Phantomreiter - Luisa Ruthe - E-Book

Phantomreiter E-Book

Luisa Ruthe

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Beschreibung

Veronas Eltern haben viel mit ihr vor: Sie soll einmal das Kaufmannsgeschäft übernehmen und benötigt dafür dringend einen Ehemann. Sie selbst interessiert sich jedoch nicht für die Söhne befreundeter Familien, sondern für alte Legenden - Geschichten über phantomhafte Krieger auf Pferden, in deren Augen Flammen lodern. Eigentlich hatte sie sich fast schon mit ihrer Situation abgefunden, doch plötzlich taucht dieser Unbekannte auf: bewusstlos, halb erfroren und augenscheinlich verletzt. Es zeigt sich schnell, dass der Fremde mehr als nur ein Geheimnis verbirgt. Ein Krieg bricht aus und Albträume werden Realität.

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Seitenzahl: 319

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Phantomreiter

PrologLandkarteTeil 1: Das Reich der MitteDer Mann im SchneeDer Fremde aus dem NordenTrübe BlickeErste GesprächeEin fremdes Pferd im StallVorbereitungenDonner am HorizontUngewisse ZukunftZweifelUnvorhergesehenEntscheidungWeder Mensch, noch MonsterDer Schatten eines ReitersZur SchenkeAufbruchAus den AugenKurze RastTeil 2: Das OstreichDas Reich der Schwarzen SonneNächtlicher AusflugTausend ScherbenSchattensprungVerwundetAlbträumeKräuterladenOffenbarungSchriften, Schläger und ein FestFreund oder Feind?Nebel auf den FeldernKopfgeldjägerSpuren von TränenKleine Bitte der AutorinDanksagungImpressum

Prolog

Es waren einige Jahrhunderte vergangen, dass man die letzten magischen Relikte in die tiefsten Meere sinken ließ oder weit unter der Erde begrub. Die Völker der drei großen Reiche lebten seit jeher in Frieden miteinander. Zwischen dem kriegerischen Reich des Nordens und dem Reich der Mitte existierte ein heiliger Pakt, welcher das Übertreten der jeweiligen Grenze unter Todesstrafe untersagte. Magie war es gewesen, welche sie einst entzweite – zerstörerische, schwarze Magie, deren Nutzer sich stets nach Tod und Blutvergießen verzehrten.

Mit der Zeit und dem Wechsel der Generationen geriet diese finstere Kraft mehr und mehr in Vergessenheit. Dennoch existierte ein Orden in den Tiefen des nördlichen Reiches, welchem nachgesagt wurde, ebendiese Magie noch immer zu praktizieren. In den Ruinen der einstigen Hauptstadt befehligte ein Mann seine eigene Armee. Keine der vier Königsfamilien und somit auch nicht der jeweilige König hatte jemals Macht über sie. In den großen, längst zu dunklen Lagerfeuergeschichten gewordenen Kriegen hatten diese Krieger das Herzstück der nördlichen Armee gebildet. Sie folgten nur ihrem Anführer und dieser hatte sich dem Schutz ihrer Heimat verschworen. In den folgenden Friedenszeiten kamen immer wieder Gerüchte auf, dass der Orden noch immer existierte, irgendwo im Untergrund.

Dörfer an den Grenzen sandten verstreut Berichte über plündernde Reiter auf pechschwarzen Pferden. Diejenigen, welche ihrem Blutdurst entkommen waren, erzählten von schattenhaften Gestalten, die bleiche Haut von dunklen Adern durchzogen, in ihren Blicken nichts als bodenlose Leere. Die Tiere, auf denen sie ritten, berührten kaum den Boden und in ihren Augen sollten hungrige Flammen lodern. Sie tauchten lautlos auf, aus dem Nichts und verschwanden wieder. Zurück blieben nur zerstörte, geisterhaft leblose Ansammlungen von Hütten, die selbst beinahe bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren. Kein Herrscher hatte sich jemals getraut, sie in ihre Grenzen zu weisen, sich ihnen entgegenzustellen. Magie verströmte Angst und den Geruch des baldigen Todes. Sie wurden zu mehr als einer Schreckgeschichte, zu mehr als bloßen Albträumen – sie wurden zu düsteren Legenden.

Der Norden war von den anderen Reichen weitgehend isoliert. Trotzdem verbreitete sich diese eine Nachricht wie ein Lauffeuer, selbst über die Grenzen hinaus: Verrat. Der als pazifistisch geltende König war ermordet worden. Das Reich stand vor einem Bürgerkrieg und tausende Menschen flohen vor der Sense des Todes. Dämonische Kreaturen auf schwarzen Ungeheuern verbreiteten Angst und Schrecken. Die Phantomreiter erhoben sich aus der Dunkelheit. Sie traten erstmals seit Jahrhunderten wieder aus dem Schatten. Ein neuer Krieg lag in der Luft – Krieg, Leid und Tod.

Während das Ostreich seine Grenzen für Flüchtige öffnete, hielt das Reich der Mitte die Isolation des Nordens eisern aufrecht. So war es nicht verwunderlich, dass die Menschen dort sich nicht im Mindesten bewusst waren, was auf sie zukam.

Landkarte

Das Grenzgebiet der Drei Reiche

Teil 1: Das Reich der Mitte

Der Mann im Schnee

Leise summte Verona vor sich hin, als sie den Hof verließ, winkte dem Stallburschen Jerry fröhlich zu und bemerkte dabei nicht einmal die Röte auf seinen Wangen. Sie war eine junge Frau aus gutem Hause. Ihre Eltern arbeiteten als Händler und waren aufgrund dessen oft unterwegs, doch das machte ihr nicht viel aus. Sie war eigentlich bei allen Leuten der kleinen Stadt beliebt. Obwohl ihre Eltern gut verdienten und sie deshalb sogar drei eigene Pferde und Personal besaßen, half sie gerne, wo sie konnte. Heute war Montag und sie befand sich auf dem Weg zu Garda, ihrer Tante, welche auf sie achtete, wenn sie allein zuhause war. Die ältere, auf die meisten Menschen eher seltsam wirkende Kräuterfrau führte ein eher einsames Leben außerhalb des Netzes befestigter Straßen, welches sich durch die kleine Stadt zog.

