Charles Darwin zur Einführung - Julia Voss - E-Book

Charles Darwin zur Einführung E-Book

Julia Voss

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Beschreibung

Kaum ein Werk hat so weit ausgestrahlt wie das von Charles Darwin (1809-1882): Seine Evolutionstheorie hat Eingang in Philosophie und Geschichtstheorie gefunden, in Soziologie, Kunstgeschichte oder Ethnologie, und steht noch immer im Zentrum der Biologie. Gleichzeitig provoziert kaum eine Theorie so unterschiedliche Reaktionen. Für die einen verkörpert Darwin ein wissenschaftlich aufgeklärtes Weltbild und die Überzeugung, Vorgänge in der Natur mit wissenschaftlichen Methoden erklären zu können - und nicht wie die Kreationisten mit Bibellektüre oder den Eingriffen eines Schöpfergottes. Für andere steht Darwin für eine neoliberale Ideologie, die besagt, dass stets der Stärkere siegt. Wie es zu diesen Einschätzungen gekommen ist, legt diese Einführung dar und stellt Darwins Hauptwerke in ihrem Entstehungskontext vor.

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Seitenzahl: 266

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Charles Darwin zur Einführung

Julia Voss

Charles Darwin zur Einführung

Wissenschaftlicher BeiratMichael Hagner, ZürichDieter Thomä, St. GallenCornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Für Daniel

Junius Verlag GmbHStresemannstraße 37522761 HamburgIm Internet: www.junius-verlag.de

© 2008 by Junius Verlag GmbHAlle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Florian ZietzTitelbild: Darwin im Jahr 1840E-Book-Ausgabe Januar 2017ISBN 978-3-96060-027-5Basierend auf Print-AusgabeISBN 978-3-88506-654-51. Auflage 2008

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

I.Darwinkult

1. Karikaturen und Fotografien

2. Briefe

3. Revolutionär

II. Hinter den Kulissen: Darwin vor 1859

Kurzbiografie 1809 bis 1859

1. Historische Evolutionstheorien

2. Die Sammlung der H.M.S. Beagle

3. Die Museumslandschaft im 19. Jahrhundert

4. Finken, Fossilien und Rankenfußkrebse

5. Alfred Russel Wallace

III. Auf der Bühne: Darwin nach 1859

Kurzbiografie 1859 bis 1882

1. Variierende Tauben und Menschen

2. Selektierte Pflanzen und Pfauen

3. Übersetzung und Rezeption in Deutschland, Frankreich und Russland

4. Orchideen, Kletterpflanzen und Regenwürmer

5. Mensch und Affe

IV. Darwin und seine Kritiker

1. War Darwin Atheist?

2. War Darwin Rassist?

3. Ist Selektion ein Naturgesetz?

Anhang

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Siglenverzeichnis

Weiterführende Literatur

Zeittafel

Über die Autorin

Einleitung

Kaum ein Autor ruft so unterschiedliche Reaktionen hervor wie Charles Darwin. Seine Evolutionstheorie besagt, um es auf eine Kurzformel zu bringen, dass sich alle Organismen durch winzige, kleine Merkmale unterscheiden und dass diese, falls erblich, zur Grundlage des Artwandels werden können. Merkmale, die zum Vorteil eines Tiers oder einer Pflanze sind, vergrößern dessen Überlebenschancen oder Fortpflanzungserfolg, nachteilige verringern sie. Darwin hat außerdem die Hypothese aufgestellt, dass Mensch und Tier miteinander verwandt seien und einen gemeinsamen Vorfahren teilen. Eine lange Kette von Generationen, die uns in Form von Fossilien überliefert sind, verknüpft demnach durch Jahrmillionen vergangene Welten mit der unsrigen.

An diesem Punkt beginnen die Schwierigkeiten. Für die einen stehen Darwin und sein Name für ein wissenschaftlich aufgeklärtes Weltbild: Ein Darwinist wäre nach dieser Definition eine Person, die von der Richtigkeit der Evolutionstheorie überzeugt ist, Vorgänge in der Natur mit wissenschaftlichen Methoden erklären will und nicht mit Bibellektüre oder der Annahme, Gott greife fortwährend in die Geschichte des Lebendigen ein. Andere aber denken, sobald sie den Namen Darwin hören und insbesondere wenn vom Darwinismus die Rede ist, an eine Art Ideologie, die besagt, dass die Welt so eingerichtet sei, dass der Stärkere siegt und der Schwächere unterliegt. Ein Darwinist wäre nach dieser Definition eine Person, die zum Beispiel Kriege für natürliche Vorgänge hält und Sozialhilfe für Geldverschwendung – letztere Spielart nennt sich auch »Sozialdarwinismus«. Diese widersprüchlichen Definitionen lohnt es sich näher anzuschauen.

