine Episode aus der Kindheit drang in seinen Gedanken empor …

 

Heimlich huschte der zwölfjährige Thomas durch die alten Gemäuer. Keinesfalls wollte er im verbotenen Bereich entdeckt werden, wie er die vornehmen Räumlichkeiten insgeheim nannte. Doch er wusste von seiner Mutter Magdalena, dass die Herrschaft außer Haus war. So nahm er das spärliche Risiko, erwischt zu werden, in Kauf. Natürlich hatte er ihr sein Unterfangen nicht mitgeteilt, denn damit hätte er unweigerlich Mutters Zorn heraufbeschworen.

Als kleiner Knabe fiel es ihm leicht, die deutliche Abgrenzung zwischen Arm und Reich zu akzeptieren, aber über all die Zeit wurde seine Neugierde weniger bezähmbar. Die Ausbildung im Schloss ermöglichte ihm vage Blicke in jene Bereiche, zu denen er ansonsten keinen Zugang bekam.

Obwohl dieser Streifzug nicht der erste war, pochte Thomas’ Herz hart in seiner Brust. Er konnte sich kaum sattsehen an all dem Prunk und Glanz, den prächtigen Gemächern, die ihre eigenen Geschichten erzählten, und den zahlreichen Bildern, die überwiegend vom Maler August Seidl stammten und zu Haupt Landschaften darstellten. Ein Raum hatte es ihm besonders angetan.

Thomas schlich im ersten Stock an den Gäste-Apartments, Waschräumen und dem kleinen Speisesaal vorbei und gelangte in den Ostflügel. Dort öffnete er behutsam die Tür zum Schreibkabinett des Freiherrn. Vertieft betrachtete er die Vertäfelungen in Nussholz, die von vergoldeten Rokokorahmen umspielt wurden. Darin tummelten sich Miniaturjäger, flankiert von kleinen Hunden, und es wirkte, als würden diese in den Bildnissen entlangeilen. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Erschrocken wirbelte Thomas herum.

Sara, die siebenjährige Stieftochter des Barons, hob kess den Kopf. Ihre grünen Augen blitzten auf. »Gefallen dir die Jagdszenen?« Das Mädchen deutete auf die grazilen, brunftigen Hirsche.

Thomas errötete. »Als würden sie zum Leben erwachen.«

»Der Herr Vater sagt immer, dass diese Motive für Glück stehen und für die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode. Aber …« Sara stemmte belustigt ihre Hände in die Hüften. »Was machst du hier?«

»Ich weiß, ich … hab nichts in eurem privaten Bereich verloren. Entschuldige.« Thomas drehte sich hastig um und eilte über den Flur in Richtung Wendeltreppe.

»Bleib stehen!« Sie lief ihm nach.

Er stoppte.

»Keine Sorge, ich verpetze dich nicht. Wenn du willst, können wir uns gemeinsam umschauen. Außerdem fängt bald die Studierstunde an, also kannst du gleich dableiben.«

»Aber …« Verblüfft brach er ab.

»Aber was? Vater und Mutter sind auswärts.«

»Sara, ich weiß nicht …« Sollte er auf ihr Angebot eingehen?

»Sei kein Feigling!«

Nun, ein Feigling wollte er sicher nicht sein. Thomas sah sich um. Er konnte niemand Weiteren entdecken und folgte Sara. Kerzen steckten in Wandhalterungen, platziert vor Spiegelappliquen, die den Schein der Flammen verstärkten. Er mochte dieses Flackerlicht, von dem eine beschauliche Atmosphäre ausging. Das Mädchen gewährte ihm Einblicke in den Rauchsalon, das Jagdzimmer mit den selbstgeschossenen Trophäen des Barons und die Loggia, in der man beim Billard der Spielleidenschaft frönen konnte.

Sara führte ihn weiter durch den kleinen Ess-Salon. Im Anschluss erstreckte sich der Prunksaal. Sie öffnete die Doppelflügeltüren. »Hier halten wir die großen Feierlichkeiten ab.«

»Der ist ja riesig!« Thomas drehte sich erstaunt im Kreis. Runde Säulen ragten bis zur weißen Stuckdecke empor. Sein Blick glitt weiter zu den Vitrinen der Schränke, die den edlen Tafelaufsatz darboten, und an den Wänden gab es Spiegel in güldenen Umrandungen. Inmitten des Raumes befand sich eine lange Tafel, an der zwanzig Stühle Platz fanden. Ornamente zeichneten sich im Holz der Möbel ab. Vorsichtig trat er heran, legte seine Finger in die tiefen Einkerbungen. Dann hob er den Kopf, bestaunte die Kronleuchter mit ihren Behängen aus Bergkristall.

»Wer als Erster im Dachgeschoss ist!« Sara spurtete los und nutzte seine Überraschung aus.

»Frühstart!« Thomas stob ihr lachend nach. Sie rannten über die Stufen der Wendeltreppen hinauf, schnell kam er ihr näher. Beide erreichten zeitgleich die Tür, die zum Gang ins oberste Stockwerk führte.

»Unentschieden!« Sara atmete schneller. »Dahinter … liegen unsere Schlafgemächer.«

Plötzlich ging eine Tür seitlich auf, Thomas zuckte zurück. Als er die jüngere Tochter Königshofer von Eichstätt erkannte, entspannte er sich rasch.

»Was macht ihr? Das klingt lustig.« Alma wirkte müde und rieb sich ihre Augen. Das blonde Haar war zerzaust und die pausbäckigen Wangen leicht gerötet.

»Ich zeig Thomas unser Heim, aber psst.« Sara legte ihren Zeigefinger an die Lippen. »Die Eltern dürfen niemals davon erfahren, sonst bekommen wir fürchterliche Schimpf.«

»Ich sag ganz bestimmt nichts«, beteuerte Alma.

»Na dann, komm mit!« Sara nahm ihre Schwester bei der Hand.

Gemeinsam sprangen sie den Flur entlang. Dabei hüpften die Zöpfe der Geschwister lustig auf und ab. Thomas kannte den Rokokostil dieses Stockwerkes, denn auf derselben Ebene befand sich der Unterrichtsraum. Die Einrichtung war in Weiß gehalten und die Türen reichten bis knapp unter die drei Meter hohe Zimmerdecke. Der Boden bestand aus hellem, griechischem Thassos-Marmor.

