Chatter - Die Stimme in deinem Kopf - Ethan Kross - E-Book

Chatter - Die Stimme in deinem Kopf E-Book

Ethan Kross

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Beschreibung

Dieses Buch verändert die wichtigsten Gespräche deines Lebens – die Gespräche mit dir selbst.

Der renommierte Psychologe Ethan Kross verschränkt für sein international vielbeachtetes Buch seine eigenen bahnbrechenden Forschungsergebnisse aus Verhaltens- und Hirnforschung mit zahlreichen Fallstudien aus der Praxis. Er erklärt uns, wie diese stummen Gespräche unser Leben, unsere Arbeit und unsere Beziehungen prägen. Er warnt davor, dass negative und desorientierende Selbstgespräche unsere Gesundheit belasten, unsere Stimmung negativ beeinflussen, unsere sozialen Verbindungen ins Wanken bringen und sogar dazu führen können, dass wir psychisch zusammenbrechen. Aber die gute Nachricht ist: Wir sind bereits mit allen Werkzeugen ausgestattet, die wir brauchen, um unsere innere Stimme zu unseren Gunsten nutzen zu können.

Brillant argumentierend, von einem ausgewiesenen Experten recherchiert und gefüllt mit fesselnden Geschichten aus der Praxis, gibt uns das Buch von Ethan Kross die Möglichkeit, das wichtigste Gespräch, das wir führen, endlich zu ändern: das Gespräch mit uns selbst.

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Seitenzahl: 383

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Zum Buch

Der renommierte Psychologe Ethan Kross verschränkt für sein international vielbeachtetes Buch seine eigenen bahnbrechenden Forschungsergebnisse aus Verhaltens- und Hirnforschung mit zahlreichen Fallstudien aus der Praxis. Er erklärt uns, wie diese stummen Gespräche unser Leben, unsere Arbeit und unsere Beziehungen prägen. Er warnt davor, dass negative und desorientierende Selbstgespräche unsere Gesundheit belasten, unsere Stimmung negativ beeinflussen, unsere sozialen Verbindungen ins Wanken bringen und sogar dazu führen können, dass wir psychisch zusammenbrechen. Aber die gute Nachricht ist: Wir sind bereits mit allen Werkzeugen ausgestattet, die wir brauchen, um unsere innere Stimme zu unseren Gunsten nutzen zu können.

Zum Autor

DR. ETHAN KROSS ist einer der weltweit führenden Experten zum Thema Bewusstsein und Verhaltenssteuerung. Er ist vielfach ausgezeichneter Professor an der University of Michigan und der Ross School of Business, sowie Direktor des von ihm gegründeten Labors zur Erforschung von Emotionen. Er war bereits mehrfach Teilnehmer an politischen Diskussionen im Weißen Haus und wurde vielfach von führenden Medien zu seinem Fachgebiet interviewt, darunter CBS Evening News, Good Morning America, und NPR’s Morning Edition. Über seine bahnbrechenden Forschungen wurde unter anderem in der New York Times, dem New Yorker, dem Wall Street Journal, in USA Today, dem New England Journal of Medicine, und in Science berichtet. »CHATTER – Die Stimme in deinem Kopf« ist sein erstes populäres Sachbuch.

Ethan Kross

CHATTER

Die Stimme in deinem Kopf

Wie wir unseren inneren Kritiker in einen inneren Coach verwandeln

Aus dem amerikanischen Englisch von Leon Mengden

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Chatter – The Voice in Our Head. Why it matters and how to harness it« bei Crown Publishing, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 2022

Copyright der Originalausgabe © 2021 Ethan Kross

All rights reserved

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Luke Bird

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23100-2V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Dad, weil du mich gelehrt hast, in mich zu gehen,undfür Lara, Maya und Dani, meine besten Helferinnen

Die größte Herausforderung besteht meiner Meinung nach darin, immer den moralischen Kompass im Auge zu behalten: Das sind die Gespräche, die ich mit mir selbst führe. Ich messe mein Handeln an dieser inneren Stimme, die – für mich zumindest – vernehmbar und aktiv ist und mir sagt, wo ich wohl auf dem richtigen Weg bin und wo ich auf Abwege zu geraten drohe.

– BARACK OBAMA AM 27. MÄRZ 2004 IN EINEM GESPRÄCH MIT CATHLEEN FALSANI

Die Stimme in meinem Kopf ist ein Arschloch.

– DAN HARRIS

Inhalt

Einführung

KAPITEL 1: Warum wir mit uns selbst reden

KAPITEL 2: Wenn unsere Gespräche mit uns selbst nach hinten losgehen

KAPITEL 3: Auf Distanz gehen

KAPITEL 4: Wenn ich du werde

KAPITEL 5: Vom Umgang mit anderen Menschen und den Gefahren, die dabei lauern

KAPITEL 6: Von außen nach innen

KAPITEL 7: Die Zauberkraft unserer Gedanken

Zusammenfassung

Die Werkzeuge

Dank

Anmerkungen

Einführung

Ich stand im Dunkel meines Wohnzimmers, hielt den klebrigen Gummigriff des noch aus meiner Zeit in der Little League stammenden Baseballschlägers so fest gepackt, dass mir sämtliches Blut aus den Handknöcheln wich, und starrte hinaus in die Nacht. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte ich, meine Frau und meine kleine Tochter vor einem Wahnsinnigen zu beschützen – von dem ich noch nicht einmal wusste, wie er aussah. Es war mir völlig egal, wie das, was ich hier tat, wohl wirken musste, und ich hatte auch keine Ahnung, was ich letztlich unternehmen würde, wenn der Wahnsinnige unversehens leibhaftig vor mir stünde – solche Überlegungen gingen in der Heidenangst, die ich verspürte, vollkommen unter. In meinem Kopf überschlugen sich immerzu die gleichen Gedanken.

Es ist alles meine Schuld, sagte ich mir. Oben schläft meine Frau, die mich liebt. Außerdem haben wir gerade unser erstes Kind bekommen, ein kerngesundes, wundervolles Mädchen. Und nun sind beide durch meine Schuld in höchster Gefahr. Was habe ich nur angerichtet? Was soll ich nur tun? All das jagte mir durch den Kopf wie eine wild gewordene Achterbahn, aus der es kein Entkommen gab.

So war ich denn gefangen – nicht bloß in meinem eigenen Wohnzimmer, sondern auch in meinem eigenen Albtraum; ausgerechnet ich, ein Wissenschaftler, der eine Forschungsabteilung leitete, die sich auf Studien zum Thema Selbstkontrolle spezialisiert hatte, und dessen persönliche Domäne es war, hartnäckigen Grübelattacken einen Riegel vorzuschieben – ausgerechnet ich starrte um drei Uhr morgens mit einem winzig kleinen Baseballschläger in der Hand aus dem Fenster, weil ich mich nicht nur von dem Scheusal verfolgt fühlte, das mir einen völlig irren Brief geschrieben hatte, sondern dazu auch noch von dem Schreckgespenst in meinem eigenen Hirn.

Wie war ich bloß in diese Lage geraten?

Ein Brief und seine Folgen

Dabei hatte der Tag begonnen wie jeder andere.

