Chemie Digital -  - E-Book

Chemie Digital E-Book

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Beschreibung

Die Digitalisierung bestimmt wie kaum eine andere Entwicklung die Zukunft der deutschen Wirtschaft. Das Tempo der digitalen Transformation ist atemberaubend und faszinierend zugleich. Die Chemie-Arbeitgeber diskutieren im Rahmen des Buchprojektes "Chemie Digital – Arbeitswelt 4.0" die Chancen der Digitalisierung und ihre Risiken mit führenden Repräsentanten aus Politik, Unternehmen, Gewerkschaften und Wissenschaft. Thesenstark, substanziell und anschlussfähig bietet das Buch den vielfältigen Interpretationen, Einstellungen und Erwartungen zur Digitalisierung ein Forum und bildet zugleich die Meinungen wichtiger Stakeholder ab. Dabei konzentrieren sich die Beiträge auf die Auswirkungen in der Arbeitswelt. Wie wird die Arbeitswelt 4.0 aussehen? Wie sollte sie gestaltet sein? Und welche Aufgaben haben die Sozialpartner? Antworten auf diese Fragen finden Sie in "Chemie Digital – Arbeitswelt 4.0". Für alle, die an dem Einfluss der Digitalisierung auf das Arbeitsleben in der Chemie-Branche interessiert sind.

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Margret Suckale (Hg.)

Chemie digital

Arbeitswelt 4.0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Margret Suckale (Hg.)

Chemie digital

Arbeitswelt 4.0

Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Frankenallee 71–81

60327 Frankfurt am Main

Geschäftsführung: Oliver Rohloff

1. Auflage

Frankfurt am Main 2016

ISBN 978-3-95601-173-3

Copyright

Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Frankenallee 71–81

60327 Frankfurt am Main

Umschlag & Satz

Julia Desch, Frankfurt am Main

E-Book-Herstellung

Zeilenwert GmbH 2016

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort der Herausgeberin

BAVC-Präsidentin Margret Suckale im Gespräch mit Günther Oettinger, EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft

Chancen nutzen, Mitarbeiter mitnehmen

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales

Chemie digital – Arbeitswelt 4.0

Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE)

Industrie- und Arbeitsbeziehungen im digitalen Wandel

Dr. Kai Beckmann, Mitglied der Geschäftsleitung Merck

Der Mensch steht weiterhin im Mittelpunkt

Frank-J. Weise, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit

Konsequenzen aus der Entwicklung zur Arbeitswelt 4.0 für die Bundesagentur für Arbeit

Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), und Oliver Suchy

Aussichten für die Arbeitswelt 4.0

Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. (BDA)

Die Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt: revolutionärer Impuls oder normale Modernisierung?

Katrin Göring-Eckardt, Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

Chemie digital – Arbeitswelt 4.0

Dr. Ariane Reinhart, Vorstandsmitglied der Continental AG

Die Gleichzeitigkeit von Evolution und Revolution: die digitale Transformation als Chance und Herausforderung

Wilfried Porth, Vorstandsmitglied der Daimler AG

Daimler nutzt die großen Potentiale auch in der Arbeitswelt 4.0

Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck, Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz

Die digitale Arbeitswelt menschenwürdig gestalten

Sven Astheimer, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der digitale Zeitungsredakteur – wie die Digitalisierung die vierte Gewalt verändert

Professor Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln), und Dr. Oliver Stettes

Digitale Arbeitswelt – Merkmale und Implikationen für die chemische Industrie

Thomas Sattelberger im Interview

Mehr Mut, mehr Kapital, mehr Pioniergeist

Dr. Harald Schaub, Sprecher der Geschäftsführung der Chemischen Fabrik Budenheim KG

Digitalisierung – Freiheit, Freude, Fortschritt

Dr. Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie e.V. (VCI)

Die Digitalisierung als Motor für Innovationen in der chemisch-pharmazeutischen Industrie

Dorothee Bär, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur

Später ward alles besser. Wie die Arbeit im digitalen Zeitalter uns guttut – und was Shakespeare damit zu tun hat

Dr. Thomas Fischer, 1. Vorsitzender des Verbandes angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie e.V. (VAA)

Chemie digital – Wie ändert sich die Führung?

