Chaosbringer - Luisa Ruthe - E-Book

Chaosbringer E-Book

Luisa Ruthe

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Beschreibung

Unstet flackern Bilder vor deinem inneren Auge auf: verbrannte Erde, der Boden schwarz von Blut. Einige Krähen, die kreischend aufsteigen. Tote, überall, pflastern deinen Weg, während du voranschreitest. Den Klang von Wehklagen und Triumph gleichsam in den Ohren. Du warst deinem HERRN immer treu ergeben. Der Loyalste von euch. Du hast all den Schmerz klaglos ertragen. Akzeptiert, dass ER dich verbannt, dich ausschließt. Doch als ER dich vor die Wahl stellt, musst du dich entscheiden. Dienst du dem, der dich unterdrückt oder denen, die deine Hilfe brauchen? Und wirst du die Konsequenzen dieser Entscheidung auch tragen können?

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Seitenzahl: 194

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Chaosbringer

TriggerwarnungBarmherzigkeitDer Ruf des VatersDie dunkle JahreszeitDas verlorene SchäfchenDie Treue in seinen AugenKonsequenzenGefallenScherbenhaufenBegegnungenPfannkuchenUnvorhersehbarKlare WorteGotteshausKonfrontationChaosbringerDer missratene SohnAus AscheEpilogDanksagungImpressum

Triggerwarnung

Dieses Werk ist aus keinerlei religiösen oder anti-religiösen Motivationen heraus entstanden, sondern dient als Fantasy-Roman lediglich der Unterhaltung.

Barmherzigkeit

Entnervt richtest du dich wieder auf. Die Lehne deines Stuhls könnte noch so bequem sein und trotzdem wäre es dir nicht möglich, richtig zu schlafen. Dein Rücken pocht dumpf, deine Wirbelsäule fühlt sich steif an. Du versuchst, deine verkrampften Muskeln zu lockern, indem du dich ein wenig streckst.

Das ersehnte Knacken der Wirbel, die wieder in ihre ursprüngliche Position springen, lässt einen Felsbrocken von deinem Herzen rollen. Du fühlst dich wieder wohl und eine angenehme Wärme steigt in deinem Inneren auf. Langsam öffnest du deine Augen und siehst dich um – alles ist noch genau so wie vor wenigen Minuten. Du hast nichts verpasst. Erleichtert lässt du dich zurück in den gepolsterten Stuhl sinken und dein Blick schweift auf den riesigen Bildschirm vor dir. Dieser nimmt die gesamte Wand ein und es gibt nichts, worauf du mehr stolz sein könntest. Momentan ist auf dem Panorama jedoch nichts als Schwärze zu sehen. Du verziehst unwillig das Gesicht und deine Augen bleiben an etwas Anderem hängen. Deine Ohren haben sich also nicht verhört, denn das taten sie nie.

Etwas hat dich aus deinem unruhigen Halbschlaf gerissen. Rechts neben deinem Stuhl steht ein kleiner, schwarzer Tisch. Dieser wirkt recht schlicht, wenn man nicht weiß, was er beherbergt. Nichts in diesem Raum wirkt auf irgendeine Art und Weise besonders, abgesehen von der Glühlampe, welche von der Decke baumelt. Das kleine Licht flackert leicht, als du zu ihm hinaufschaust. Die kleinen Birnen waren schon längst aus der Mode, aber das ist dir relativ egal.

Du interessierst dich nicht für das, was gerade ''in'' oder es eben nicht ist. Ehrlich gesagt: Nichts und niemand interessiert dich wirklich. Zwar bist du oft unterwegs und siehst dabei viele Menschen, aber immer, wenn du jemanden getroffen hast, fiel dieses Treffen recht kurz aus. So war es dir nie möglich gewesen, so etwas wie richtige Freundschaften aufzubauen. Doch irgendwie fehlt dir das auch überhaupt nicht. Du bist zufrieden mit dem, was du hast. Einerseits, weil du dich genau dafür bestimmt fühlst, andererseits, weil du nie eine andere Wahl hattest.