Ich erwachte früh, zog mich an, half meiner Frau, unsere Tochter zu füttern, wechselte der Kleinen ihre Windel und trat dann zur Tür hinaus, um in mein Büro auf dem Campus der University of Michigan zu fahren. Es war ein kühler, aber windstiller und sonniger Tag im Frühjahr 2011, ein Tag, dessen heitere Stimmung unbeschwerte und nicht minder sonnige Gedanken zu versprechen schien.

Als ich die East Hall betrat, den imposanten Backsteinbau, der auf mehreren Etagen das psychologische Seminar der Universität beherbergt, fand ich in meinem Postfach etwas Ungewöhnliches vor. Ganz oben auf einem Stapel von Wissenschaftsmagazinen lag ein handschriftlich an mich adressierter Briefumschlag. Das machte mich gleich neugierig auf den Inhalt, denn es kam eher selten vor, dass ich an meinem Arbeitsplatz handschriftlich an mich adressierte Briefe erhielt, also öffnete ich ihn und begann bereits auf dem Weg zu meinem Büro zu lesen. Und ehe ich so recht bemerkt hatte, wie es mir abwechselnd heiß und kalt wurde, fühlte ich plötzlich, wie mir ein Schweißtropfen den Hals hinunterlief.

Es handelte sich um einen Drohbrief. Den ersten, den ich je bekommen hatte.

In der vorangegangenen Woche hatte ich einen kurzen Fernsehauftritt in den CBS Evening News1 gehabt, bei dem ich über eine gerade erst von mir und meinen Kollegen veröffentlichte neurowissenschaftliche Studie sprach, in der wir darstellten, dass zwischen physischem und psychischem Unwohlsein deutlichere Zusammenhänge bestanden als bislang von der Forschung angenommen. Dies hing damit zusammen, dass das Gehirn emotionale und körperliche Beschwerden auf verblüffend ähnliche Weise registriert; ein gebrochenes Herz war somit nicht mehr bloß ein trauriger Gemütszustand, sondern stellte vielmehr ein reales Krankheitsbild dar.

Meine Mitarbeiter und ich waren ziemlich aus dem Häuschen gewesen angesichts unserer Forschungsergebnisse; allerdings erwarteten wir darauf aber kaum mehr an Echo als den einen oder anderen Anruf von Wissenschaftsjournalisten, die ein paar Worte darüber zu schreiben gedachten. Doch zu unserer größten Überraschung verbreiteten sich unsere Erkenntnisse wie ein Lauffeuer. Gerade eben hatte ich noch vor meinen Studenten über die Psychologie der Liebe doziert, und ehe ich mich’s versah, erhielt ich in einem provisorischen Aufnahmestudio auf unserem Campus schon einen Crashkurs in Medientraining für Wissenschaftler. Ich schaffte es, das Interview durchzustehen, ohne mich allzu häufig zu verhaspeln, und ein paar Stunden später ging der Beitrag auch schon über den Sender – jene so oft zitierten fünfzehn Minuten der Berühmtheit im Leben, die sich in meinem Fall allerdings auf etwa neunzig Sekunden beschränkten.

Es ging aus dem Drohbrief nicht ganz klar hervor, was genau an unserer Untersuchung dem Verfasser so sehr gegen den Strich gegangen war, aber die an den Rand gekritzelten Gewaltdarstellungen, die hasserfüllten Beschimpfungen und die verstörende Botschaft des Textes insgesamt ließen kaum Zweifel an den Gefühlen aufkommen, die diese Person für mich hegte – was die bange Frage aufwarf, zu was für Bösartigkeiten ein solcher Mensch noch fähig sein mochte. Hinzu kam, dass der Brief nicht von irgendwo aus weiter Ferne stammte, sondern bloß ein paar Meilen entfernt eingeworfen worden war, wie ein rascher Blick auf den Poststempel und ein kurzer Computercheck mir offenbarten – was die ganze Sache nur umso schlimmer machte. In meinem Kopf begannen augenblicklich die Gedanken zu kreisen. War es nicht eine grausame Ironie des Schicksals, dass nun ich höchstpersönlich derjenige war, dem ein seelischer Ausnahmezustand so heftig zusetzte, als wäre es ein körperlicher Schmerz?

Nachdem ich mit mehreren meiner Administratoren an der Universität Rücksprache gehalten hatte, fand ich mich am Nachmittag auf dem örtlichen Polizeirevier wieder, wo ich ungeduldig darauf wartete, bis ich an der Reihe war und zu dem diensthabenden Beamten vorgelassen wurde. Obwohl der Polizist, dem ich dann schließlich meine Geschichte vortrug, durchaus freundlich und wohlwollend reagierte, gelang es ihm kaum, sonderlich viel zu meiner Beruhigung beizutragen. Er hatte drei Ratschläge für mich: Zum einen sollte ich meinen Telefonanbieter anrufen und zusehen, dass ich für zu Hause eine nicht gelistete Rufnummer bekam, zum anderen ein Auge auf verdächtige Personen haben, die sich in der Nähe meines Büros herumtrieben, und zum Dritten – das war der Tipp, der mir am plausibelsten erschien – sollte ich für meine Heimfahrt vom Büro jeden Tag eine andere Strecke wählen, damit niemand sich so leicht an meine Fersen heften konnte. Aber das war es dann auch schon. Eine Sondereinheit würde man nicht für mich aufstellen. Ich war mir selbst überlassen. Die Ratschläge des Beamten waren nicht gerade die beschwichtigenden Worte, die ich zu hören gehofft hatte.

Als ich dann an diesem Nachmittag auf langen, umständlichen Schleichwegen durch die Alleen von Ann Arbor nach Hause fuhr, kreisten meine Gedanken nur darum, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Gehen wir doch noch einmal die Fakten durch, sagte ich zu mir selbst. Muss ich mir überhaupt Sorgen machen? Was sollte ich als Nächstes unternehmen?

Wenn es nach dem Polizeibeamten ging – und einigen weiteren Personen, denen ich von dem Drohbrief erzählt hatte –, dann gab es auf meine Fragen ganz klare Antworten: Nein, du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen. So etwas kommt eben manchmal vor. Es gibt da gar nichts, was du sonst noch unternehmen könntest. Natürlich ist es völlig in Ordnung, wenn du beunruhigt bist. Bloß die Ruhe bewahren. Personen des öffentlichen Lebens bekommen alle naslang irgendwelche Drohungen, und hinterher ist dann nichts dran. Das erledigt sich alles ganz von selbst.

Aber das war nicht das, was ich mir sagte. Stattdessen gipfelten die immer verzweifelter werdenden Gedankengänge in meinem Kopf in einer nicht enden wollenden Schleife: Was habe ich denn nur getan?, schrie eine Stimme in meinem Kopf, bevor sie dazu überging, mich in den Wahnsinn treiben zu wollen. Soll ich den Sicherheitsdienst alarmieren? Mir eine Waffe besorgen? Sollten wir woanders hinziehen? Wie rasch werde ich einen neuen Arbeitsplatz finden?