Kaum ein Werk hat, auch das sei vorausgeschickt, so weit ausgestrahlt wie das von Charles Darwin. Es hat Eingang in Philosophie und Geschichtstheorie gefunden, in Soziologie, Kunstgeschichte oder Ethnologie, und steht noch immer im Zentrum der Biologie. In den Lebenswissenschaften wurde die Evolutionstheorie in den hundertfünfzig Jahren seit dem Erscheinen der Entstehung der Arten in zahlreiche Richtungen weiterentwickelt, man denke etwa an Forschungsfelder wie Genetik oder Soziobiologie. Bis heute spaltet Darwin die Lager: Um Evolution wird sogar, zumindest in den Vereinigten Staaten, vor Gericht gestritten. Seit im amerikanischen Bundesstaat Tennessee 1925 der Naturkundelehrer John Scopes verklagt und schuldig gesprochen wurde, weil er die Evolutionstheorie im Unterricht gelehrt hatte, ziehen immer wieder fundamentalistische Christen vor Gericht, mit wechselndem Erfolg.1

Mit Blick auf die erhitzten Debatten, die das Buch provozierte und die weitreichenden Folgen, politische wie gesellschaftliche, ist Darwins Entstehung der Arten vergleichbar mit Karl Marx’ Das Kapital oder Adam Smiths Der Wohlstand der Nationen. Als ein englischer Verlag vor einiger Zeit die Buchreihe »Books That Shook The World« auflegte, fand sich sein Buch sogar in einer Reihe mit der Bibel und dem Koran. Darwins Schriften, darüber kann kein Zweifel bestehen, sind mehr als nur wissenschaftliche Theorien. Sie sind die Grundlage von Weltanschauungen – der Plural ist hier mit Bedacht gewählt. Es war in der Geschichte keineswegs eindeutig, welche Weltanschauung aus der Evolutionstheorie abgeleitet werden sollte, nur dass eine abgeleitet werden kann, darüber herrschte und herrscht Einigkeit. Verwunderlich ist es nicht: In dem Moment, wo eine wissenschaftliche Theorie nicht nur das Strömungsverhalten von Quecksilber oder das Schub-Gewicht-Verhältnis von Flugkörpern beschreibt, sondern den Anspruch erhebt, für alles Lebendige vom Pantoffeltierchen bis zum Menschen zu gelten, steht sie unweigerlich mit einem Bein in der Moralphilosophie. Grundsätzliche Fragen wie die, was Moral sei oder ob es universelle Werte gebe, sind notwendigerweise Teil einer derart großräumigen Theorie. Sie muss sich damit beschäftigen, und insofern sie darauf Antworten gibt, birgt sie das Potenzial für eine Weltanschauung.

Hinter Begriffen und Schlagworten wie »Evolution«, »Darwinismus« oder »Überlebenskampf« versteckt sich also ein Knäuel von Annahmen darüber, was Evolution sei oder was Darwin geschrieben habe, und es wird uns häufig so gehen wie dem Betrachter eines Vexierbildes. Wir erblicken entweder das eine oder das andere: Evolutionstheorie als Wissenschaft oder als Ideologie. Wie bei einem optischen Trick springt die Wahrnehmung vor und zurück; wir können zwar von einer Sehweise zur anderen wechseln, beides auf einmal in den Blick zu nehmen scheint aber unmöglich.

Die vorliegende Einführung möchte jedoch eben dies tun. Evolutionstheorie hat eine Geschichte, und der Blick zurück kann uns dabei helfen zu verstehen, welche Verbindungen Darwins Werk mit Forschung, Politik und Kultur eingegangen ist und welche Bedeutung diese für seine Theorie haben. Wie Evolution und Weltanschauung miteinander verknüpft sind, ist ein durchlaufendes Thema dieses Buchs. Es ist zugleich eine Frage, mit der wir häufig konfrontiert sind: In den Medien melden sich vermehrt Wissenschaftler zu Wort, die für sich in Anspruch nehmen, mit der Evolutionstheorie erklären zu können, was wir als schön empfinden, woher Gewalt kommt, ob Gott existiert. Diese Art des Argumentierens ist historisch relativ neu, sie kam mit der Evolutionstheorie auf, auch wenn die Antworten meistens nicht von Darwin stammen. Um solche Deutungsansprüche einschätzen zu können, ist es notwendig, die Evolutionstheorie zu kennen. Sie gehört deshalb zu unserer Allgemeinbildung. Das vorliegende Buch führt in das notwendige Grundwissen ein und will darüber hinaus zu einem souveränen Umgang mit ihr ermutigen.

Eine zweite Eigenart, die neben der weltanschaulichen Bedeutung der Evolutionstheorie auffällt, ist deren enge Kopplung mit Darwins Person. Er ist nach wie vor untrennbar mit ihr verbunden, bereits im 19. Jahrhundert führten Bücher, die Anhänger der Evolutionstheorie verfasst hatten, seinen Namen im Titel. Der amerikanische Botaniker Asa Gray veröffentlichte 1876 Darwiniana. Essays and Reviews Pertaining to Darwinism, im Jahr 1889 folgte der Engländer Alfred Russel Wallace mit dem auch ins Deutsche übertragenen Essayband Der Darwinismus. Eine Darlegung der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl und einiger ihrer Anwendungen. Bis heute wird Darwin in biologischen Fachzeitschriften zitiert, was für eine hundertfünfzig Jahre alte Theorie in den Naturwissenschaften ungewöhnlich ist. Zugleich gehen die Meinungen darüber, worin sein Vermächtnis besteht, weit auseinander – auch innerhalb der Wissenschaft. Der Identifikation mit dem Begründer der Evolutionstheorie scheint dies keinen Abbruch zu tun: Darwins Anhänger vertreten häufig widersprüchliche Positionen, eine Unschärfe, die auch in der Vielschichtigkeit von Darwins Werk begründet liegt.