Die Sanduhr auf dem Tisch neben dir zieht deine Aufmerksamkeit erneut auf sich. Etwas stimmt nicht mit ihr. Dann bewegst du kurz und ruckartig deinen Kopf, schüttelst den Schleier der Müdigkeit ab und lässt deine Gedanken wieder klar werden. Die feinen Körnchen waren durch das Loch in der Mitte des geschwungenen Glases gerieselt und hatten sich auf der Bodenplatte zu einem Hügel aufgetürmt. Mit einer einfachen Handbewegung drehst du die Uhr wieder um, betrachtest einen Moment lang die kleinen Körner, welche sich ihren Weg nach unten bahnen, dann stehst du auf. In diesem Moment leuchtet der Bildschirm vor dir in einem grellen Licht und du kneifst verbissen die Augen zu.

Diesen Teil deiner Arbeit magst du am wenigsten. Du spürst, wie sich alles um dich herum dreht und bist froh, noch nichts gegessen zu haben. Trotzdem scheint dein Magen im Dreieck zu springen und du schluckst, doch deine Kehle bleibt weiter trocken. Zum Glück dauert es nicht lange, bis du den festen Boden unter den Sohlen deiner Stiefel spürst und deine Augen wieder öffnen kannst. Sorgsam siehst du dich um. Du stehst in einer schmalen Straße. An beiden Seiten parken Autos der verschiedensten Preis- und Größenklassen ordentlich hintereinander. Die vier- oder fünfstöckigen Häuser türmen sich zu beiden deiner Seiten auf. So kann nur wenig Sonnenlicht den geflickten Asphalt berühren.

Die gepflasterten Gehwege sind durchzogen von Unkraut. Einige Bäume unterbrechen in bestimmten Abständen die gerade Linie der Wege. Die Hinterlassenschaften gefühlter dreihundert Hunde haben sich um die braun-grauen Stämme angesammelt. Du drehst dich zur Seite und blickst in ein leeres Schaufenster. Das WortHundesaloonprangt dort in großen, gelben Schriftzeichen, aber hinter der verstaubten Scheibe ist es seltsam leer. Ein kleiner, vergilbter Zettel an der Eingangstür fällt dir ins Auge.Wegen Krankheit geschlossenkannst du die ausgeblichenen Lettern entziffern.

Die Gegend wirkt trostlos, unschön. Es kommt jedoch nicht selten vor, dass du in solche Straßen gerufen wirst. Obwohl, du kannst dich unmöglich an alle Orte erinnern, an denen du je gewesen bist. Gut möglich also, dass du diese Straße schon einmal betreten hast. Allerdings spürst du, dass dies nicht der Ort ist, den du suchst. Diese Stimme jedoch, welche dich aus deinem Halbschlaf geholt hat, kam nicht von hier. Dein Blick schweift einen Moment lang anklagend nach oben. So etwas erleichtert dir die Arbeit nicht sonderlich. Also gehst du die Straße weiter hinunter, bis sich eine Kreuzung vor dir öffnet. Auf der gegenüberliegenden Seite leuchtet dir ein Supermarkt in seinen grellen Farben entgegen. Der Parkplatz davor ist jedoch leer, die Lichter im Inneren sind ausgeschaltet. Ein älterer Mann geht an dir vorbei und biegt nach rechts in die Hauptstraße ein.

Du folgst ihm unauffällig. Er geht an einem kleinen Park vorbei. Auf Bänken dort siehst du Betrunkene sitzen und lautstark miteinander streiten. Leere Bierflaschen liegen im mattgrünen Gras. Du hast nicht sonderlich viel für solche Menschen übrig und doch spürst du, dass sie dich auf unangenehme Art und Weise geradezu anziehen. Murrend reißt du dich von ihnen los und setzt deinen Weg fort. Ein Schmetterling lässt sich auf einer Blume unweit von dir nieder und schlägt versonnen mit den zitronengelben Flügeln. Diese Tiere waren nur noch sehr selten anzutreffen, vor allem in den großen Städten. Du hast sie immer bewundert: ihre Schönheit, ihre Zerbrechlichkeit und die damit verbundene Vergänglichkeit.