»Jetzt beeil dich! Nicht, dass die Eltern früher heimkehren und uns ertappen!«, rief Sara. »Wenn dich Mutter bemerkt, gibt es ein Theater.«

Rasch folgte er den Schwestern, die sich bereits im Eingangsbereich zur großen Galerie befanden, deren klare Formen sich vom Rokokostil unterschieden. Die Wände waren mit grünen Seidentapeten bespannt und ein braunes Intarsienparkett breitete sich unter seinen Füßen über den gesamten Raum aus.

»Hier siehst du sieben Generationen.« Sara deutete auf die Porträts von Carls verstorbenen Ahnen, die sich in goldenen Rahmen von der Wand abhoben. »Der so streng guckt, ist Waldemar Königshofer, war im sechzehnten Jahrhundert Gelehrter, und verheiratet mit dieser Dame da.«

»Genoveva«, nannte Alma den Namen, und zwirbelte ihr Haar um den Finger.

Thomas betrachtete den Mann mit der breiten Hemdkrause, die den Hals völlig verbarg. »Sprach unser Lehrer nicht letztens im Geschichtsunterricht davon, dass Waldemar den jungen Maximilian I., den späteren Herzog von Bayern, unterrichtet hatte, und ebenso die Ausbildung der Kinder vom Kaiser Ferdinand II. übernahm?«

»Stimmt. Herr Wagner wäre erfreut über dein Wissen!«

Alma gähnte und setzte sich gelangweilt auf den Boden.

»Das denke ich weniger«, widersprach Thomas. »Immerhin meint er stets, ich hätte einen schlechten Einfluss auf euch. Er wäre höchstens erfreut, wenn er mich nicht länger zu unterrichten bräuchte!«

»Ich bin froh, dass du dabei bist. Vater hatte absolut recht.«

»Womit?«

»Nun, du lernst rasch, bist neugierig! Es wäre eine Schande, deine Talente nicht zu fördern. So in der Art hat er es gesagt.«

»Ehrlich?«

»Jetzt sei nicht so erstaunt! Aber genug der Familiengeschichten.« Sara verdrehte die Augen. »Vater hat uns schon damit gequält, als Alma und ich nicht einmal gehen konnten. Er trug uns von einem Bild zum anderen.« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.

»Dann war eine Flucht unmöglich.«

Das Mädchen schnitt ihm eine Grimasse, nur seine Augen blitzten vergnügt. »Komm, bald beginnt unser Unterricht.« Sara stupste ihre Schwester an.

»Ich will spielen«, quengelte Alma.

»Jetzt nicht. Aber wenn du dich ruhig verhältst, darfst du sicher wieder bei uns im Lehrzimmer bleiben und zugucken.« Sara reichte ihr die Hand und zog die Schwester hoch. Sie beeilten sich, um in den Studierraum zu kommen, in dem auch die musikalische Ausbildung erfolgte.

»Wir hätten noch etwas Zeit gehabt.« Thomas positionierte sich am Fenster.

»Besser wir sind zu früh«, erwiderte Sara bestimmt.

Obwohl er noch gerne die Gemälde eingehender betrachtet hätte, genoss Thomas die wundervolle Aussicht. Da das Schloss auf einer Anhöhe stand, konnte er das gesamte Tal überblicken. Plötzlich ertönte hinter ihm Musik. Augenblicklich drehte er sich um und erblickte Sara an der Harfe. Ihre zarten Fingerkuppen glitten hingebungsvoll über die Saiten.

»Gefällt es dir?« Fragend schaute sie ihn an.

Thomas nickte, horchte versonnen ihrem Spiel und bald erklangen hinzu die hellen Stimmen der beiden Schwestern …

 

»Wo ist nur die Zeit geblieben?« Thomas erschrak selbst vor der Lautstärke seiner Stimme.

»Was ist?«, rief der Kutscher. Er saß auf seinem Bock, bekleidet mit einem dunklen Lodenmantel und einem hohen Hut.

»Ach, nichts«, winkte Thomas ab und kraulte den sanftmütigen Haflinger, den er am Halfter hielt. Er erinnerte sich, wie er manchmal im Garten unter dem geöffneten Fenster gestanden hatte, um der Melodie des Spiels und den gesungenen Liedern zu lauschen.

Thomas folgte mit den Augen dem Weg, der über die Brücke direkt am Bootshaus vorbeiführte. Dort am Steg waren Sara, Alma und er einst als Kinder gesessen, hatten ihre Füße ins kühle Nass baumeln lassen oder eine Bootsfahrt auf dem Wasserlauf unternommen. Mit ihnen konnte er lachen und ausgelassen sein, doch die unbekümmerte Kindheit war längst vorbei.

Er blickte zu den hufeisenförmig angeordneten Nebengebäuden: Pferdeställe, Schmiede, eine Gärtnerei und die Unterkünfte des Gesindes. In einer der Wohnungen lag sein bescheidenes Quartier.

Inzwischen waren die Geschwister zu wunderschönen, jungen Frauen herangewachsen. Wie gerne wäre ich an Stephans Stelle und würde für eine der Schwestern als Kavalier auftreten. Doch die Konventionen untersagten diese Möglichkeit. Schonungslos führte ihn die überschwängliche Pracht des Schlosses den Standesunterschied vor Augen. Die Faszination, die er als Knabe empfunden hatte, wenn er an das Gebäude mit den dicken Wänden, den hohen Decken und der feudalen Ausstattung dachte, war einer tiefen Wehmut gewichen.

Der dreigeschossige Bau war im fünfzehnten Jahrhundert errichtet und mit roten Ziegeln eingedeckt worden. In der Mitte lag ein schmaler Risalit. Dieser vorspringende Teil zog sich vom Erdgeschoss bis zum Dach hinauf.

Innen im Eingangsbereich erstreckte sich roter Vånga-Gneis über den gesamten Fußboden. Die Haupttreppe war aus Kaiserstein gefertigt und teilte das Gebäude in zwei symmetrische Flügel, die nach Osten und Westen zeigten. In den Trakten gab es jeweils eine Wendeltreppe, deren Zugänge sich hinter dunklen Türen verbargen. Im untersten Stockwerk lagen an beiden Seiten je eine Dienerstube, Waschzimmer, Küche sowie Lagerräume für Brennholz und Nahrungsmittel.

Der gesamte Besitz umfasste über tausend Morgen Land. Der Rosengarten und das umliegende Areal luden zum Verweilen oder zu Spaziergängen ein. Auf den Wiesen wuchs saftiges Gras und auf den Äckern reifte im Sommer Getreide heran, das eine Nahrungsquelle für Mensch und Vieh gleichermaßen darstellte. Die Bäume im Forst fanden Verwendung bei der Papierherstellung.