Um es vorweg zu sagen: Darwins Werk ist nicht unschuldig. Der Autor überarbeitete seine Schriften häufig mehrfach, allein die Entstehung der Arten durchlief seit 1859, dem Erscheinungsjahr, sechs Auflagen. Die Abstammung des Menschen ging von 1871 an durch drei autorisierte Fassungen. In jede dieser Auflagen arbeitete Darwin Kritik ein, nahm neue Forschung auf oder strich strittige Passagen. Wie einschneidend diese Änderungen sein können, soll ein kurzes Beispiel zeigen: Auf der letzten Seite der ersten englischen Auflage der Entstehung der Arten schreibt Darwin 1859, dass der Keim des Lebens »wenigen, vielleicht auch nur einer einzigen Urform eingehaucht worden sei« (OS1, 490).2 In der zweiten Auflage erweiterte er dieselbe Stelle um ein folgenreiches Wort, indem er nun sagt, »dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat« (OS2, 490; EA1, 494). Zwischen beiden Aussagen liegen Welten. Die passivische Form der ersten Fassung von 1859 lässt offen, wie aus unbelebter Materie belebte wurde, die zweite Fassung legt den Anfang in die Hände eines Schöpfergottes.

Es kann also nicht verwundern, dass sich die Auslegungen von Darwins Werk nur selten deckten. Die sogenannte »Darwin Industry« produziert jedes Jahr neue Bücher – über die Grenzen von Geistes- und Naturwissenschaften hinweg –, in denen sich die Ansichten zu Darwin und zur Evolutionstheorie wie in einem Spiegelkabinett unüberschaubar vervielfachen. Diese Einführung wird nicht das Original dazu liefern können. Aber sie wird die Mehrdeutigkeiten oder Brüche in Darwins Werk benennen und anhand der historischen Entwicklung, der Weise, wie der Autor sein Werk zeitlebens um- und weiterarbeitete, nachvollziehen. Um zu verstehen, auf welche Fragen des 19. Jahrhunderts die Evolutionstheorie Antworten gegeben hat, werden Darwins Schriften an zeitgenössische Debatten zurückgebunden.

Ein paar Worte zur Gliederung dieser Einführung: Das erste Kapitel handelt von der Person Darwin, seinem sozialen und wissenschaftlichen Umfeld, der Art, wie er arbeitete und forschte. Das anschließende zweite Kapitel befasst sich mit Darwins Schaffen bis 1859, dem Jahr, in dem die Entstehung der Arten erscheint und die Debatten losbrechen. In den zwei Jahrzehnten davor hatte Darwin bereits vierzehn Bücher veröffentlicht, darunter den berühmten Reisebericht Die Fahrt der Beagle. In diesen Werken wird die Evolution mit keinem Wort erwähnt, rückblickend stehen sie jedoch in einem eindeutigen Zusammenhang. Anspielungen auf die Evolutionstheorie schmuggelt Darwin wie Kassiber in seine Texte. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr führt der englische Forscher eine Art Doppelleben: Offiziell schreibt er über die Erlebnisse seiner Reise, die Fauna und Flora der Beagle-Sammlung, Korallenriffe und Rankenfußkrebse; inoffiziell jedoch arbeitet Darwin an seiner Theorie der Evolution, einem allumfassenden Systemwerk, in dem jede Beobachtung ihren Platz findet – jener Theorie also, die später eine Wissenschaftsrevolution auslöste und weit über die Fächergrenzen ausstrahlte.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dieser Zeit nach 1859 und den nächsten gut zwanzig Jahren, die Darwin bis zu seinem Tod 1882 bleiben. Er veröffentlicht, die Neuauflagen mit eingerechnet, weitere achtzehn Bücher, jedes handelt nun von Evolution. Wie ein Kaleidoskop spielen diese Bücher alle Facetten seiner Theorie im Pflanzen- und Tierreich durch, den Menschen eingeschlossen. Statt Buch für Buch nacheinander vorzustellen, werden in diesem Kapitel die großen thematischen Stränge verfolgt, die alle Werke durchziehen: Variation, Selektion, Tierverwandtschaft.

Das dritte und letzte Kapitel schließt mit drei systematischen Fragen und führt zurück zur anfangs gestellten Frage, wo sich Evolutionstheorie und Ethik berühren. Über viele Details der Evolution müssen Fachwissenschaftler streiten; die Frage jedoch, die viele darüber hinaus beschäftigt – Fachwissenschaftler, Historiker, Philosophen und Laien – ist, was Darwins Evolutionstheorie für unser Handeln, Leben oder die Art, wie wir denken, bedeuten könnte. Die folgenden Seiten sollen die Möglichkeit geben, sich selbst ein Bild davon zu machen.

I. Darwinkult

Neben dem Physiker Albert Einstein zählt Darwin zu den am häufigsten abgebildeten Wissenschaftlern in der Geschichte, Theorie und Person sind untrennbar miteinander verknüpft. Darwiniana oder Darwinismus hießen bereits 1876 und 1889 die ersten Aufsatzsammlungen, in denen die Naturforscher und treuen Darwinanhänger Asa Gray und Alfred Russel Wallace die Evolutionstheorie behandelten. Darwins Porträt, fotografiert oder gemalt, stieg zur Ikone der Evolutionstheorie auf, die über Zeitschriften, Bücher, Karikaturen und Fotografien tausendfach vervielfältigt wurde und im Jahr 2000 auf die englische Zehnpfundnote gelangte – der Schriftsteller Charles Dickens, ein Zeitgenosse Darwins, musste dafür weichen. Heute hat Darwins Porträt durch das Internet den wohl höchsten Verbreitungsgrad erreicht.3 Die Doppelung, gleichzeitig zur Ikone und zum Namensgeber einer Theorie zu werden, ist in der Wissenschaftsgeschichte eine Ausnahme. Der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen mochte etwa den von ihm entdeckten Röntgenstrahlen seinen Namen geben, Albert Einsteins Bild ging um die Welt. Beides zusammen gelang nur Darwin: Sein Name, sein Bild, seine Theorie sind unauflösbar miteinander verbunden.