Der Blick des Mannes vor dir hebt sich zu einer Anzeige: In einer Minute kommt die nächste Straßenbahn. Dann dreht er sich in deine Richtung um und du kannst das erste Mal sein Gesicht erkennen. Er ist um die sechzig Jahre alt, trägt die ergrauten Haare kurz, wodurch du seine hellen Augen sehen kannst. Trauer liegt in ihnen.

Du hast diesen Ausdruck schon so oft gesehen und doch bringt er dich jedes Mal zum Nachdenken. Deine Berufung hat zwar mit meist negativen Gefühlen zu tun, doch du hast dir das schließlich nicht ausgesucht. Wenn du eine Wahl gehabt hättest, wärst du mit Sicherheit nicht hier. Die tiefen Augenringe und das unrasierte Kinn lassen vermuten, dass der Mann vor dir in letzter Zeit wenig geschlafen hat. Das ungebügelte, faltige Hemd ist nachlässig in die schwarze Hose gestopft worden. Die Schuhe sehen bereits abgetragen aus und die schwarzen Socken sind mit verschiedenfarbigen karierten Mustern versehen.

Der Mann tritt einen Schritt nach vorne und du siehst, wie zwei gelbe Wagons mit lautem Quietschen und Knarren neben dir zum Stehen kommen. Ohne zu zögern folgst du dem Grauhaarigen in die Straßenbahn hinein. Die blauen Sitze wirken abgenutzt und schmutzig, wie auch der Rest des Inneren. Der Mann beachtet dich nicht, als du dich auf den freien Platz neben ihn setzt, sondern starrt auf seine Handflächen. Du meinst, Tränen in den Winkeln der blassen Augen erkennen zu können. Irgendwie tut er dir leid. Und irgendwie bist du diesen Anblick in einem solchen Maß gewohnt, dass er beinahe an dir abprallt. Die Fahrt dauert nur wenige Minuten, die du damit verbringst, die Menschen um dich herum zu beobachten. Frauen und Männer reden in verschiedensten Sprachen mit- und übereinander. Mehrere Kinder rufen sich über mehrere Plätze hinweg unverständliche Worte zu. Hinter dir rülpst ein Betrunkener laut. Vielleicht hättest du doch nicht hierherkommen sollen. Obwohl – ER hätte dir gar keine Wahl gelassen. Du hast nie eine Wahl. So freust du dich schon jetzt darauf, diese Bahn wieder verlassen zu können.

Die Fahrt führt dich ins Innere der Stadt, wo es wesentlich belebter und bunter zugeht. Etliche Kaufhäuser erheben sich aus ihrer gepflasterten Umgebung. Ein großes Banner lädt zum verkaufsoffenen Sonntag ein und du siehst viele Menschen mit prall gefüllten Einkaufstüten über die Straße laufen. Die große Uhr an einem kirchenähnlichen Gebäude zeigt, dass es bereits 11:45 Uhr ist. Zeit hat für dich keine besondere Bedeutung. Es hinterlässt stets ein fragendes Gefühl in deinem Inneren, diese hin und her hetzenden Menschen zu beobachten. Für dich völlig unverständlich.

Vor der nächsten Haltestelle steht dein Sitznachbar auf. Höflich tust du das Gleiche, trittst auf den Gang hinaus und lässt ihn vor. Er beachtet dich jedoch nicht einmal und geht zur nächsten Tür. Du folgst ihm wieder hinaus, als er einen leuchtenden Knopf betätigt und aussteigt. Hier befinden sich noch weitaus mehr Menschen, eng aneinandergedrängt, sodass du dich beeilen musst, um den Mann vor dir nicht zu verlieren. Einige der Leute rempeln dich an, entschuldigen sich jedoch nicht einmal dafür, sondern gehen einfach weiter. Dich stört das nicht. Einige Minuten lang steht der Grauhaarige nur herum, starrt ab und zu auf die Anzeige der noch verbleibenden Zeit, bis die nächsten Straßenbahnen einfahren.

