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Insgesamt ist zu konstatieren, dass das EU-System eine einzigartige Organisationsform hat, die begrifflich schwer zu fassen ist. Die EU hat in ihrer etwa 70-jährigen Geschichte charakteristisch stets neben dem Ziel der wirtschaftlichen Integration das Ziel verfolgt, einerseits sich geografisch zu erweitern, andererseits parallel zu politischen Ereignissen und Entwicklungen sich dementsprechend rechtlich-institutionell zu vertiefen. In diesem Kontext lässt sich festhalten, dass der Prozess der europäischen Integration tatsächlich einzigartig ist. Es geht bei der EU wirklich um eine Organisation sui generis, die momentan Elemente teils u. a. einer internationalen Organisation, eines Staatenbundes oder eines Bundesstaates enthält. Demgemäß besteht die institutionelle Architektur der Union aus einem komplexen Gefüge supranationaler sowie intergouvernementaler Organe. Somit handelt es sich dabei um einen beispiellosen Machttransfer, der lediglich zu erfassen ist, wenn man sowohl die konzeptionellen wie ebenfalls historischen Grundlagen der europäischen Integration kennt. Als Nächstes ist festzustellen, dass die EU heute nicht nur eine politische und wirtschaftliche Interessengemeinschaft souveräner Nationalstaaten, die auf völkerrechtlichen Verträgen basiert, sondern auch eine Werte- und Rechtsgemeinschaft der differenten Interessen ist. Hier ist es deutlich zu erkennen, dass sich der europäische Integrationsprozess vielmehr durch ein Spannungsverhältnis im Handeln der Akteure auszeichnet. Diese zentralen Akteure der EU sind die eigenstaatlichen nationalen Regierungen. Sie sind einerseits bereit, die Macht an die europäische Ebene abzugeben, andererseits wollen sie jedoch diese Macht der neu geschaffenen Ebene zu begrenzen. Allerdings ist eins jedenfalls sicher, und zwar, dass sie den eigenen politischen Einfluss stets bewahren möchten. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die EU charakteristisch vielmehr ein ambivalenter internationaler Akteur ist. Als solcher weist sie einerseits zivilisatorische und normative Elemente sowie hegemoniale Züge auf, andererseits exportiert sie aber zugleich demokratische Normen und westliche Werte...
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Seitenzahl: 103
Veröffentlichungsjahr: 2021
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The subject of the present study is „Characteristics and catalog of objectives of the EU system and EU foreign policy. Perspectives for the EU as an international actor“. This thesis deals with alternative models of democratically shaped, modern systems of government in a legal-institutional context. It is about the foundations, goals, central institutions, actors, structures, procedures and democratic legitimacy of the complex EU system as well as its foreign policy role as a global player in the system of international relations.
Overall, it can be stated that the EU system has a unique form of organization that is difficult to define conceptually. In its 70-year history, the EU has consistently pursued the goal of expanding geographically on the one hand and, on the other hand, parallel to political events and developments, in addition to economic integration, to deepen its legal and institutional depth accordingly.
In this context, the process of European integration is about a sui generis organization that means „of its own kind, in a class by itself“, therefore „unique“. The complex EU system contains elements of an international organization, a confederation of states or a federal state. The institutional architecture of the EU consists of a complex structure of supranational and intergovernmental organs. It is therefore an unprecedented transfer of power that can only be grasped if one is familiar with both the conceptual and historical foundations of European integration.
It can also be observed that the EU today is not only a political and economic community of interests of sovereign nation-states based on international treaties, but also a community of values and legal interests of different interests. Furthermore, It can be clearly seen here that the European integration process is rather characterized by a tension in the actions of the actors. The central actors of the EU are the independent national governments. On the one hand, they are ready to hand over power to the European level, but on the other hand they want to limit the power to the newly created level. However, one thing is certain, and that is that they always want to maintain their own political influence.
Ultimately, this results in supranational efforts to shape the EU as well as the national or international safeguarding of interests of the EU member states. As a result, the supranational and intergovernmental complexity of the EU system creates such a complicated multilevel system.
Das Thema der vorliegenden Studie lautet „Charakteristika und Zielkatalog des EU-Systems und der EU-Außenpolitik. Perspektiven für die EU als internationaler Akteur“. Die Idee für mein Thema kam während der Corona-Krise im Frühjahr 2021, um die erzwungene Corona-Auszeit sinnvoll zu nutzen sowie der Wissenschaft und Forschung beizutragen. Ich habe mich mit diesem Thema beschäftigt, weil es nach meiner Ansicht sehr interessant und vor allem auch zeitlos aktuell ist.
Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit befasst sich mit alternativen Modellen demokratisch geprägter, moderner Regierungssysteme, in deren Zentrum die EU mit ihrer einzigartigen Form steht. Die Analyse fokussiert sich konkret auf die Charakteristika des politischen Systems der EU und der europäischen Außenpolitik im rechtlich-institutionellen Kontext. Es handelt sich dabei um die Grundlagen, Ziele, zentralen Institutionen, Akteure, Strukturen, Verfahren und demokratische Legitimität des komplexen EU-Systems. Anschließend wird die außenpolitische Rolle der EU als internationaler Akteur im System der internationalen Beziehungen untersucht.
Ich interessiere mich primär für Europa und Moderne, die Erforschung der internationalen Beziehungen sowie der modernen Konzepte der vergleichenden Politikwissenschaft und des Europarechts. Mein besonderes Interesse gilt der Recherche der politischen Architektur in Europa und der Welt, der EU-Außenbeziehungen, der internationalen Organisationen mit globaler Reichweite sowie der alternativen Modelle des Policy-Prozesses. Das Ziel dieser Forschungsarbeit ist auf diese Art und Weise Antworten für verschiedene Problembereiche in rechtlicher, institutioneller und politischer Hinsicht zu finden.
Für mich war die Erstellung dieser Studie nicht nur eine Herausforderung, sondern zugleich auch eine persönlich bereichernde Erfahrung, Erweiterung und Vertiefung meiner wissenschaftlichen Kenntnisse, Fachwissen, Fähigkeiten und Anschauungen. Den zahlreichen Personen und Institutionen, die mich sowohl während meines Studiums der Politikwissenschaft, BWL und Jura in Bamberg und Hamburg wie ebenfalls meiner Promotionszeit in der Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg in vielfältiger Art und Weise unterstützt haben, möchte ich an dieser Stelle nochmals ganz herzlich danken.
Hamburg, Juni 2021
Ibrahim BEKMEZCI
Teil I Einführung und Grundlagen
1 Einleitung
2 Allgemeiner Überblick
3 Konzeptioneller Rahmen
3.1 Rechtlich-institutionell relevante Aspekte
3.2 Typologie der Regierungssysteme und das EU-System
Teil II Charakteristika und Zielkatalog des EU-Systems
4 Was ist „Europa“?
4.1 Die Wurzeln des Begriffs „Europa“
4.2 Definition des Begriffs „Europa“
5 Was ist „die EU“?
5.1 Charakterisierung und Ziele der EU
5.2 Grundwerte und -prinzipien der EU
5.3 Institutionelle Struktur und Entscheidungsverfahren der EU
6 Demokratische Legitimität der EU
6.1 Institutionelles Demokratiedefizit
6.2 Strukturelles Demokratiedefizit
6.3 Positionierung des BVerfG zur demokratischen Legitimität der EU
7 Rechtlich-institutionelle Einordnung der EU
7.1 Die EU als internationale Organisation
7.2 Die EU als Bundesstaat
7.3 Staatenverbund nach dem Maastricht-Urteil des BVerfG
7.4 Staatenverbund nach dem BVerfG-Urteil zum Vertrag von Lissabon
Teil III Charakteristika und Zielkatalog der „EU-Außenpolitik“
8 Was ist „europäische Außenpolitik“?
9 Charakterisierung und Ziele der „EU-Außenpolitik“
10 Theoretische Überlegungen zu einer „EU-Außenpolitik“
10.1 Der realistische Kontext zur EU-Außenpolitik
10.2 Der institutionelle Kontext zur EU-Außenpolitik
10.3 Weitere theoretische Konzepte zur EU-Außenpolitik
Teil IV Schlussbetrachtung
11 Zusammenfassung und Ausblick
11.1 Ausblick: Perspektiven für die EU als rechtlichinstitutioneller Akteur im multilateralen Kontext
11.2 Zusammenfassung der Erkenntnisse
12 Literatur – Gesamtverzeichnis
12.1 Literatur
12.2 Internetquellen
Abschn.
Abschnitt
AEUV
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
Art.