Als Stallmeister trug Thomas die Aufsicht über die Rosse. Die Haflinger kamen als Kutschen- und Arbeitstiere zum Einsatz. Als Reitpferde wurden Don-Stuten mit edlen Araberhengsten gekreuzt. Thomas’ Leben war keineswegs herrschaftlich, sondern bestand aus harter, körperlicher Arbeit. So sehr er sich als Kind gesträubt hatte, die Bekanntschaft mit dem Wasser zu machen, umso mehr sehnte er sich als erwachsener Mann nach sauberer, ansehnlicher Kleidung.

Thomas blickte an sich hinab. Es war ihm, als würde sein Gewand ihn verspotten und davon zeugen, dass er sich nicht im Mindesten mit den maßgeschneiderten Anzügen von Stephan oder den anderen Adligen messen konnte. Auch wenn er bedeutend bessere Kleidung trug als der Großteil des Gesindes.

Der Haflinger tänzelte und Thomas fasste ihn etwas kürzer. »Scht …« Er strich über den prachtvollen Kopf des Tieres und versuchte, nicht nur das Ross zu beschwichtigen, sondern sich selbst. Eine vertraute Wärme durchdrang seine Handflächen. Er starrte auf den geschlossenen, hölzernen Einlass, der mit Abbildungen von Pferden und dem Familienwappen verziert war und wartete darauf, dass sich die dunkle Tür endlich öffnen würde.

 

 

Meine Einladung zum Tanz

 

»Sara Böhmer«, las ich meinen Namen auf der Karte. Ich strich mit den Fingerspitzen über das feine Papier. Stephans Einladung zum Tanz erfüllte mich mit einer sanften Erregung. Es konnte nur mehr Minuten dauern, bis er mich abholen würde. Wartend ging ich in meiner Stube auf und ab. Unter mir knarrten die alten Dielenböden, die an manchen Stellen etwas nachfederten.

Alles, was Rang und Namen hatte, würde sich auf diesem Ball einfinden. Mein Stiefvater Carl freute sich vor allem auf die Gespräche mit dem Prinzregenten Luitpold. Erst vor kurzem waren die beiden zu einem Jagdausflug unterwegs gewesen. Ich erinnerte mich, wie unser Regent vor der Tür gestanden hatte. In seiner Kleidung wirkte er wie ein einfacher Mann. Er trug eine kurze Lederhose und dazu einen abgewetzten Janker. Seine Augen leuchteten in ungewöhnlicher Lebendigkeit aus dem von weißem Haar umrahmten, wettergebräunten Gesicht. Nur sein Gamsbart auf dem Hut hob sich von dem schlichten Erscheinungsbild ab. Ich war mir sicher, dass dieser einer selbstgeschossenen Trophäe entstammte, denn Luitpold war ein ausgezeichneter Schütze.

Sicherlich hoffte mein Stiefvater auf eine Gegeneinladung, vielleicht ins Allgäuer Land, wo es nicht nur schöne Jagdgebiete, sondern auch einen besonders aromatischen Käse gab. Meist brachten solche Zusammenkünfte außerdem einen positiven Geschäftsabschluss mit sich.

Doch die Kluft zwischen Arm und Reich blieb deutlich spürbar. Es verwunderte mich nicht, dass neuerlich Bedienstete erwogen, ihr Glück in Amerika zu suchen, da die Überfahrt auf einem Schiff mittlerweile erschwinglich war.

Ich seufzte. Diese Nöte streiften mich nur am Rande. Ich kannte weder Hunger noch Frieren, besaß genügend Kleidung und musste nicht hart für meinen Lebensunterhalt schuften. In meiner Stube war es stets warm und heimelig. Ich schritt zum Spiegel der Frisierkommode und überprüfte mein Aussehen. Dank unser Zofe Anna trug ich eine akkurate Hochsteckfrisur, die mit Kämmen fixiert worden war. Als Schmuck wählte ich ein Smaragd-Collier, zu dem ich ein passendes Armband und Ohrringe angelegt hatte. Mein Gesicht war gepudert, die Lippen rot bemalt und ein lilafarbenes Ballkleid aus exquisiter Seide mit kleinen Puffärmeln umschmeichelte meinen Körper. Darunter verbarg sich ein Mieder, so eng geschnürt, dass es mir fast den Atem raubte. Aber, wie ich zufrieden feststellte, formte es meine schlanke Gestalt an den richtigen Stellen weiblich, was dem gegenwärtigen Zeitgeschmack entsprach. Der Busen hob sich deutlich ab und das Korsett zauberte mir eine schmale Taille. Ich strich flüchtig über die dezente, cremefarbene Spitzenborte am Dekolleté.

Mein Blick wanderte weiter über das Interieur. In der äußeren Ecke befand sich ein freistehender Ofen, dessen weiße Kacheln schüsselartig wirkten und als Motive Lorbeerkränze zeigten. Das abschließende gerade Gesimse wies güldene Verzierungen in Form von Blattwerkgirlanden auf. Ich schritt heran, streckte die Hände aus, ließ die Finger über die feinen Erhebungen gleiten und hoffte, dass mein Galan bald eintreffen würde.

 

Es klopfte an der Tür.

»Ja, bitte?«

Erna trat ein. Trotz ihres Alters stellten die vielen Stufen im Schloss kein Hindernis für sie dar. Ich blickte in ihr faltiges Gesicht. Unter der Haube lugte ein Teil des grauen Haupthaars hervor. Erna war einst eine Küchenmagd, doch seit dem Tode der vormaligen Hofmeisterin Magdalena übertrug mein Stiefvater ihr diese Aufgabe. Sie bewohnte mit ihrem Mann Jonas die Dienstbotenkammer im Erdgeschoss.

»Entschuldigt die Störung, Baronesse Sara. Herr Stephan Krüger ist soeben eingetroffen.«

»Fein.« Ich lächelte der Hofmeisterin dankend zu. »Bitte, teil ihm mit, dass er bald mit mir rechnen darf.«

Erna nickte und zog sich zurück.

Rasch legte ich mir einen Chinchilla-Pelz um und streifte die langen Handschuhe über. Ich ging die steinerne Haupttreppe hinunter. Der blaue Teppich dämpfte meine Schritte. Da ich nicht allzu hastig wirken wollte, hielt ich mich aufrecht und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, begleitet vom leisen Rascheln des Rockes.

 

»Bis zur letzten Sekunde hatte ich gehofft, meine Schwester würde mich zum Narren halten. Aber wie ich sehe …«

»Alma, so lass dir erklären«, fiel Stephan ihr ins Wort.