Zufall ist dies nicht. Darwins Veröffentlichungen fielen mit einer Reihe von gesellschaftlichen Umwälzungen zusammen, die direkt am Erfolg seiner Theorie beteiligt waren. Die erste und bedeutendste war die Herausbildung einer Medienöffentlichkeit im 19. Jahrhundert: Erfindungen wie etwa das kostengünstige Holzstichverfahren oder die Stanhope-Druckerpresse hatten den publizistischen Markt revolutioniert und führten zu einer schnell wachsenden Zahl von Tageszeitungen, Wochenmagazinen oder Monatsschriften, zur Gründung von Verlagshäusern, Leseklubs, Leihbibliotheken und zur Einführung der sogenannten Volksausgaben, preiswerte Bücher, die auch für Schichten mit niedrigem Einkommen erschwinglich waren. Zu Galileo Galileis Zeiten bestand das Publikum noch aus einer kleinen lesekundigen Elite. Bücher waren teuer, und der Zugang zu den wenigen Bibliotheken war beschränkt, intellektuelle oder wissenschaftliche Debatten wurden in kleinen Kreisen geführt. Als Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlichte, flutete dagegen ein Meer von Kommentaren, Gegenschriften oder Fürsprachen in die englischen Wohnzimmer. Man diskutierte privat oder öffentlich, in den exklusiven Klubs ebenso wie in den Volksbildungseinrichtungen. Fast jeder bildete sich nun eine Meinung zur Evolutionstheorie, die Debatte wurde zum Gesellschaftsspiel. Diese Einrichtungen machten Darwin schon zu Lebzeiten zum Star. Er wurde so bekannt, dass Schaulustige zu seinem Wohnsitz in Downe reisten, in der Hoffnung, den berühmten Forscher beim Spaziergang durch den Garten beobachten zu können.

Neben den publizistischen Neuerungen vollzog sich noch eine andere Umwälzung in enger Verbindung mit der Evolutionstheorie: England stieg zur weltweit größten Kolonialmacht auf. Darwin zog ganz praktischen Nutzen daraus, ihm stand ein riesiges Netz von Beamten, Händlern, Plantagenbesitzern und Gärtnern in aller Welt zur Verfügung, die ihm Auskunft über zahlreiche Tiere und Pflanzen gaben. Mit der Postreform in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Briefeschreiben zudem deutlich günstiger, so dass Darwin mit einer Vielzahl von Zeitgenossen persönlich in Verbindung trat, die er nie hätte treffen können. Darwin, einer der begabtesten und leidenschaftlichsten Briefeschreiber seiner Zeit, baute auf diese Weise eine Art Agentensystem auf. Über den Globus verstreut hatte er Kontaktpersonen, die ihn sowohl mit naturhistorischer Information belieferten als auch die Evolutionstheorie unterstützten und sich publizistisch für sie einsetzten. Schließlich sei noch erwähnt, dass das 19. Jahrhundert eine Zeit des politischen Umbruchs war. Nationalstaaten und Parlamente wurden gebildet, die Sklaverei wurde abgeschafft, der Kapitalismus gedieh, das Bürgertum löste den Adel als Führungsklasse ab. Eine Denkfigur, die seit Jean-Jacques Rousseau vom späten 18. Jahrhundert an die politischen Ereignisse begleitete, war die Vorstellung, es gebe natürliche oder unnatürliche Weisen, Gesellschaften einzurichten, wobei die natürlichen vorzuziehen seien. Die Evolutionstheorie wurde – und ist es bis heute – ein Fixpunkt solcher Auseinandersetzungen.

Von diesen Entwicklungen in Medien, Politik oder Postwesen wurde die Evolutionstheorie wie von einer Lawine mitgerissen, zusammen mit einigem Geröll, das als Endmoräne bis in unsere Gegenwart reicht. Die folgenden Seiten sollen die gröbsten Brocken daraus entfernen. Anders gesagt: Viele Vorstellungen, die wir von der Evolutionstheorie haben, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Der Blick in die Geschichte kann uns helfen, ein klareres Bild von ihr zu entwickeln und einige populäre Irrtümer zu vermeiden.

