CASSIE: VIERUNDZWANZIG - ERWACHT! - Bridget Sabeth - E-Book
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Bridget Sabeth

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Cassies vierundzwanzigster Geburtstag hat die Versiegelung aufgebrochen: Sie ist eine Hexe und muss sich von ihrem gewohnten Alltag verabschieden. Visionen aus ihrem vorherigen Leben im Spätmittelalter vermischen sich mit der Gegenwart. Dazu stellen Leonard und Philipp – Cassies Seelengefährten – sowie der Fund einer Frauenleiche sie vor nie dagewesene Herausforderungen. Steckt hinter dem Mord eine Hexenverbrennung oder sogar ein alter Fluch? Und welche Rolle spielt Leonard in diesem Fall? Ahnungen helfen Cassie bei der Spurensuche. Kann sie es schaffen, den Täter zu überführen und die negativen Verstrickungen aus beiden Welten zu lösen?

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Bridget Sabeth

CASSIE: VIERUNDZWANZIG - ERWACHT!

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Titel

 

 

Cassie

Vierundzwanzig –

Erwacht!

Band 1

Hexenkrimi

 

Bridget Sabeth

 

 

 

Realträume

Mein Herz pochte wild, die Kehle fühlte sich eng an. Starr stand ich da, mit zittrigen Beinen auf einem hölzernen Podest und mit gefesselten Händen im Rücken. Ein Seil lag eng geschlungen um meine Taille. Ich wurde gehalten, vom Bürgermeister des Ortes – Wilhelm Wilmsdorf – persönlich, wie ein Stück Vieh, auf das man aufpassen musste, damit es auf dem Weg zur Schlachtbank nicht entlief. An seiner Seite standen der Blutrichter, Häscher und ernannte Zeugen, die darauf achteten, dass die Gerichtsbarkeit ordnungsgemäß durchgesetzt wurde.

So sollten meine letzten Minuten sein. Fassungslos schaute ich in zahllose Gesichter der Menschen, die mich umringten. Sie waren belustigt, gehässig, ein paar wirkten besorgt, ein kleines Mädchen weinte. Leute schrien, jubelten und verfluchten mich.

»Hexe! Hexe! Hexe!«

Sie streckten die Hände nach oben, hielten bedrohlich ihre spitzen Holzgabeln und Stöcke in die Luft, während mir der Atem stockte und ich nicht begreifen konnte, dass man mich anklagte und verhöhnte. Bis vor Kurzem hatte man bei mir Rat gesucht, mich um Heiltinkturen gebeten. Keiner Menschenseele hatte ich Unheil angetan, sondern stets geholfen. Die Räume mit Kräutern ausgeräuchert, um das Böse zu vertreiben, Wunden behandelt, Mensch und Tier gleichermaßen versorgt …

Zuvor schien sich niemand an meinem roten Haar und den leuchtend grünen Augen zu stören. Nun wurde ich deswegen verspottet!

Der Bürgermeister spuckte vor meine Füße, was die Menschenmenge juchzend zur Kenntnis nahm. Weshalb hatte ich seinen Zorn auf mich geladen? Oder wollte er mit aller Härte vorgehen, um sich in seinem neuen Amt zu profilieren? Erst vor wenigen Wochen war er von den Ratsmännern für ein Jahr gewählt worden.

Ich versuchte, eine Verbindung zu ihm aufzunehmen. Doch die Tage im feuchten dunklen Verlies steckten wie Eiskristalle in mir verankert, blockierten wie Splitter meine Intuition. In einer winzigen Nische hatte ich gekauert, in der ich nicht einmal die Beine langstrecken konnte. Verlor völlig Raum und Zeit und einiges an Gewicht, wie ich am flatternden Kleid erkannte, das sich dem aufkommenden Wind nicht erwehren konnte.

»Hexe! Hexe! Hexe!«

Etliche, die mit einem tiefen Hass auf mich starrten, waren unlängst dankbar für meine Fähigkeiten gewesen. Wehmut stieg in mir nach oben, verschleierte meine Augen. Ich lenkte meinen Blick in die Ferne, schielte auf den Wasserspiegel des tiefen Flusses. Ein einzelner Sonnstrahl hatte sich durch die dunklen Wolken hindurchgekämpft, brachte die nasse Oberfläche zum Glitzern. Trotz Erniedrigung war kein Zugeständnis über meine Lippen gekommen, sondern ich hatte obgleich meiner Schwäche wiederholt um das Wasserbad gebeten.

Alles war dafür vorbereitet. Und wie es enden sollte, wusste ich. Mit meinem Tod. Doch schien mir diese Art des Sterbens angenehmer, denn ich würde ein schönes Grab bekommen. Kühl und nass, in ein durch Christi Taufe geheiligtes Element. Das gab mir kleinwenig Trost.

Nimm dein Schicksal an! Ich inhalierte die frische Luft, die den modrigen Gestank des Kerkers aus meinem Leib trieb. Ja, das tue ich! Ich spürte, wie die Eissplitter innerlich zerschmolzen, meinen Frieden nährten und mir die Kräfte zurückbrachten, für die ich seit dem Tag meiner Geburt gelebt hatte.

Der Bürgermeister ergriff das Wort und ließ die wartende Menge verstummen. »Wir werden heute die Wahrheit ans Licht bringen!«

Zustimmendes Grölen erklang.

»Mathilda Brandt.« Wilmsdorf linste zu mir. »Du wirst der Hexerei beschuldigt. Ein schweres Vergehen, das mit dem Tod geahndet wird. Gestehst du, dass du verbotenerweise Magie angewendet und dich der schwarzen Künste bedient hast?«

Schwarzen Künste? Ich blieb stumm. Meine Magie war gut und rein, die würde ich niemals verleugnen.

»Gestehst du, den bösen Blick eingesetzt zu haben?«

Ich drehte mich ihm zu, kniff die Augen zusammen, was ihn hastig weitersprechen ließ.

»Gestehst du, Kurpfuscherei betrieben und dich dem leidigen Teufel mit deinem Blut verschrieben zu haben?«

Sollte ich erwähnen, dass ich bei ihm vor einem Jahr einen Kräuterumschlag auf seine schwärende Wunde gegeben hatte? Ich legte den Kopf schief, konzentrierte mich auf das Bild, als er im Bett lag, matt und mit hohem Fieber – hilflos, wie ein Säugling. Ja, die Vision stieg klar und deutlich auf! Lächelnd schickte ich sie ihm mit einem weißen Licht zu.

Wilmsdorf machte einen Satz zurück, als hätte er sich daran verbrannt. Wild gestikulierte er zu einem Büttel, damit der das Seilende übernahm. Er war einer von den Kerlen, die mir feige aufgelauert waren, während ich Pflanzen, Beeren und Pilze gesucht hatte, um meine Vorräte aufzufüllen. Erbarmungslos waren die Häscher vorgegangen, schliffen mich wie einen Holzstamm durch den Wald und steckten mich in den Kerker.

Ein Vogelgezwitscher drang an mein Ohr, als wollte es dadurch meine schweren Gedanken verscheuchen. Ich schloss die Augen, begann zu summen, versuchte damit die Schwärze und die Kälte, die von den Menschen ausströmten, nicht in mein Inneres zu lassen.

»Die ist verrückt!«, hörte ich einen Kerl rufen.

»Herr im Himmel, da habt ihr den Beweis, die Hexe beschwört den Teufel?!«, kreischte eine Alte und bekreuzigte sich.

»Die Angeklagte hat sich mit einem Sündenmal zwischen den Schulterblättern bezeichnen lassen«, warf der Blutrichter ein. »Als letzte Chance wurde ihrem Wunsch, sich der Wasserprobe zu unterziehen, stattgegeben, um sich von dem Verdacht reinzuwaschen.«

»Bereust du denn deine Sünden?« Die Stimme des Bürgermeisters klang hektisch.

Sünden? Wäre ich in einem Kloster geboren worden, hätten meine Gaben mich eher zu einer Heiligen gemacht. Ich antwortete nicht, sah auf, suchte erneut seinen Blick, dem er schnell auswich.

»Hexe! Hexe! Hexe!«, rief die umringende Menschenmenge.

»Somit wird das Hexenbad darüber entscheiden, wer oder was du bist!«, stieß Wilmsdorf hasserfüllt aus.