Du stehst direkt neben ihm, genauso unbeweglich wie er selbst, bis er Anstalten macht, in eine der gelben Maschinen zu steigen. Die Bahn ist voller als die Vorige. Du hast das Gefühl, die Wärme der Körper um dich herum würde dir nach und nach das Atmen erschweren. Die Luft ist stickig, quillt über vor kaltem Zigarettenrauch und dem schalen Beigeschmack von kürzlich verschüttetem Bier. Irgendwo weiter hinten streiten sich zwei Menschen lautstark miteinander. Ein Mann schreit in sein Smartphone, als wäre sein Gesprächspartner taub.

Die derben Worte prasseln in hektischem Stakkato auf das viereckige Gerät ein. Die Türen öffnen sich, nur für einen Augenblick. Frische Luft und neue Fahrgäste strömen hinein, einige der Mitfahrer hinaus. Plötzlich taucht im Wirrwarr der ein- und aussteigenden Leute ein kleines Mädchen auf. Sein Körper ist beinahe zur Hälfte durchscheinend. Die großen, blauen Augen sehen dich an: halb entsetzt, halb fasziniert. Du blickst nach rechts aus dem Fenster und siehst dort einen Rettungswagen. Neben dem weiß-roten Auto steht ein dunkelblauer Geländewagen und direkt davor liegt ein rosafarbenes, kleines Fahrrad. Ein paar Blutspuren sind auf dem hellen Pflasterstein zu sehen. Es braucht nicht mehr, um dir deiner Aufgabe bewusst zu werden.

Du schließt die Augen und konzentrierst dich. Das Innere des Rettungswagens taucht vor dir auf: eine Liege, daneben zwei in orange-blaue Uniformen gekleidete Männer, die sich über ein Mädchen beugen. Die hellen, blonden Haare des Kleinen sind verschmiert vom Blut, welches noch immer unaufhaltsam aus einer Platzwunde an der blassen Stirn sickert. Du trittst einen Schritt näher heran, ohne die beiden Männer in ihrem Tun zu behindern. Sie beachten dich auch gar nicht.

„Jetzt!'' ruft einer der Sanitäter und der zierliche Körper hebt sich, presst sich an die Elektroden des Defibrillators. Dann sinkt er wieder zurück auf die Liege. Nichts geschieht. Verzweifelt hörst du die Stimme des anderen Mannes: „Nochmal, gib ihr noch eine Chance!'' Der andere schüttelt betrübt den Kopf, legt die Elektroden aber trotzdem erneut auf. In diesem Moment erscheint diese geisterhafte Gestalt des Mädchens erneut, dieses Mal direkt neben dir und sieht dich fragend an. Du lächelst leicht und schüttelst den Kopf. Daraufhin löst sich die Erscheinung auf und du hörst einen der Sanitäter erleichtert ausatmen, als er die Finger vom Hals des kleinen Kindes nimmt.

„Sie hat es geschafft'', bringt der andere Mann heraus und sieht seinen Kollegen dankbar an. Du jedoch neigst leicht den Kopf und schließt deine Augen wieder. Als du sie öffnest, stehst du erneut neben dem alten Mann. Die Straßenbahn hat angehalten und du folgst dem Dreitagebartträger nach draußen. Euer Weg führt eine breite Straße entlang und dann nach rechts. Ein Park erstreckt sich links von dir, vor dir siehst du ein modern scheinendes Gebäude über vier Stockwerke in den strahlend blauen Himmel ragen. Die Wände sind mit Spiegeln bedeckt und nur die eingelassenen Fenster bieten deinen Augen einen ruhigen Punkt. Durch die Reflexionen wirkt die Hauswand beinahe bunt. Vor dem Gebäude erstreckt sich ein riesiger, überfüllter Parkplatz. Rechts von dir, in einer Nebenstraße, reihen sich mehrere kleine Einfamilienhäuser aneinander. Die vielen bunten Blumen in den Vorgärten verbreiten einen angenehmen, süßen Duft.