1. Karikaturen und Fotografien

Trotz der spröden Detailversessenheit, die seine Schriften über weite Strecken kennzeichnet, besaß Darwin englischen Humor und dazu vielleicht sogar ein Gespür für medienwirksame Inszenierungen. Viele Briefe sprechen dafür, auf sie wird noch zurückzukommen sein. Der deutlichste Beleg, sowohl für Darwins Humor als auch für sein Talent zur Öffentlichkeitsarbeit, ist jedoch seine Beziehung zur Karikatur. Im Archiv der Cambridge University Library liegt bis heute die Mappe, in der er Karikaturen von sich und der Evolutionstheorie sammelte, sorgsam ausgeschnitten aus Zeitungen oder Satireblättern.4 Die Karikaturensammlung gehört zu den aufschlussreichsten Entdeckungen in der Darwin-Forschung der letzten Jahre, die damit um ein Element bereichert worden ist, das viel zu selten mit der Geschichte der Evolutionstheorie in Verbindung gebracht worden ist: Witz und Ironie. Das entspricht zunächst nicht der landläufigen Vorstellung davon, wie sich die Aufnahme der Evolutionstheorie im viktorianischen England abspielte. Mit Blick auf die Rezeption haben Historiker häufig ein Szenario wie in Platos Höhlengleichnis entworfen, worin Darwin dem Entdecker des Lichts entspricht und die Gesellschaft den ängstlichen, gefesselten Höhlenbewohnern, die sich dagegen wehren, etwas anderes als Schatten – sprich: die Unwahrheit – zu sehen. Die Karikaturen räumen mit dieser einseitigen Darstellung auf. Die Evolutionstheorie wurde offensichtlich nicht nur als schockierend, beleidigend oder bedrohlich empfunden. Weite Teile der Öffentlichkeit machten sich einen Spaß daraus, immer absurdere Konsequenzen der Theorie auszumalen, man lachte und scherzte darüber, Darwin eingeschlossen. Es ist ein verbreiteter und vielleicht auch bequemer Irrtum, sich vorzustellen, die Debatte um die Evolutionstheorie sei von Angst und einem kleinlichen Nichtwahrhabenwollen geprägt gewesen. Argumentativ ist es unbefriedigend, Darwins Kritiker zu bezichtigen, sie hätten ihm aus Angst vor der Wahrheit widersprochen. Die historischen Karikaturen bieten eine gute Möglichkeit, solchen Vereinfachungen entgegenzuwirken.

Abb. 1: Karikatur in der englischen Satirezeitschrift Punch aus dem Jahr 1882

Werfen wir also auf eine dieser Karikaturen einen genaueren Blick (Abb. 1). Die Abbildung erschien 1882 in Punch, der größten englischen Satirezeitschrift, gezeichnet vom Chefkarikaturisten des Blattes, Linley Sambourne. Der Titel »Man is but a worm« bezog sich auf eine Veröffentlichung Darwins, die den länglichen Titel Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer mit Beobachtung über deren Lebensweise trug und die im Oktober des vorangegangenen Jahres erschienen war. Einer Spirale ins Bildzentrum folgend zieht eine wilde Evolutionspolonaise, die ihren Ursprung in einem regenwurmartigen Urorganismus nimmt und über affenähnliche Zwischenstationen schließlich bei einem zylindertragenden Gentleman ankommt. Solche Verwandlungsreihen sind auch heute populär, zuletzt schaffte es dieser Bildtyp in die amerikanische Zeichentrickserie The Simpsons. Dort zeigt ein Vorspann der Serie im Zeitraffer Homer Simpsons Evolution aus der Ursuppe bis nach Springfield. Der Bildwitz funktioniert hier, hundertfünfzig Jahre später, immer noch gleich. Und es ist nahe liegend, dass solche Karikaturen nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Geschichte zur Popularität der Evolutionstheorie beigetragen haben. Sie wurde auf diese Weise ein Teil der Unterhaltungskultur.

Wie durch ein Vergrößerungsglas zeigen Karikaturen Phänomene, die uns vielleicht sonst weniger deutlich erscheinen. Bemerkenswert an der historischen Karikatur ist vor allem die Art und Weise, wie der Autor der Evolutionstheorie dargestellt wird: Halb Adam, halb Gottvater, sitzt Darwin im Bild wie die Figuren auf Michelangelos berühmtem Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle aus dem 16. Jahrhundert. In zahlreichen Briefen hatten Korrespondenten Darwin bereits darauf hingewiesen, dass er mit seinem langen weißen Bart auf Fotografien Moses, einem Propheten oder Geistlichen ähnele.5 Die latente Ikonografie machte die Karikatur nun manifest: Darwin wanderte in die Mitte des Schöpfungsmythos, den seine Evolutionstheorie zu Fall bringen sollte. Mit diesem Paradox spielt die Karikatur. Der berühmte, mit Ehrungen überhäufte Begründer der Theorie, die anstelle des Schöpfungsglaubens treten sollte, wurde 1882 selbst wie ein Gott verehrt; die Leerstelle der gottlosen Theorie nahm der gottgleiche Forscher ein.

Naturgemäß zeichnete die Karikatur damit ein überspitztes Bild. Was uns jedoch immer wieder beschäftigen wird, ist die Tendenz der Evolutionstheorie, in ihren Deutungen religionsgleiche Züge anzunehmen. Dass Darwin der Öffentlichkeit fast ausschließlich im höheren Alter vorgestellt wurde und wird, weist in diese Richtung. In der Geschichte lassen sich zahllose Beispiele dafür finden, von Zeitschriftenbeiträgen, Buchillustrationen, Karikaturen oder Werbungen, die den Autor der Evolutionstheorie zu einer Art Medienstar avant la lettre machten. Fast jeder weiß, dass Darwin als junger Mann die Welt umsegelte, auf Bildern sehen wir ihn jedoch fast immer als Greis. Die Bilder zeigen uns auch nicht, wie er in den Jahren nach 1859 aussah, als sein berühmtestes Buch, Die Entstehung der Arten, erschien. Gerade fünfzigjährig trug er lange Koteletten, die Haare waren ihm größtenteils ausgefallen, Kinn und Wangen rasiert. So bekommen wir ihn nur selten zu Gesicht. Auch wie es zu dieser Fixierung auf den alten Darwin kam, ist daher bedenkenswert.