In den nächsten Tagen wiederholte sich dieser Dialog mit mir selbst immer wieder aufs Neue und ließ mich nach und nach zu einem nervösen Wrack werden. Ich hatte auf nichts mehr Appetit und kam nicht davon los, meiner Frau immer wieder von dem Drohbrief zu erzählen (was natürlich überhaupt nichts brachte), bis sich zwischen uns eine immer spürbarere Spannung aufbaute. Sobald ich auch nur das leiseste Geräusch aus dem Zimmer hörte, in dem unsere Tochter schlief, fuhr ich zusammen, weil ich sofort überzeugt davon war, dass nun etwas Schlimmes passieren würde – anstatt auf eine viel naheliegendere Erklärung zu kommen, wie etwa das Knarren ihres Kinderbettchens oder einen lauten Pups, den die Kleine losgelassen hatte.

Aber ich fand keine Ruhe.

Während meine Frau und meine Tochter friedlich oben in ihren Betten schliefen, hielt ich im Erdgeschoss in meinem Pyjama und mit meinem Baseballschläger aus Kindertagen in der Hand Wache. Ich schielte argwöhnisch zum Wohnzimmerfenster hinaus, um sicherzugehen, dass niemand sich dem Haus näherte – und hatte dabei keine Ahnung, was ich unternehmen würde, falls da wirklich jemand draußen lauerte.

Besonders peinlich wurde es in der zweiten Nacht, als ich mich auf dem Höhepunkt meiner Angst an den Computer setzte und drauf und dran war, eine Google-Suche nach dem Stichwort »Leibwächter für Akademiker« zu starten – im Nachhinein eine absurde Idee, doch in meiner damaligen Lage eine scheinbar ausgesprochen dringliche und auch vollkommen logische Maßnahme.

In sich gehen

Ich bin Experimentalpsychologe und Neurowissenschaftler. Ich befasse mich an einem Institut der University of Michigan mit dem Phänomen der Introspektion, also der Selbstbeobachtung oder Eigenwahrnehmung. Ich habe dieses Institut selbst gegründet und leite es seitdem. Unsere Forschung gilt den stummen Gesprächen, die Menschen mit sich selbst führen. Solche Gespräche haben einen enormen Einfluss darauf, wie wir unseren Alltag meistern, und ich habe mein gesamtes bisheriges Berufsleben damit verbracht, sie zu studieren – um was es sich bei ihnen genau genommen handelt, warum wir sie führen und wie wir sie uns nutzbar machen können, um zu glücklicheren, gesünderen und kreativeren Menschen zu werden.

Wer sich mit der Psyche des Menschen befasst, wird gerne mal scherzhaft als »Gehirnklempner« bezeichnet. Meine Kollegen und ich würden uns allerdings eher als eine Art Gedankenmechaniker bezeichnen. Wir führen mit den Menschen, die zu uns ins Institut kommen, aufwendige Untersuchungen durch, und wir beobachten ihr Verhalten auch »in freier Wildbahn«, also in ihrem täglichen Leben. Dazu bedienen wir uns der Erkenntnisse der Psychologie und anderer Disziplinen – ein weites Feld, das von Medizin, Philosophie und Biologie bis hin zur Informatik reicht –, um drängende Fragen zu beantworten. Wie etwa die Frage, warum manche Menschen einen Nutzen für sich daraus ziehen, wenn sie ihren Blick nach innen richten, um die eigenen Gefühle zu verstehen, wogegen andere daran zerbrechen, wenn sie genau dasselbe tun. Wie gelingt es Menschen, selbst unter enormem Stress vernünftig und logisch zu denken? Gibt es eine richtige Art und Weise, mit sich selbst zu sprechen, und eine verkehrte? Wie können wir mit Menschen, an denen uns etwas liegt, kommunizieren, ohne dass wir negative Gedanken oder Emotionen bei ihnen auslösen oder uns selbst in derartigen Gedanken und Gefühlen bestärken? Lässt sich die Stimme in unserem Kopf von den zahllosen »Stimmen« anderer, denen wir in den sozialen Medien begegnen, beeinflussen? Diesen Fragen sind wir akribisch auf den Grund gegangen und zu ziemlich verblüffenden Ergebnissen gelangt.

So haben wir etwa die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Dinge, die wir sagen oder tun, unsere inneren Konversationen positiv beeinflussen können. Wir haben gelernt, das Schloss der »magischen« Hintertürchen des Gehirns zu knacken – wie wir uns nämlich mithilfe von Placebos, Glücksbringern und bestimmten Ritualen ein dickeres Fell zulegen können. Wir haben außerdem festgestellt, welche Bilder wir vor uns auf unseren Schreibtisch stellen müssen, um besser über Kränkungen hinwegzukommen (kleiner Hinweis: Bilder von Mutter Natur können da ebenso Trost spenden wie die unserer eigenen Mütter), warum es in Augenblicken höchster Verzweiflung hilfreich sein kann, ein Stofftier fest an sich zu drücken, wie wir mit unserem Partner nach einem anstrengenden Tag umgehen sollten und wie nicht. Welche Fehler uns zu unterlaufen drohen, wenn wir uns in die sozialen Netzwerke einloggen, und welche Ziele wir ansteuern sollten, sofern es zu unseren Gewohnheiten gehört, die Lösung anstehender Probleme auf langen Spaziergängen zu suchen.

Bevor ich überhaupt in Erwägung gezogen hatte, eine akademische Karriere anzustreben, hatte ich mich schon lange gefragt, auf welche Weise die Gespräche, die wir mit uns selbst führen, unser Gefühlsleben beeinflussen. Tatsächlich beschäftigte mich diese Frage bereits, bevor ich so recht verstanden hatte, was es mit Gefühlen überhaupt auf sich hat. Die vielfältige, zerbrechliche und in ständiger Bewegung begriffene Welt, die wir zwischen unseren Ohren mit uns herumtragen, faszinierte mich, seit ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Fuß in so etwas wie ein psychologisches Institut gesetzt habe – und das befand sich zufälligerweise ausgerechnet bei mir daheim.

Ich bin in Canarsie groß geworden, einem Arbeiterwohnviertel in Brooklyn. Hier wurde ich von meinem Vater bereits in einem eigentlich noch viel zu frühen Kindesalter in die Bedeutsamkeit der Selbstreflexion eingeführt. Während wohl davon auszugehen ist, dass den meisten Eltern eines Dreijährigen daran gelegen ist, ihren Kindern beizubringen, sich regelmäßig die Zähne zu putzen und höflich zu anderen Menschen zu sein, setzte mein Vater völlig andere Prioritäten. Auf seine typisch unkonventionelle Art war er mehr als um alles andere um meine im tiefsten Inneren getroffenen Entscheidungen besorgt. Stets ermunterte er mich, »in mich zu gehen«, wenn ich ein Problem zu bewältigen hatte. »Stell dir die Frage doch mal selbst«, war einer seiner liebsten Sprüche. Ich hatte zwar keine rechte Vorstellung davon, was für eine Frage das sein sollte, von der er da sprach, doch auf eine gewisse Weise wurde mir schon klar, was er mir beibringen wollte. Die Antwort suchst du am besten in dir selbst.