»Ja!«

»Hinein mit ihr!«

»Rasch!«

Ein Donnern erscholl. Der Wind intensivierte sich, zerrte am Stoff meines Kleides und dem losen roten Haar. Ich liebte die Natur, egal ob sie sich friedvoll oder bedrohlich präsentierte. Fühlte mich ihr so nah, ruhig und ruhelos zugleich. Mein Schicksal war längst besiegelt. Wenn ich schwamm, würde ich als Hexe gelten und bei einem Freudenfest für die anderen lebendig verbrannt werden. Da laut dem geltenden Gesetz bloß ein Feuer die verdorbene Seele einer Hexe reinigen konnte.

Sank ich wie ein Stein auf den Grund des Flusses, der jetzt im Frühling kühl und reißend war, wäre durch mein Ertrinken meine Unschuld bewiesen und ich bekäme ein würdiges Begräbnis.

Der Häscher stieß mich an, ein zweiter Kerl kam hinzu, packte mich grob, damit ich nicht fliehen konnte. Sie liefen mit mir über den Holzsteg, der extra für solche Wasserproben gebaut worden war. Die Leute klatschten. Schwankend wurde ich zu jener Stelle gebracht, an welcher der Fluss am tiefsten war. Grob zerriss der Häscher das Oberteil meines Kleides, entblößte mich, was die Menschen freudig kreischend zur Kenntnis nahmen. Ich stierte auf die Wasseroberfläche. Wie teilnahmslos ließ ich es zu, als sie kreuzweise meine Füße und Hände zusammenbanden. Währenddem trieb der Wind wie ein freudig erwartender Willkommensgruß über meine Haut, verbreitete Hoffnung in mir, dass bald meine Seele durch die Lüfte emporsteigen würde, befreit von jeglicher Schande und Schmach.

Das Seil wurde ausgerollt, im oberen Bereich über einen Holzpfosten geschwungen und fixiert. Wenn ich versank, konnte man so später mühelos meinen toten Leib an die Oberfläche ziehen.

»Hinein mit ihr!«

»Hinein mit ihr!«

»Hinein mit ihr!«

Verschnürt kauerte ich am Rand des Steges. Ich spürte einen ersten Regentropfen durch mein Haar auf die Kopfhaut sickern. Ein nasser zärtlicher Kuss des Himmels. Danke, für mein Leben! Ich bin ein Teil der Schöpfung und werde ein Teil der Urkraft bleiben. Bis in alle Ewigkeit.

»Macht schon, bevor die Mächte der Natur der Hexe zu Hilfe kommen!«, polterte Wilmsdorf.

Ein fester Hieb brachte mich aus der Balance. Obwohl ich darauf gewartet hatte, holte ich instinktiv Luft, klatschte kaum später mitten in das kalte Wasser und wurde in einem Strudel hinuntergezogen.

Ich zerrte an den Seilen, die sich unerbittlich in meine Gelenke gruben und mich handlungsunfähig machten. Wie lange konnte man den Atem anhalten? Kämpfen oder aufgeben?

Auf einmal tauchte in dieser Tiefe ein Schatten auf. Halluzinierte ich? Nein, da war ein Kerl – direkt vor mir, mit einem Messer zwischen den Zähnen. Er steuerte das Seil an, durchschnitt meine Fesseln. Ich spürte, wie mir der Atem eng wurde, der Brustkorb zu brennen anfing. Da legte er seine Lippen an meinen Mund, blies etwas von der wertvollen Atemluft in meinen Körper. Schon griff er nach meiner Hand, zog mich unter dem Wasser weiter, nah am Boden über den Steinen entlang, damit die wirbelnden Strudel uns weniger anhaben konnten und wir schneller vorwärtskamen.

Bald hab ich keine Luft mehr!

Ich spürte, wie mein Kampf, ihm zu folgen, mich schwächer werden ließ. Wo wollte er mit mir hin? Ich musste an die Oberfläche. Atmen! Doch da würden die Leute uns sehen! Bestimmt war schon das lose Seilende an die Oberfläche geschwommen.

Sein Griff umschloss mich eisern, er hatte offenbar ein anderes Ziel. Da sah ich es, vor uns lag eine Höhle, der Eingang verborgen im Fluss.

Kämpfe!, schrie in mir eine Stimme. Nur mehr ein paar Fuß! Ich konnte den Zwang, einzuatmen, nicht länger unterdrücken. Blasen blubberten aus meinem Mund und Wasser hinein.

 

Hustend kam ich zu mir. Verwirrt spürte ich einen Atemhauch in meinem Gesicht und fremde Luft in meiner Lunge.

»Gut – du bist aufgewacht.« Besonders mitfühlend klang der Kerl nicht. Noch dazu duzte er mich ungeniert.

Ich setzte mich mühsam auf. Eine Hand tastete zu meinen Lippen, auf denen bis vor Kurzem seine gelegen hatten, während ich mit der zweiten mein zerrissenes Kleid vor der Brust zusammenfasste. Fröstelnde Schauer rieselten über meinen Rücken. Ich erkannte, dass wir uns in einem verlassenen Stollen befanden, von denen es einige in der Gegend gab. Hinter uns ragten geschliffene Mauerwände empor, ein Loch über unseren Köpfen ließ Tageslicht einfallen. In einer Halterung steckte eine Fackel, deren Schein das Innere zusätzlich aufhellte.

Musternd glitt mein Blick zu meinem Gegenüber: Seine Kleidung war ebenso triefend wie die meinige. Er hatte schwarzes Haar, dunkelbraune Augen, war sehnig und muskulös. Und ich kannte ihn! Es war der Sohn des Bürgermeisters, was mich irritierte, denn normalerweise hatte ich mit Laurenz nichts zu schaffen! Als Ritter überwachte er abseits der Kriegsfront die Arbeiten der Bauern, die seinem Vater unterstanden. Statt einem bunten Gewand, das seinen Stand zeigen würde, trug er eine einfache Leinenhose und ein vergilbtes Hemd.

Meine Zähne klapperten. »Aus welchem Grund hast du dein Leben für das meinige aufs Spiel gesetzt?«

»Ich habe eine Schwäche für rothaarige Weiber, für so hübsche obendrein.« Er reichte mir eine trockene Jacke, die er vor seinem Tauchabenteuer wohl hier zurückgelassen hatte.

Ich hüllte mich damit ein, sie roch nach herber Seife und Mann. »Zurzeit fühle ich mich wie ein ertränktes Kätzchen. Nur das mit dem Hammer auf den Kopf schlagen wurde ausgelassen, so wie es sonst der Brauch ist, bevor man unliebsame Wesen im Wasser versenkt. Doch ich danke dir aus tiefstem Herzen.« Zaghaft legte ich meine Hand auf seinen feuchten Unterarm. Ein flüchtiger Moment, der intensive Bilder in mir nach oben holte. Magnetisch wurde ich mit meinem Retter verbunden und knüpfte damit an seine Erinnerung an:

Laute Stimmen drangen aus dem hinten gelegenen Garten, als Laurenz den Hof querte. Er erblickte seinen Vater Wilhelm Wilmsdorf, der grob die Mutter gegen den Holzschuppen drückte. »Deine Unfähigkeit dulde ich nicht länger!«, spie sein alter Herr aus.

Laurenz konnte nicht erkennen, worin das Problem lag. Der Garten sah akkurat aus, Kräuter und Gemüse wuchsen in Reih und Glied und versprachen eine reiche Ernte. Zeterte sein Vater deswegen, weil seine Mutter Edelfried ihrer Kräuterliebe nachging, statt einer Bediensteten das Feld zu überlassen? Aber das war an sich nichts Neues. Häufig schickte sie ihre Hilfen weg, um sich selbst zu kümmern. Leider bedurfte es oft bloß einer Lappalie, um den Vater rasend zu machen.

»Wende dich nie mehr ab, wenn ich mit dir spreche! Schon gar nicht vor dem Bauernpack! Als mein Weib musst du mir nicht weniger zu Diensten und willig sein! Zu jeder Tages- und Nachtzeit!«, polterte Wilmsdorf weiter.