Von Nahem sieht der Betonblock weit weniger beeindruckend aus. Die Farben des gebrochenen Sonnenlichts verlieren ihre Kraft, als sich eine Wolke vor den Himmel schiebt. Du unterdrückst ein leises Seufzen und folgst dem Grauhaarigen über einige Treppenstufen. Dann durch die sich von selbst öffnende Glastür in einen großen Eingangsbereich. Hinter einem breiten Tisch links von dir sitzen drei Frauen in weißer Kleidung und telefonieren. Das Geräusch der drei klingelnden Telefone mischt sich unter das gedämpfte Murmeln der Menschen an den aufgestellten Tischen und Bänken rechts von dir.

Dort sitzen Patienten mit Verbänden, Krücken oder in Rollstühlen und unterhalten sich mit wahrscheinlich gesunden Familienmitgliedern. Etwas abseits steht ein älterer Mann hinter einem Würstchenstand und tippt unruhig auf seinem Smartphone umher. Eine der Frauen an der Rezeption nickt leicht in deine Richtung, aber du weißt, dass nicht du gemeint bist. Der Mann, dem du folgst, setzt sich daraufhin in Bewegung und biegt hinter dem Tresen in einen langen Gang ein.

Du hast keine Mühe, mit seinen zögernden Schritten mitzuhalten und siehst dich deshalb im Gehen etwas um. Die kalkweißen Wände sind absolut nichts, woran du dich je gewöhnen könntest und die Bilder, welche in einigem Abstand das Weiß unterbrechen, tragen auch nicht positiv zu deiner Meinung bei. Das helle, kalte Licht aus den Neonröhren an der Decke wirkt ungemütlich, beinahe abweisend. An zahlreichen Türen, die mit Nummern beschriftet sind, ist der Mann vor dir bereits vorbeigegangen.

Vor einer bleibt er dann jedoch plötzlich stehen. Du kannst sehen, wie seine Hand zittert, als sie die Klinke hinunterdrückt und die Tür ganz langsam nach innen öffnet. Da der Mann im dort angrenzenden Raum verschwindet, folgst du ihm ins Innere. Ein kleines, helles Zimmer erwartet dich. Die zwei bodentiefen Fenster lassen den Blick frei auf eine grüne Wiese, umringt von Bäumen. In der Mitte derer befindet sich ein großer Teich. Trotz der Entfernung kannst du die bunten Körper der Fische darin erkennen. Dann schweift dein Blick nach links. Dort steht ein Bett, genau so weiß wie der Großteil des Raumes. Der grauhaarige Mann hat sich auf einem Stuhl niedergelassen und starrt auf die Person, welche dort friedlich zu schlafen scheint. Die Frau müsste etwa im gleichen Alter sein. Du schließt deine Augen.

Verschwommen taucht eine recht gemütliche Küche vor dir auf. Dort sitzt sie an einem kleinen Tisch und trinkt Kaffee. Plötzlich fällt einer ihrer Arme mitsamt der Tasse hinunter und schlägt unter einem dumpfen Knall auf der Holzplatte auf. Dein Blick schweift zu ihrem Gesicht und deine vorherige Vermutung bestätigt sich: Einer der Mundwinkel hängt schlaff herab, ein Tropfen Speichel, vermischt mit dunkler, schwarz scheinender Flüssigkeit, läuft das Kinn hinunter.

Dann verschwimmt das Bild erneut und du stehst wieder am Bett der Frau. Mit einem leichten Kopfschütteln vertreibst du den Nebel in deinen Gedanken. Du musst weiter dich konzentrieren, schließlich bist du nicht ohne Grund hier. Sie tut dir wirklich leid, denn du spürst, dass sie dort nie wieder in ihrer Küche sitzen und Kaffee trinken wird. Ihr restliches Leben würde sie allein in diesem kleinen Raum verbringen. Gefesselt in ihrem eigenen, unbeweglichen Körper.