»Was willst du mir erklären? Seit Wochen meidest du mich! Unsere Zusammenkunft scheint für dich bedeutungslos gewesen zu sein! Ich könnte mich ohrfeigen dafür, dass ich deinem Ansinnen nachgekommen bin, mich aus dem Hause gestohlen habe und deinem romantischen Gewäsch auch noch glaubte!«

»Ich brauchte Zeit zum Nachdenken.«

»Und da hast du dich an meine Schwester erinnert?«

»Psst. So beruhige dich doch.«

»Das sagst ausgerechnet du! Meine Liebe und Tugendhaftigkeit gab ich einem gemeinen Schuft. Du hast meine Gefühle schamlos ausgenutzt!«

»Du irrst! Wenn ich könnte, wie ich wollte … Aber deine Mutter und unsere Väter … Wer bin ich schon?«

»Das wusstest du vordem und hattest keinerlei Hemmungen, deine Tändelei fortzuführen.«

»Ich bitte dich, Alma, verzeihe mir. Ich wollte dich weder kränken noch dir Schmach bereiten. Meine Gefühle zu dir sind von einer nie gekannten Heftigkeit. Zürne mir nicht, dass ich denen nicht standhalten konnte, denn sie waren und sind zu jeder Zeit ehrlicher Natur.«

»Ich zürne dir, da du dich von mir abgewendet hast. Mich mit der Schande alleine lässt!«

»Wovon sprichst du?«

»Mein Monatsfluss ist ausgeblieben«, zischte sie ihm zu.

Ehe Stephan eine Entgegnung finden konnte, tauchte Sara am oberen Treppenabsatz auf, und beide verstummten.

 

Noch ein paar Stufen trennten mich von Stephan und meiner zwei Jahre jüngeren Schwester. Die beiden tuschelten angestrengt miteinander. Als sie mich bemerkten, waren sie plötzlich still.

Alma trug ihr beigefarbenes Tageskleid, doch die Frisur ähnelte bereits der meinigen. Sie bedachte mich mit einem missfälligen Blick. War der verspätete Ballbesuch die Ursache für ihre schlechte Laune, oder dass ich heute Stephans Begleitung sein durfte? Ich wendete mich Stephan zu und reichte ihm die Hand. »Vielen Dank für Eure Einladung.«

»Baronesse.« Seine Lippen streiften meinen Handrücken.

»Sara. Wir haben uns schon vor geraumer Zeit auf diese Ansprache geeinigt«, bemerkte ich. Als Stiefkind des Barons hatte ich ohnehin keinen Anspruch auf die förmliche Anrede, da sie nur leiblichen Töchtern vorbehalten war.

»Sara. Ihr seht bezaubernd aus.«

»Das höre ich sehr gerne.« Ich spürte eine leichte Hitze unter meiner Puderschicht aufsteigen. Mein Gegenüber war sehr gutaussehend. Die Augen erstrahlten im tiefsten Braun und wurden von dichten schwarzen Wimpern umrahmt. In den Wangen lagen kleine Grübchen eingebettet, die sich beim Lachen verstärkten. Sein brünettes Haar war mit einem Mittelscheitel akkurat geteilt. Heute wirkte Stephan allerdings ein bisschen fahrig. Er entfernte einen imaginären Fussel vom dunklen Jackett. Der Anzug war unübersehbar aus teurem Stoff geschneidert und brachte seine männliche Statur vorzüglich zur Geltung.

Alma schnaufte ungehalten. Sie starrte Stephan missgünstig an. Offensichtlich war meine Schwester mehr in ihn vernarrt, als ich bisher angenommen hatte. Ein feines Schuldgefühl schlich sich in mir ein, da sie nicht dieselben Freiheiten genießen durfte wie ich. Soll ich sie zur Seite nehmen und ihr versichern, dass ich für Stephan keine Amourösitäten hege? Aber hier, in seinem Beisein? Nein, das kam mir unpassend vor. Außerdem hatte Alma die elterliche Weisung, sich von Stephan fernzuhalten. Die Besitztümer von Carl Königshofer von Eichstätt lasteten auf den Schultern meiner Schwester. Mutter und Vater dachten über eine Verbindung zur Familie von Rothschild nach, die zu den reichsten Bürgern im Umkreis zählten. Meine Schwester hatte sich gefügt und ich dachte, sie wäre über Stephan hinweg. Ich irrte, denn in ihren Augen erkannte ich ganz klar Eifersucht.

Weshalb hat sie keinen Ton zu mir gesagt? Dann hätte ich ablehnen können! Für mich als Stieftochter gab es den Druck, einen geeigneten Anwärter auswählen zu müssen, nicht. Zwar tauchten seit meinem sechzehnten Lebensjahr immer wieder Männer auf, die mir den Hof machten und sich vor dem Baron profilieren wollten, aber weder Carl noch Mutter drängten mich, eine eheliche Verbindung einzugehen. Sie forderten auch ihr Mitspracherecht nicht ein. Das freute mich. Nur manchmal fragte ich mich, ob ihnen in Wahrheit mein Leben einerlei war.

»Wir sehen uns ja bald auf dem Ball, wenn du mit den Eltern nachkommst.« Ich schaute Alma an und versuchte, meine Stimme mitfühlend klingen zu lassen.

»Sicher«, brummte sie. Merklich verärgert drängte Alma an uns vorbei. Ihre Hüften wiegten über Gebühr aufreizend hin und her. Meine Schwester legte auf ihr Äußeres großen Wert und verdrehte etlichen Männern den Kopf. Niemals würde sie ohne Puderschicht im Gesicht das Haus verlassen. Mit Wasserfarbe zeichnete Alma die Äderchen im Dekolleté nach, sodass ihre Haut transparenter wirkte. Sie kleidete sich in die teuersten Stoffe, die natürlich Carl finanzierte. Manchmal war ihr Gehabe zu sehr aufgesetzt, doch die imaginäre Hilflosigkeit weckte den männlichen Beschützerinstinkt. Mit den hellgrünen Augen und dem blonden Haar glich sie einem Engelchen. Nichtsdestotrotz wusste ich, wie störrisch und aufmüpfig Alma sein konnte, wenn sie ihren Querkopf durchzusetzen gedachte. Obgleich wir zwei grundverschiedene Charaktere waren, fühlten wir uns auf eine innige Art geschwisterlich verbunden. Das konnte keiner von uns leugnen. Bloß daran würde Alma sich momentan bestimmt nicht erinnern mögen.