In vielerlei Hinsicht war mein Vater ein Mann mit zwei Gesichtern. Wenn er nicht gerade auf den von Lärm erfüllten und vom Verkehr verstopften New Yorker Straßen unterwegs war und dabei bevorzugt anderen Autofahrern den ausgestreckten Mittelfinger hinhielt oder zu Hause vor dem Fernseher saß und die Yankees anfeuerte, konnte man ihn häufig in seinem Zimmer beim Meditieren oder bei der Lektüre der Bhagavadgita antreffen – für gewöhnlich mit einer Zigarette zwischen den Lippen, die unter seinem buschigen Schnurrbart hervorhing. Doch mit dem Älterwerden sah ich mich vor komplexere Entscheidungen gestellt als vor die, ob ich einen verbotenen Keks naschen sollte oder nicht oder ob ich mich weigern sollte, mein Zimmer aufzuräumen. Und so gewannen auch seine Ratschläge an Gewicht. Sollte ich das Mädchen, in das ich mich auf der Highschool verknallt hatte, fragen, ob sie mit mir ausgehen wollte? (Ich hab’s gemacht; sie lehnte ab.) Sollte ich einen meiner Freunde darauf ansprechen, dass ich genau gesehen hatte, wie er jemandem die Geldbörse stibitzte? Auf welches College sollte ich gehen? Ich bildete mir allerhand darauf ein, dass ich in allen Dingen stets einen kühlen Kopf bewahrte, und mein Vertrauen darauf, bloß »in mich gehen« zu müssen, um zu der richtigen Entscheidung zu gelangen, wurde nur selten enttäuscht. (Eines Tages gab mir ein weiteres Mädchen, in das ich mich verliebt hatte, nicht gleich den Laufpass; ich habe sie geheiratet.)

Als ich aufs College kam, konnte es kaum überraschen, dass ich dort das Feld der Psychologie für mich entdeckte. Es schien mir ja geradezu vorbestimmt zu sein. Ich hatte meine Berufung gefunden. Ich erforschte all die Dinge, über die mein Dad und ich uns während meiner Kindheit endlos lange unterhalten hatten – sofern nicht gerade die Yankees das Tagesthema waren. So lernte ich, meine Kindheit besser zu verstehen; gleichzeitig wies mir mein Studium den Weg ins Erwachsensein. Die Psychologie stattete mich auch mit einem gänzlich neuen Vokabular aus; neben vielen anderen Dingen erfuhr ich in meinen Collegekursen, dass das, worauf mein Vater mit seinem vom Zen-Buddhismus geprägten Erziehungsansatz – mit dem meine ausgesprochen bodenständige Mutter sich all die Jahre hatte arrangieren müssen – stets abgezielt hatte, nichts anderes war als Introspektion.

Im Grunde genommen bedeutet dieses Wort nichts anderes als die aktive Wahrnehmung der eigenen Gedanken und Gefühle. Diese Befähigung macht es uns möglich, eine Vorstellung von etwas zu entwickeln, uns an etwas zu erinnern, es zu reflektieren und aus diesen Reflexionen dann Problemlösungen zu entwickeln, also kreativ und innovativ mit dem Problem umzugehen. Viele Wissenschaftler – ich selbst eingeschlossen – sehen darin eine der wichtigsten Entwicklungsstufen der Evolution, durch die wir Menschen uns von anderen Lebewesen unterscheiden.2

Erklärtes Ziel meines Vaters war es also die ganze Zeit gewesen, in mir die Gabe der Eigenwahrnehmung zu entwickeln und mir damit ein Werkzeug mit auf den Weg zu geben, das mir bei jeder Art von Herausforderung, mit der ich mich künftig konfrontiert sehen könnte, hilfreich sein würde. Bewusste Selbstbeobachtung befähigt zu klugen, für alle Seiten befriedigenden Entscheidungen und erzeugt somit im weiteren Sinne positive Gefühle. Dieses In-sich-Gehen war der Königsweg zu einem erfüllten Leben, in dem man nicht so schnell klein beigab. Das leuchtete mir absolut ein – bloß musste ich bald erfahren, dass manche Menschen sich damit gründlich auf dem Holzweg befanden.

Durch eine stattliche Anzahl neuerer Forschungen ist in den letzten Jahren belegt worden, dass die Introspektion in Stresssituationen häufig deutlich mehr Schaden anrichtet, als sie Nutzen bringt. Sie beeinträchtigt dann unsere Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz, hindert uns daran, rationale Entscheidungen zu treffen, und übt einen negativen Einfluss auf unsere Beziehungen aus. Außerdem kann sie aggressives Verhalten und Gewalttätigkeit fördern, bei einer ganzen Reihe von psychischen Störungen sogar eine Verschlimmerung auslösen und unsere Widerstandsfähigkeit gegen körperliche Erkrankungen herabsetzen. Leistungssportler laufen Gefahr, die sportlichen Leistungen, an deren Perfektionierung sie lange und verbissen gearbeitet haben, rasch wieder abzubauen, wenn sie sich auf eine unzuträgliche Weise geistig mit ihren Gedanken und Gefühlen auseinandersetzen. Introspektion kann auch dazu führen, dass ansonsten ganz und gar vernunftbegabte, sozial handelnde Menschen unvermittelt zu unlogischen und sogar egoistischen Entscheidungen neigen, und sie kann auch die Ursache dafür sein, dass Freunde sich von einem abwenden – sowohl in der realen Welt als auch in der Welt der sozialen Netzwerke. Liebesbeziehungen können sich von einem Hort der Glückseligkeit in ein Schlachtfeld verwandeln. Und Introspektion kann sogar dazu führen, dass wir schneller altern, und das nicht nur, was unser äußeres Erscheinungsbild betrifft: Bestimmte Erbanlagen unserer DNA können dadurch stärker zum Tragen kommen.

Kurz zusammengefasst: Zu viel Nachdenken schützt uns leider nicht davor, zu viel nachzudenken, sondern löst im Gegenteil eine schleichende Malaise aus, die ich als »Chatter«bezeichne.

Es besteht aus zyklisch wiederkehrenden, negativen Gedanken und Emotionen, die unsere an sich einzigartige Befähigung zur Selbstbeobachtung von einem Segen in einen Fluch verwandeln. Es kann sich negativ auf unser Leistungsvermögen, unsere Urteilskraft, unsere Beziehungen, unser Glücksgefühl und sogar unsere Gesundheit auswirken. Wir brauchen nur an den Stress zu denken, den wir heute auf der Arbeit erlebt haben, oder an ein böses Missverständnis zwischen uns und einem geliebten Menschen, und schon versinken wir in einer Flut von negativen Gefühlen, die uns geradewegs zu unserem unangenehmen Erlebnis zurückführt – und schon denken wir wieder darüber nach. Dann nehmen wir eine Innenschau vor und hoffen, auf unseren inneren Coach zu treffen, stoßen aber stattdessen oft erst einmal auf unseren schärfsten inneren Kritiker.

Es stellt sich nun natürlich die Frage nach dem Warum. Warum haben wir mit unseren Versuchen, in Stresssituationen »in uns zu gehen« und die Sache gedanklich zu verarbeiten, in der einen Situation Erfolg und in der nächsten nicht? Und was mindestens genauso wichtig ist: Was können wir tun, um unsere Fähigkeit zur Introspektion wieder auf den richtigen Kurs zu bringen, sobald wir merken, dass wir damit auf Irrwege geraten? Ich habe gelernt, dass es zur Beantwortung dieser Fragen darauf ankommt, den Modus zu verändern, in dem wir eines der wichtigsten Gespräche unseres Lebens führen – nämlich das mit uns selbst.