Selbst die ganzen Geräte, an die sie nun angeschlossen ist, würden sie nicht mehr dazu bringen können, ihre Augen noch einmal aufzuschlagen. Vermutlich liegt sie bereits lange hier. Ihre Zeit ist schlichtweg gekommen. Du siehst hinüber zu dem Mann, der noch immer auf dem Stuhl sitzt. Sein vom Alter gegerbtes Gesicht ist mit Tränenspuren überzogen, die Lippen verschmelzen zu einem schmalen Strich. Seine Hand hält die der Frau. Dein Blick schweift zu einem kleinen Tisch neben dem Bett und dort bleibt er an einem Bilderrahmen hängen: Ein Foto befindet sich darin. Es zeigt die Frau, als sie noch jünger war, in einem weißen Kleid, neben ihr ein etwa gleichalter Mann. Beide sehen so glücklich aus.

Der goldene Ring, den die Frau trägt, ist eindeutig von der gleichen Machart wie der, welcher sich an der Hand des Mannes befindet. Du fühlst, dass die beiden Menschen vor dir bereits lange und tief miteinander verbunden sind. Es ist die Stimme des Grauhaarigen gewesen, die dich aus deinem Schlaf geweckt hat. Er hat dich gebeten, seine Frau nicht länger leiden zu lassen und du bist bereit, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.

Langsam trittst du von der anderen Seite an das Bett heran, beugst dich dann nach vorne und legst deine Hand auf ihre Augen. Sie scheint noch immer zu schlafen – einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ein unangenehmes Kribbeln durchläuft deine Handfläche, doch du zwingst dich dazu, es auszuhalten. Nur noch einen Moment länger. Eine helle Gestalt taucht neben dem Mann auf: Es ist seine Frau. Ihre Augen blicken in deine, wandern dann zu ihrem Ehemann. Du siehst, wie sich ihre Hand sanft auf die Schulter des immer noch Weinenden legt und ein leichtes Lächeln erscheint auf den Lippen der Gestalt. Dann löst sie sich auf, wird zu einem Wirbel aus Licht: leuchtend wie Hunderte von Sternen und gleichzeitig schimmernd wie Millionen von Diamanten. Dieses Licht streift wie zum Abschied ein letztes Mal das Gesicht des trauernden Mannes, dann entschwindet es durch das gekippte Fenster nach draußen und strebt dem Himmel entgegen, bis du es nicht mehr zu sehen vermagst.

Dein Blick gleitet hinüber zu den Geräten. Eines davon zeigt nun mehr eine gerade Linie. Auf einmal nehmen zwei helle Augen deine gefangen: Der Mann schaut dich über das Bett hin an – einerseits erschrocken, andererseits fasziniert. Die meisten Menschen reagieren auf diese Weise, wenn sie dich bemerken. Du lächelst vorsichtig und kannst sehen, wie ein erleichterter Ausdruck im Gesicht deines Gegenübers auftaucht. Das wässrige Blau beginnt voller Dankbarkeit zu strahlen und er nickt dir zu. Du erwiderst diese Geste und nimmst deine Hand von der Stirn der endlich befreiten Frau. Dann trittst du vom Bett zurück und schließt deine Augen. Wieder bewegt sich alles um dich herum und es dauert einen Moment, bis du ein weiteres Mal festen Boden unter deinen Füßen spürst.

Der Ruf des Vaters

Mit einem leisen Seufzen lässt du dich nach hinten fallen und landest in deinem gepolsterten Stuhl. Als du die Augen wieder öffnest, fällt dein Blick auf die Sanduhr zu deiner Rechten. Ein Teil der Körnchen ist bereits durchgelaufen, doch es dauert noch, bis sie sich erneut sammeln würden. Ein anderes Maß von Zeit hast du hier nicht.