Störrisch hob Mutter den Kopf. »Willig? Dafür hast du deine Täubchen, doch auch diese einfältigen Wesen werden erkennen, dass du nicht deinen Mann stehen kannst, da hilft weder dein rauer Ton noch dein Herrschergehabe. Deinen Posten und dein Ansehen verdankst du der Einheirat in meine Besitzungen. Ohne meine Almosen hätte man dich längst aus dem Ritterstand enthoben und du wärst im besten Fall ein gewöhnlicher Bauer geworden. Was war ich für eine Närrin, einst meinen Eltern und deinen Liebesschwüren nachzugeben. Geblendet von deinem Äußeren, erkannten wir nicht, welch ein Teufel sich dahinter verbirgt! Doch seit du Bürgermeister bist, kannst du deine wahre Fratze nicht länger verhehlen.«

Ist sie lebensmüde? Wie kann sich Mutter dem Vater mit diesen Worten entgegenstellen?, durchfuhr es Laurenz entsetzt.

Einen Bruchteil später ging Wilhelm mit eisigem Blick Edelfried an die Gurgel, grummelte unverständlich vor sich hin und würgte sie mit bloßen Händen. Er ließ nicht einmal ab, als röchelnde Laute aus Mutters Mund drangen.

Wollte er sie umbringen? Endlich kam Bewegung in Laurenz. Er zog sein Messer aus der Scheide und stürmte auf die beiden zu. »Lass sie in Ruh!«

Ehe Laurenz recht realisierte, was als Nächstes geschah, erklang ein stöhnender Laut und seine Mutter sank auf den Boden. Blut schoss aus ihrer Stichwunde im Bauch, während in ihm pure Verzweiflung floss. Er wollte seine Mutter vor der rohen Gewalt des Vaters retten, sie keinesfalls verletzen! Doch Wilmsdorf hatte sie als Schutzschild benutzt und in die scharfe Klinge geschoben! Dabei dämonisch gelacht!

Ich schreckte zurück, da mich das Schuldgefühl meines Gegenübers und das teuflische Antlitz des Bürgermeisters überwältigten. Nun wusste ich, weshalb ich von Wilmsdorf angeklagt worden war: Ich war es gewesen, die Edelfried nach deren Verwundung gerettet hatte!

»Laurenz Wilmsdorf, mit dieser guten Tat wirst du deine Mutter besänftigen. Sag Edelfried einen herzlichen Dank dafür, dass sie dich geschickt hat, um mich vor dem Wassertod zu bewahren.«

»Was … wie?« Irritiert löste sich Laurenz aus seiner Starre und hastete hoch. »Hexe!«

»Ja, nenn mich Hexe, es gibt kein größeres Kompliment für mich. Es stimmt, ich trage Fähigkeiten in mir, die andere nicht verstehen, aber ich nutze sie nicht, um jemandem zu schaden. Scheinbar haben das die Menschen in unserem Ort vergessen.«

Auf Laurenz’ Stirn zeigte sich eine steile unwillige Falte.

»Zudem war es dein Vater, der deine Mutter angegriffen hat. Ohne dein Einschreiten wäre sie gewiss tot.«

»Ich habe sie liegengelassen, blutend und sterbend, bin feige davongelaufen, dachte, mein Herr ließe mich verhaften – um sich nicht selbst auszuliefern. Nein, seine Geschichte war bei Weitem abenteuerlicher. Unglücklich wäre Mutter im Garten bei der Salat-Ernte in das eigene Messer gestürzt. Luise glaubte es. Während er den Priester holen wollte, sollte die Nachbarin bei ihr bleiben. Wir alle dachten, sie ist tot – zumindest so gut wie. Was für einen Zauber hast du gesprochen, um sie am Leben zu erhalten, Hexe?«

»Keinen Zauber! Als Luise bemerkte, dass deine Mutter atmete, lief sie los, um mich bei meinem Gemüsestand zu suchen. Gut, dass ihr in der Nähe des Marktplatzes wohnt. Rasch packte ich meine Kräuter zusammen: Schachtelhalm, Spitzwegerich und Schafgarbe. Als wir zurückkamen, war deine Mutter bei Bewusstsein, doch ihre Stimme bloß ein tonloses Wispern. Wir zogen sie gemeinsam auf den Diwan neben der Herdstelle. Während Luise nach meiner Anweisung die Kräuter zerstieß und zum Trinken einen Brennnesseltee kochte, erhitzte ich den Schürhaken. Mit dem glühenden Eisen schaffte ich es, die Blutung zum Stehen zu bringen. Ein Feldscher hätte dasselbe getan.«

Ich hielt inne, vergegenwärtigte mir das Bild der Behandlung. Edelfried hatte bei dieser Brachialmethode die Besinnung verloren, der Raum füllte sich mit dem Geruch des verbrannten Fleisches. Laurenz’ Mutter blieb auch noch weggetreten, als ich ihr im Anschluss einen heilenden Kräuterumschlag anlegte. Daneben saß Luise mit gefalteten Händen, um für ihre Nachbarin zu beten.

»Überlebt hat deine Mutter dank ihres starken Willens. Für dich, damit du dir nicht die Schuld an ihrem Tod gibst. Sie ist dir nicht gram.«

Laurenz’ Kiefer mahlten aufeinander. »Trotzdem, es war mein Messer, das sie schwer verletzt hat.«

»Geh nicht zu hart mit dir ins Gericht!«

»Das sagt sich so leicht! Als Vater tags darauf mit dem Würdenträger kam, den er aus dem Nachbarort holen musste, fanden sie Mutter lebend im Bett vor. Sie trauten kaum ihren Augen. Luise war so dumm, zu sagen, dass das dein Verdienst sei! Mutter konnte aufgrund ihrer Schwäche die Sache nicht aufklären. Vaters Zorn schlug auf dich. Er hatte bereits davon geträumt, von der Last des eigenen Weibes befreit zu sein! In seinen Augen taugte Mutter nicht als Bürgermeister-Gattin. Es war unübersehbar, dass sie ihre Kräuter mehr liebte als den eigenen Mann. Dabei ist es diese Schrulligkeit, dem er die Einheirat verdankte. Viel zu unziemlich wirkte ihr Gebaren auf die anderen noblen Heiratsanwärter, die allesamt die Flucht ergriffen, sobald sie Stunden über Pflanzen und Tinkturen schwadronierte und weshalb sie bestimmt an ihrem Geisteszustand zweifelten. Nur einer war standhaft geblieben: Vater. Es fiel ihm wohl nicht sonderlich schwer, die nötige Einwilligung seitens ihrer Eltern zu erhalten. Wenige Wochen zuvor war Mutters Schwester grausam aus dem Leben gerissen worden, so pochten sie auf einen männlichen Beschützer und duldeten keinen Widerspruch. Mutter hätte sich ohnehin nicht in ihrem Kummer und mit ihren fünfzehn Jahren getraut dagegenzureden. Es schien auf beiden Seiten ein wahrer Zugewinn: Vater konnte seine Verarmung abwenden, denn sein alter Herr hatte ihm nur Schulden und einen Haufen Asche hinterlassen, als der das Heimathaus mit sich darin abgefackelt hatte. Und im Gegenzug sollte Mutter, als das letzte verbliebene Kind, nicht als Jungfrau übrigbleiben oder ebenso tot in einem Gewässer gefunden werden.«

Ein Schauer jagte über meine Haut hinweg, und es lag nur zum Teil daran, dass mir kalt und ich völlig durchnässt war. »Wie konnte sich dein Vater dermaßen verstellen?«

»Mein alter Herr agiert aus purer Berechnung, hält sein Schauspiel aufrecht, so lange, bis er sein Ziel erreicht. Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass es über zwei Jahrzehnte dauern sollte, bis man ihm das Amt des Bürgermeisters übertrug. Erst seitdem findet er die Bestätigung, nach der er seit Ewigkeiten gelechzt hat. Leider haben sich dadurch die Auseinandersetzungen mit Mutter gehäuft, da er sie wohl als noch unpassender an seiner Seite empfand. Schlussendlich bist du ihm mit deinen Heilkräften in die Quere gekommen. Deshalb hat Vater dich der schwarzen Künste bezichtigt! Auferstanden von den Toten … So etwas konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, sondern zeigte deutlich, dass du einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hast! Das hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Und wenn so eine Macht in dir schlummert, wann und zu welchem Zweck würdest du sie noch missbrauchen?! Als der Büttel dich fasste, feierte Vater übermütig in der Schänke, hob den Krug und prostete mir zu, wie froh er sei, dass die Hexe keinen Schaden mehr anrichten konnte. Und dann hat er mir zugeraunt, wenn ein falsches Wort über meine Lippen käme, würden Mutter und ich ohne Zeugen ins Niemandsland der Verdammnis verschwinden. Die Drohung war unmissverständlich, und er fühlt sich im Recht.«

Ich schluckte.