Im Ruhemodus

Ein weit verbreitetes kulturelles Mantra des einundzwanzigsten Jahrhunderts besagt, dass wir in der Gegenwart leben sollen. Ich will am Weisheitsgehalt dieser Maxime gar nicht rütteln. Anstatt vor den Gespenstern der Vergangenheit oder den Ängsten vor der Zukunft zu kapitulieren, sollen wir uns lieber auf unsere Beziehungen zu anderen und zu uns selbst konzentrieren, und zwar im Hier und Jetzt. Und doch muss ich als Wissenschaftler, der sich dem Studium der menschlichen Psyche verschrieben hat, feststellen, dass dieser wohlgemeinte Rat mit unserer biologischen Veranlagung nicht unbedingt vereinbar ist. Wir Menschen sind nicht dazu geschaffen, uns ständig an der Gegenwart festzuklammern. Unser Gehirn ist einfach nicht dafür ausgelegt.

In den zurückliegenden Jahren haben neue, bahnbrechende Technologien zur Erforschung der Art und Weise, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, und die Tatsache, dass wir heute dessen Aktivität in Echtzeit beobachten können, die verborgenen Mechanismen des menschlichen Geistes entschlüsselt. Und dabei ist eine erstaunliche Erkenntnis über unsere Spezies zutage getreten: Wir verbringen ein Drittel, manche von uns sogar die Hälfte unseres im Wachzustand verbrachten Lebens damit, nicht in der Gegenwart zu leben.3

Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir atmen, koppeln wir uns regelmäßig vom Hier und Jetzt ab, unternehmen im Geiste Reisen zu vergangenen Erlebnissen, der Fantasie entsprungenen Szenarien und anderen Träumereien. Dieses Verhaltensmuster ist so grundlegend, dass es dafür sogar einen eigenen Fachbegriff gibt: Es ist unser default state4, der »Ruhezustand«, in den unser Gehirn automatisch eintritt, wenn es nicht anderweitig gefordert ist – oder häufig auch, wenn wir durch etwas abgelenkt sind. Jeder von uns dürfte schon erlebt haben, wie die Gedanken mit einem Mal abschweifen, obwohl wir uns doch gerade auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren wollten – gerade so, als hätten sie plötzlich ein Eigenleben entwickelt. Es kommt beinahe ständig vor, dass wir von der Gegenwart in diese parallele, nicht-lineare Welt in unserem Kopf hinüberdriften, von einer Minute zur anderen unwillkürlich »in unsere eigene Innenwelt eintreten«. Im Lichte dieses Phänomens gewinnt das geflügelte Wort vom »Leben des Geistes« eine neue und zusätzliche Bedeutung: Unser Geist hat einen enormen Anteil an unserem Leben und Erleben. Und was passiert häufig, wenn wir »davondriften«?

Wir führen ein Selbstgespräch.5

Und wir hören auf das, was wir uns zu sagen haben.

Dieses Phänomen beschäftigt die Menschheit seit Anbeginn der Zivilisation. Schon die frühen christlichen Mystiker fühlten sich durch die Stimme in ihrem Kopf, die sich ständig in ihre stille Kontemplation einmischte, ausgesprochen gestört. Manche von ihnen glaubten sogar, diese Stimmen seien teuflischen Ursprungs. Um etwa die gleiche Zeit theoretisierten im fernen Osten buddhistische Mönche über die geistigen Turbulenzen, die die emotionale Landschaft vernebeln konnten; sie nannten diesen Zustand »verblendet« oder »wahnhaft«. Andererseits herrschte in vielen dieser alten Kulturen der Glaube vor, diese innere Stimme wäre ein Quell der Weisheit – was auch durch jahrtausendealte Praktiken wie stille Gebete und Meditation (die persönliche Philosophie meines Vaters) untermauert wird. Die Tatsache, dass in diversen spirituellen Traditionen unsere innere Stimme zugleich gefürchtet und ihr gleichermaßen ein sehr hoher Wert beigemessen wird, führte folgerichtig zu der ambivalenten Einstellung, die bis in die heutigen Tage der Stimme in unserem Kopf gegenüber herrscht.

Wenn wir über diese unsere innere Stimme sprechen, drängt sich natürlich auch die Frage nach deren pathologischen Aspekten auf. Ich beginne Vorträge oft damit, dass ich meinem Publikum die Frage stelle, wer von ihnen im Geiste mit sich selbst spricht. In aller Regel sehe ich dann ein paar erleichterte Gesichter, wenn um sie herum auch noch weitere Hände in die Höhe gehalten werden. Unseligerweise verwandeln sich vertraute Stimmen in unserem Kopf – etwa die eigene Stimme oder die eines Angehörigen oder eines Kollegen bzw. einer Kollegin – bisweilen in vollkommen fremde Stimmen, was dann auf eine psychische Störung hinweist. In solchen Fällen glaubt die betreffende Person nicht, dass die Stimme ihrem eigenen Hirn entspringt, sondern vielmehr von außen herrührt – von einem bösen Geist, einem Außerirdischen oder im Extremfall auch »von der Regierung«, um nur ein paar akustische Halluzinationen aufzuzählen. Wenn wir also über die Stimme in unserem Kopf sprechen, gilt es zu beachten, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen psychischer Störung und gesundem Geisteszustand nicht um eine Frage von entweder – oder handelt, sondern dass vielmehr der jeweilige kulturelle und intellektuelle Hintergrund eine Rolle spielt. Es ist eine Eigenheit des menschlichen Gehirns, dass ungefähr einer von zehn Menschen die Stimme in seinem Kopf auf externe Faktoren zurückführt.6 Wir sind derzeit noch nicht so weit, erklären zu können, warum das so ist.

Unter dem Strich können wir aber festhalten, dass wir alle auf die eine oder andere Weise eine Stimme in unserem Kopf haben. Der Fluss ihrer Worte lässt sich so wenig von unserer Persönlichkeit trennen, dass ihm selbst Beeinträchtigungen des Sprechvermögens nichts anhaben können.7 Stotterer zum Beispiel berichten, dass sie im Geiste weit flüssiger sprechen können als in Wirklichkeit. Gehörlose Menschen, die sich per Gebärdensprache verständigen, verwenden diese eigene Form von Sprache, um still mit sich selbst zu kommunizieren, und zwar so selbstverständlich, wie Menschen mit intaktem Hörvermögen im Selbstgespräch gesprochene Worte benutzen. Die innere Stimme ist ein wichtiger Bestandteil unseres Verstandeslebens.8

Wenn Sie jemals eine Telefonnummer wiederholt leise vor sich hin gesagt haben, um sie im Kopf zu behalten, ein jüngst geführtes Gespräch im Geiste immer wieder durchgegangen sind und sich dabei ausgemalt haben, was Sie hätten sagen sollen, oder sich bei der Lösung eines Problems oder einer schwierigen Aufgabe selbst Mut zugesprochen haben, dann haben Sie dafür die Stimme in Ihrem Kopf verwendet. Die meisten von uns verlassen sich auf diese innere Stimme und nutzen sie zu ihrem Vorteil. Und wenn wir uns von der Gegenwart lösen und in die Welt in unserem Kopf eintreten, dann geschieht dies oft, um mit dieser Stimme Rücksprache zu halten oder einfach nur zu hören, was sie zu sagen hat – und das kann eine ganze Menge sein.