Deine Gedanken wandern wieder zurück zu diesem alten Mann. Vermutlich wird nicht viel Zeit bis zu eurer nächsten Begegnung verstreichen, aber darauf hast du keinen Einfluss. Du spürst, dass dein letzter Auftrag dich viel Kraft gekostet hat, deshalb lässt du dich an die Lehne deines Stuhls sinken und schließt noch etwas die Augen. Deine Aufgabe ist es, jederzeit überall sein zu können. Du musst immer bereit sein, schwierige Entscheidungen zu treffen, denn mit ihnen beeinflusst du das Leben der Menschen dort draußen. Viele von ihnen werden dir einmal begegnen, meistens überleben sie dieses Treffen nicht. Einerseits haben die Leute Angst vor dir. Viele begrüßen dich auch, wann immer du sie auch aufsuchen magst. Du wirst nie zur Ruhe kommen und auf ewig dazu verdammt sein, über das Ende eines Lebens zu entscheiden. Es ist nicht einfach, deine Berufung auszuüben, aber es ist absolut notwendig, dessen bist du dir bewusst.

Während du deinen eigenen Gedanken nachhängst, hörst du zu, wie der Sand durch das kleine Loch im Glas rinnt wie die Zeit durch die Finger der Menschen. Das Leben ist etwas Wertvolles, solange es sich noch zu leben lohnt. Es tut dir oft weh, zu sehen, wie vor allem junge Leute ihres achtlos wegwerfen, aber auch, wie jemand sinnlos leidet. Die Zeit vergeht schnell genug, sie flieht geradezu. Es zählt nur, was man mit ihr anfängt, deshalb sollte man sie so gut wie möglich nutzen. Egal, wer nach dir ruft, du versuchst, allen zu helfen, so gut es geht. Egal ob arm oder reich, egal von welcher Hautfarbe und egal aus welchem Land: Du bist der Einzige, der für jeden da ist.

Gerade, als du allmählich in das Reich deiner Träume abdriftest, erreicht dich erneut eine Stimme. Erschrocken schlägst du die Augen auf. Etwas irritiert musst du zunächst blinzeln, denn dieses absurd helle Licht vor dir blendet dich. Nur langsam klaren sich die Konturen auf. Ein Mann steht vor dir – in voller, glänzender Rüstung. Selbst die hellen Metallschienen sind so aufwändig poliert, dass sich dein Gesicht darin spiegelt. Die schlichte, schwarze Schwertscheide an der Hüfte beherbergt eine Waffe mit goldenem Griff und ausladender Parierstange. Du hast dich schon immer gefragt, wie man solch ein unhandliches Schwert überhaupt führen konnte. Glücklicherweise hast du es bisher noch nie außerhalb der Scheide erleben müssen. Die kursierenden Gerüchte um diese flammende Klinge reichen dir bei Weitem, um Respekt vor ihr zu verspüren.

„Michael, was tust du hier? Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, wenn du mich hier in meinem bescheidenen Heim besuchen kommst, aber…“, sprichst du ihn an und beobachtest, wie dessen Hand durch das schwarze, lockige Haar fährt. Die hellen, blauen Augen blitzen ein wenig auf, als er sich dir zuwendet.

„Vater möchte dich sprechen. Und er klang nicht gerade erfreut.“ Diese beinahe schon melodische Stimme hat dich immer verwundert. Du warst stets der Meinung, sie würde nicht zu diesem Mann passen. Das raue Brummen einer motorisierten Säge würde die Charakterzüge deines Bruders eher unterstreichen. Obwohl – eine Säge mochte nicht arrogant genug erscheinen. Diese elegante Überheblichkeit gleicht keiner dir bekannten Waffe. Vielleicht würden die Menschen eines Tages so etwas erfinden? Du freust dich zumindest schon darauf.

„Warum kommt ER dann nicht selbst her? Du siehst doch: Ich muss arbeiten. Außerdem bin ich wirklich sehr müde“, antwortest du gespielt unschuldig. Die Reaktion erfolgt auf dem Fuße. Die Hand deines Gegenübers legt sich bedrohlich um den goldenen Griff des Schwertes, während seine Lippen sich zu einem schmalen Strich pressen. Du weißt, was es bedeuten kann, ihn wütend werden zu lassen und dennoch findest du es immer wieder amüsant, wie leicht er aus seiner Haut fährt.