Zu sagen, Darwin hätte sich bewusst inszeniert, würde zu weit führen. Allerdings verraten seine in Briefen dokumentierten Reaktionen auf Porträtfotografien ein gewisses Maß an Eitelkeit, die dafür gesorgt hat, dass wir den Entdecker der Evolutionstheorie mit einem Bild assoziieren – und nicht mit einem anderen. Alternativen gab es genug. Im Jahr 1840, Darwin hatte gerade seinen Reisebericht veröffentlicht, malte ein Künstler den Forscher etwa in einem Aquarell, das einen jungen Mann mit dünner werdendem Haar als tadellosen englischen Gentleman zeigt. Ende der 1840er Jahre folgte eine Lithografie, dann die ersten fotografischen Porträtaufnahmen, die von Fotoagenturen kommerziell vertrieben wurden. Mit der Erfindung der Fotografie waren Bilderserien wie der Literary and Scientific Portrait Club Mode geworden, der bekannte Persönlichkeiten aus Literatur und Forschung vorstellte, späteren Fanbildsammlungen nicht unähnlich. Zwei Mal saß auch Darwin für diese Reihe, 1854 und 1857, damals der Öffentlichkeit noch nicht als Autor der Evolutionstheorie bekannt, sondern als Weltreisender und seit 1853 als Träger der renommierten Royal Medal. Im ersten Foto empfand er seinen Gesichtausdruck als »beklemmend boshaft«, an einen Bekannten schrieb er, dass, falls sein Ausdruck tatsächlich so schlimm wie auf der Fotografie sei, es ihm unerklärlich bleibe, warum er auch nur »einen einzigen Freund« habe (Corr 5, 339). Das zweite Foto nannte er ebenfalls »eine hässliche Angelegenheit« (Corr 9, 88). Der deutschen Übersetzung seiner Werke wurde es 1863 mit der zweiten, verbesserten und vermehrten Auflage der Entstehung der Arten dennoch als Frontispiz vorangestellt.

Dann folgte die berühmte Aufnahme mit Bart, die rückwirkend alle vorangegangenen Porträts löschen sollte (Abb. 2). Vorausgegangen war dem Porträt zunächst eine Unpässlichkeit. Im Spätsommer 1862 hatte Darwin einen Ausschlag im Gesicht entwickelt, der sich mit jeder Rasur verschlimmerte. Er hörte auf, sich zu rasieren, und ließ sich einen Bart wachsen. Neben praktischen Erwägungen mögen auch modische eine Rolle gespielt haben. Darwin, wie viele seiner Zeitgenossen, empfand Bärte als kleidsam. Sieben Jahre darauf, als 1871 Die Abstammung des Menschen erschien, widmete er sich ausführlich der Bartmode, die ihm als Beleg für das unterschiedliche Schönheitsempfinden von Völkern galt. Große Bärte, so hatten seine Nachforschungen ergeben, waren bei den Angelsachsen, Orientalen oder Fidschi-Insulanern besonders geschätzt, in Tonga und Samoa dagegen würden bartlose Gesichter bevorzugt, einzelne Haare deshalb sogar ausgerissen. »Bärtige Rassen«, schreibt Darwin, der die Angelsachsen unter diese Rubrik rechnete, »bewundern […] ihre Bärte und schätzen sie sehr.« (AM6 I, 328) Ganz so eindeutig, wie Darwin glauben machen wollte, war die Vorliebe für Bärte nicht, sie unterlag in der Geschichte wechselnden Moden. Im 19. Jahrhundert allerdings feierte der Vollbart eine Renaissance, nachdem er im gesamten 18. von fast niemandem getragen worden war; unter Darwins Zeitgenossen gab es zahlreiche weitere berühmte Vollbartträger, von Karl Marx bis Friedrich Engels, Émile Zola, Édouard Manet oder Giuseppe Garibaldi. Darwin reihte sich also in eine Galerie von Bartträgern ein. Im Bild hielt ihn mit Bart zum ersten Mal sein Sohn William Erasmus 1864 fest. Von Juni an versendete Darwin das Porträt, das William Erasmus vermutlich im April des Jahres aufgenommen hatte, an zahlreiche Korrespondenten im Ausland, von Deutschland bis in die Vereinigten Staaten. Er erhielt fast ausschließlich begeisterte Antworten, und auch sein deutscher Verleger tauschte in späteren Auflagen der Entstehung der Arten das frühere Porträt ohne Bart gegen das neue mit Bart aus. Es war dieses Bild, das von den Karikaturisten aufgegriffen wurde.

Abb. 2: Porträtfotografie von Charles Darwin im Alter von 55 Jahren

In allen Kommentaren wird deutlich, dass der Bart zahlreiche Bildtraditionen wachrief: die bärtigen Philosophen der Antike, Moses und die alttestamentarischen Propheten oder Gottvater. Aus dem Autor der Evolutionstheorie wurde eine Ikone, die ganz verschiedene Tugenden repräsentierte: die Weisheit des Philosophen, die gesetzgebende Kraft Moses’, die Weitsicht des Propheten, die Güte Gottvaters – oder auch nur die Klarheit der männlichen Vernunft. Für die revolutionärste Theorie des 19. Jahrhunderts standen damit vergleichsweise traditionelle Werte ein. Die Karikaturen seiner Person sorgten gleichzeitig dafür, ein Bild von ihm zu prägen, das bis heute gültig ist: Darwin, der zurückgezogene Forscher aus Downe, weise, abgeklärt und altersmilde. Der Autor tritt uns damit als das exakte Gegenteil seiner Theorie entgegen, als deren Schlagwörter Kampf ums Dasein, Auslese und Wandel gelten. Er erscheint als alter Mann und Gentleman. Diese Mischung aus konservativen und revolutionären Elementen, die zum Teil geradezu widersprüchlichen Signale, die von der Evolutionstheorie und ihrem Autor ausgingen, behinderte aber nicht etwa den Erfolg, sondern trieb ihn an. Liberale, linke wie konservative Kreise fühlten sich gleichermaßen von Darwin und seiner Theorie angesprochen und konzentrierten sich häufig auf den Teil, der ihnen weltanschaulich am meisten entsprach.6