Dr. Christian P. Illek, Vorstandsmitglied der Deutschen Telekom AG

Arbeit im Ökosystem Digitalisierung neu organisieren

Stefan Ries, Personalvorstand der SAP SE

Wohlstand durch Wandel. Wer das Potential einer digitalisierten Arbeitswelt zu nutzen weiß

Professor Birger Priddat, Universität Witten-Herdecke

Digitalisierung und Industrie 4.0: Zukunft der Arbeit

Professor Dr. Detlef Zühlke, Frieder Loch, Fabian Quint, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz gGmbH (DFKI)

Wie die Digitalisierung Produktion verändert

Matthias Horx, Zukunftsforscher, im Interview

Es gibt keinen digitalen Menschen

Dank

Die Autorinnen und Autoren

Fußnoten

Vorwort der Herausgeberin

Dass ich einmal die Ehre haben würde, ein Buch über die Digitalisierung in der Arbeitswelt herauszugeben, erscheint mir rückblickend fast wie ein Wunder. Gehöre ich doch einer Generation an, die ihre Examensarbeiten auf einer Olympia Monica und später dann auf einer IBM Kugelkopfmaschine mit Korrekturband verfasst hat. Auch an die Einführung von Personal Computern kann ich mich sehr gut erinnern. Mein Kollege hatte für das neue Gerät einen ganz besonderen Platz vorgesehen: Die hinterste Ecke seines Büros auf dem Fußboden, womit er gleichzeitig ein in der Firma viel diskutiertes Statement abgab. Das ist – je nach Blickwinkel – schon oder erst 30 Jahre her!

Wie rasant hat sich die Welt seitdem verändert: Was vor einigen Jahren noch unvorstellbar war, ist heute eine gerne in Anspruch genommene Selbstverständlichkeit. Wer möchte die Möglichkeiten der modernen Vernetzung, sei es zu Hause, im Büro oder irgendwo unterwegs, noch missen?

Und dennoch ist die Digitalisierung nicht nur positiv belegt. Sie bahnt sich ihren Weg in einer Zeit, in der – so scheint es – Menschen stärker von Zukunfts- und Abstiegsängsten geplagt werden. Wird mein Arbeitsplatz noch da sein? Werde ich bei den vielen und immer schneller werdenden Veränderungen noch mithalten können? Wie kann ich Digitalisierung am besten „lernen“? Mit diesen Fragen werden wir in den Unternehmen zunehmend konfrontiert. Von unseren Mitarbeitern. Von unseren Sozialpartnern. Und auch viele Führungskräfte machen sich Gedanken, wie sich ihre Rolle in der neuen Arbeitswelt verändert. Um es vorwegzunehmen: Die genauen Antworten kennt letztlich noch keiner. Nur eines wird immer deutlicher: Die Digitalisierung wird uns noch schneller, noch umfangreicher und häufig doch ganz anders erreichen, als wir uns das heute vorstellen können.

In diesem Buch schildern Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft, aus Wissenschaft und Gesellschaft ihre Sicht der Dinge. Wie beurteilen sie Industrie und Arbeit 4.0? Worin liegen die Herausforderungen, worin die Chancen? Und mit welchen Ansätzen lässt sich die Zukunft der Arbeit am besten gestalten? Das Ganze nicht Schwarz oder Weiß, denn einseitige Meinungen in einer ohnehin überhitzten Debatte helfen nicht weiter. In diesem Buch finden Sie vielmehr Gedankengänge und Konzepte von Meinungsbildnern, die an langfristigen Lösungen interessiert sind.

Es ist kein Zufall, dass gerade wir als Chemie-Arbeitgeber die Diskussion zu diesem Zeitpunkt vertiefen wollen. Keine Frage, die deutschen Chemieunternehmen sind auf den ersten Blick mit den hippen Start-ups aus dem Silicon Valley oder Berlin-Mitte kaum zu vergleichen. Die drittgrößte Industriebranche im Land mit mehr als einer halben Million Beschäftigten und einem Umsatz von über 180 Milliarden Euro gilt vielen eher als konservativ. Zu Unrecht, denn Chemie und Pharma sind zentrale Innovationstreiber der deutschen Wirtschaft. In unserer Branche arbeiten Menschen, die neugierig und kreativ sind und die dazu beitragen, Lösungen für die drängenden Herausforderungen der Welt zu erarbeiten – in den Bereichen Gesundheit und Ernährung genauso wie für Themen wie Wohnen und Mobilität.

Das geht in Zukunft nur digital, und damit wird auch die Chemie zunehmend digital – genauso wie die vielen Lebensbereiche, für die sie nachhaltige Produkte und Lösungen liefert. Als Fast Follower wollen wir von den Besten lernen und die Chancen der Digitalisierung bestmöglich für unsere Industrie nutzen.