Verona beeilte sich, denn sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Es begann bereits zu dämmern und eigentlich hatte sie bei Sonnenuntergang dort sein wollen. Heute stand wieder die Geschichte des Reiches auf ihrem Lehrplan und diese faszinierte sie immer wieder – natürlich hauptsächlich die alten Mythen und Legenden, welche sich um die Nachbarländer und die großen Kriege der vergangenen Jahrhunderte rankten. Allgemein sog sie alle Informationen in sich auf, die sie in der Stadtbibliothek und den alten Archiven finden konnte. Sie liebte es, von legendären Kriegern zu lesen, die gegen nordische Reiter kämpften, welche auf ihren von Dämonen besessenen Pferden ritten. Manchmal stellte sie sich vor, wie die Schwerter aneinander krachten, Feuerpfeile durch die Luft flogen und den Nachthimmel erhellten, während unter ihnen eine Schlacht ausbrach.

Garda betonte immer wieder, dass sie sich nicht solchen Märchen widmen sollte. Der Norden hatte längst Frieden mit ihrem Reich geschlossen, nachdem dieser durch die Allianz der umliegenden Länder in die Knie gezwungen worden war. Und natürlich waren die Reittiere der Nordlinge nicht von Dämonen besessen, sondern lediglich eine wilde, beinahe unzähmbare Rasse, die keine Furcht kannte.

Leise seufzte sie. Wie sehr sie sich wünschte, sie würde nicht so weit ab von großen Städten leben, in denen Turniere in Schwertkampf oder Bogenschießen ausgetragen wurden. Doch der Osten des Reiches war nicht sonderlich beliebt. Die Landschaft war sumpfig, es konnte tückisch sein, von Wegen abzukommen und die Wölfe, welche sich ab und zu nach Einbruch der Dunkelheit zeigten, taten ihr Übriges. Deshalb waren ihre Eltern so oft und lange unterwegs.

Sie wäre gerne einmal mit auf eine ihrer Reisen gegangen, doch bisher hieß es immer, sie sei zu jung und es sei zu gefährlich. Vor ihrem letzten Aufbruch hatte sie die beiden über das Heiraten reden hören. Sie müsse endlich unter die Haube, hatte es geheißen. Als mögliche Kandidaten kam der Sohn des Schmieds – Reimar – in Frage, ebenso wie Ronald: Dessen Eltern waren wohlhabende Weber, jedoch weniger bodenständig und dies traf genauso auf deren Sohn zu. Verona mochte beide nicht sonderlich. Aber es würde ihr wohl nichts anderes übrigbleiben. Sie würde einmal das Geschäft ihrer Eltern übernehmen müssen und ohne Ehemann war ihr das nicht möglich.

So langsam dachte sie sich, sie hätte doch ein Pferd nehmen sollen. Vor wenigen Tagen war es immer früher dunkel geworden und nun, da der Winter bereits eingebrochen war, legte sich der Schleier der Nacht schneller über die Straßen und Wege, welche aus der Stadt hinausführten. Zudem musste sie einen Teil des angrenzenden Waldes durchqueren. Wohl fühlte sie sich nicht, aber sie kannte diese Strecke bereits seit mehreren Jahren. Etwas Schlimmes war hier noch nie geschehen.

Als sie dem Trampelpfad folgte, bemerkte sie einen seltsamen Laubhaufen am Rande dessen, nicht weit von ihr entfernt. Im Näherkommen dachte sie, dort einen großen Wolf oder Ähnliches ausmachen zu können. Vorsichtig schlich sie näher an dieses dunkle Etwas heran, welches unbewegt auf dem Boden lag, halb bedeckt vom feinen Neuschnee, der vor wenigen Stunden vom Himmel gekommen war. Plötzlich stoppten ihre Beine abrupt, eine ihrer Hände wanderte vor ihren Mund und sie riss ungläubig die Augen auf. Dieser Haufen vor ihr war kein Tier, es schien ein Mensch zu sein. Eilig lief sie auf diesen zu, beugte sich dann vorsichtig hinunter.

Ein langer, an der Unterkante bereits zerschlissener, schwarzer Mantel bedeckte den Großteil der Gestalt, welche auf der Seite lag. Eine Kapuze verdeckte das Gesicht zur Hälfte und doch konnte sie dunkle Haare erkennen, ebenso die markanten, etwas scharfkantigen Gesichtszüge eines Mannes.

Erleichtert ließ sie ihre Hand sinken, mit der sie überprüft hatte, ob der augenscheinlich Verletzte noch am Leben war. Dann überlegte sie, was sie am besten tun konnte. Ihn einfach liegenzulassen und weiterzugehen kam für sie gar nicht in Frage, tragen konnte sie ihn allerdings natürlich auch nicht. Glücklicherweise war es nicht mehr weit. Bestimmt wusste Garda Rat.

Entschlossen richtete sie sich wieder auf, versprach dem Unbekannten stumm, sie würde sofort wiederkommen und folgte eilig weiter dem Pfad, welcher sich zwischen den Baumstämmen entlangschlängelte.

Bald kam die Hütte mit dem breit angelegten Kräutergarten in Sicht und sie beschleunigte ihre Schritte noch einmal, sodass sie kurz darauf schnaufend an der Tür stand.

„Kind, da bist du ja'', begrüßte sie die ältere Frau. Wahrscheinlich hatte diese bereits auf sie gewartet.

„Schnell... da ist ein Verletzter... nicht weit von hier'', japste Verona und deutete hinter sich in den Wald.

„Wie? Ein Verletzter? Es ist selten, dass sich ein Reisender hierher verirrt. Gut, holen wir ihn herein, sonst erfriert der arme Kerl noch.'' Erleichtert lächelte sie der Kräuterkundigen zu, welche bereits wie eine zweite Mutter für sie geworden war. Man konnte meinen, alles an dieser Frau war kerzengerade: ihr Rücken, der Zopf, zu denen sie ihre silbergrauen Haare stets band sowie ihr gesamtes Auftreten. Sie war meistens sehr streng, aber Verona wusste, die Einsiedlerin meinte es nur gut. Man konnte sich absolut und immer auf sie verlassen und sie konnte wunderbar Geschichten erzählen.

Während die Ältere ihren treuen Esel aus dem Unterstand hinter der Hütte holte, nutzte sie die Zeit, ihren Atem wieder in den Griff zu bekommen. Ihre Kondition ließ wirklich zu wünschen übrig. Vielleicht sollte sie etwas trainieren, wie die Soldaten aus den Büchern, die sie gelesen hatte. Kurz darauf verwarf sie diesen Gedanken wieder. So ein Leben würde sie sicher nicht erwarten. Erst recht nicht, sollte sie erst verheiratet sein.

„So, dann beeilen wir uns besser'', hörte sie die erhofften Worte ihrer Ersatzmutter und nickte eifrig. Dann machten sie sich auf den Weg.