Artikel
AstV
Ausschuss der Ständigen Vertreter der
Regierungen der Mitgliedstaaten der EU
Aufl.
Auflage
BHG
Bundesgerichtshof
BIP
Bruttoinlandsprodukt
bpb
Bundeszentrale für politische Bildung
BRD
Bundesrepublik Deutschland
bspw.
beispielsweise
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
d.h.
daher
EAD
Europäischer Auswärtiger Dienst
EAG
Europäische Atomgemeinschaft
ebd.
ebenda
EG
Europäische Gemeinschaft
EGKS
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EPZ
Europäische Politische Zusammenarbeit
ESVP
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
EuGH
Europäische Gerichtshof
EUV
Vertrag über die Europäische Union
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
f.
folgend (auf der nächsten Seite)
ff.
folgend (auf den nächsten Seiten)
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
GG
Grundgesetz der BRD
GSVP
Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
h.
hier
Hrsg.
Herausgeber
ibid.
ibidem (ebenda)
insb.
insbesondere
IWF
Internationaler Währungsfonds
lpb
Landeszentrale für politische Bildung
Mio.
Millionen
Mrd.
Milliarden
NGOs
Nichtregierungsorganisationen
NY
New York (Oxford University Press)
o. u.
online unter
OECD
Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung
s.
siehe
sog.
sogenannt
u. a.
unter anderem
UN
Vereinte Nationen
UN-Charta
Charta der Vereinten Nationen
UNO
Organisation der Vereinten Nationen
US
United States
USA
United States of America
v. a.
vor allem
vgl.
vergleiche
WTO
Welthandelsorganisation
z. B.
zum Beispiel
ZParl
Zeitschrift für Parlamentsfragen
Europa spielt eine zunehmende Rolle in der internationalen Zusammenarbeit und Konfliktlösung im internationalen Zusammenleben. Ihre Bevölkerung und Wirtschaftskraft verleihen der Europäischen Union (EU) ein großes Gewicht im System der internationalen Beziehungen, insb. im Rahmen der Vereinten Nationen (UN). Die EU hat nach dem Ende des Kalten Krieges ihre internationalen Kontakte sehr stark ausgebaut. So unterhält sie Partnerschaften mit den geopolitisch und strategisch relevanten internationalen Akteuren, welche die gleichen oder ähnlichen Interessen wie die EU verfolgen. Die gemeinsame Außenpolitik durch die rechtlichen und institutionellen Bestimmungen des Vertrages von Lissabon verstärkt ihre internationalen Einflussmöglichkeiten.
Der Friedensnobelpreis „für über sechs Jahrzehnte Beitrag zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa“ wurde 2012 der EU zuerkannt. Der Erfolg und die Einzigartigkeit des europäischen Friedensprojektes sind unbestritten. Dennoch werden die rechtlich-institutionelle Konstellation und die demokratische Legitimität des EU-Systems sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene oftmals kritisiert. Man hört in unzähligen tagespolitischen Medien und politischen Zentren oder bei Umfragen wiederholt kritische Töne – manchmal berechtigt, manchmal weniger: Zu undemokratisch, zu bürokratisch, zu liberal, zu konservativ, zu machtvoll oder zu schwach, also kompliziert und unmöglich zu verstehen sei die EU. Je greifbarer das „Projekt Europa“ oder die Perspektiven der europäischen Idee wurden und werden, umso höher wurden und werden die Ansprüche ebenfalls und heftiger und intensiver die geführten Diskussionen. Insbesondere ist die EUDebatte seit Beginn der andauernden Euro-Krise im Herbst 2009 innerhalb der EU beinahe ein ständiger Begleiter bei sämtlichen Themen, die Europa betreffen. Seit 2016, mit dem Brexit-Prozess und dem Ausbruch der globalen COVID-19-Pandemie-Krise im Frühjahr 2020, zieht die europäische Frage alle Gesellschaftsschichten innerhalb der EU-Zone durch.
In dieser Konstellation handelt es sich im Kern dieser Studie um die folgenden zentralen Inhalte und Fragen, um das EU-System und die EU-Außenpolitik besser zu erfassen:
was Europa und die EU eigentlich sind,
wie sich das EU-System charakterisieren lässt,
welche Grundwerte und Prinzipien die EU hat und welche Ziele sie verfolgt,
wie das EU-System institutionell aufgebaut ist und wie es überhaupt funktioniert,
wie demokratisch die EU ist,
was die „EU-Außenpolitik“ ist und wie sie sich charakterisieren lässt,
welche Ziele und Werte die „EU-Außenpolitik“ hat.