»Mutter und ich kennen die Wahrheit. An ihrer Verletzung bist du schuldlos. Deswegen habe ich ihr zugestimmt, dich zu retten. Ob die Heilung mit oder ohne Magie erfolgt ist, wird sich mir wohl nie erschließen. Damit ist zwar meine Schuldigkeit nicht getan, aber ich schenke dir zumindest eine Chance.«

»Das ist weit mehr, was andere für mich getan hätten.« Meine Stimme klang rau.

Laurenz griff nach einem mit Wachs getränkten Stab, entzündete diesen an der brennenden Fackel. »So, nun weißt du Bescheid, Hexe. Bleib nicht mehr zu lange hier. Du brauchst nur dem Stollen zu folgen, halte dich bei den Abzweigungen links, dann wirst du sicher nach draußen gelangen.« Entschlossen drehte er ab und ließ mich zurück.

 

24. Juni 2021

Langsam öffnete ich die Augen, starrte in ein dunkles Grau. Mein Traum aus dem Mittelalter hatte eine Fortsetzung gefunden! Ich war gerettet worden und nicht schweißgebadet hochgeschreckt, weil ich mich mit Todesangst in den eisigen Fluten befand.

Das verdankte ich Laurenz! Mit einem schmerzlichen Sehnen in der Brust lag ich da, als ob er ein Stück von mir in der fernen Zeit zurückbehalten hätte, obwohl er von mir weggegangen war. Sein Blick, eine Mischung aus Reue und Wärme, wirbelten noch jetzt im Wachzustand mein Herz durcheinander.

Steckte mehr hinter dieser intensiven Illusion? Seit Tagen fühlte ich mich ruheloser, was ich bisher dem kommenden Vollmond zugeschrieben hatte. Denn so nachdrücklich waren meine Träume für gewöhnlich nicht! Ich war kein ferner Beobachter geblieben, sondern mittendrin, als Mathilda – die Hexe.

Das Leben der einfachen Leute hallte in mir nach. Sie benutzten jene Dinge, die sie am Hof produzierten, oder sie mit irgendjemanden eingetauscht hatten. Ihr Gewand aus Leinen, Wolle oder Leder fand ich nicht fremd, sondern so, als ob ich es selbst getragen hätte. Ich strich über meine Haut, während das Gefühl des groben Stoffes an mir haftete. Verwandelte ich mich? Wie absurd! Hektisch tastete ich zum Einschaltknopf der Nachttischlampe, musterte mich im Schein mit zusammengekniffenen Augen, weil ich mich an das grelle Licht gewöhnen musste.

»Puh!«, stieß ich erleichtert aus, nachdem ich mich inspiziert hatte. Ich trug mein Nacht-Shirt, kurze Shorts und kein wallendes Leinenkleid. Es wirkte an mir alles so wie für gewöhnlich. Äußerlich …

Ich langte zu meinem Handy. Es war bald sechs Uhr früh. Noch einmal versuchen, einzuschlafen, lohnte sich nicht. Ich streckte mich ausgiebig, um die restliche Müdigkeit aus meinen Gliedern und die seltsame Stimmung aus mir zu vertreiben. Außerdem sollte ich mich freuen, denn heute stand dazu mein Geburtstag am Programm. Groß feiern wollte ich ihn nicht, ich fand es sogar eher befremdlich, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, tapste ich ins Bad. »Mathilda und Laurenz«, murmelte ich, da ich die beiden nicht aus meinem Kopf hinausbrachte. Leider gab es in meinem Leben keinen solchen Andonis, gutgebaut und obendrein ein Retter. Welche Frau wünschte sich das nicht? Irritiert stellte ich dabei fest, dass ich den Kerl vermisste. Jemanden, den es real nicht gab, sondern längst mit nächtlichen Bildern entschwunden sein sollte!

Ich begutachtete mich im Spiegel. Die Frau im Traum erinnerte zweifellos an mich selbst: rotes Haar und hellgrüne Augen. Zum Glück lebte ich nicht im Mittelalter, sonst stünde ich ebenso ganz oben auf der Hexenjagdliste. Ich griff nach einer Bürste, um meine widerspenstigen Locken ein wenig zu glätten.

Kleines, es war dein früheres Leben!, maßregelte mich da die Stimme meiner verstorbenen Großmutter. Walburgas Geist tat ihre Meinung bloß dann kund, wenn es ihr passte.

Es schauerte über meinen Körper und ich ließ die Bürste sinken. Andere an meiner Stelle würden vermutlich denken, dass sie deswegen den Verstand verlieren, aber für mich war diese Zwiesprache längst normal. »Nein, Oma Burgi, ich bin Cassandra Rosenrauch. Ich eigne mich weder als Hexe noch als Heilerin! Und komm mir nicht mit einem alten Leben«, wehrte ich rigoros ab.

Sie lachte. Mein liebes Kind, du erwachst … und damit deine Gaben. Du kannst nicht länger dein wahres Wesen verleugnen! Alles, was verborgen war, wird aufbrechen. Mit und ohne dein Zutun!

Ich schluckte. Genau das befürchtete ich! Oder sehnte ich es herbei? Eine Erinnerung schwappte empor, zeigte mich mit meiner Großmutter im Keller. Oma Burgi hatte extra für mich einen Hocker bereitgestellt, auf den ich mich stellte, um im großen Topf am Herd umzurühren, den ich anders nicht erreicht hätte. Währenddem ließ sie Gewürze hineinrieseln und sprach Zaubersprüche. Stunden hatte ich bei ihr verbracht, angezogen von den Kräutertinkturen, Aromen, Schätzen und ihren Geheimnissen! Sogar in ihrem heiligen Schattenbuch durfte ich stets neugierig blättern. Wann hatte ich damit aufgehört?

Ich wusste wann. Seit ihrem Tod betrat ich nur mehr selten Omas Kräuterstube. Die Energie dort wirkte schmerzhaft und schwer, als ob mich eine Eisenkugel niederdrücken wollte. Das verstand ich nicht, denn für mich war Großmutter eigentlich nie ganz tot. Durch ihre regelmäßigen gedanklichen Besuche blieb sie über Jahre ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens. Doch bereits zuvor, mit Papas Tod, war ein Stück Leichtigkeit in mir verlorengegangen. Deswegen ließ auch mein Eifer nach, Oma bei ihrem Werkeln zu unterstützen. Meine Mama Gertrude hatte mich zwar als Kind nie daran gehindert, meine freie Zeit im Keller bei Oma zu verbringen, aber Papas Unfall hatte ebenso einen Sinneswandel in ihr ausgelöst. Keine Warnung aus dem Universum verschonte meinen Vater, sondern hatte Mama, die als Beifahrerin im Wagen daneben gesessen war, neben der Bitterkeit, dem Verdruss und der inneren Qual ein steifes Bein beschert.

Mit acht Jahren wurde ich zu einer Halbwaise. Dieser Verlust hatte mich verändert, doch ich konnte mich nicht recht entscheiden, ob mich jemand in dicke Watte gepackt hatte, ich gefangen zwischen zwei Welten war, oder ich seitdem in einem Art Vakuum lebte.

»Gelebt hatte«, verbesserte ich mich halblaut. Auf einmal strömte kalte neue Luft in mein Inneres. Ich lechzte nach dem Sauerstoff, der mich antrieb, als würden bald Höchstleistungen von mir erwartet. Zugleich mahnte mich die Kühle darin, achtsam zu bleiben. Ob Oma bewusst die Kellerkräuterstube vor meiner Anwesenheit geschützt hatte? Und weshalb waren die Bilder aus dem Mittelalter nun dermaßen klar? Sollte ich mit Mama darüber sprechen? Kaum darauf verwarf ich diesen Gedanken. Mama blockte bei diesem Thema bestimmt ab. Einmal hatte ich ihr nach Omas Tod von Burgis Stimme in meinem Ohr berichtet, da bekam Mama einen Weinkrampf. Daraufhin beschwor sie mich, niemals einem anderen Menschen davon zu erzählen. »Und von Magie und Zauberei will ich nie mehr etwas hören! Bringt nur Verderben und Verdruss! Punkt!«, schluchzte sie damals. So hysterisch hatte ich sie nie zuvor erlebt! Nach Papas Tod war sie eher lethargisch gewesen und kaum aus ihrer Trauer hervorzubringen.