Ein stabiles Fundament für Industrie 4.0 ist in der Prozessindustrie Chemie bereits gelegt. Unsere Produktion ist schon heute in hohem Maße automatisiert. Moderne Prozessleitsysteme tragen dazu bei, die Anlagen so effizient wie möglich zu betreiben. Viele neue Anlagen werden mittlerweile virtuell geplant. Ganze Lieferketten und komplexe Stoff- und Güterströme werden längst IT-basiert gesteuert. Jetzt kommt der nächste Schritt. Das Internet der Dinge schafft die technischen Rahmenbedingungen, um noch produktiver und wettbewerbsfähiger zu werden.

Wenn wir all das erfolgreich auf den Weg bringen wollen, müssen wir unseren Stakeholdern – allen voran unseren Beschäftigten – aber überzeugende Antworten auf ihre Fragen geben. Der Plural ist hier bewusst gewählt: die eine Antwort wird es nicht geben. Auch hier gilt die John Lennon in etwas abgewandelter Form zugeschriebene Erkenntnis, dass Digitalisierung passiert, während wir damit beschäftigt sind, andere Pläne zu machen.

Obwohl also hier Planbarkeit ihre Grenzen erfahren wird, wissen wir heute doch schon einiges. Zum Beispiel, dass die Digitalisierung veränderte Arbeitsbedingungen ermöglicht, aber auch erfordert: Arbeits- und Arbeitszeitformen werden eine noch vor kurzem undenkbare Flexibilisierung erfahren. Unsere heutigen Arbeitszeitregeln stammen noch aus einer ganz anderen Epoche und bedürfen der Anpassung. Wenn wir neue Regeln aufstellen, werden wir selbstverständlich darauf achten, dass es nicht zu Selbstausbeutung und Missbrauch kommen kann. Aber wir sollten genauso die enormen Chancen sehen, die sich daraus ergeben, künftig zunehmend mobiler arbeiten zu können.

Aufgaben und Arbeitsplätze werden sich auch inhaltlich verändern. Neue Berufsbilder werden entstehen und bestehende werden sich weiterentwickeln. Aber auch das kennen wir bereits, denn beispielsweise das Berufsbild des Chemikanten hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt, und den Beruf des Mechatronikers gab es in den 80er Jahren noch gar nicht. Die gute Nachricht ist: Da moderne Ausbildungsordnungen mittlerweile recht offen und technikneutral formuliert sind, können wir hier schnell reagieren. Das wird den Wandel erleichtern.

Den vor uns liegenden Veränderungsprozess können wir auch deshalb mit Zuversicht angehen, weil wir in der chemischen Industrie starke Arbeitnehmervertreter als Partner haben. Die Sozialpartner gestalten seit vielen Jahren die Zukunft der Chemie gemeinsam. Das spiegelt sich nicht nur in einer langfristig orientierten Tarifpolitik, die die Beschäftigten angemessen am Unternehmenserfolg beteiligt und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen im Blick behält. Auch die großen Themen Globalisierung, Energiewende und demografischer Wandel haben wir als Herausforderungen längst angenommen.

Deshalb bin ich guter Dinge, dass uns der Schulterschluss auch beim Megathema Digitalisierung gelingen wird. Wir werden gemeinsam dafür Sorge tragen, unsere Mitarbeiter auf der Reise in die digitale Zukunft mitzunehmen. Das ist der weitaus bessere Weg als eine zunehmende politische Regulierung von Arbeit. Diese geht häufig an den betrieblichen Bedürfnissen vorbei und belastet die Unternehmen zusätzlich im internationalen Wettbewerb.

Wenn das Buch „Chemie digital – Arbeitswelt 4.0“ dazu beitragen kann, aus der Debatte über die Digitalisierung eine Diskussion über ihre Chancen zu machen, ohne dabei die Risiken auszublenden, dann ist das Ziel erreicht. Zugleich ist dieses Buch ein Appell, mehr Freiheit und Mut zuzulassen, um neue Dinge auszuprobieren. So wird aus „disruptiv“ ein „konstruktiv“, und ein konstruktiver Optimismus beim Thema Digitalisierung ist genau das, was wir jetzt dringend brauchen.