Eine bereits im Jahr 1990 entstandene Studie9 zeigt, wie fleißig unser gedanklicher Redefluss sein kann: Demnach haben wir uns in unseren Selbstgesprächen so viel zu sagen, dass dies viertausend laut ausgesprochenen Wörtern pro Minute entspräche. Um sich vorstellen zu können, was für eine Menge Wörter das sind, muss man wissen, dass eine ruhig vorgetragene Rede oder eine interessante Präsentation mit einer Dauer von ungefähr einer Stunde aus etwa sechstausend Wörtern besteht. Unser Gehirn bringt fast die gleiche Wortmenge in bloß sechzig Sekunden unter! Das bedeutet, dass wir an einem beliebigen Tag, an dem wir sechzehn Stunden lang wach sind – was wohl auf die meisten von uns zutrifft – und unsere innere Stimme auch nur die Hälfte dieser Zeit aktiv ist, theoretisch ungefähr dreihundertzwanzig solcher Vorträge über uns ergehen lassen – pro Tag. Die Stimme in unserem Kopf redet eben unheimlich schnell.

Obwohl diese innere Stimme die meiste Zeit über gut funktioniert, gibt sie bisweilen ausgerechnet dann, wenn wir sie am dringendsten brauchen – etwa wenn wir unter starkem Druck stehen, wenn viel auf dem Spiel steht oder wir uns in einer emotionalen Stresssituation befinden, sodass wir uns um jeden Preis zusammenreißen müssen –, nichts anderes als Chatter von sich. Dieses Gehirngeplapper, wie ich es genannt habe, nimmt mal die Form eines weitschweifigen Monologes an, mal ist es ein Dialog, den wir mit uns selbst führen. Manchmal verfallen wir dabei ins Grübeln – käuen also zwanghaft Episoden aus der Vergangenheit wieder; manchmal steigern wir uns auch in angstbesetzte Zukunftsvisionen hinein. Dann wieder springen unsere Gedanken in freier Assoziation zwischen negativen Stimmungen hin und her, oder wir fixieren uns auf etwas, was uns bedrückt, oder auf eine ganz bestimmte unerfreuliche Vorstellung. Wie auch immer sie sich manifestiert – wenn die innere Stimme Amok läuft und das mentale Mikrofon mit Geplapper volldröhnt, erleiden wir dabei nicht nur geistige Qualen, sondern fühlen uns auch wie gelähmt. Und das kann uns sehr wohl dazu verleiten, Dinge zu tun, mit denen wir uns nur selbst ein Bein stellen.

Wenn wir zum Beispiel mitten in der Nacht mit einem lächerlich kleinen Baseballschläger in der Hand am Wohnzimmerfenster hocken und in die Dunkelheit hinausstarren …

Das Rätsel

Eine der wichtigsten Erkenntnisse meiner beruflichen Laufbahn besteht darin, dass wir nach den Instrumentarien, die uns dabei helfen sollen, die Stimme in unserem Kopf am Plappern zu hindern, gar nicht lange zu suchen brauchen. Diese hilfreichen Werkzeuge warten oft ganz einfach nur darauf, dass wir quasi von selbst auf sie stoßen und von ihnen Gebrauch machen. Wir finden sie in unseren Denkgewohnheiten, in unseren Schrullen und Marotten, in den routinemäßigen Handlungen unseres Alltags, aber auch in den Menschen, den Organisationen und ganz allgemein dem Umfeld, das uns täglich umgibt. In diesem Buch möchte ich diese Werkzeuge offenlegen und nicht nur deren Anwendung und Funktion erklären, sondern auch aufzeigen, wie sie sich zu einem ganzen Arsenal voller nützlicher Hilfsmittel zusammenfügen, die die Evolution erschaffen hat, um uns dabei zu helfen, die Gespräche, die wir mit uns selbst führen, zu unserem Vorteil zu organisieren.

In den folgenden Kapiteln will ich deshalb sowohl aus der täglichen Arbeit unseres Instituts berichten als auch Geschichten von Menschen erzählen, die der Stimme in ihrem Kopf erfolgreich das Plappern abgewöhnt haben. Sie werden dabei unter anderem einer früheren Geheimdienstagentin und der jüngsten Nobelpreisträgerin aller Zeiten begegnen, etwas über die Trobriander, die Ureinwohner einer zu Papua-Neuguinea gehörenden Inselgruppe, erfahren – und über Leute wie Sie und mich. Doch zuallererst wollen wir einen Blick darauf werfen, was diese innere Stimme genau genommen darstellt und was für wundervolle Dinge sie für uns tut. Anschließend werde ich uns auf die dunkle Seite der Gespräche mit uns selbst führen und das wahrhaft Angst einflößende Maß aufzeigen, in welchem zu intensives Lauschen auf unsere innere Stimme uns körperlichen Schaden zufügen, das Zusammenleben mit den Menschen um uns herum beeinträchtigen und uns beruflich aus der Bahn werfen kann. Dieses unumgängliche Spannungsgefüge, in dem die innere Stimme sowohl als hilfreiche Supermacht wie auch als todbringendes Kryptonit (wir erinnern uns: das einzige Element, das Superman gefährlich werden kann) auftreten kann, ist für mich das größte Rätsel des menschlichen Geistes. Wie kann die Stimme, die uns als mentaler Trainer dient, uns andererseits die schlimmsten Steine in den Weg legen? In den darauffolgenden Kapiteln werde ich wissenschaftliche Techniken beschreiben, die die Plapperneigung unseres Gehirns reduzieren können – Techniken, die uns der Lösung des Rätsels um den menschlichen Geist ein Stückchen näher bringen.

Doch einfach auf Zwiegespräche mit sich selbst zu verzichten ist nicht das Erfolgsrezept, mit dem wir dem unliebsamen Geplapper im eigenen Kopf Einhalt gebieten können. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, herauszufinden, wie wir diese Gespräche effektiver gestalten. Zum Glück sind sowohl unser Verstand als auch die Welt um uns herum geradezu prädestiniert dafür, uns dabei zu helfen. Doch bevor wir dazu kommen, wie wir die Stimme in unserem Kopf steuern können, müssen wir zunächst noch eine grundsätzlichere Frage klären: Wieso haben wir sie überhaupt, diese Stimme in unserem Kopf?

KAPITEL 1 Warum wir mit uns selbst reden

Die Gehsteige von New York City sind Traumstraßen der Anonymität. Tag für Tag hasten Millionen von Passanten zielstrebig über das Pflaster; ihre Gesichter sind wie Masken, die nichts über ihre Träger verraten. Die gleiche Ausdruckslosigkeit beherrscht auch die Parallelwelt unterhalb der Straße – die Subway. Die Menschen lesen entweder oder haben nur ihre Smartphones im Blick – oder sie starren völlig losgelöst von dem, was in ihren Köpfen vorgeht, hinaus in das große, unsichtbare Nirgendwo.

Natürlich verraten die undurchdringlichen Gesichter von acht Millionen New Yorkern nichts über die wimmelnde und wuselnde Welt auf der anderen Seite der ausdruckslosen Mauer, die sie um sich herum zu errichten gelernt haben: eine verborgene »Gedankenwelt« von gehaltvollen und lebhaften inneren Gesprächen, die allerdings oft genug von mäanderndem Geplapper durchdrungen sind; schließlich sind die Einwohner von New York beinahe so berühmt für ihre Neurosen wie für ihre Schroffheit. (Als gebürtiger New Yorker schäme ich mich keineswegs, das zuzugeben.) Man muss sich einmal vorstellen, was wir alles über diese Menschen in Erfahrung bringen könnten, wenn es uns gelänge, hinter die Fassade ihrer Masken zu dringen und ihre inneren Stimmen zu belauschen.