Meine Schwester war aus dem Sichtfeld verschwunden und Stephan bot mir seinen Arm an. »Dürfte ich Euch nach draußen bitten?«

»Sehr gerne.«

 

Wir schritten über die steinerne Außentreppe hinab und gelangten zu der wartenden Droschke. Dabei traf ich auf Thomas, der eines der vorgespannten Rosse am Halfter hielt. Ich löste mich von Stephan.

»Grüß dich, Sara.« Sein Blick wirkte bewundernd.

»Schön dich zu sehen.« Mein Herz klopfte heftig in der Brust. Um meine Unsicherheit zu überspielen, bedachte ich die Rosse mit ein paar Streicheleinheiten. Warum konnten wir nicht mehr so unbeschwert wie früher sein? Als Kinder tobten wir gemeinsam umher, kletterten auf Bäume, hielten uns im Heu versteckt oder wachten bei den Tieren im Stall, um dort eine Pferdegeburt zu verfolgen, die sich oftmals über Stunden hinziehen konnte. Eines der Fohlen, Herkules, durfte ich schließlich mein Eigen nennen und war mittlerweile zu einem wunderschönen Hengst herangewachsen.

Körperliche Arbeit hatte mich nie abgeschreckt. So half ich bei der Pferdefütterung und schleppte Wassereimer zur Tränke, bis Schwielen von dieser Anstrengung zeugten. Niemals würde ich deshalb derart feine Hände und perfekt gefeilte Fingernägel wie Alma haben, die schon als kleines Mädchen sich lieber von den Stallungen fernhielt. Wenn der Ball nicht Abendgarderobe vorgeschrieben hätte, wäre ich am liebsten auf dem Rücken von Herkules dorthin aufgebrochen, nur mit einer Hose und einem Männerhemd bekleidet. Obgleich das absolut verpönt war.

»Ich wünsche dir einen unterhaltsamen Abend.« Thomas schaute mich noch immer an.

»Danke, den werde ich sicherlich haben.« Ich blickte kurz zu Stephan, der sich im Hintergrund hielt. Bestimmt wollte er seinen teuren Anzug nicht beschmutzen, dennoch wunderte mich seine Schweigsamkeit. Obwohl er ein hervorragender Reiter war, lag ihm nicht sonderlich viel an Tieren, außer wenn sie hübsch gebraten in duftender Soße serviert wurden. Allein deshalb könnte er nie mein Herz erobern.

Ich atmete tief den vertrauten Geruch nach Pferden und Leder ein, den ich seit jeher mit Thomas verband, da dieser stets an ihm haftete und mich in den Studierstunden umfing. Schon als Knabe verfügte Thomas über eine enorme Wissbegierde und mein Stiefvater bewilligte seine umfassende Ausbildung. Natürlich schürte das den Neid einiger Bediensteter, aber vor allem den meiner Mutter. Doch sie wagte es nicht, sich hier Carls Anweisung zu widersetzen.

So lernten wir Lesen, Schreiben und den Umgang mit den Zahlen. Auch die Religion wurde uns nähergebracht. Dem voran standen Fleiß, Gehorsam, Ordnung und Sauberkeit. Die gerade, angelehnte Sitzhaltung war eine Tortur für Thomas. Darüber hinaus vergaß er oftmals, auf seine Hände zu achten, die sichtbar am Tisch bleiben mussten und auf die Füße, die parallel nebeneinander am Boden zu stehen hatten. Thomas war ständig in Bewegung und wurde aufgrund dieses Missverhaltens bestraft. Geschrien hatte er nie. Doch die Rute herabsausen und aufklatschen zu hören, mit der Gewissheit, wie schmerzhaft diese Züchtigungen für ihn sein mussten, ließen mich nach all den Jahren noch erschauern. Fordernd stupste mich ein Kutschenpferd an. »Tut mir leid, ich habe weder eine Karotte noch einen Apfel für dich.« Als Entschädigung kraulte ich den Haflinger hinter dem Ohr.

»Bei solchen Zuneigungsbekundungen wird das Ross keine Nascherei vermissen«, warf Thomas leise ein.

»Mag sein.« Ich registrierte Stephans Blick auf die Taschenuhr. »Wir können gerne los.« Ich bedachte meinen Galan mit einem entschuldigenden Lächeln, riss mich von Thomas und den großen Vierbeinern los.

 

Stephan saß mir in der Kutsche gegenüber. Ich strich mein Kleid glatt. »Verzeiht, meine Pferdevernarrtheit ist mit mir durchgegangen.«

»Macht Euch darüber keine Gedanken.«

Ich lehnte mich an die Innenwand des Fuhrwerkes und genoss das sanfte Schaukeln. »Alma wirkte ärgerlich. Denkt Ihr, es liegt am späteren Ballbesuch?«

»Schon möglich.«

»Weshalb habt Ihr mich eingeladen?«

»Nun …« Er brach ab und suchte offensichtlich nach den passenden Worten. »Ihr seid eine bemerkenswerte Frau, zudem sehr ansehnlich.«

»Bemerkenswert und ansehnlich, obwohl ich nicht dem gängigen Schönheitsideal mit den ausladenden Rundungen entspreche?«

»Manchmal erfüllt man nicht die vorgefertigten Konventionen.«

»Da kann ich keinesfalls widersprechen, und ich rechne es Euch hoch an, dass Ihr den formvollendeten Kavalier gebt. Dennoch frage ich mich, ob es zwischen Alma und Euch einen Streit gibt?«

Unruhig rutschte Stephan auf dem Sitz hin und her. Er presste seine Lippen aufeinander, ehe er verdrießlich bekannte: »Natürlich kann ich mich nicht mit einer Familie von Rothschild messen. Uns Krügers blieb bisher ein Adelstitel verwehrt, dabei sind wir keineswegs arm. Immerhin hat Vater sich im Bierbraugeschäft längst etabliert, und führt mit Geschick das ortsansässige Bankinstitut.«

»Somit gehen Eure Gefühle für meine Schwester tiefer? Aber ihr hattet über Wochen keinen Kontakt.«

»Von Anbeginn stießen wir seitens der Eltern auf Ablehnung. Dabei entstammt Eure Mutter selbst aus einfachen Verhältnissen!«

»Es gibt weder einen Antrag noch eine geplante Verlobungsfeier. Womöglich findet Mutter nur, dass Alma zu jung ist.«

»Teresa war kaum älter, als sie Euch unter ihrem Herzen trug. Mit sechzehn ehelichte sie Euren Vater.«

»Wie Ihr wisst, brachte ihr die Heirat mit Heinrich Böhmer kein Glück und er starb, bevor ich geboren wurde.«