Wie wir noch sehen werden, konnte die Begeisterung, mit der die Evolutionstheorie von einigen Anhängern verfochten wurde, religiöse Züge annehmen. Darwin wurde dann tatsächlich wie Moses als Prophet verehrt, und seine Bücher wurden wie Gesetzestafeln entgegengenommen. Diese Tendenz betont die Karikatur. Der Zeichner informierte Darwin im Übrigen vorab, dass sein Bild in Punch erscheinen würde, und schloss hochachtungsvolle Grüße an. Die Tatsache, dass Darwin die Karikaturen aufbewahrte, zeigt, dass er sich selbst darüber amüsierte. Zu verdanken hatte er ihnen eine unschätzbare öffentliche Aufmerksamkeit, die Bilder waren mehr als nur eine Fußnote der Geschichte. Ihr Witz verhalf der Evolutionstheorie weit über ein Fachpublikum hinaus zur Popularität. Wie eine Sehschule übten die unzähligen Metamorphosen, mit denen Ausgabe für Ausgabe das Bestiarium der Evolution erweitert wurde, den Entwicklungsgedanken ein: Menschen wurden im Blätterwald der englischen illustrierten Presse zu Tieren, Tiere zu Pflanzen und umgekehrt. Auch Darwin sollte sich in Punch oder anderen Satireschriften immer wieder in einen Affen verwandeln. Die Satire förderte und vervielfältigte so das Bild der Evolution und führte zu einer gewissen Leichtigkeit im Umgang mit ihr.

2. Briefe

Darwins frühe Arbeit an der Evolutionstheorie fiel in die Jahre der englischen Postreform der 1840er und 1850er Jahre, in denen die Kosten für das Verschicken von Briefen deutlich gesenkt wurden; gleichzeitig wuchs die Infrastruktur, der Schienen-, Schiffs- und Straßenverkehr, im sich über die gesamte Welt erstreckenden British Empire erheblich an. Von dieser Effizienzsteigerung profitierte auch Darwin, sie hatte unmittelbare Folgen für seine Forschung. Der offensichtlichste Vorteil lag in der Möglichkeit, ein umfassendes Korrespondentennetz auszubauen, das den Erdball von Jena bis Java umspannte. Darwin nutzte systematisch die Außenposten des englischen Kolonialreichs, um sich über Tiere, Pflanzen, Sammlungen oder Landstriche, die er nicht aus eigener Anschauung kannte, informieren zu lassen. Er korrespondierte mit Wissenschaftlern, Kolonialbeamten, Zoowärtern, Jägern, Züchtern, Gärtnern, Haustierhaltern, Künstlern oder Ärzten. Er schrieb nach Indien, Jamaica, Neuseeland, Kanada, Australien, China, Borneo oder die hawaiianischen Inseln. Als er an seinem Buch über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren arbeitete, das 1872 erscheinen sollte, sandte er Fragebögen bis nach Feuerland.7 Ob die Feuerländer erröten und aus welchem Grund, erkundigte er sich in einem Brief bei dem englischen Missionar vor Ort. Reißen sie die Augen auf, wenn sie sich wundern? Dahinter stand die Frage, wie universal Ausdrucksweisen sind, eine Forschungsarbeit, für die das ausgedehnte englische Kolonialreich die Ressourcen bot.

Über die Jahre wurde seine Korrespondenz immer umfänglicher. Im Jahr 1877 gab Darwin für Porto und Briefpapier fast 54 Pfund aus, eine Summe, die damals dem Jahreseinkommen eines Butlers entsprach.8 Das raffinierte Beförderungswesen erlaubte es ihm zudem, sich nicht nur Briefe, sondern auch Objekte und Sammlungsstücke senden zu lassen. Die englische Post war zu beeindruckenden Leistungen fähig: Die zerbrechliche Fracht zweier Schmetterlingsflügel, die ein Korrespondent im brasilianischen Urwald auf einen Briefbogen klebte und zum Postamt brachte, gelangten ebenso zuverlässig zu Darwin nach England wie die in Spiritus eingelegten Rankenfußkrebse, die während der 1850er Jahre, als Darwin eine Monografie über diese Tierklasse schrieb, dutzendfach in seinem Haus in Downe eintrafen. Da Darwin Europa nie bereiste, kannte er die großen naturhistorischen Sammlungen in Paris oder Berlin nur aus Briefen, Büchern oder Zeitschriften. In seiner Forschung war er auf die Auskunft der Korrespondenten angewiesen. Bisher sind in den Archiven weltweit über vierzehntausend Briefe bekannt, die Darwin geschrieben oder erhalten hat. Jedes Jahr tauchen neue auf, die Bestandserfassung ist längst noch nicht abgeschlossen. Information, die Beschaffung von Daten, war ein wesentlicher Aspekt dieses Schriftverkehrs, der sich darin jedoch nicht erschöpft.