Zufällig ist dies genau das, was der britische Anthropologe Andrew Irving in den Jahren 2010 und 2011 über einen Zeitraum von vierzehn Monaten vollbracht hat: Er hat in die Gehirne von etwas mehr als einhundert New Yorkern hineingehört.

Während Irving sich von seiner Studie einen unverfälschten Einblick in das verbale Leben des menschlichen Hirns – oder, genauer gesagt, eine Hörprobe davon – versprach, hatte er ursprünglich eine ganz andere Intention gehabt: Sein Interesse galt vielmehr der Frage, wie wir mit dem Bewusstsein eines nahenden Todes umgehen. Als Professor an der Universität von Manchester hatte er schon früher einen Feldversuch in Afrika unternommen, bei dem er die in Worte gefassten inneren Monologe von Menschen analysiert hatte, die mit HIV/AIDS diagnostiziert worden waren, und so war es denn auch kaum verwunderlich, dass die Gedanken der Probanden – ausgelöst durch die Diagnose – stark von Angst, Verunsicherung und Seelennot geprägt sein würden.

Dann wollte Irving seine Forschungsergebnisse mit einer weiteren Gruppe von Probanden vergleichen, die zwar gewiss auch ihre Bürde zu tragen hatten, deren Leben jedoch zumindest nicht unmittelbar bedroht war. Zu diesem Zweck sprach er in New York ganz unbedarft Leute auf der Straße, in Parks und in Cafés an (man kann ihn nur für seinen Mut bewundern), erzählte ihnen von seinem Projekt und fragte sie, ob sie bereit wären, ihre Gedanken auf Band zu sprechen, während er sie aus einiger Entfernung dabei filmte.

An manchen Tagen erklärte sich gleich eine Handvoll Passanten dazu bereit, an anderen Tagen wiederum nur ein einziger. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, gaben sich die meisten New Yorker zu beschäftigt oder waren zu misstrauisch, um sich auf die Sache einzulassen, doch schließlich hatte Irving seine einhundert »Ströme innerlich vorgetragener Sprache«, wie er sie nannte, beisammen – in Form von Sprachmitschnitten, deren Länge von fünfzehn Minuten bis zu eineinhalb Stunden reichte. Diese Protokolle sollte man natürlich nicht als Dauereintrittskarten zur verborgenen Seelenwelt der Testpersonen betrachten, denn für manche Teilnehmer dürfte das Bestreben, einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen, bei ihren Äußerungen durchaus eine Rolle gespielt haben. Und doch offenbaren diese Aufzeichnungen einen ungewöhnlich freimütigen Zugang zu den Selbstgesprächen, die diese Menschen bei der Bewältigung ihres Alltags führen.

Natürlich nahmen in Irvings Studie eher alltägliche Sorgen und Ängste besonders breiten Raum ein. Viele Probanden gaben Kommentare zu dem ab, was sie auf der Straße wahrnahmen – andere Fußgänger, Autofahrer und den Straßenverkehr überhaupt –, oder zählten Dinge auf, die sie noch zu erledigen hatten. Doch neben diesen wenig bemerkenswerten Betrachtungen fanden sich auch Monologe, in denen es um alle nur denkbaren persönlichen Kränkungen, um Kummer und Not und um Existenzängste ging. In mehreren der gesprochenen Texte fiel auch ein abrupter Bruch auf, bei dem die Erzählung ganz und gar unvermittelt ins Negative schwenkte – als hätte sich mitten in dem sich wie das Band einer Straße abspulenden Gedankenfluss unversehens ein tiefes Schlagloch aufgetan. Als Beispiel soll uns hier eine Frau namens Meredith dienen, deren von Irving aufgezeichneter innerer Monolog schlagartig von der Schilderung ihrer Alltagssorgen zu einer Angelegenheit von Leben und Tod wechselte.

»Ich wüsste zu gerne, ob es hier in der Nähe irgendwo eine Staples-Filiale gibt«, hatte Meredith gerade eben noch gesagt, als sie es sich auf einmal wie bei einem jähen Spurwechsel anders überlegte und von einer Freundin zu erzählen begann, bei der jüngst eine Krebserkrankung festgestellt worden war: »Wissen Sie, zuerst dachte ich, sie wollte mir sagen, dass ihre Katze gestorben ist«; Meredith überquerte die Straße und fuhr dann fort: »Ich wollte mit ihr um ihre Katze weinen, aber dann musste ich mich rasch zusammennehmen, um stattdessen nicht ihretwegen in Tränen auszubrechen. Ich meine, New York ohne Joan wäre doch … Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen.« Ihr traten Tränen in die Augen. »Aber sie wird’s wohl gut überstehen … es gibt doch diesen schönen Satz von der zwanzigprozentigen Heilungschance, die man hat … aber wie eine Freundin von ihr sie dann gefragt hat, ob sie sich denn in ein Flugzeug setzen würde, bei dem nur eine zwanzigprozentige Chance besteht, dass es heil ankommt. Nein, würde man natürlich nicht. Aber es war doch schwer, zu ihr durchzudringen. Sie verbirgt sich hinter einer Mauer aus Worten.«

Meredith schien die schlechte Nachricht eher als Herausforderung anzunehmen als sich davon unterkriegen lassen zu wollen. Das Nachdenken über belastende Gefühle muss nicht unbedingt in eine Spirale von Grübeleien führen, und ihr Fall ist ein treffendes Beispiel dafür. Ihre Gedanken fingen nicht an, sich im Kreis zu drehen, denn nachdem sie ein paar Minuten später eine weitere Straße überquert hatte, fand der Strom ihrer Worte zurück zu dem Punkt, der sie gerade eben noch beschäftigt hatte: »Gibt’s da weiter runter nicht einen Staples? Ich glaube, ja.«

Während Meredith ihre Angst vor dem Verlust ihrer geliebten Freundin verarbeitete, fixierte sich ein Mann namens Tony auf eine gänzlich andere Art von Trauer: Ihn bekümmerte der Vertrauensverlust in einer freundschaftlichen Beziehung zu zwei ihm nahestehenden Menschen, unter Umständen sogar das endgültige Zerbrechen dieser Freundschaft. Während er mit seiner Umhängetasche über der Schulter einen von Menschen nur so wimmelnden Gehsteig entlangschritt, erging Tony sich in einer ziemlich ichbezogenen Tirade: »Einfach weggehen … Schluck’s einfach herunter. Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen. Weg, einfach weg. Ich versteh’s ja, dass man nicht bei jedem Erstbesten damit hausieren geht. Aber ich bin nicht jeder Erstbeste. Also kriegt ihr beide jetzt ein gottverdammtes Kind. Ein einziger Anruf hätte genügt.« Das Gefühl des Ausgeschlossenseins, das er empfand, setzte ihm offenbar sehr zu. Er schien sich an einer Art Scheidepunkt zu sehen – zwischen einem Problem, das einer Lösung bedurfte, und der Alternative, sich seinem Schmerz zu überlassen, was nur zu nutzlosem Suhlen im eigenen Elend führen konnte.