Ich langte nach einem Haarband, um mir einen Pferdeschwanz zu binden, als ich überrascht aufschrie. »Huch, was ist denn das?!« Der Blick in den Spiegel zeigte mir hellgoldene Funken, die von meinem roten Haar emporstiegen. Ja, etwas veränderte sich! Energie schwirrte um mich. Intensiver. Ob es mit dem Vollmond zusammenhing, mit meinem vierundzwanzigsten Geburtstag? An beidem? Oder sollte ich besser einen Termin beim Augenarzt vereinbaren?

Ich schaute mich im Badezimmer um und konnte keine Auffälligkeiten in meinem Sichtfeld entdecken. Somit schloss ich eine Sehstörung aus. Erneut widmete ich mich dem Spiegelbild. »Verschwindet!« Ich wedelte mit der Hand über meinem Kopf hin und her. Nein, die Funken blieben, tanzten um mich herum, als ob sie es lustig fanden. Wenigstens fühlten sie sich nicht unangenehm an. Ich gab meine Verscheuchversuche auf, fasste stattdessen seufzend das Haar zusammen.

Da vernahm ich die Schritte meiner Mutter, die wenige Momente später unter dem Türrahmen auftauchte. »Hey Cassie, wie schön, du bist ja schon wach! Happy Birthday, Liebes!«

Ich wandte ihr den Kopf zu. »Siehst du …?«

Mama trat heran, strich mir über das Haar.

Ich hielt den Atem an. Ob sie ein Knistern spürte? Konnte sie die Funken sehen? Vermutlich nicht … Oder erwähnte sie diese mit Absicht nicht? Ich versuchte, in ihrem Blick zu lesen. Nein, sie schaute wie immer drein – obwohl, heute noch ein Stück zärtlicher. Und wenn Mama die Funken nicht sehen konnte, vermochten es wohl die anderen Menschen genauso wenig. Ich entspannte mich.

»Ich bin jedes Mal fasziniert davon, wie hübsch du bist. Ich wünsch dir alles Liebe, dass sich deine Träume erfüllen! Das Glück dir immer beisteht! Ich liebe dich!« Sie herzte mich.

»Mama, ich liebe dich!« Mich freuten ihre Wünsche! Aber ob ich tatsächlich darauf hoffen sollte, dass meine Träume wahr wurden? Das konnte ich nicht völlig unterschreiben. Denn nicht jeder war schön. Zumindest hatte ich das Hexenbad im Mittelalter überlebt. Ob das ein gutes Omen für meine Zukunft war? Doch wie ging es mit Mathilda und Laurenz weiter? Würde diese Geschichte eine Fortsetzung finden?

»Komm mit!« Mama zog mich ungeduldig aus dem Bad. Sie humpelte, war insgesamt fünfmal operiert worden und trug dadurch ein Zeichen an ihrem Leib, das keinen Tag den schrecklichen Unfall vergessen machte. Ob sie deshalb so lange mit Papas Verlust gehadert hatte? Inzwischen waren sechzehn Jahre vergangen! Die erste Zeit war sie in verbitterter Schockstarre gefangen gewesen, aufgelockert nur durch ihre Liebe, die sie mir entgegenbrachte. Zum Glück hatte Mama weder ihr Bein noch ihr Leben verloren, was sie bestimmt Oma Burgis Fürsorge und deren Extrakten verdankte. Aber es war knapp gewesen. Wie knapp, realisierte ich erst später, als ich älter und reifer in meinen Gedanken geworden war.

Ohne Oma wäre diese Zeit trist, farblos und noch schmerzhafter gewesen. Sie war es, die mich erdete und tröstete, wenn ich nachts Mama in den Schlaf weinen hörte. Liebes, pflegte Oma Burgi zu sagen, wenn Kopf und Herz im Streit liegen, kann die Seele nicht zur Ruhe kommen. Es ist der Kampf gegen etwas, was niemand zu ändern vermag. Auch ich musste in jüngeren Jahren lernen, diese Schule des Lebens zu begreifen – doch wenn man sie verinnerlicht hat, ist sie ein starkes Lebensfundament und man findet Frieden. Glaub mir, Gertrude wird das ebenso erkennen. Die Schatten der Bitternis werden sich verflüchtigen, dann kann sie neues Vertrauen und Liebe finden.

Tatsächlich, Schritt für Schritt fasste Mama Fuß im Leben. Ihr Lächeln kam zurück. Und seit dem Einzug des neuen Nachbarn auf dem angrenzenden Grundstück leuchtete eine neue Facette in Mama auf. Sie wirkte befreiter, jünger – auch wenn ich manches Mal an ihrem Blick erkannte, dass sie dem neuen Glück nicht recht traute.

Ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf den liebevoll gedeckten Esszimmer-Tisch. In der Mitte stand eine Sachertorte mit Marzipandekor. Servietten im Rosendesign lagen neben den Tellern und in einer Vase lehnten rote Rosen. »Oh! Wie hübsch! Seit wann bist du auf? Konntest du nicht schlafen?«

»Ich wollte dich überraschen und mit dir ein gemeinsames Frühstück genießen, ehe wir zur Arbeit müssen. Komm, setz dich.«

Ich tat wie geheißen und blickte neugierig auf einen violetten Stoffbeutel. »Ist der für mich?«

Mama nickte, das brachte ihre dunklen Locken in ein lustiges Schwingen und ihre blauen Augen blitzten erfreut. Von der Körpergröße und der Statur ähnelten wir uns. Schlank mit weiblichen Rundungen, doch unsere Haar- und Augenfarbe unterschieden sich, da kam ich nach meiner verstorbenen Oma.

»Schau doch hinein!«

Ich zog eine schwarze Perlenkette mit Chakren-Steinen heraus. »Wow! Ich …«

»Gefällt sie dir?«

»Wunderschön! Ich dachte nur …«

»Es verwirrt dich, weil sie so esoterisch ist«, stellte Mama lächelnd fest. »Es geht nicht darum, was ich davon halte, sondern was dir gefällt. Außerdem ist die Kette ein Familienerbstück. Ich bekam sie von meiner Mutter – deiner Oma, zu meinem vierundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Somit ist nun die passende Zeit für dich, sie zu tragen.«

»Die passende Zeit?« Statt die Kette um den Hals zu legen, schlang ich sie um das Handgelenk. Spürte Mama ebenso, dass sich etwas veränderte? Wir uns veränderten? Wieso jetzt?

»Lass uns später darüber sprechen.« Sie drückte sanft meine Hand. »Nur so viel, auch ich habe die Kette lieber als Armband getragen, ehe sie in den Tiefen meines Schmuckkästchens verschwunden ist und dort auf deinen vierundzwanzigsten Ehrentag gewartet hat. Sie wird bei dir die richtige Kraft entfalten. Aber nun genug: Liebste Cassie, das Geburtstagskind muss selbst die Torte anschneiden.«

»Sehr gerne.« Der feine Schokoduft ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen und spülte jeden Widerspruch in meine Tiefen hinab. Es würde bestimmt einen besseren Moment geben, um unser Gespräch weiter zu vertiefen. Ich langte nach dem Messer, schnitt beherzt zwei Stücke ab, die ich auf die vorbereiteten Teller beförderte.

»Bist du am Abend zuhause oder mit Freunden unterwegs?«

»Das ist noch nicht ganz klar. Wenn Katrin Zeit hat und nicht Richtung Kärnten brettert, werden wir wohl in einem Lokal anstoßen. Falls das okay ist.« Strenggenommen hatte ich Katrin noch gar nicht gefragt, weil ich wusste, dass sie mit ihrer Mutter die Oma besuchen wollte.