Als sie beinahe an der Stelle angekommen waren, setzte erneuter Schneefall ein. Mittlerweile war es beinahe dunkel und in der Ferne hörte man die ersten Wölfe heulen. Der Mond am Himmel drang nur schwach durch die über ihnen ziehende Wolkendecke- Dadurch lag der gesamte Laubwald in geheimnisvollem Schimmer. Sie wusste nicht recht, ob sie es schön finden oder Angst haben sollte, doch am Ende siegte die Faszination.

Es dauerte nicht mehr lange, da hatten sie den Verletzten gefunden. Verona war froh, dass sie sich das alles nicht eingebildet hatte und dieser wirklich noch genau so dort lag wie vorher. Andererseits ohrfeigte sie sich in Gedanken: Wo sollte ein bewusstloser Mensch auch hingehen und wie? Er konnte sich ja nicht in Luft auflösen. Neugierig beobachtete sie, wie Garda sich neben ihn kniete und wie sie zuvor den Puls überprüfte.

„Er ist schwach und unterkühlt. Wir sollten uns beeilen, hilf mir bitte.'' Eifrig nickend folgte sie dieser Bitte und gemeinsam schafften sie den Mann auf den Esel, welcher unter der plötzlichen Belastung abfällig schnaubte.

„Nun reg dich nicht so auf, Emil. Wir wollen ihm doch nur helfen'', flüsterte sie dem Tier leise zu.

Währenddessen bemerkte sie, wie die Sorgenfalten auf der Stirn ihrer Ziehmutter sich vertieften.

„Ist etwas nicht in Ordnung?'', fragte sie leise nach. Die ältere Frau blickte sie kurz perplex an, wandte sich dann ab.

„Ich erkläre es dir, wenn wir in meiner Hütte sind. Aber der Kerl wird uns noch Ärger machen.'' Bevor Verona weitere Fragen stellen konnte, hatte sich die Kräuterkundlerin bereits wieder auf den Weg gemacht.

Aus dem Augenwinkel betrachtete sie den Körper, welchen sie quer über den Rücken des Esels gelegt hatten. Der Handschuh an dessen rechter Hand wies an einer Stelle einen Riss auf. Dieser verlief schnurgerade – etwa die Folge eines Schwerthiebes? Das leise Klicken, wann immer das tragende Tier einen Schritt tat, bestätigte ihre Ahnung: Der Mann trug unter dem wallenden Mantel eine Klinge bei sich. Ob er ein Ritter war? Oder ein Spion des Reiches?

Ihre Fantasie überschlug sich beinahe vor Neugier, aber sie versuchte, sich zurückzuhalten. Vielleicht war dies ihre Chance, jemand Berühmten kennenzulernen. Vermutlich hatte Garda deshalb so seltsam geschaut, als diese dessen Oberkörper noch einmal zurechtgerückt hatte. Allein die Vorstellung war einfach atemberaubend aufregend.

Der Fremde aus dem Norden

Das ständige Rausches des Blutes, welches durch seine Adern floss, das dumpfe Pumpen seines Herzens und diese dröhnenden Kopfschmerzen: Dies war das Erste, was ihn erwartete, als er allmählich wieder zu sich kam. Ab und zu war ihm, als würde in der Dunkelheit dort draußen eine Stimme erklingen – melodiehaft-hell einerseits und rau wie eine Säge andererseits. Vielleicht waren es auch zwei Stimmen, das würde diesen deutlichen Unterschied erklären. Aber weshalb machte er sich über so etwas überhaupt Gedanken? Er war nicht tot und das bedeutete, sein Leben, an dem er so sehr zu hängen schien, war in akuter Gefahr. Seit einer gefühlten Ewigkeit versuchte er nun schon, aufzuwachen, aber die Schlinge der Bewusstlosigkeit zog sich dadurch nur enger um seinen Geist.

War er über die Grenze gekommen? Wie ging es wohl Thonar, seinem Pferd? Er hoffte, es war nicht weit entfernt, denn sobald er sich aus diesem Gefängnis befreien konnte, würde er weiterreiten müssen. Oder hatten sie ihn bereits eingeholt? Hielten ihn irgendwo fest und warteten, dass er erwachte? Doch wieso? Sie konnten ihn nicht einmal foltern, um etwas aus ihm herauszubekommen, das würde ihnen nicht weiterhelfen und sie wussten das.

Vielleicht lag er auch irgendwo mitten in diesem verdammten Wald und vegetierte langsam vor sich hin, angefressen von irgendwelchen Viechern. Sofern er es in diesem Zustand konnte, schüttelte er diesen Gedanken angewidert ab.

Plötzlich berührte ihn etwas und nestelte auf Höhe seiner Schulter herum. Er konnte seine Schulter spüren! Hektisch befahl er seinem Körper, zu handeln und dieses Mal reagierten seine Muskeln endlich. Er spürte, dass sich eine Hand auf seine Haut gelegt hatte und wich zur Seite aus. Dumpf prallte seine andere Schulter an eine Holzwand. War er wirklich irgendwo gefangen? Auf jeden Fall lag er nicht auf dem Waldboden, das beruhigte ihn ein Stück weit. Doch wer hielt ihn hier fest und was wollte er von ihm?

Hastig öffnete er die Augen, um seinen Peiniger mit diesen zu fesseln. Das dunkle Blut in ihm wallte auf, machte sich bereit, jegliches Leben aus dieser Person vor ihm zu Asche zerfallen zu lassen. Er wusste im Nachhinein nicht genau, woran es lag, denn dies funktionierte nicht. Ob er dies der Tatsache zu verdanken hatte, dass er noch zu erschöpft und zudem nicht in seiner üblichen Gestalt war oder dem Umstand, dass er den – so viel musste er zugeben – wunderschönen Augen, welche ihn überrascht, aber keinesfalls feindselig anstarrten, sofort verfiel, konnte er nicht sagen.

Einen Moment benötigte er noch, um sich wieder zu fangen, dann murmelte er leise: „Verdammt nochmal, ich hätte dich fast getötet.'' Ein Leuchten hatte sich in die grünen Smaragde gelegt, welche sich wohl Augen schimpften. Die junge Frau hatte sich neben das Bett gekniet und stand auf, wandte sich dann ab, um nach jemandem zu rufen – diese helle, melodische Stimme, welche er in seiner Ohnmacht bereits vernommen hatte.

Als Schritte lauter wurden, spannte sein Körper sich eigenständig an. Er spürte, dass er schwach war, seine menschliche Form angenommen hatte. Dennoch würde er genügend Schaden anrichten, um fliehen zu können, sollte dies nötig sein. Er konnte auch ohne Waffen kämpfen.