Im Lichte dieser Ausgangsfragen wird im Rahmen dieser Forschungsarbeit versucht, die rechtlich-institutionelle Struktur, Verfahren und Prozesse sowie die Außenpolitik des EU-Systems zu erörtern, um die komplexen Zusammenhänge und die kontroverse Position besser zu verstehen sowie Antworten für wichtige Problembereiche zu finden. Zielsetzung ist es dabei, einen möglichst objektiven, wissenschaftlichen Beitrag zum Diskurs über das Projekt Europa, dessen Finalität unbekannt ist, zu leisten.
Zunächst erfolgt ein allgemeiner Überblick über das EU-System, um die komplexen Zusammenhänge der Thematik optimal zu verstehen. Die Europäische Union ist ein komplexes politisches System, das Macht und Kompetenzen mit ihren Mitgliedsstaaten teilt. Wie genau diese Aufteilung zwischen der europäischen und der nationalen Ebene erfolgt, ist jedoch schwer zu erfassen.1
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Bevölkerung der EU nach dem Brexit, dem EU-Austritt Großbritanniens 2020, etwa 450 Millionen Einwohner umfasst. Der EU-Binnenmarkt kennt keine Grenzen und ist der am Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen größte gemeinsame Wirtschaftsraum der Welt. Das gesamte BIP der EU-27 betrug im Jahr 2020 rund 13,33 Billionen Euro.2 Damit erwirtschaftete die Union auch nach dem Brexit noch ein höheres BIP als China (etwa 12,14 Billionen Euro 2020), während das BIP der USA im Jahr 2020 rund 20,93 Billionen USDollar erreichte.3 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die USA weiterhin mit deutlichem Abstand zur EU und China die größte Volkswirtschaft der Welt ist. Hingegen ist die EU jedoch nach wie vor der weltgrößte Geber humanitärer Hilfe.
Zum einen erscheint die EU zunehmend als ein den Nationalstaaten übergeordnetes politisches System. Zum anderen verfügt die Union keinesfalls über Weisungsbefugnisse gegenüber ihren Mitgliedstaaten, sondern ist vielmehr von ihnen abhängig. Einerseits besitzt die EU auffällige charakteristische Merkmale einer internationalen Organisation, eines Bundesstaates, eines Staatenverbundes oder eines Staatenbundes, andererseits Eigenschaften eines internationalen Regimes, eines Mehrebenensystems.4 Fest steht jedoch, dass die EU primär ein kontinentales Einigungswerk von nie dagewesenem, weltgeschichtlichem Ausmaß zwischen Tradition und Moderne darstellt.5
Als Nächstes zeigt sich, dass die europäische Einigung durch zwei different erstellte Konzeptionen der Zusammenarbeit der europäischen Staaten, die Kooperation und Integration, geprägt wird.6 Die EU-Staaten mit gemeinsamen Zielen, Traditionen, jedoch differenten Entwicklungen und mit einer teils anderen historischen Herkunft entscheiden in signifikanten Politikbereichen gemeinschaftlich.7 Auf diese Art und Weise soll in Europa ein moderner Menschheitsraum der Einigkeit, Freiheit, dauerhaften Friedens, sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit wachsen.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die EU ein integraler Bestandteil Europas ist. Schließlich ist Europa ein Mosaik differenter, reicher Kulturen und bildet dadurch eine Brücke zwischen Tradition und Moderne sowie der westlichen und der übrigen Welt. Europa bringt damit ein offenes Projekt zum Ausdruck, nämlich „die EU“, deren Finalität unbekannt ist.
1 Vgl. Tömmel, I. (2014): Das politische System der EU, 4. Auflage, Oldenbourg, S. 1.
2 Vgl. EU: BIP der EU im Jahr 2020, in: Statista: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/188776/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-in-den-eulaendern/ [06.06.2021].
3 Vgl. USA: Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1980 bis 2020 und Prognosen bis 2026, in: Statista: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/14418/umfrage/bruttoinlandsprodukt-in-den-usa/ [06.06.2021].
4 Vgl. Furtak, F. (2005): Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im politischen System der Europäischen Union – Strukturen, Beteiligungsmöglichkeiten, Einfluss, 2. Aufl., München, S. 52.
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