„Dir ist doch bewusst, dass ER“, dabei betonte er dieses Pronomen besonders, „sich niemals auf diese Ebene hinabbegeben würde. Und ich sehe, wie du arbeitest. Hängst den ganzen Tag lang hier auf deinem Sessel herum und schläfst.“ Sein etwas spöttischer Unterton geht jedoch gänzlich an dir vorbei. Du lächelst entschuldigend und stehst auf. Dabei streckst du dich erst einmal genüsslich. Dann siehst du ihn an. „Ich wäre dann soweit.“ Ein missmutiges Stirnrunzeln, ein kurzes „Folge mir“, dann breiten sich die hellen Konturen seiner Flügel aus. Du meinst, ein leises Rascheln zu vernehmen, als die feinen Federn sich zu voller Größe erheben. Einen Moment später strebt er durch einen breiten Schacht in der Decke des Raumes davon. Du seufzt tief, schüttelst deine schwarzen Schwingen ein wenig aus, bevor du ihm mit einem Satz folgst.

Was wohl dieses Mal der Grund ist? Bisher wurdest du nur gerufen, wenn es Probleme gab. Und Probleme werfen dich in deiner Arbeit zurück. Unwillig verziehst du das Gesicht, als die Dunkelheit des Schachtes dich einhüllt. Das leise Zischen der vorbeiströmenden Luft begleitet dich. Michael ist der Einzige der Erzengel, welcher dich ab und zu besuchen kommt – meist, um sich über deine Arbeitsweise zu beschweren. Die anderen ziehen es vor, auf ihrer Ebene zu verweilen. Du erinnerst dich kaum noch an ihre Gesichter.

Es ist lange her, seit du auserwählt wurdest, dein Dasein dort unten zu fristen. Es dauert nicht wirklich lange, bis die stickige Luft um dich herum sich auflöst. Du atmest tief ein, während deine Flügel leicht rotieren, um dich im Flug innehalten zu lassen. Es ist noch immer beinahe dunkel um dich herum, doch den Schacht hast du mittlerweile verlassen. Unter dir breitet sich der Boden einer großen Halle aus. Einziges Licht ist jedoch der Erzengel, welcher abwartend an deren anderem Ende schwebt. Die Arme vor der breiten Brust verschränkt, wirft er dir einen Blick zu, der einen Außenstehenden wohl auf der Stelle getötet hätte. Du setzt erneut dein entschuldigendes Lächeln auf und verringerst eure Entfernung eilig, um ihn nicht noch länger warten zu lassen.

„Dass ER gerade einem Trottel wie dir diese wichtige Aufgabe übertragen musste“, hörst du ihn unwirsch murmeln, als du mit ihm gleichziehst und ihr Seite an Seite dem Ende der Halle entgegenfliegt. Solche einfachen Beleidigungen überhörst du absichtlich. Er meint es ja nicht so.

„Höre ich da etwa Eifersucht?“, stichelst du ein wenig und erntest lediglich einen weiteren dieser bösen Blicke. Ein ungutes Gefühl überkommt dich, als der helle Schein des Erzengels auch deinen Körper einhüllt. Dieses Licht juckt unangenehm auf deiner Haut und doch lässt du es geschehen. Denn ohne es bist du nicht in der Lage, das Portal zur obersten Ebene zu durchqueren – eine reine Vorsichtsmaßnahme, hatte es damals geheißen. Wieder dieses Gefühl, als würde sich alles um dich herum drehen. Du hasst Portale, obwohl sie fester Bestandteil deiner Arbeit sind. Dir wird in ihnen immer schwindelig, außerdem drehen sie dir fast den Magen um. Als würden sie dich einsaugen und dann angewidert wieder ausspucken. Dein Blick gleitet zu deinem Begleiter hinüber. Er starrt stur geradeaus, obwohl er spüren müsste, dass du ihn beobachtest. Nun – dein Ansehen unter den Engeln ist wohl kaum als hoch anzusehen. Du bist eher eine nötige, unliebsame Fußnote. Doch damit hast du dich bereits vor langer Zeit abgefunden.