»Er hinterließ ihr reichlich Güter, Euch Ländereien und sie ging wenige Monate später mit dem Baron den Ehebund ein.«

»Was wollt Ihr damit zum Ausdruck bringen?«, sprach ich empört. »Hat Eure Einladung den einen Grund, da Ihr an meinen zweihundert Morgen Land Gefallen gefunden habt? Dennoch wären die über tausend Morgen an Besitzungen, die Alma einmal ihr Eigen nennen darf, noch verlockender. Ehe man leer ausgeht, kann man getrost der Schwester den Hof machen.«

»Ihr irrt!« Stephan klang entsetzt. »Was denkt Ihr von mir? Nur, weil ich den Namen Krüger trage, bin ich keineswegs derart berechnend wie mein Vater, der ausschließlich an seine geschäftlichen Interessen denkt!«

Ich schluckte. Stephan hatte sich bisher in meiner Gegenwart stets vorbildlich verhalten und es gab niemals eine Indiskretion seinerseits. Vom Äußeren ähnelte er seinem Vater Mathias. Das braune Haar, die Statur, seine Gesichtszüge …

Leider entwickelte sich dieser Umstand in letzter Zeit für ihn vermehrt zum Nachteil. Man schenkte ihm kein Vertrauen, da er mit seinem Vater verglichen wurde, dessen Auftreten und Gebaren eher Schrecken verbreitete.

»Verzeiht mir bitte meine unbedachten Worte! Sie waren falsch. In mir kommt manchmal der Drang durch, mich rechtfertigen zu müssen, dass ich nicht Carls leibliches Kind bin. Meine Privilegien unterscheiden sich von denen meiner Schwester erheblich, das weiß ich. Alma wurde ständig mit Geschenken überschüttet, und war von klein auf das Lieblingskind. Innerhalb der Familie habe ich mich damit arrangiert, aber ich erinnere mich genau an die Blicke so mancher Adeligen, als wäre ich nur ein lästiges Anhängsel. Das ging nicht spurlos an mir vorüber.«

»Ich schwöre Euch, mir sind die Besitztümer einerlei. Mein Interesse liegt rein an Alma. Es demütigt mich, dass Eure Mutter sich vehement gegen eine Beziehung zwischen Eurer Schwester und mir stellt. Vor allem meine ich, dass beim Baron noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Warum misst Eure Mutter hier mit zweierlei Maß?«

»Darauf finde ich selbst keine Antwort. Eigentlich müsste sie wissen, wie belastend eine arrangierte Ehe sein kann, und man sollte meinen, dass sie daraus eine Lehre gezogen hat. Der schicksalhafte Tod meines Vaters führte Carl und Teresa zusammen. Beide haben miteinander ihr Glück gefunden. Vielleicht solltet Ihr darauf vertrauen, dass die Zeit alles weisen wird.«

»Schicksal?« Stephan lachte bitter. »Die Gerüchte, die sich um Eures Vaters Tod ranken, kennt Ihr, oder?«

Ich nickte. »Ich halte nichts davon. Er war ein Mann im fortgeschrittenen Alter und soweit ich weiß, keineswegs bei bester Gesundheit. Ihr müsst zugeben, dass es ungleich dramatischer wirkt, einen vermeintlichen Giftanschlag als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, wodurch sein Ableben pikanter erscheint und die Gerüchte weiter anheizt.«

Stephan brummte unverständlich und richtete seinen Blick zum Seitenfenster hinaus. Ich wollte etwas entgegnen, doch ich entschied mich dagegen. Stattdessen starrte ich auf meine Hände und dachte an meinen leiblichen Vater, den ich nie kennenlernen durfte.

Mutters erster Ehebund mit Heinrich Böhmer war keine Liebesheirat. Ich wusste, dass er einst als Bauunternehmer für Bethel Henry Strousberg arbeitete. Als Strousberg in den Bankrott schlitterte, stieg Heinrich ins Bahnbaugeschäft ein, gründete eine Offene Handelsgesellschaft und war im Laufe der Zeit Betreiber, Eigentümer und Teilhaber an Eisenbahnkonsortien. Mein Vater leitete seine Geschäfte sehr geschickt und erzielte hohe Gewinne, die er zum Teil in einem eigenen Grund investierte.

Heinrich ließ, sobald er von Teresas Schwangerschaft Kenntnis hatte, ein Schriftstück aufsetzen, das mich zur Besitzerin des Böhmer-Hofes auswies. Meine Mutter wurde durch sein Ableben sehr vermögend, und in drei Jahren, mit einundzwanzig Lenzen, sollten die Ländereien rechtmäßig in meinen Besitz übergehen, die Teresa unterdessen verwaltete. Gewöhnlich versuchte Mutter, den Fragen meiner Abstammung auszuweichen. Sie wirkte verbittert, wenn es um meinen leiblichen Vater ging. Nur einmal besann sie sich anders: »Weißt du, mein Kind, die Zeit mit deinem Vater war zu kurz, sodass ich kaum darüber berichten kann. Stattdessen umfing mich Carl mit Liebe und gab mir Halt nach dem unverhofften Tod von Heinrich.

Trotz meiner Vorgeschichte setzte Carl sich über die Etikette hinweg, nahm keine Frau vom Adel, sondern führte mich nach der Einhaltung einer zehnmonatigen Trauerzeit zum Altar. Da warst du noch kein halbes Jahr alt. Seitdem leben wir gemeinsam in seinem wunderschönen Schloss. Er umsorgte dich wie sein leibliches Kind. Dafür bleibe ich Carl zeitlebens zu Dank verpflichtet.«

Das bestärkte mich in der Annahme, dass meine Mutter Heinrich nie eine innige Herzenswärme entgegengebracht hatte. Ich gab mein Bestreben auf, mehr über meinen leiblichen Vater in Erfahrung bringen zu wollen. Was sollte ich schon fragen? Ich hatte kein Bild von ihm und so vermochte ich nicht einmal festzustellen, ob irgendwelche Ähnlichkeiten vorhanden waren. Vielleicht mein braunes Haar? Denn Mutter war blond.

Gleichwohl empfand ich eine stille Trauer, dass die Gebäude des Böhmer-Hofes einer Ruine glichen. Nur mehr die entlegene Hütte trotzte dem Alter. Sie war mein kleiner Zufluchtsort. Immer wenn ich mich nach Ruhe sehnte, ritt ich mit meinem Pferd Herkules dort hinauf und genoss die Natur. Unweit der Hütte befand sich ein Holzbrunnen. Das Wasser war frisch, kühl, klar und schmeckte köstlich. Bäume umrahmten die kleine Lichtung wie ein schützender Wall. In dieser Abgeschiedenheit kamen oft Rehe, stärkten sich mit saftigem Gras und es stimmte mich froh, die Tiere des Waldes beobachten zu können. Dort vermochte ich innezuhalten und genoss es, ein Teil dieser Welt zu sein, ohne mich erklären zu müssen.