»Ja sicher, du gehörst unter junge Leute. Am Samstag koche ich dir dein Lieblingsessen. Falls mir langweilig wird, kann ich sicher bei unserem Nachbarn vorbeischauen.«

Ich grinste. »Tanzen da Schmetterlinge in deinem Bauch?«

Ertappt strich sich Mama eine Haarlocke hinter das Ohr. »Ach komm, ich bin längst kein Teenager mehr.«

»Papa wäre sicher damit einverstanden, dass du jemand Neues in dein Leben lässt. Und wie ich Oma kenne, hat sie vom Himmel aus dafür gesorgt, dass Herbert ins Nachbarhaus gezogen ist. Er wirkt sehr nett.«

»Das ist er. Obwohl, ein pensionierter Polizist, da fühlt man sich beschützt und verfolgt zugleich. Wir verstehen uns gut. Der Krebstod seiner Frau ist etwa ein Jahr her. Ich denke nicht, dass er da gleich etwas Festes möchte. Ich habe auch Jahre um Wolfgang getrauert. Bin total aus der Übung, was Beziehungen betrifft.«

»Verluste verbinden. Und ein neuer Partner kann niemals den alten ersetzen. Sondern es geht um Nähe und darum, etwas aufzubauen, was dem Herz und der Seele guttun.«

»Aber sieh dir Herbert an. Er ist stark, durchtrainiert, sportlich, ein richtiger Mann, was will er da mit mir?« Gertrude klopfte sich auf ihr steifes Bein, das ihren Alltag zuweilen erschwerte. Dennoch stand sie als Sozialbetreuerin mitten im Arbeitsleben. Sie unterstützte Frauen, die Hilfe suchten oder aus gewaltsamen Beziehungen flüchteten. Jene, die sich mit ihrer Lebenssituation überfordert fühlten, zu Suchtmitteln griffen und den Anforderungen, ihre Kinder zu versorgen, nicht zutrauten oder finanziell nicht schafften. Ich kannte keine Frau mit einem größeren Herz als sie!

»Wie es mir scheint, hat Herbert dein Humpeln bisher nicht abgeschreckt. Da gibt es ganz andere Dinge, die ihm bestimmt an dir gefallen. Keiner hat gesagt, dass ihr einen Marathon laufen müsst. In Wahrheit gibt es kaum etwas, was du nicht tun kannst, du bist bloß ein bisschen langsamer unterwegs. Das stört nicht. Denn mit einem liebevollen Menschen kann man nicht lange genug zusammen sein.«

»Oh, Süße.« Mama wischte sich eine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel. »Normalerweise sollte ich dir an deinem Geburtstag Komplimente machen und nicht umgekehrt.«

»Was ist bei uns schon normal?«

Sie lachte. »Stimmt auch wieder. Und nun mein Kind, koste endlich, damit du gestärkt für den heutigen Tag und deine Arbeit bist.«

Ich ließ mich nicht länger bitten, stach ein Stückchen mit der Gabel ab. Genussvoll schmolz auf meiner Zunge das feine Schokoladenaroma. »Hmm, es schmeckt genau so süß, wie das Leben ist.«

»So süß wie du!« Mama zwinkerte mir zu, griff nach der Kaffeekanne, um uns einzuschenken.

Wie aus meinem Traum entsprungen

Beschwingt machte ich mich auf den Weg zu meiner Arbeit. Ich war als Angestellte im Autohaus Fortmüller quasi eine Mischung aus Assistentin und Verkäuferin. Obwohl ich einen roten Suzuki Swift mein Eigen nannte, war ich häufig zu Fuß unterwegs, besonders dann, wenn sich das Wetter von seiner angenehmen Seite präsentierte – und das war heute der Fall.

Ich benötigte für eine Strecke um die zwanzig Minuten. Laut Wetterbericht sollten wir die Dreißig-Grad-Marke knacken, während in der Früh die Luft nach dem gestrigen Regen herrlich frisch roch. Ich trug bequeme Turnschuhe, Capri-Jeans und eine dünne Jacke über meine graue Bluse, auf der winzige Schmetterlinge in den Farben Weiß, Pink, Gelb und Türkis flatterten. Sie gaben dem Outfit etwas Verspieltes. Meine Handtasche, deren Riemen quer über den Oberkörper lag, pendelte bei jedem Schritt gleichmäßig mit. Ich genoss es, den Wind auf meiner Haut zu fühlen, die wärmenden Sonnenstrahlen zu spüren, die mich begrüßten und den Singsang der Vögel zu hören, die mich begleiteten.

Je näher ich der Stadt und zu meinem Arbeitsort kam, wandelten sich die Laute in ein gleichmäßiges Brummen der Autos. Menschen eilten emsig umher. Kinder und Jugendliche waren bepackt mit Schulranzen, warteten an der Haltestelle und würden sich wohl lieber einen Tag im Freibad wünschen als lernend im geschlossenen Klassenzimmer. Ich steckte mir meine knopfförmigen EarPods in die Ohren und ließ mich mit Musik berieseln. Nach einer Weile brach das Lied ab und mein Klingelton ertönte. »Ja, bitte?«, meldete ich mich und sprach etwas lauter, um die Motorengeräusche zu übertönen.

»Hey, bist du schon unterwegs?« Das war Katrin, meine Freundin und Arbeitskollegin. Offenbar gab es ein Problem, wenn sie so früh anrief.

»Sicher. In etwa fünf Minuten bin ich da.«

Katrin schnaufte durch. »Gut, der Chef ist grad mächtig sauer. Irgendwie ist im Lagerbestand der Wurm drinnen. Ulrich findet den Kotflügel und den Grill für den weißen Jimmy nicht. Karli ist genauso wenig eine Hilfe, sondern lässt deswegen bloß dumme Sprüche vom Stapel. Dabei soll der Wagen noch heute raus.«

»Bestimmt sind die Teile falsch einsortiert. Hast du im Computersystem nachgeschaut, in welchem Lagerfach sie sein sollten?«

»Das ist ja das nächste Problem, der PC läuft wieder so langsam. Dabei ist heute nicht einmal Montag.«

Nein, aber Vollmond! Der führte gerne mit manch einer Sternenkonstellation zu technischen Störungen. Ich behielt den Gedanken für mich, außerdem wusste ich nicht genau, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag, oder das alte Teil nicht doch mal eine ordentliche Defragmentation nötig hatte. Ich steuerte auf die Bordsteinkante zu, trat – während ich weitersprach – auf den Asphalt. »Wie gesagt, ich bin bald da. Huch!«

Ich wurde zurückgerissen, blickte in dunkelbraune Augen, die mich tadelnd anvisierten. Ich registrierte das schwarze Haar meines Gegenübers! Der Mann war aus meinem Mittelalter-Traum entsprungen! Trug so wie ich moderne Kleidung: Jeans, Hemd und ein Jackett. Unterdessen bretterte im vollen Karacho ein Linienbus an uns vorbei.

»Lebensmüde?!«

Ich starrte ihn an. Sogar die Stimme klang identisch, mit demselben leicht spöttischen Unterton.

»Alles gut bei dir?!«, fragte Katrin panisch nach.

»Jaja, keine Sorge, bis bald.« Ich drückte sie weg und holte die EarPods aus den Ohren. »Danke, das war knapp.«

Der Kerl deutete auf meine Kopfhörer und runzelte unwillig die Stirn. »Diese Dinger kannst du vergessen, damit hört man die Umgebung nicht und wird zu unaufmerksam.«

Ich nickte, ließ sie umgehend in meine Handtasche gleiten.

Er drehte ab und entschwand ohne ein weiteres Wort über die Straße. Perplex schaute ich ihm nach, bis er um die nächste Ecke bog. Mein Herz beruhigte sich nur langsam. Ich fühlte mich zwar nicht wie ein halb ertränktes Kätzchen, doch nicht weniger aufgewühlt. Hatte diese Begegnung eine höhere Bedeutung? Ich schöpfte nach Atem und versuchte, das Durcheinander in meinem Kopf zu vertreiben. Ehe ich dieses Mal die Straße querte, versicherte ich mich genau, ob der Weg frei war, erst dann eilte ich weiter.

 

Katrin fing mich bei der Eingangstür ab. »Es ist wie verhext. Nun geht der Drucker ebenfalls nicht, die Problembehandlung am Computer hat nix genutzt. Dabei muss ich grad heute früher los. Das fängt ja gut an, wenn schon in der Früh Chaos angesagt ist.«

»Fahrt ihr heute bereits nach Kärnten?« Ich umrundete das Schreibpult und setzte mich auf den Stuhl vor dem PC.

»Ja. Eine enge Freundin von Oma ist gestorben und morgen ist deren Begräbnis. Da wollen wir sie unterstützen.«

»Das finde ich sehr nett.« Meinen Geburtstag konnten wir nachfeiern, das war kein Problem. Gut, dass wir nix fixiert hatten. Ich machte ein paar Klicks. »Ich glaube, am besten starten wir den Computer neu und schauen, was passiert.«

»Das habe ich längst versucht, und es hat nichts gebracht«, kam es von ihr genervt.