Sollte in 30 Jahren wieder jemand ein Vorwort für ein Buch über die Zukunft der Arbeit schreiben, dann geht der Blick möglicherweise mit einem Augenzwinkern zurück auf die Anfänge der Digitalisierung – also auf das, was wir heute Industrie 4.0 nennen. Das wäre dann auf eine Art nur die logische Fortsetzung einer Geschichte, in der auch mal Schreibmaschinen wie meine Olympia Monica von damals eine Rolle spielten. Alles hat seine Zeit, so viel ist sicher. Machen wir das Beste aus der Zeit, die vor uns liegt!

Margret Suckale

Präsidentin des BAVC

BAVC-Präsidentin Margret Suckale im Gespräch mit Günther Oettinger, EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft

Chancen nutzen, Mitarbeiter mitnehmen

Lieber Herr Oettinger, bevor wir auf die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft eingehen, zunächst die Frage: Wie verändert die Digitalisierung Ihren Alltag als Politiker?

In der Kommission nutzen wir alle digitalen Kommunikationsmöglichkeiten; so können wir viel flexibler und effektiver arbeiten als noch vor einigen Jahren. Zudem lassen sich Argumente heute viel schneller mit Daten und Fakten untermauern. Durch die technischen Möglichkeiten etwa im Bereich Research wissen wir einfach mehr als früher. Aber auch die Bürger erwarten heute mehr Schnelligkeit und durchgehende Erreichbarkeit.

Sind digitale Medien auch ein Beitrag zur Demokratisierung, oder erschweren sie demokratische Prozesse?

Wir gewinnen vor allem an Transparenz durch die neuen Kommunikationswege. Gleichwohl sehen wir auch, dass Schnelligkeit zuweilen Gründlichkeit verhindert. Meinungen werden heute viel schneller gebildet; fundierter sind sie dadurch oft nicht. Insgesamt hat sich der Kommunikationsstil leider eindeutig verschlechtert.

Stichwort Brexit: Können digitale Medien zum Schlüssel werden, um den Menschen die Vorteile der Europäischen Union wieder besser zu erklären?

Für komplexe Themen wie den Binnenmarkt, die Freizügigkeit oder die gemeinsame Währung sind klassische Medien wie Wochen- oder Tageszeitungen besser geeignet. Gleichzeitig ist der schnelle und uneingeschränkte Zugang zu Informationen über das Internet ein großer Gewinn für Bürger und Politiker. Es geht also nicht um das Entweder-oder: Wir müssen lernen, klassische Medien mit den neuen Medien zu verbinden und ihre spezifischen Vorteile zu nutzen.

Die digitale Ökonomie wird dominiert von US-Konzernen, die zum Teil keine 15 Jahre alt sind. Wo bleiben die digitalen Champions des alten Kontinents?

Unsere amerikanischen Partner sind heute stark, wo es um Social Media geht, wo es um Big Data geht, wo man nah am Bürger ist. Bei Unternehmenssoftware und bei der Ausrüstungsindustrie hat auch Europa viele starke Unternehmen. Entscheidend ist, dass wir den europäischen digitalen Binnenmarkt herbeiführen und europäische Standards für Datensicherheit, Datenschutz und grenzüberschreitende Konnektivität setzen. Und wir müssen unsere Beschäftigten durch Weiterbildung fit machen für die digitale Transformation. Darüber hinaus sollten etablierte Unternehmen mehr mit Start-ups kooperieren, um die europäische Start-up-Kultur auszubauen. Denn junge Europäer können genauso kreativ sein wie junge Amerikaner oder Asiaten im Silicon Valley.

Wie sieht Ihre Strategie als EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft aus, um auf Augenhöhe mitzuspielen?

Man muss nicht alle Themen der Politik europäisieren. Aber digitale Strategien machen nur europäisch Sinn. Die Digitalisierung findet in einer globalen Dimension statt. Europäisch können wir sie mitgestalten, national sicherlich nicht. Die einzelnen Staaten sind zu klein, um relevant zu werden, aber die gesamte EU ist stark genug, um ein entscheidender Player für die digitale Welt von morgen zu sein.

Wie kann die Wirtschaft selbst Sie dabei noch besser unterstützen?

Verbände und Gewerkschaften können zum Beispiel das Thema Weiterbildung vorantreiben. Berufliche Qualifikation wird immer wichtiger. Zudem werbe ich dafür, in allen EU-Mitgliedsstaaten vergleichbare Plattformen wie die deutsche Industrie-4.0-Plattform aufzubauen. Auch eine Industrie-4.0-Plattform der Plattformen halte ich für sinnvoll. Eine optimale Strategie muss dabei immer auf dem Modell der Public-Private-Partnership aufbauen.