Historiker, darunter vor allem Literaturwissenschaftler, haben wiederholt Darwins Stil analysiert, den sein Sohn Francis als »herzlichen und vertraulichen Ton gegenüber dem Leser« bezeichnete.9 Charakteristisch ist etwa die Verwendung der ersten Person Singular, der Leser wird direkt angesprochen – beides sollte in der Wissenschaftsprosa des 20. Jahrhunderts vollkommen unüblich werden. Die dritte Person oder Passivkonstruktionen treten danach anstelle des »ich«, in direkter Ansprache wendet sich kein moderner Wissenschaftstext mehr an seine Leserschaft. In einem Artikel in Nature oder Science ist heute das Verhältnis zwischen Autor und Leser anonymisiert. Darwin dagegen liest sich über weite Strecken, als habe man persönlich einen Brief von ihm erhalten, der Leser wird ins Vertrauen gezogen, er teilt mit ihm Argumente wie Zweifel. In den Schriften begegnen wir einem skrupulösen Autor, der sich entschuldigt, wenn der Gegenstand zu kompliziert wird oder weiter ausgeholt werden muss, der seine Fachkollegen lobt und seinen Kritikern mit Respekt begegnet. Mit den meisten Forschern, die zitiert werden, hatte Darwin zuvor korrespondiert, so dass seine Bücher buchstäblich aus Briefwechseln herauswuchsen. Und auch wenn eine Schrift im Druck erschien, nutzte Darwin die Möglichkeit, sich gleichzeitig handschriftlich an Kollegen und Korrespondenten zu wenden. Bezeichnend sind die Briefe, die er der Entstehung der Arten beilegte, als er das Buch 1859 an Kollegen verschickte. An Alfred Russel Wallace etwa schrieb er: »Ich hoffe, es wird ein bisschen Neues für Sie dabei sein, aber ich fürchte nicht viel.« An Thomas Henry Huxley: »Ich weiß, dass Sie vielem darin widersprechen werden.« An Thomas Eyton: »Mein Buch wird Sie erschrecken & abstoßen.«10 Immer bemühte er sich darum, Kritik oder Ablehnung aufzufangen, indem er ihr zuvorkam.

Darwins Schreiben müssen wir uns in fließenden Übergängen vorstellen. Der Ton seiner Briefe, Anmerkungen und Widmungen prägte auch das publizierte Werk. Eine seiner Grundüberzeugungen bestand darin, dass es besser sei, sich aus der tagesaktuellen Debatte um seine Theorie herauszuhalten. Er sah seine Verantwortung darin, Bücher zu verfassen – die schnelle Replik auf Angriffe in Zeitungen oder Zeitschriften überließ er anderen. Den jeweiligen Stand der Diskussion verfolgte er dabei sehr genau: Ähnlich wie im Fall der Karikaturen sammelte er auch die Kritiken und Kommentare zu seinen Veröffentlichungen. Aus Magazinen schnitt er die entsprechenden Seiten heraus, versah sie an den Rändern mit Anmerkungen, klebte kleinere auf Papierbögen und ordnete sie der Größe nach in seinem Regal. Zusätzlich erstellte er ein Register, in dem er die von Kritikern angesprochenen Probleme listete, welche er schließlich in seine Bücher einarbeitete. Wie gut sich Darwin in der englischen Medienlandschaft auskannte, zeigt sich daran, dass er von den dreiundvierzig Besprechungen, die in England seit der Veröffentlichung der Entstehung der Arten im November 1859 bis zum Jahresende erschienen, bis auf sechs Autoren alle namentlich kannte. Entsprechend den Publikationsgepflogenheiten der Zeit waren die meisten Artikel anonym oder unter Kürzel erschienen. Sie zu entziffern bereitete Darwin keine Schwierigkeiten.11

Mit den Zeitungen war eine Arena geschaffen worden, in der Darwin viel besprochen wurde, aber selbst nicht öffentlich auftrat; er publizierte ausschließlich Bücher oder Aufsätze in Fachzeitschriften. Dass wir heute trotzdem recht genau darüber Bescheid wissen, wie und mit wem er sich beriet, liegt daran, dass er sich kaum mündlich besprach, sondern vornehmlich in Briefen. Die englische Wissenschaftshistorikerin und Darwin-Biografin Janet Browne spricht in diesem Zusammenhang von Darwins Musketieren, eine bis in die Vereinigten Staaten reichende Einsatztruppe, die einsprang, wenn die Evolutionstheorie unter Beschuss geriet.

Der berühmteste Fall, in dem Darwin durch einen Stellvertreter verteidigt wurde, ereignete sich schon bald nach der Veröffentlichung der Entstehung der Arten. Bei der Jahrestagung der British Association for the Advancement of Science im Sommer 1860 waren es Samuel Wilberforce, der Bischof von Oxford, und Thomas Henry Huxley, die öffentlich den Streit um die Evolutionstheorie miteinander austrugen. Huxley, Anatom, Physiologe und leidenschaftlicher Anhänger der Evolutionstheorie, trug sein Engagement den Spitznamen »Darwin’s Bulldog« ein. Vorausgegangen war dem Schlagabtausch zwischen ihm und Wilberforce ein Verriss der Entstehung der Arten, die der Bischof für die angesehene Zeitschrift Quarterly Review verfasst hatte. Während Darwin es in seinem Buch vermieden hatte, einen Keil zwischen Religion und Wissenschaft zu treiben, attackierte der Bischof die Theorie als gottlos und übergoss sie zudem mit Hohn und Spott. Bereits vor dem Treffen war klar, dass der Streit um die Evolutionstheorie die Tagung beherrschen würde.