Eine ältere Frau steckte ihren Kopf durch die geöffnete Tür links vom Bett in den Raum hinein. Wer waren die beiden überhaupt und weshalb war er hier?

………………………………………..

Verona sah gespannt zu, wie die Kräuterkundige mit dem Fremden sprach. Die Skepsis auf beiden Seiten schien deutlich. Auf sie wirkte der Mann ganz nett, auch wenn dieser noch nicht viel mit ihr geredet hatte. Dessen dunkle Stimme hatte einen seltsamen Beiklang, als wäre diese nicht von dieser Welt – hallend, tief und die Wände schienen zu pulsieren, wenn er sie auch nur leise erhob. Es war so unglaublich spannend: Er war am Leben und definitiv mehr als ein einfacher Wanderer.

„Wo bin ich hier und wer seid ihr?'', donnerte es ungeduldig.

„Pah, wie wäre es mit einem ‚Danke, dass ihr mich aus dem Schnee gezogen und zwei Wochen lang gepflegt habt‘?'', gab Garda zurück. Verona rutschte beinahe das Herz in die Hose. Zwar empfand sie diese Situation als höchst aufregend, aber trotzdem warnte sie ihr Instinkt davor, dass auch ein einfacher Krieger niemand war, den man reizen sollte.

Einen Moment lang meinte sie, so etwas wie Überraschung und einen Anflug von Panik auf dem Gesicht des Mannes erkennen zu können, dann legte sich jedoch dieses höfliche, gespielte Lächeln wieder auf dessen Züge.

„Danke, dass ihr mich nicht liegen gelassen habt. Und jetzt geht aus dem Weg, ich muss weiter.'' Mit diesen Worten stand er auf oder versuchte es zumindest. Denn bereits bevor er sich ganz aufgerichtet hatte, sackte eines seiner Knie unter ihm weg. Die Kräuterkundige griff beherzt zu und stützte den Krieger, indem sie ihm unter die Achseln griff. Ein drohendes Grollen wurde laut, verwandelte sich jedoch kurz darauf in resigniertes Schnauben.

„Du bist schwach, du solltest noch etwas hier bleiben'', flüsterte Verona leise. Sie konnte einfach keinen Gedanken für sich behalten und bereute es sofort, als seine kalten, braunen, fast schwarzen Augen auf ihren Blick trafen. Ihr war, als würde ihr das Blut gefrieren. Wer war er nur?

„Niemand sagt mir, was ich zu tun oder zu lassen habe! Ich könnte euch beide im Handumdrehen töten, also steht mir nicht im Weg!'', herrschte er sie an. Sie wich erschrocken zurück. Dieses Donnern in seiner Stimme, es klang bedrohlich. Sie hatte Angst vor ihm. Warum sagte er so etwas? Sie hatten ihn doch schließlich gerettet. Ohne dass sie es wirklich mitbekam, rannen erste Tränen ihre Wangen hinunter.

„Was denkst du eigentlich, wer du bist? Jagst einer jungen Frau Angst ein, dass sie anfängt zu weinen. Schämen solltest du dich! Selbst für einen Nordling bist du ziemlich taktlos. Entschuldige dich gefälligst, immerhin hat Verona dich gefunden und die Verbände täglich gewechselt. Ohne sie wärst du jetzt Aas für die Krähen da draußen!'', herrschte Garda den Fremden an und deutete auf die Tür, welche zum kleinen Flur führte.

Das Gesicht des Mannes verlor an Spannung, während er sich wieder zurück auf das Bett setzte, auch das gefährliche Dunkle in seinem Blick zog sich zurück, trotzdem wirkte er weiter abweisend.

„Nun, wenn das so ist und ihr wisst, woher ich komme... danke und entschuldigt.'' Während seiner letzten Worte nickte er lediglich in ihre Richtung, sah sie aber nicht an. Er kam also wirklich aus dem Norden? Die Legenden über Eroberungen, Magie und Tod schoben sich energisch in den Mittelpunkt ihrer Gedanken, doch sie würde sich zurückhalten, ihm keine Fragen mehr stellen.

Am besten, sie redete gar nicht mehr mit ihm. Er war ihr unheimlich und sie hoffte eher, er würde bald wieder verschwinden. Sie hatte das Gefühl, es wäre besser so.

„Nun gut. Du bleibst so lange hier, wie es nötig ist, dann gehst du, als wärst du nie hier gewesen, einverstanden? Ich kann deinesgleichen nicht ausstehen, aber niemand stirbt oder leidet in meinem Hause.'' Mit diesen Worten und einer schnellen Geste verließ Garda den Raum und deutete ihr, ihr zu folgen.

„Pah, diese Nordlinge – primitiv, streitlustig und unendlich dumm. Denkt, er könnte hier einfach nach zwei Wochen hinausspazieren, wo er fast erfroren und zu Tode erschöpft war. Aber immerhin schätzen sie Gastfreundschaft, diese Einfallspinsel'', schimpfte die Kräuterfrau vor sich hin, als sie den Raum verlassen und in die kleine Küche gegangen waren.

„Er kommt also wirklich aus dem Norden?'', fragte Verona betont neutral, doch das Grinsen ihrer Ziehmutter verriet, diese hatte sie längst durchschaut.

„Ja, Kind. Aber halte dich besser von ihm fern, er ist gefährlich, auch wenn er gerade nicht so wirkt. Und jetzt nimm deine Bücher und geh nach Hause, du solltest endlich schlafen, dich ausruhen. Ich kümmere mich schon um ihn. Am besten, du kommst übermorgen wieder, dann sehen wir uns ein paar spezielle Salben gegen schmerzende Füße an.''

Trübe Blicke

Verona kauerte sich noch etwas mehr zusammen. Sie hatte sich an den kleinen Esstisch neben dem Herd gesetzt – einerseits, weil die Wärme ihren zittrigen Händen guttat, andererseits, um das schwere Buch vor ihr nicht die ganze Zeit halten zu müssen. Der Ledereinband war bereits alt und steif. Noch einmal strich sie gedankenverloren über die eingravierte Schrift. ''Die Gebiete des Nordens'' hieß es dort schlicht und dennoch war sie aufgeregt.

Garda war mit ihrem Esel in die Stadt gegangen, um neue Tonbecher zu kaufen. Den letzten hatte ihr neuer Hausgenosse vergangene Nacht im Schlaf vom Beistelltisch gestoßen. Der Fremde schlief allgemein sehr schlecht, ihn schienen Albträume zu plagen.

Als sie am Haus ihrer Ziehmutter angekommen war, befand sich diese schon beinahe auf dem Weg und hatte ihr hastig eine Schriftrolle in die Hand gedrückt. Diese enthielt eine Reihe von Gedichten und sie sollte die Zeilen abschreiben, um ihr Schriftbild zu verbessern.