Schauen wir auf Deutschland mit seinem hohen Industrieanteil an der Wertschöpfung. Wo sehen Sie die deutsche Wirtschaft in zehn Jahren? Als „Frontrunner“ einer digitalen Industrie?

Digitale Technologien verändern fast alle Bereiche der Wirtschaft. 90 Prozent aller Sektoren, Produkte, Dienstleistungen und Arbeitsplätze werden digitalisiert. Deutschland und Europa haben zweifellos zahlreiche Stärken, aber wir können in Zukunft nur erfolgreich sein, wenn wir Ingenieure und IT-Experten zusammenbringen, wenn wir IT-Kompetenzen bei Ingenieuren verankern und umgekehrt Ingenieurwissen bei IT-Experten zum Standard machen.

Was kann die Bundespolitik tun, um die Chancen zu verbessern?

Wichtig ist erstens eine gute Koordination und Zusammenarbeit der verantwortlichen Ressorts. Zweitens sollten wir mehr Geld in europäische Forschungsprogramme investieren, um die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft voranzubringen. Drittens sollte die Bundesregierung einer Kofinanzierung digitaler Infrastruktur aus europäischen Mitteln im Rat positiv gegenüberstehen.

Gibt es in der nächsten Bundesregierung einen Minister für Digitalisierung?

Eine weitere Bündelung der digitalen Kompetenzen nach der Bundestagswahl 2017 in einem Ressort halte ich für sinnvoll.

Was muss geschehen, damit die Menschen in Deutschland vor allem die Chancen der Digitalisierung wahrnehmen?

Die junge Generation sieht fast nur die Chancen der Digitalisierung. Und ich bin sicher, dass der Enkel dem Opa die Chancen eines digitalen Mediums, der digitalen Bildübertragung oder von Gesundheitsapplikationen beibringen wird. Wichtig ist, dass wir die Debatte erweitern: von der Industrie 4.0 zur Wirtschaft 4.0 und zur Arbeitswelt 4.0.

Von entscheidender Bedeutung wird sein, die Mitarbeiter mitzunehmen auf dem Weg in die Arbeitswelt 4.0. Was geben Sie uns mit für diesen Weg?

In der Tat, es kommt darauf an, die Mitarbeiter vorzubereiten und mitzunehmen in die Arbeitswelt 4.0, damit kein Beschäftigter die Sorge haben muss, sein Arbeitsplatz oder er als Arbeitnehmer wird in den nächsten Jahren wegrationalisiert oder seinen Stellenwert verlieren. Hier können Betriebsräte und Tarifparteien einen wichtigen Beitrag leisten. Dort, wo der Arbeitsplatz automatisiert wird, müssen wir durch Weiterbildung und Umschulung eine Perspektive für den Arbeitnehmer schaffen.

Was erwarten Sie von den Sozialpartnern?

Vertikal und horizontal braucht es eine kluge Kompetenzverteilung zwischen Sozialpartnern und Gesetzgeber. Wer macht was? Es muss klar sein, wo der Gesetzgeber gefragt ist und wo die Sozialpartner autonom handeln. Auch bei der Zuordnung zur nationalen oder zur europäischen Ebene brauchen wir Klarheit. Hier ist der Rat der Sozialpartner wichtig. Gerade das Arbeitsrecht kann von einer solchen klaren Kompetenzordnung profitieren.

Braucht es in der neuen Arbeitswelt aus Ihrer Sicht eigentlich noch kollektive Regelungen wie Tarifverträge?

Die Digitalisierung wird völlig neue Anforderungen an Tarifverträge stellen. Sicherlich werden viele Inhalte fortgeschrieben werden können. Aber ich erwarte, dass die Arbeitswelt 4.0 und die Veränderungen durch die digitale Transformation für die nächsten zehn Jahre zum Topthema der Tarifpolitik werden.

„Der Mensch steht weiterhin im Mittelpunkt“ – das ist in einem Satz die Essenz der Debatte dieses Buches. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja, denn es sind weiterhin die Menschen, die die Gesetze definieren und den Rahmen setzen. Zudem ist die Kreativität des Menschen, vor allem von Teams, so hoch, dass sie kaum durch Automatisierung und Digitalisierung ersetzt werden kann.