»Ich könnte mir keinen besseren Ersatzvater als Carl wünschen. Ich weiß, dass er mich liebt. Immerhin war er bei meinen ersten Worten und Schritten dabei. Sicherlich möchte er für Alma nur das Beste.«

»Schade, dass ihm in all den Jahren der Sohn verwehrt blieb, den er in die Raffinesse der Geschäftswelt hätte einführen können. Dann bräuchte Alma keine standesgemäße Partie zu wählen, und Eure Mutter könnte sich nicht derart dagegenstellen.«

»Stephan, bitte grämt Euch nicht so. Vielleicht braucht Mutter nur etwas Zeit, um sich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass Alma und Ihr euch gewogen seid. Von meiner Seite aus wäre ich sehr erfreut, Euch eines Tages als meinen Schwager in der Familie begrüßen zu dürfen.«

»Das wäre schön.« Er klang versöhnter.

»Lasst meine Schwester nicht länger im Ungewissen, denn aufgrund ihrer heutigen Gereiztheit dürften ihre Gefühle nicht geringer als Eure sein. Nutzt die Gelegenheit, wenn Alma später auf den Ball nachkommt.«

»Ja, das ist eine gute Idee.«

Die Kutsche stoppte. Stephan sprang als Erster hinaus und bot mir seine Hand zum Aussteigen an, die ich dankend ergriff. »Bitte, verzeiht mir unseren kleinen Disput.«

»Das tue ich«, entgegnete er freundlich.

Kurz bestaunte ich das imposante, dreigeschossige Rathaus in Ingolstadt. Ich wusste, dass das Bauwerk ursprünglich aus vier einzelnen Gebäuden bestand, die vom Architekten Gabriel Seidl miteinander verbunden wurden. Dabei gestaltete er die Fassade neu. Besonders die Rundbögen, Säulen und Gesimse gefielen mir sehr.

Ich hakte mich bei Stephan unter. Wir gelangten in den Veranstaltungssaal und wurden mit einem Glas Champagner begrüßt. Ein Tisch war für die Familie Königshofer von Eichstätt reserviert worden. Dort legte ich meinen Pelzumhang ab. Wir mischten uns unter die Menschen. Schon bald hob die Musik mit ihrem Spiel an. Ich entdeckte den Prinzregenten, der gemeinsam mit seiner Tochter Therese den Ball zu Walzerklängen eröffnete. Weitere Tanzpaare fanden sich ein, und mein Begleiter forderte mich auf.

Nach einiger Zeit bemerkte ich meine Eltern. »Anscheinend ist Alma nicht mitgekommen«, sprach ich Stephan ins Ohr, um die laute Musik zu übertönen.

Er schaute in jene Richtung, die ich gezeigt hatte. Obwohl er versuchte, Haltung zu bewahren, spürte ich, dass es ihn sichtlich betrübte, sich nun nicht mit Alma aussprechen zu können. Wir tanzten an den Rand des Parketts.

»Würdet Ihr mich bitte entschuldigen?« Stephan wirkte enttäuscht.

»Selbstverständlich. Ich begebe mich inzwischen zu unserem Tisch.« Ich konnte gut verstehen, dass er für sich ein paar Minuten allein brauchte.

»Vielen Dank. Ich werde bald wieder bei Euch sein.« Stephan deutete eine Verbeugung an und ließ mich stehen.

Ich flanierte durch die Menschenmenge und genoss die bewundernden Blicke, die mir von so manchem Jüngling zugeworfen wurden. Schließlich erreichte ich Mutter, die sich angeregt mit der Freifrau Helene von Wolbrand unterhielt. Als sie mich wahrnahm, blickte Teresa auf.

»Wo habt ihr Alma gelassen?« Ich nahm neben Mutter am Stuhl Platz.

»Sie fühlt sich nicht wohl.«

»Oh nein, sie wird doch nicht krank werden?«

»Mach dir darüber keine Gedanken. Wo ist dein Begleiter?«

»Stephan hat sich für einen Moment zurückgezogen. Unterdessen warte ich hier auf ihn.«

»Tu das, mein Kind.«

»Nun möchte ich aber nicht weiter dein Gespräch stören.«

»Keine Sorge.«

Teresa wandte sich ihrer Sitznachbarin zu und ich nippte am Champagner. Wir Kinder duzten Mutter von klein auf.

»Höflichkeitsformen waren in den bescheidenen Verhältnissen, in denen ich groß geworden bin, bedeutungslos«, erklärte sie uns vor Jahren. Ihre Stimme klang damals gedrückt, als würde sie sich nicht gerne an diese Zeit erinnern.

Ziellos schaute ich durch den Saal. Thomas drängte in meinem Kopf empor. Es betrübte mich, dass er nicht geladen war. Nur die höhere Gesellschaft traf sich hier zum Tanz, zu der er nicht zählte. Nachdenklich zeichnete ich feine Muster auf das feucht beschlagene Glas. Zwar versuchte Luitpold, die sozialen Differenzen zwischen Ober- und Unterschicht zu reduzieren, aber in Wahrheit scheiterte es an den alltäglichen Dingen. Natürlich waren seine Förderprogramme edler Natur. Etliche Betriebe wurden zu königlichen Hoflieferanten ernannt, mit dem Ziel, den Aufschwung voranzutreiben. Nichtsdestotrotz gab es genug hungernde Menschen in diesem Land, die in schäbigeren Behausungen lebten als unsere Tiere. Ich wünschte, der Adel würde endlich aufhören, solch soziale Unterschiede zu befürworten. Was daran lag, dass ich mich merklich nach einem Mann sehnte, der nicht zu den privilegierten Menschen zählte. Verhalten seufzte ich. Wie sollte ich es nur schaffen, diese aufkeimenden Gefühle in mir zu begraben? Eine gemeinsame Zukunft war undenkbar. Ich trank einen Schluck meines Getränks.

 

 

 

Stephan

 

Stephan eilte nach draußen. Er brauchte eine Pause, um seine wirren Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken und ließ deshalb, obwohl er wusste, dass es alles andere als höflich war, Sara allein zurück. Er dachte an Alma, hörte nach wie vor ihr Zürnen im Ohr, worin er vor allem die Sorge erkannte, sie könnte in anderen Umständen sein.