„Als angehende Kauffrau musst du eine gute Handschrift haben'', war die Begründung der alten Frau gewesen. Einen Moment später hatte diese das kleine Haus auch schon verlassen und war aufgebrochen.

Das Abschreiben hatte sie bereits längst fertiggestellt. Mit dem Fremden, der sich noch nicht einmal hatte blicken lassen, wollte sie sich sicher nicht unterhalten, also hatte sie sich eines der Bücher aus dem Regal genommen. Der seltsame Mann war nun bereits seit einer Woche bei Bewusstsein.

Entschlossen schlug sie das Buch auf und sog die folgenden Beschreibungen der nördlichen Felslandschaften und der Tiere, die dort lebten, geradezu in sich auf.

Als sie mit dem dritten Kapitel, einer Abhandlung über die finsteren Geschichten des Nordens, beinahe fertig war, drang plötzlich leises Keuchen, verbunden mit Schritten an ihre Ohren. Erschrocken sprang sie auf und hätte beinahe den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, umgeworfen, als eine heisere Stimme sich an sie wandte.

„E-entschuldige, aber ich glaube, die Wunde... sie hat sich entzündet.'' Einen Moment lang starrte sie die Person, welche im Türrahmen aufgetaucht war, nur verständnislos an. Der Fremde stand dort, gelehnt an die Tür, stützte sich daran ein wenig ab. Sein Blick suchte den ihren und die Trübung der dunklen Augen ließ Sorge in ihr aufkeimen.

Sie näherte sich ihm langsam, bemerkte seinen flachen Atem. Es schien ihm wirklich nicht gut zu gehen. Als sie beinahe bei ihm angelangt war, sackte dessen Körper plötzlich zur Seite ab. Schnell reagierte sie und versuchte, unter seine Achsel zu greifen und ihn zu stützen. Was sie dabei nicht bedacht hatte, war, dass der Fremde natürlich viel zu schwer für sie war und so ging sie beinahe mit ihm zu Boden. Im letzten Moment schien er sich wieder zu fangen und verhinderte, dass sie stürzen konnten. Schnaufend richtete er sich wieder auf.

„Komm, hier rüber'', meinte sie leise und dirigierte ihn zur Sitzbank, welche an der anderen Seite des Esstisches die Ecke des Raumes einnahm. Dort bat sie ihn, sich hinzusetzen und er folgte ihrer Anweisung.

Vorsichtig legte sie eine Hand auf seine Stirn und schreckte zurück. Er hatte Fieber, eindeutig. Der kalte Schweiß rann bereits über sein Gesicht und hatte den Haaransatz noch dunkler verfärbt. Sie brauchte gar nicht zu fragen, welche Wunde er gemeint hatte, denn der halb verrutschte Verband um dessen rechter Hand sprach Bände.

„Wie lange habt Ihr den Verband nicht gewechselt?'', fragte sie ihn und er blieb ihr eine Antwort zuerst schuldig. Langsam wickelte sie die schweißdurchtränkten Stoffbahnen ab und was darunter zum Vorschein kam, versetzte ihr einen gehörigen Schrecken. Der Schnitt, welcher über den Handrücken und teils die Handkante führte, hatte sich entzündet. Die Wunde stank nach Eiter und Schweiß, die Haut darum hatte sich dunkelrot verfärbt.

„Ich... habe ihn vorgestern doch erst ge... gewechselt'', presste der Fremde schmerzverzerrt hervor.

„Ihr müsst ihn jeden Tag wechseln'', sprach sie automatisch und ein halbverschlucktes Brummen diente ihr als Antwort.

Sie stand auf und ging zu einem der Regale in der Nähe der Feuerstelle. Dort musste sie einen Moment suchen, fand aber bald die verkorkte Flasche, nach der sie gesucht hatte. Schnell nahm sie diese, holte ein paar frische Verbände aus einer der Schubladen und ließ sich wieder auf der Sitzbank nieder. Als sie den Korken der Flasche entfernte, atmete der Fremde den entweichenden Duft tief ein.

„Oh ja, Schnaps ist eine gute Idee, habe ich schon ewig nicht getrunken'', murmelte der Mann leise. Verwirrt legte sie den Kopf leicht schräg und betrachtete ihren Patienten. Vermutlich nahm er schon gar nicht mehr alles um ihn herum wahr, denn die fiebrigen Augen hatte er geschlossen.

„Ich muss die Wunde auswaschen und desinfizieren. Das wird wehtun.'' Da er auf diese Äußerung nicht einmal reagierte, nahm sie die Tonschüssel, welche für ein späteres Abendessen bereits auf dem Tisch stand und stellte diese zwischen sie und ihn auf die Bank. Dann nahm sie seinen Unterarm und platzierte diesen so, dass dessen Hand genau über der Schüssel lag.

Vorsichtig hielt sie die Flasche etwas schräg, sodass deren Inhalt langsam hinausfließen konnte.

„Ah, verdammt!'', entfuhr es dem Mann neben ihr und dessen Hand zuckte unwillkürlich zurück. Geistesgegenwärtig hatte sie ihre auf seinem Unterarm liegen gelassen und festigte den Griff ihrer Finger ein wenig. Seine noch immer getrübten Augen sahen kurz in ihre, dann schien sein gelähmter Geist zu verstehen und die aufgebaute Körperspannung des Mannes wich. Innerlich aufatmend fuhr sie damit fort, das Gebräu über die Wunde fließen zu lassen. Ein leichtes Muskelzittern des Unterarmes war einziges Zeichen dafür, dass der Verletzte es überhaupt wahrnahm.

Zufrieden betrachtete sie die Wunde, verschloss die Flasche wieder und holte eine weitere Schüssel mit Wasser. Sie legte seine Hand in diese hinein. Die andere, in der nun ein Gemisch aus Blut, Eiter und Alkohol zum Himmel stank, stellte sie zur Seite. Dann nahm sie sich ein frisches Tuch, setzte sich wieder und begann, die Wunde vorsichtig auszuwaschen. Der Mann neben ihr bewegte sich nicht, hatte die Augen geschlossen. Nur sein leiser, angestrengter Atem, sowie das leichte Heben und Senken seines Brustkorbs zeigten, dass er überhaupt noch am Leben war.

„Ihr habt Glück gehabt, Euer Blut hätte sich vergiften können'', murmelte sie leise vor sich hin.