»Klar, absolut klar. Das Leben geht weiter«, stellte Tony dann fest. Er nutzte dieses Selbstgespräch nicht nur, um seinen Gefühlen eine Stimme zu verleihen, sondern auch, um Möglichkeiten zu erkunden, wie am besten mit der Situation umzugehen wäre. »Die Sache ist die«, fuhr er fort, »es könnte heißen, dass ich überflüssig bin. Als sie mir sagten, dass sie zusammen ein Kind kriegen, fühlte ich mich ein bisschen außen vor. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Aber jetzt sehe ich vielleicht, wozu es gut ist. Ich war zuerst reichlich angepisst, aber, das muss ich zugeben, jetzt nicht mehr ganz so angepisst wie zuvor. Jetzt könnte es sein, dass das Ganze mir in die Karten spielt.« Er gab ein leises, verbittertes Lachen von sich, dann seufzte er. »Ja, das war auf jeden Fall ein Tritt in den Arsch … aber ich sehe das jetzt nicht mehr so negativ … obwohl ich anfangs echt angepisst gewesen bin. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir drei irgendwie zusammengehören … na gut, jetzt gehört ihr zwei eben zusammen. Und ich bin außen vor … Aber ich lasse den Kopf nicht hängen!«

Und dann war da noch Laura.

Laura saß in ruheloser Stimmung in einem Coffee Shop und wartete darauf, endlich etwas von ihrem Freund zu hören, der nach Boston gefahren war. Normalerweise hätte er nämlich längst schon wieder zurück sein sollen, um ihr beim Umzug in eine neue Wohnung zu helfen. So wartete sie nun schon seit fast zwei Tagen auf seinen Anruf. Zwischendurch hatte sie begonnen sich einzureden, dass ihr Freund in einen tödlichen Unfall verwickelt gewesen sein musste, also hatte sie am Abend zuvor vier Stunden lang vor ihrem Computer gesessen und fast im Minutentakt den Suchbegriff »Busunglück« eingegeben. Und doch musste sie vor sich selbst zugeben, dass bei ihren zwanghaft negativen Gedanken, ihren Freund betreffend, gar nicht unbedingt die Sorge, es könne ihm bei einem Busunglück etwas zugestoßen sein, im Vordergrund gestanden hatte: Sie und ihr Freund waren nämlich nicht fest liiert, sondern befanden sich in einer sogenannten offenen Beziehung – obwohl es an sich niemals Lauras Wunsch gewesen war, eine solche Beziehung zu führen, und sie mit den Umständen dementsprechend auch zunehmend weniger zurechtkam. »Es ist ja so gedacht, dass jeder seine sexuelle Freiheit hat«, gemahnte sie sich selbst, »aber das habe ich mir für mich selbst nie gewünscht … ich weiß überhaupt nicht, wo er ist … Er könnte sonst wo sein. Er könnte bei einem anderen Mädchen sein.«

Während Meredith angesichts der beunruhigenden Neuigkeit weitgehend die Fassung bewahrte (dass uns die Tränen kommen, wenn wir erfahren, dass eine gute Freundin Krebs hat, ist schließlich eine völlig normale Reaktion) und Tony für sich die Entscheidung gefällt hat, fortan seiner eigenen Wege gehen zu wollen, kam Laura nicht los von ihren negativen Gedanken. Sie wusste nicht, wie sie weiter verfahren sollte, während gleichzeitig ihr innerer Monolog immer wieder auf die Vergangenheit zurückkam – weil sie gedanklich nicht von den Entscheidungen loskam, die ihre Beziehung zu dem hatten werden lassen, was sie nun einmal war. Wie für Meredith und Tony war die Vergangenheit auch für sie noch sehr präsent. Der jeweiligen Situation entsprechend haben alle drei das Erlebte auf unterschiedliche Weise verarbeitet – wobei ihnen allen gemeinsam war, dass sie sich quasi mit vollendeten Tatsachen auseinandersetzen mussten. Gleichzeitig jedoch wiesen ihre Monologe dadurch, dass sie sich darin fragten, wie es weitergehen würde oder was sie selbst nun unternehmen sollten, bereits in eine hoffnungsvollere Zukunft. Und indem sie in ihren Gesprächen mit sich selbst eine Art Himmel-und-Hölle-Spiel durch Zeit und Raum betrieben, warfen sie ein Schlaglicht auf etwas, das uns allen schon an unserem Gehirn aufgefallen sein dürfte: Es ist ein eifriger Zeitreisender.1

Während eine zu ausgedehnte Reise in die Vergangenheit allzu leicht zu einer Chatter-Orgie werden kann, ist prinzipiell nichts dagegen einzuwenden, auf Vergangenes zurückzublicken oder sich die Zukunft auszumalen. Die Fähigkeit, mentale Zeitreisen zu unternehmen, ist ein echtes Highlight des menschlichen Gehirns, denn sie erlaubt uns, auf eine Weise über den Sinn unserer gemachten Erfahrungen zu reflektieren, wie sie anderen Lebewesen nicht gegeben ist – ganz abgesehen davon, dass diese weder Pläne schmieden noch sich gedanklich auf zukünftige Eventualitäten vorbereiten können. So, wie wir mit Freunden darüber sprechen, was uns jüngst widerfahren ist, was wir in nächster Zeit vorhaben oder was wir uns wünschen, unterhalten wir uns auch mit uns selbst über ebendiese gleichen Dinge.

Auch bei anderen Teilnehmern an Irvings Experiment ließ deren innere Stimme durchblicken, welche Bedeutung die mentale Bewegung auf der Zeitachse für sie hatte; so erinnerte sich etwa eine ältere Dame beim Überqueren einer Brücke daran, über ebendiese Brücke einmal als Mädchen in Begleitung ihres Vaters gegangen zu sein, als ein Mann sich von der Brücke stürzte. Dieser Moment hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt, was zum Teil damit zu tun hatte, dass ihr Vater, ein Profifotograf, genau im entscheidenden Moment auf den Auslöser drückte und das dabei entstandene Foto dann in der meistgelesenen Zeitung der Stadt erschien. Ein Mann von Mitte dreißig beschrieb, wie ihm beim Überqueren der Brooklyn Bridge in den Sinn gekommen sei, wie viel menschliche Arbeitsleistung es gekostet haben musste, diese Brücke zu bauen, und er sich angesichts dessen fest vorgenommen habe, es in dem neuen Job, den er in Kürze antreten wollte, ebenfalls zu etwas zu bringen.

Eine Frau, die im Washington Square Park vergeblich auf den Unbekannten wartete, mit dem sie hier zu einem Blind Date verabredet war, fühlte sich dadurch an einen früheren Partner erinnert, der sie hintergangen hatte – und diese Erinnerung löste eine schwärmerische Schilderung ihres Sehnens nach einer Bindung und nach spiritueller Transzendenz aus. Andere Versuchsteilnehmer berichteten von finanziellen Notlagen, die ihnen möglicherweise bevorstünden, während die inneren Ängste weiterer Teilnehmer von mehr als zehn Jahre zurückliegenden Begebenheiten herrührten, die ihnen aber immer noch in den Knochen steckten – den Anschlägen vom 11. September 2001.