»Weißt du, ob ein Update gelaufen ist?«

Katrin zuckte mit den Schultern. »Darauf habe ich nicht geachtet.«

Ein Signalton ertönte und bewies, dass der PC dabei war hochzufahren. Wenige Momente später erwachte der angeschlossene Drucker zum Leben und spuckte Blatt für Blatt Papier aus.

»Wie kann das sein? Die technischen Geräte stehen mit mir definitiv auf Kriegsfuß. Sobald du da bist, sind alle Probleme wie von Zauberhand aufgelöst.«

»Das liegt an deiner guten Vorarbeit«, erklärte ich großmütig und erhob mich.

»Ein Kunde ist übrigens da. Der Chef schaut sich draußen mit ihm bei den Fahrzeugen um. Ich hoffe, dass das wenigstens seine Laune etwas hebt.«

»Habt ihr den Kotflügel und den Grill für den Jimmy inzwischen gefunden?«

»Ja, wie vermutet, falsch einsortiert.« Katrin rollte mit den Augen. »Natürlich kommt Ulrich nicht von alleine drauf, einen Millimeter weiter über den eigentlichen Platz hinauszublicken.«

»Vermutlich wollte er dich ein bisschen in seiner Nähe wissen.«

Katrin zog eine Grimasse, doch dann lachte sie. »Du denkst, er stellt sich absichtlich blöd? Er sollte sich lieber von seiner besten Seite zeigen, damit er Chancen bei mir hat.«

»Ach, Chancen, bist du denn interessiert?«

Katrin stemmte die Hände in die Hüften. »Halt! Ich habe nicht gesagt, dass es so ist.«

Ich schmunzelte. »Strenggenommen auch nicht abgestritten.«

Ehe Katrin etwas erwidern konnte, öffnete sich die Glastür. Werner, unser Chef, kam mit dem Kunden herein.

Mein Herz flatterte. Das war der Kerl von vorhin! So ohne Schock sah er noch besser aus. Gut gebaut, groß und muskulös.

Werner schnippte mit den Fingern. »Cassie, wir benötigen den Schlüssel für den Vitara. Herr Haingartner möchte eine Probefahrt machen, seine Daten habe ich bereits aufgenommen. Erklär ihm kurz den Wagen, ich hab gleich ein wichtiges Telefonmeeting. Falls die Leitungen nicht wie der PC ausgefallen sind.«

»Der PC ist wieder topfit«, warf Katrin ein.

»Gott sei Dank ist Cassie unsere Computer-Expertin«, entgegnete Werner trocken, weil er sehr wohl wusste, dass sich meine Freundin damit regelmäßig abmühte. Er verschwand im angrenzenden Büro.

Ich langte nach dem Schlüsselboard und war froh, dass meine Hände nicht zitterten, obwohl ich mich zittrig fühlte.

»Herr Haingartner, dann folgen Sie mir bitte am besten.«

»Muss es so förmlich sein? Wir sind ja im selben Alter. Ich heiße Leonard, aber nenn mich lieber Leo.«

Leo – ein mutiger starker Löwe!, der mich gerettet hat, schoss es mir durch den Kopf. »Gerne, ich bin Cassandra, aber die meisten sagen Cassie.« Wir querten den großzügigen Eingangsbereich, der mit einem grauen Fliesenboden ausgekleidet war.

»Casandra, ein interessanter Name.«

Ich nickte beiläufig und verkniff mir, dass er so viel wie Verführerin oder Männerfangende bedeutete. Außerdem war Cassandra, der griechischen Mythologie nach, eine Hellseherin und sagte den Untergang von Troja voraus.

»Was für ein Glück für mich, dass du vorhin nicht zur Kühlerfigur geworden bist, dann wäre diese Probefahrt vermutlich ausgefallen.«

Ich lächelte über seine flapsige Bemerkung. »Tja, was soll ich sagen, ich liebe Autos, da komme ich ihnen schon gerne mal ganz nahe.« Ich betätigte die Fernbedienung, um den Vitara aufzuschließen.

Er tastete zu seiner Hemdtasche.

»Bitte, nicht im Auto rauchen.«

Seine Augen verengten sich. »Das hatte ich nicht vor.« Er stopfte sich ein Kaugummi-Dragee in den Mund.

»Sorry, das war nicht böse gemeint. Leider gibt es immer wieder Leute, die sich nicht an die Vorschriften halten.«

»Also sehe ich für dich wie jemand aus, der nicht vorbildlich handelt?«

Oje, nun wirkte er eingeschnappt. »Nein, das ist ein genereller Hinweis. Und wir sollten uns besser dem Auto widmen, hoffentlich ohne Missverständnisse.« Ich schöpfte nach Luft. »Hier nutzt du die Hybrid-Variante. Zum Einschalten drückst du den Stopp-and-Go-Button. Was für einen Wagen besitzt du aktuell?«

»Gar keinen. Ich nutze entweder den Firmenwagen, wenn ich auf Montage unterwegs bin, ansonsten nehme ich den von meiner Mutter. Aber jetzt orientiere ich mich um. Ich habe mir ein Wald-Grundstück mit einer Hütte geleistet, da brauche ich etwas Geländetaugliches und Allrad, vor allem dann, wenn Herbst und Winter einziehen.«

»Bis dahin ist zwar etwas Zeit, aber der Vitara wäre dafür sicher passend. Du hast da einen Vierzylinder mit Direkteinspritzung und 6-Gang-Getriebe. Natürlich ist der Wagen aufgrund des Allrads schwerer, da liegst du bei knapp tausenddreihundert Kilogramm Eigengewicht, aber durch die Übersetzung und seiner Bodenfreiheit ist er sehr gut im Gelände sowie unter schwierigen Bedingungen.«

»Das klingt vielversprechend.«

Ich reichte ihm den Schlüssel, spürte eine flüchtige Berührung unserer Hände. Ein Bild waberte in mir hoch. »Pass auf, wenn du Richtung Schmelz unterwegs bist, da liegen Steine auf der Fahrbahn.«

Leo blinzelte. »Ich habe nicht erwähnt, wo ich hinfahre.«

»Oh, nicht? Sorry. Bleib einfach achtsam. Wenn sonst nichts ist – gute Fahrt«, würgte ich ihn ab und trat einen Schritt zurück. Mist, was war das denn?! Ich hoffte, dass Leonard mir mein Benehmen nicht übelnahm. Aber ich fühlte mich momentan überfordert. Bisher hatten mich bloß Realträume eingeholt, doch nun war in mir zum ersten Mal eine Szene im Wachzustand hochgeschossen!

Als er den Wagen startete, wandte ich mich ab. Wieso war ich auf Schmelz gekommen? Genau, wegen des Bildes in meinem Kopf! Die hinaufführende asphaltierte Bergstraße wurde gerne von Wanderer oder im Winter von Skitourengeher benutzt, um einen Teil der Seetaler Alpen zu erkunden. Zudem befand sich dort oben der Truppenübungsplatz des Bundesheeres.

Ich tastete über mein Haar. Es knisterte. Ich wollte lieber in keinem Spiegel nachsehen, ob sich nach wie vor Energiefunken daraus lösten. Und bestimmt hielt mich dieser Leonard für völlig verrückt! Wenigstens blieb Omas Stimme stumm, es reichte schon, dass ich so kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. »Was für ein sonderbarer Vorfall. Ich hoffe, morgen, wenn der Vollmond vorbei ist, nimmt alles wieder seinen gewohnten Lauf«, murmelte ich und kehrte ins Autohaus zurück.

Annäherungen

Leonard grinste breit. Der Vitara gab ordentlich Schub. Die Kurvenlage war perfekt, wie auf Schienen schraubte er sich mühelos Kehre für Kehre weiter den Berg hinauf. Genauso hatte er sich den Wagen vorgestellt. Das etwas schwerere Gewicht behinderte nicht. Dazu gab es herrliches Wetter. Leo hatte extra den frühen Vormittag für seine Testfahrt gewählt, damit er kaum Gegenverkehr erwarten musste. Dazu befand sich zum Glück kein Kriecher vor ihm auf der Straße. Er öffnete das Seitenfenster, freute sich über den Wind, der sich ins Innere drängte, an seinen dunklen Haaren zog und Staub sowie den Duft von Fichtennadeln gleichermaßen in die Nase schob. So schnell es ihm die Straßenlage erlaubte, nahm er die S-Kurve, stieg fester auf das Gaspedal.