Was genau tat sie hier eigentlich? Sie stellte sich diese Frage im Takt ihrer schnellen Herzschläge, als sie daran dachte, dass sie gerade einen Krieger verarztete und sie ganz allein mit ihm war. Würde er ihr etwas antun wollen, könnte sie sich nicht einmal wehren. Obwohl, so schlecht, wie es ihm ging, wäre er vermutlich nicht schnell genug und sie könnte vor ihm weglaufen.

Als sie das Wasser in der Schüssel gewechselt hatte, ging sie hinüber zum Kräuterregal. Dort nahm sie eine bereits angemischte Paste, unter anderem aus Schöllkraut, an sich. Diese verteilte sie auf den frischen Stoffstreifen. Dann nahm sie seine Hand aus dem Wasser, trocknete diese vorsichtig ab und begann damit, den Verband anzulegen. Die Kräuterpaste würde den restlichen Eiter aus der Wunde ziehen und diese besser heilen lassen. Dabei bemerkte sie nicht, wie seine dunklen, braunen Augen sich leicht öffneten und sie beobachteten.

Erste Gespräche

Er fühlte sich wesentlich besser, als er wieder zu sich kam. Seine Gedanken schweiften, während er seinen Oberkörper langsam aufrichtete. Nur verschwommen erinnerte er sich daran, wie er durch die kleine Hütte gewankt war, auf der Suche nach Hilfe. Durch seine eigene Dummheit hatte sich eine der Wunden entzündet und sein Blut beinahe vergiftet. Zum Glück war das Mädchen – nein, die junge Frau – da gewesen und hatte ihn ohne zu zögern verarztet.

Sein Blick glitt zu seiner rechten Hand. Ein frischer Verband zeugte davon, dass man sich wohl noch immer um ihn sorgte. Eh er es verhindern konnte, schlich sich ein leichtes Lächeln auf seine noch blassen Lippen, nun stand er wirklich tief in der Schuld der beiden Damen. Er war so erzogen worden, Gastfreundschaft zu schätzen und sich stets erkenntlich zu zeigen, wenn ihm jemand auf diese Weise half.

Zwar fühlte er sich noch immer ermattet und müde, doch dieser brennende Schmerz und das Fieber hatten ihn glücklicherweise verlassen. Vorsichtig schlug er die Decken, welche ihn eingehüllt hatten, zur Seite und stand auf. Seine Knie stemmten sein Gewicht erfolgreich empor, doch er bemerkte missmutig, dass er unbedingt wieder trainieren musste, um in Form zu kommen. Hier konnte er schließlich nicht bleiben, sein Volk brauchte ihn.

Dann trafen ihn ganz plötzlich wieder diese Erinnerungen an den Grund seiner Flucht. Zähneknirschend verdrängte er den Gedanken, dass er aktuell vieles in seiner Heimat sein würde, aber ganz sicher nicht willkommen. Er würde erst einmal sehen, dass er zu Kräften kam, bevor er seine Gastgeber wieder in Frieden lassen und weiterziehen konnte.

„Guten Morgen'', murmelte er leise, als er den Raum betrat, in welchem die junge Frau ihm die Hand verbunden hatte. Diese saß wie damals in der Sitzecke und schien nach wie vor eines der alten Bücher durchzuarbeiten. Innerlich ein wenig amüsiert, dies aus Höflichkeit jedoch nicht zeigend, beobachtete er ihre Reaktion auf sein plötzliches Auftauchen. Sie schreckte empor, ihre grünen Augen blitzten erschrocken auf und fixierten seinen Blick. Dann wandte sie sich jedoch kommentarlos ab.

„Guten Morgen? Es ist bereits Nachmittag, Junge.'' Diese Stimme gehörte der alten Frau, welche am Kochtopf stand und eine seltsam würzig riechende Kräutermischung zubereitete. Der Dampf quoll auf, als sie schwungvoll umrührte. Geflissentlich ignorierte er das „Junge'', schließlich hatte er sich als Ziel gesetzt, Dankbarkeit zu zeigen. Bevor er etwas erwidern konnte, sprach die Kräuterkundige ihn erneut an: „Setz dich, ich habe etwas Brühe zubereitet, damit du wieder zu Kräften kommst.''

Kommentarlos folgte er der Anweisung und nahm gegenüber der jungen Frau Platz. Während sie also schweigend dasaßen und sie sich weiter in das Buch vertiefte, schweifte sein Blick mäßig interessiert zu den Seiten, welche ihre Augen in sich aufzusaugen schienen. Gerade waren Zeichnungen von kaninchenähnlichen Tieren abgebildet. Es benötigte etwas Konzentration, aber auch auf dem Kopf konnte er das Geschriebene einigermaßen gut lesen. Es handelte sich um Erzählungen über den Norden, seine Heimat.

„Das stimmt so nicht. Ich habe nie einen Wurf der Kinäst gesehen, der mehr als zwei Jungtiere umfasste. So viele könnten die Elterntiere bei den Wetterbedingungen kaum großziehen. Da verwechselt ihr wohl unsere Kaninchen mit den euren.'' Ein überraschter Blick ließ ihn innerlich zusammenzucken. Hatte er gerade laut gedacht?

„Sind sie dann etwa keine Plage? Sie haben aber doch regelmäßig die Ernten zerstört'', kam es unsicher zwischen den leicht geöffneten Lippen der jungen Frau hervor.

Er räusperte sich kurz. Leider hatte er in der Zeit seiner Ausbildung vor allem den Naturkunde-Lehrer stets mit seiner Nicht-Anwesenheit beehrt. Trotzdem raffte er das Wissen, welches er besaß, zusammen und antwortete, legte sich seine Worte sorgsam zurecht.

„Die Kinäst sind sogar äußerst selten und halten sich kaum in der Nähe bewohnter Siedlungen auf. Es ist eher Roghul-Wild, das Probleme macht. Diese Tiere pflanzen sich mehrmals im Jahr fort und fressen mit Vorliebe junges Getreide. Wir machen zwar seit Jahren ausgedehnt Jagd auf sie, aber sie vermehren sich trotzdem zu schnell.'' Er sah, wie sie schluckte und scheinbar peinlich berührt auf die Tischplatte starrte. Hatte er etwas falsch gemacht?

„Jetzt hör doch auf, unseren Gast so auszufragen. Entschuldige, Nordling, sie ist einfach zu neugierig'', unterbrach die alte Frau seine Gedanken und setzte ihm sowie auch sich selbst und der jüngeren ihm gegenüber eine dampfende Schüssel Brühe sowie drei Scheiben Brot vor die Nase. Sofort meldete sich sein vernachlässigter Magen. Leise raunte er ein „Danke'', welches aber wohl, so schien es, überhört wurde. Dann begann er zu essen.