»Was hab ich getan?« Verzweifelt lehnte er sich gegen die raue Fassade des Gebäudes.

»Dich von einem Verhängnis ins nächste gestürzt«, erklang hinter ihm eine Stimme.

Erschrocken wirbelte Stephan herum und erkannte seinen Vater. Er hatte ihn nicht herannahen gehört und es irritierte ihn, dass sein alter Herr ihm gefolgt war.

»Was sagst du da?«

»Dem Inzest bist du entflohen!«

»Verzeih Vater, führt Alkoholgenuss zu solchen Fantastereien?«

Mathias Krüger packte Stephan am Kragen. »Zügle deine Worte, Sohn. Sei froh, wenn ich dich vor Schlimmerem bewahre!«

»Willst du damit zum Ausdruck bringen, dass Alma und ich in irgendeiner Form verwandt sind?«

Der alte Krüger lachte bitter. »Ihr seid Halbgeschwister!«

Fassungslos stieß Stephan seinen Vater zurück. »Niemals!«

»Soll ich dir von den herrlichen Rundungen der Baronin erzählen und dem niedlichen Muttermal auf ihrer rechten Gesäßbacke? Ich kann dir sagen, wie süß ihre Brüste schmeckten und wie seidig ihre Grotte mein Gemächt umfing.«

»Schweig!« Stephan presste seine Hände auf die Ohren. Entsetzen schoss in ihm empor.

»Du magst es kaum glauben, auch ich war einmal ein junger, ansehnlicher Mann und ihre Sehnsucht nach einem Kinde schier unermesslich. Sie wollte ihrem Carl«, erwähnte er verächtlich den Namen des Freiherrn von Eichstätt, »unbedingt Vaterfreuden schenken, um ihn vor der Schmach der Kinderlosigkeit zu bewahren.«

Ungläubig ließ Stephan die Arme sinken und starrte seinen alten Herrn an. »Weshalb sollte sie zu dir gekommen sein?«

Mathias griente verschlagen. »Der Baron war auf einer Reise, Sara ein einjähriges Balg und ich leitete indes alle geschäftlichen Belange, somit schien der Zeitpunkt günstig.«

»Das glaube ich nicht.«

»Du zweifelst an meinen Worten?« Mathias kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Eigentlich wollte ich schweigen.«

»Warum der Meinungsumschwung?«

»Weil ich hier bin, dich zu warnen, ehe du ins Verderben rennst. Nur deshalb breche ich mein Wort gegenüber der Baronin. Zum letzten Mal: Entsage diesen Schwestern, denn Teresas Ablehnung gründet keineswegs darin, dass sie dich nicht für standesgemäß hält, sondern beruht auf der Tatsache, dass du der Halbbruder bist.«

Übelkeit wallte in Stephan hoch. Sprach sein Vater tatsächlich die Wahrheit?

»Aber Alma … Oh mein Gott. Sollte sie tatsächlich … Was habe ich getan!« Entsetzt fuhr er durch sein Haar. »Deine Erklärung kommt zu spät.«

»Zu spät?«

»Bevor … bevor wir Gefühle füreinander entwickelten.«

»Sohn, nun reiß dich zusammen! Sei wenigstens einmal im Leben ein ganzer Kerl!«

Stephan schaute seinen Vater betäubt an. Er musste weg. Keine Sekunde länger ertrug er die Visage seines alten Herrn. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, wendete Stephan sich ab. Hastig lief er in die Dunkelheit der Nacht.

»Schwächling!«, rief ihm sein Vater nach, doch er drehte sich nicht mehr um.

 

*

 

Wo Stephan bleibt? Das Orchester hatte eine Polka angestimmt. Ich wiegte mich im Takt der Musik und verfolgte das Zusammenspiel der unterschiedlichen Instrumente. Der Dirigent stand auf einem Podest. Die Streicher saßen im Halbrund direkt vor dem Maestro. Dahinter befanden sich die Holzbläser mit Flöte, Klarinette, Oboe und Fagott. Es folgten die Blechbläser mit Trompete, Posaune, Tuba und Hörner. Pauken rundeten das Ensemble ab.

Rasch fanden sich Tanzpaare auf dem Parkett ein, unter ihnen Freifrau Helene und ihr Gemahl Freiherr Otto von Wolbrand. Unterdessen hatte ich mein Glas Champagner geleert. Auch die beschwingenden Töne schafften es nicht, die aufsteigende Ruhelosigkeit in mir zurückzudrängen. Ich saß mit meiner Mutter alleine am Tisch.

»Mach dir keine Sorgen. Stephan ist mit Sicherheit in ein Gespräch unter Männern vertieft und lässt dich deshalb warten. Aber hier sind noch andere adrette Anwärter.« Teresa deutete nach links und ich erkannte Oscar Schaller, den Inhaber einer Porzellanfabrik.

»Schade, dass Otto und Helene nur eine Tochter haben.« Sie seufzte und ich wusste, dass sie insgeheim bedauerte, die freundschaftliche Beziehung unserer beiden Familien nicht noch enger vereinen zu können.

»Mutter«, tadelte ich sie. »Ich verspüre keine Lust zum Heiraten.«

»Was ist mit Stephan?«

»Ausgeschlossen. Zudem würde ich Alma damit vor den Kopf stoßen.«

»Mag sein. Ich denke ohnehin, dass deine Schwester besser beraten ist, einen anderen Partner zu wählen.«

»Als ob sie darüber entscheiden könnte. Dabei wirkt Vater weniger abgeneigt als du.«

»Stephan Krüger? Niemals!« Obwohl sie ihre Stimme senkte, war die Schärfe darin unüberhörbar. »Sein Vater ist nicht integer!«

»Und Stephan muss deshalb büßen? Auch Alma? Sie haben tiefe Gefühle füreinander«, sprach ich gedämpft. Bei unserem brisanten Thema wollten wir beide keine ungebetenen Lauscher.

»Woher willst du das wissen?«

»Er hat es mir gegenüber zugegeben. Und Almas Gesicht war unmissverständlich, als Stephan mich abholte.«

»Dennoch diskutiere ich nicht mir dir darüber!«

»Carl hat dich gewählt, obwohl deine Abstammung keineswegs adelig ist.«

»Es reicht!«

»Entschuldige, wenn ich dir zu nahegetreten bin. Aber hast du nicht selbst unter einer Zwangsehe gelitten? Sind dir Gerede und Ansehen wichtiger als die Gefühle deiner Tochter?« Ich erhob mich.