Pass auf! Wie aus dem Nichts drang die mahnende Stimme von Cassie in seinen Gedanken empor. »Was soll das?« Er blinzelte. Der Weg hinter der nächsten Kurve war uneinsehbar. Das hatte ihn bisher nie gestört! Trotzdem reduzierte er die Geschwindigkeit, nahm nicht volles Risiko als er um die Biegung bog. Da bewegte sich etwas in seinem Sichtfeld! Erschrocken trat er die Bremse durch. Dank Antiblockiersystem blieb das Auto manövrierbar, während es ihn hart in den Gurt drückte. Er stand bereits, als weitere Steine knapp vor dem Wagen mitten auf die Fahrbahn rollten. Wenn er schneller unterwegs gewesen wäre, hätten sie ihn voll erwischt!

Leonard setzte ein paar Meter zurück, stieg aus. »Irre, Cassie kann unmöglich davon gewusst haben!« Der Wind trieb einen Schauer über seinen Rücken. Hatte es eine entsprechende Durchsage im Radio gegeben? Bestimmt gab es eine banale Erklärung dafür! Nach dem ersten Schock zückte er sein Handy. Er wollte schon die 133 für die Polizei wählen, als ihm einfiel, dass sich in der Nähe der Truppenübungsplatz Seetal befand. Soweit er wusste, war das Bundesheer für den Erhalt dieses Straßenstücks verantwortlich.

Leo steckte das Handy ein und stellte vor der Kurve das Pannendreieck auf. Schließlich beförderte er ein paar Steine an den Rand, um mit dem Vitara vorbeifahren zu können. Er steuerte den TÜPL an, wollte dort seine Meldung machen.

 

 

Werner kam mit einem großen Blumenstrauß aus dem Büro. »Liebe Cassie, zu deinem Geburtstag wünsche ich dir alles Gute. Ich bin ehrlich froh, dich als Mitarbeiterin bei uns haben zu dürfen und hoffe ganz uneigennützig, dass du uns noch lange Zeit erhalten bleibst.«

»Oh, wie lieb, danke!« Ich nahm den Strauß und eine Umarmung seinerseits entgegen.

»Dennoch muss ich dich bitten, dass du heute Schlusslicht machst. Katrin will ja bald in ihren verdienten Vierzehn-Tage-Urlaub nach Kärnten los.«

»Das ist kein Problem für mich, du kennst mich, ich bin ohnehin keine große Partymaus.«

Werner nickte. Er wirkte immer etwas steif und war mit den Gedanken bestimmt schon wieder bei irgendwelchen Zahlen oder dem nächsten Termin. »Fein. Hab noch einen herrlichen Tag und einen schönen Abend.« Er drehte ab.

Katrin kam indessen mit glühenden Wangen auf mich zu. »Verdammt Cassie, wieso hast du nichts gesagt! Und vor allem, wie konnte ich das vergessen?!« Sie klopfte sich auf die Stirn. »Ich bin echt so ein verdammter Schussel. Warte, vielleicht kann ich die Fahrt mit Mutter auf morgen früh verschieben.« Meine Freundin griff zu ihrem Handy.

»Bloß nicht, mein Geburtstag hat keine Priorität.« Ich nahm Katrin das Telefon aus der Hand. »Du hast versprochen, mit ihr zu deiner Oma zu fahren. Die benötigt jetzt euren Beistand. Genieß trotzdem die Zeit mit ihr, du siehst sie eh so selten.«

»Du bist mir echt nicht böse, wenn wir deinen Geburtstag ein anderes Mal begießen? Vermutlich erst im Juli?« Sie zog die Stirn kraus und wirkte zerknirscht.

»Bestimmt nicht.«

Katrin schloss mich in die Arme. »Danke. Happy Birthday, Puppi! Und mein Geschenk bekommst du leider erst in ein paar Tagen. Dabei habe ich mir extra was Tolles für deinen Ehrentag überlegt.«

»Ich habe dich zur Freundin, das ist mehr als ausreichend.«

»Ach, komm. Du bist diejenige, die mir ständig aus der Patsche hilft, eine Eselsgeduld hat und nichts erschüttern kann. Im Gegenzug hast du eine verpeilte Freundin.«

»Die ich liebe, weil sie herrlich quirlig und lebenslustig ist, und mein fades Leben deutlich spannender macht.«

Wir kicherten wie Teenager.

»Pass auf dich auf. Liebe Grüße an deine Mama und deine Oma.«

»Richte ich aus. Bis bald.« Katrin drückte mir einen Abschiedsschmatz auf die Wange.

Ich rückte die Bestelllisten näher zu mir heran, die ich korrekt abarbeiten musste. Rastlosigkeit wallte in mir hoch, als ich auf die Uhr schielte. Leonard war seit zwei Stunden unterwegs – eine verdammt lange Probefahrt, wie ich fand. Hoffentlich war ihm nichts passiert. Ich musste mich mächtig konzentrieren, um mich nicht zu vertippen.

Endlich bog er mit dem anthrazitfarbenen Vitara ein, was mich erleichtert durchatmen ließ. Als sich die Tür öffnete, hielt ich hartnäckig meinen Kopf unten, damit ich ihn nicht allzu offensichtlich anstarrte. Erst, als er sich vor dem Tresen befand, schaute ich auf. Ich fand, dass er nachdenklich und ein bisschen blass um die Nase wirkte.

»Danke.« Er legte den Schlüssel auf das Pult.

»Danke?«

»Ich glaube, du hast mich heute ebenso von einem Unfall bewahrt.«

Ich blickte in seine dunkelbraunen Augen. »Steine?«

Er nickte. »Eigentlich wollte ich Gas geben, um zu sehen, wie viel Power in dem Wagen steckt, da hatte ich plötzlich deine mahnende Stimme im Ohr. Tatsächlich, eine Kurve weiter, lagen Steinbrocken auf dem Asphalt, ein paar lösten sich in diesem Moment. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte es böse geendet und ihr hättet keine Freude damit gehabt, wenn der Neuwagen beschädigt gewesen wäre.«

Ich schluckte. »Für das sind wir versichert. Wichtig ist, dass niemand zu Schaden gekommen ist.« Dir nichts passiert ist!

Leonard hielt den Blick zu mir aufrecht.

Frag nicht, wie ich davon wissen konnte! Ich fingerte an meinem Chakren-Armband.

»Sag, hast du …«

Da schwang die Bürotür des Chefs auf und Werner trat heraus. »Und? Zufrieden? Ein fantastischer Wagen, nicht wahr?«

Leo wandte sich ihm zu. »Top, die Kurvenlage und Bremsen sind einwandfrei.« Er schielte kurz in meine Richtung. »Dennoch möchte ich mich nicht gleich entscheiden, sondern noch Wagen anderer Hersteller anschauen und testen.«

»Das können Sie gerne tun. Aber glauben Sie mir, Sie werden kaum etwas Vergleichbares im selben Preis- und Leistungsniveau finden.«

»Ich melde mich, wenn es spruchreif sein sollte.«

»Gerne. Falls es kein Neuer sein muss, wir haben auch Vorführwagen. Oder können diesbezüglich etwas arrangieren.«

»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen, auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.« Werner wandte sich mir zu. »Stellst du den Wagen an seinem zugedachten Parkplatz ab?«

»Sicher.« Ich stapfte nach draußen, ließ mich am Fahrersitz nieder und schnupperte. Zwischen dem Geruch des Neuwagens hing Leonards herbes Parfum, das mir gefiel. Der Blick in den Innenspiegel bewies mir, dass sich meine Energiefunken nicht zeigten. Ob sie ein Vorbote für die Vision gewesen waren und gar nicht in Verbindung mit dem Vollmond und meinem Geburtstag standen?

Ich startete den Motor und parkte den Wagen an seinen angestammten Platz. Kurz überprüfte ich, ob sich die Papiere im vorderen Ablagefach befanden. Da bemerkte ich im Fußraum des Beifahrersitzes eine schwarze Geldbörse. Sogleich nahm ich sie hoch. Der sich darin befindende Führerschein war auf Leonard Haingartner ausgestellt. Ich mutmaßte, dass bei seiner Vollbremsung die Geldtasche dorthin gerutscht war.

Gut, dass wir seine Nummer hatten! Schnurstracks marschierte ich zum Schreibtisch, suchte die Notiz mit seinem Namen und der hinterlegten Telefonnummer hervor. Aus einem Impuls heraus wählte ich nicht mit dem Firmentelefon, sondern tippte seine Nummer in mein Privathandy. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf die hölzerne Platte, während das Wartesignal ertönte.