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Ihr Blick schweifte beinahe ungewollt zu dem Mann hinüber, welcher auf dem Bett saß und mit einem sauberen Tuch begann, die Klinge seines Schwertes zu polieren. Verona hatte die Waffe natürlich schon öfter von weitem beäugt, jedoch bisher lediglich in der hölzernen, schlichten Scheide, welche am Waffengürtel des Kriegers befestigt war.

Das glänzende, ungewöhnlich dunkle Silber reflektierte das durch die Fenster einfallende Licht der Nachmittagssonne, als er die Klinge prüfend hin und her wandte. Eine kleine, kaum erkennbare Kerbe hatte sich in das Metall gegraben, nur ein wenig über der in mattem Schwarz gehaltenen Parierstange. In Letztere waren Zeichen eingraviert, welche sie jedoch aus der Ferne nicht zu entziffern vermochte. Der Griff war mit dunklem Leder versehen. Soweit ihr geschultes Auge erkannte, musste es sehr hochwertig sein. Was so ein Schwert wohl Wert sein mochte? Schnell verwarf sie den Gedanken. Jetzt begann sie bereits, wie ihre Eltern zu denken.

Innerlich seufzend nahm sie die kleine Umhängetasche mit ihren Hausaufgaben und wollte gerade aufstehen, als der Nordling sie plötzlich und unverhofft direkt ansprach: „Wohin gehst du eigentlich jeden Tag? Lebst du gar nicht hier?'' Das tiefe Vibrieren seiner Stimme brachte sie einen Moment lang aus dem Konzept.

„Ich... ich lebe außerhalb des Waldes, am Rand der Stadt auf dem Hof meiner Eltern'', stammelte sie leise. Er nickte verstehend, sprach jedoch weiter: „Es dämmert bereits. Wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich dich gerne begleiten. Es behagt mir nicht, eine junge, schöne Frau allein durch einen Wald spazieren zu lassen, dazu auch noch im Dunklen.''

Ihre Selbstbeherrschung reichte gerade dafür, dass sie die Kinnlade oben behielt. Er hatte sie doch nicht wirklich gerade als schön bezeichnet? Das brachte sie schon wieder dazu, in einen kurzen Zustand der Sprachlosigkeit zu verfallen. In vollem Bewusstsein, ihn gerade entgeistert anzustarren, als hätte er ihr erzählt, er sei eigentlich ein König, lief sie augenblicklich tiefrot an und wandte sich schnell ab.

Innerlich wägte sie ab.

Er war gefährlich, das mit Sicherheit. Allerdings waren in den letzten Wochen vermehrt wilde Hunde in der Gegend gesichtet worden und sie hatte tatsächlich ein wenig Angst, so spät alleine zurück zur Stadt zu gehen. Außerdem konnte sie vielleicht beiläufig weitere Dinge über die Heimat dieses Mannes erfahren, aus dem sie nach wie vor nicht schlau wurde. Also erwiderte sie leise: „Ja, gerne.'' Mehr brachte sie einfach nicht heraus, doch das schien dem Nordling bereits auszureichen.

Seltsamerweise ließ er das Schwert sowie die dazugehörige Scheide auf dem Bett liegen und zog lediglich den Riemen des Waffengürtels, an welchem drei kleinere Klingen und ein längeres Messer befestigt waren, um die Hüften zu. Die Dolche waren zu klein, um wirklich Dolche zu sein, also mussten diese Wurfmesser darstellen. Sie erinnerte sich an einen Wanderzirkus, der einmal vor wenigen Jahren Halt in ihrer kleinen Stadt gemacht hatte. Dort hatte ein Künstler mit solchen Klingen Obst im Flug getroffen und mit Wasser gefüllte Lederbälle zum Bersten gebracht.

Als sie sich von Garda verabschiedete, schob der Krieger in ihrem Rücken ein „Ich werde sie begleiten. Immerhin schulde ich ihr noch etwas'' hinterher, woraufhin die alte Frau kurz von ihrem Kessel aufsah, etwas Zustimmendes murmelte und sich wieder von ihnen abwandte.

Sie waren den Pfad, welcher durch den Wald führte, bereits ein ganzes Stück entlanggegangen, ohne dass einer von ihnen ein Wort verloren hatte. Verona sah ab und zu unauffällig zu ihrem Begleiter hinüber, doch dieser schien in Gedanken versunken zu sein. Obwohl sie das Gefühl hatte, es sei falsch, betrachtete sie seinen Körper genauer. Er war nicht so viel größer als sie, vielleicht eine Handbreite. Damit war er kleiner als die meisten Männer unten in der Stadt. Trotzdem schien er deutlich besser in Form zu sein.

Seine Statur war kräftig, ohne stämmig zu wirken. Da er den schwarzen Mantel mit der Kapuze nicht trug, wippten die Strähnen seines mittellangen Haares mit jedem Schritt auf und ab. Das dunkle Braun wandelte sich ins Schwarz, sobald die langen Schatten der Bäume in der Dämmerung darauf fielen. Zum Glück war es an diesem Tag nicht allzu kalt, zwar lag der Schnee noch, aber es kam kein neuer dazu und die Sonne hatte trotz des wolkenlosen Himmels noch nicht genügend Kraft gehabt, diesen schmelzen zu lassen. Ihr war schleierhaft, warum der Mann an ihrer Seite in dessen einfachem Hemd und den Hosen nicht fror. Einzig die ledernen Stiefel schienen dem Wetter zu entsprechen.

Am meisten beeindruckte sie jedoch die Muskulatur, welche sich abzeichnete, wann immer eine schwache Windböe von vorne auf sie zukam und das Hemd des Mannes gegen dessen Haut presste. Er war schwach gewesen und nun bald zwei Wochen bei ihnen, wie mochte er dann aussehen, wenn er täglich trainieren würde? Beschämt schob sie innerlich die in ihr aufkeimenden Bilder von kämpfenden Rittern, starken, gutaussehenden Männern, von sich.

Sie hatte nun wirklich andere Probleme. Am nächsten Tag würde der Frühlingsreigen stattfinden – ein Fest, auf das sie gut verzichten konnte. Dort fanden sich nach traditionellem Brauch die unverheirateten, jungen Frauen der Stadt ein, um sich von ebenfalls freien jungen Männern zum Tanzen auffordern zu lassen.

Man sagte, Ehen, die auf diesem Fest basierten, würden ewig halten. Auch ihre Eltern hatten sich damals beim Frühlingsreigen kennengelernt. Und dieses Jahr, so hatten diese sie angewiesen, musste sie sich für einen der dortigen Männer entscheiden und endlich einen Nachfolger für das Geschäft finden. Da ihre Eltern nicht gerade zu den ärmeren Leuten der Stadt zählten, hatten es vor allem des Geldes wegen viele auf sie abgesehen, was ihr das Ganze auch nicht wirklich erleichterte.

„Warum bist du so oft bei der alten Frau mitten im Wald, wenn du doch Eltern in der Stadt hast?'', unterbrach die tiefe Stimme des Mannes neben ihr ihre Grübeleien.

„Meine Eltern sind Kaufleute und fast immer unterwegs. Wir haben einen Stallburschen, der sich um die Pferde sowie den Hof kümmert. Außerdem lebt noch eine Frau mit ihren zwei Töchtern bei uns, die für ein Dach über dem Kopf das Hausinnere in Ordnung halten.'', murmelte sie beinahe automatisch. Schließlich musste sie dies öfter erklären.

„Dann müsst ihr vermögend sein, wenn sie sich das leisten können'', hakte er nach und ein bitteres Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Da war es wieder – jeder Mann interessierte sich im Gespräch mit ihr stets für das Vermögen ihrer Eltern.

„Warum interessiert Euch das überhaupt?“, entgegnete sie schnippisch.

Bevor etwas erwidern konnte, legte sie frustriert nach: „Aber denkt nicht, Ihr könntet uns überfallen und ausrauben. Auch wir Frauen wissen uns zu wehren und die Taverne ist nicht weit vom Hof. Die Soldaten dort werden Euch aufzuhalten wissen.'' Ein leises Lachen erklang neben ihr – ein schönes Geräusch, so tief und melodisch. Sie starrte ihn fragend an.

„Entschuldige, deshalb hatte ich gar nicht gefragt. Ich habe es nicht nötig, jemanden auszurauben, außerdem würde ich sicher keiner Frau etwas zuleide tun. Ihr Frauen werdet bei uns im Norden immer respektvoll behandelt. Abgesehen davon wäre es unehrenhaft, einem Gastgeber Leid zuzufügen'', erklärte sich der Krieger und seine Worte beruhigten sie ein Stück weit, was nicht hieß, dass sie ihm bereits traute.

„I-ich danke Euch, bis hierher reicht es schon'', richtete sie ihre Stimme an ihren Begleiter, sobald sie die letzte Weggabelung vor der Stadtmauer passiert hatten. Sein fragender Blick schien sich über sie zu legen wie ein Tuch, ein Schleier. Seit das Fieber seine Augen verlassen hatte, wirkten diese ruhig und klar, wie die Oberfläche von Wasser, das nach einem Regenguss in ein Schlagloch geflossen war und dieses bis zum Rand gefüllt hatte. Man konnte nicht bis zum Grund hinabsehen und somit auch schlecht beurteilen, wie weit es dahinter wirklich in die Tiefe ging und wie gefährlich es war.

„Gut, wie du meinst. Kommst du morgen wieder vorbei?'' Seit wann interessierte er sich denn so für sie?

„Ich möchte wieder trainieren und würde gerne wissen, ob ich dich morgen erneut begleiten muss.'' Dieser Nachschub klang wieder abwertender. Sie schluckte ihren Ärger hinunter und antwortete lediglich: „Ja, aber ich werde morgen bereits am Nachmittag zurückgehen. Das kann ich allein.'' Diese Antwort mit einem knappen Nicken akzeptierend, drehte der Nordling sich auf dem Absatz um und kehrte ihr den Rücken zu. Warum wurde sie aus diesem Mann nur einfach nicht schlau? Trotzdem hegte sie ein gewisses Interesse an ihm, also an der Tatsache, dass er aus dem Norden stammte. Da sie sich sehr für dieses Gebiet interessierte, durfte sie sich keine Gelegenheit entgehen lassen, mehr zu erfahren.

Ein fremdes Pferd im Stall

Ohne dem Krieger weiter nachzusehen, wandte sie sich den nicht mehr so weit entfernten Toren Limas‘ zu. Der Hof ihrer Eltern lag außerhalb der Stadtmauer und dennoch war der Weg an den rauen, grob aus Stein gehauenen Felsblöcken entlang der Kürzeste. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als sie neben der schmalen, halbwegs befestigten Straße entlangging. Dort, etwa auf gleicher Höhe mit dem Stadtzentrum, lag der Hof ihrer Eltern.

Links von der hölzernen Palisade, welche sich zu ihrem Schutz einmal um die Gebäude und den Innenhof zog, erstreckten sich die Pferdeweiden. Auf diesen standen die drei sich im Besitz ihrer Familie befindlichen Tiere, den Schnee mit den Nüstern zur Seite schiebend, um die grünen Grasspitzen zu erreichen. Sie war gerne bei Garda, aber sie freute sich mindestens genau so sehr, wieder zuhause zu sein.

Als sie beinahe am Hoftor angelangt war, schob dieses sich langsam auf.

„Hallo Jerry'', begrüßte sie den jungen Mann mit einem leichten Lächeln, welches dieser gut gelaunt erwiderte. Er hielt eine Fackel in der einen Hand, mit der anderen drückte er das schwere Holztor weiter nach außen. Sie kannten sich bereits seit ihrer Kindheit und als ihre Eltern ihn als Stallburschen einstellten, hatte sie sich dementsprechend darüber gefreut. Zwar redete er oft viel zu viel, war aber immer höflich und nett. Sie mochte ihn.

„Gibt es etwas Neues?'', fragte Verona ihn, während sie an ihm vorbei auf den Innenhof trat und er das Tor hinter ihr wieder schloss.

„Heute Nachmittag stand ein fremdes Pferd mit den anderen auf der Weide, ein schwarzer Hengst. Er hat sich wohl einen Schnitt am Bein zugezogen, deshalb habe ich ihn in eine der freien Boxen gestellt. Könntest du dir seine Wunde ansehen?'' Sie nickte kurz.

„Natürlich, dann sehe ich ihn mir gleich an'', erwiderte sie lächelnd und wandte sich nach links den Ställen zu.

Das Gebäude mit dem hohen Spitzdach, unter welchem Heu und Stroh lagerten, lag direkt an der Palisade. Von einem daneben eingelassenen Tor konnte man direkt die größte der drei Weiden betreten. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass Jerry ihr folgen würde, immerhin fiel der Stall in sein Aufgabengebiet, doch er schien damit beschäftigt, das Eis in den Wasserkübeln aufzubrechen. Also schob sie die angelehnte Tür auf und trat hinein. Ein leises Schnauben erklang und in der dritten der sechs Boxen wurde sie bereits fündig.