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales

Chemie digital – Arbeitswelt 4.0

Die Bedeutung der chemischen Industrie

Jede und jeder von uns kommt tagtäglich mit Produkten der chemisch-pharmazeutischen Industrie in Berührung. Morgens greifen wir zu Pflegeprodukten und Kosmetika, packen das Pausenbrot in Folie und Plastikdose, müssen vielleicht eine Tablette gegen Heuschnupfen nehmen; wir tragen beim Sport Funktionskleidung, benutzen im Büro Klebstoff und Textmarker und essen Obst und Gemüse, das, bevor es auf unseren Tellern landete, gedüngt und gegen Schädlinge behandelt wurde. Unser Alltag ist ohne chemische Produkte in Form von Kunststoffen und synthetischem Kautschuk, pharmazeutischen und anderen chemischen Erzeugnissen wie Klebstoffen, Textilien und Konservierungsmitteln und vielem anderen gar nicht denkbar.

Die chemisch-pharmazeutische Industrie hat aber nicht nur eine große Bedeutung für unseren Alltag, sondern auch die Wirtschaft insgesamt profitiert in hohem Maße von ihr. Sie gehört traditionell zum Kern der deutschen Volkswirtschaft. Neben Produkten des alltäglichen Bedarfs stellt die chemisch-pharmazeutische Industrie für viele andere wichtige Industriezweige wie den Automobil- und Maschinenbau, die Kunststoff- und Lebensmittelindustrie Stoffe her, die von diesen industriell weiterverarbeitet werden. Sie produziert also größtenteils Vorleistungsgüter. Knapp 60 Prozent der Umsätze der chemisch-pharmazeutischen Industrie werden im Ausland erwirtschaftet. Mit den USA, Japan und China zählt Deutschland auf dem Weltmarkt für Chemikalien zu den größten Akteuren.

Auch was Forschung und Wissenschaft anbelangt, muss sich Deutschland im internationalen Vergleich traditionell keineswegs verstecken: Bis zum Jahr 2015 erhielten 29 deutsche Wissenschaftler den Chemie-Nobelpreis. Zuletzt wurde vor zwei Jahren Stefan Hell, Direktor des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen, für die Entwicklung superauflösender Fluoreszenzmikroskopie gemeinsam mit zwei Forscherkollegen mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet. Dank der Forschungen des Göttinger Wissenschaftlers können kleinste Vorgänge in lebenden Zellen sichtbar gemacht werden.

Sozialpartnerschaftlich den Wandel gestalten

Erfolgreich zu sein und zu bleiben setzt immer voraus, auf der Höhe der Zeit zu sein und sich frühzeitig neuen Herausforderungen zu stellen. Das hat die chemisch-pharmazeutische Industrie in der Vergangenheit stets getan: So reagierte sie als eine der ersten Branchen in Deutschland auf den demographischen Wandel und thematisierte das Thema der zukunftsgerechten Gestaltung von Arbeit. Im Ergebnis schlossen die Chemie-Sozialpartner bereits im Jahr 2008 den ersten Flächentarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“. Darin verständigten sich die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerseite auf verbindliche Analysen der Altersstruktur in den Unternehmen und auf Maßnahmen zur alters- und gesundheitsgerechten Gestaltung des Arbeitsprozesses. Die betriebliche Umsetzung des Tarifvertrages wurde seinerzeit vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen der Projektförderung unter dem Dach der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) unterstützt.

Es ist uns ein großes Anliegen, im Rahmen von INQA Unternehmen und Institutionen dabei zu unterstützen, eine moderne und motivierende Arbeitskultur zu entwickeln und zu etablieren. Dabei liegt der Fokus auf vier personalpolitischen Handlungsfeldern: Neben guter Personalführung sind das Chancengleichheit und Diversity, Gesundheit sowie Wissen und Kompetenz. In diesen Bereichen liegt der Schlüssel für gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten – und damit für langfristige Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Unternehmen in der Arbeitswelt der Zukunft.

Nichts ist so beständig wie die Veränderung

Neben dem demographischen Wandel und einem neuen Schub der Globalisierung bringt auch die Digitalisierung tiefgreifende Veränderungen für unser tägliches Leben mit sich. Sie wirkt sich auf unser Konsumverhalten aus, auf die Kommunikation und natürlich in hohem Maße auch auf die Art und Weise, wie wir arbeiten. Diese Veränderungen zeichnen sich nicht fern am Horizont ab, sie haben längst Einzug gehalten in Fabriken, Büroetagen und im Dienstleistungssektor. Roboter erledigen belastende und monotone Tätigkeiten, Projektskizzen und Ideenpapiere können von überall und zu jeder Zeit geschrieben und versandt werden, die Reise wird am Küchentisch gebucht und der Einkauf bequem per Klick vom Sofa aus erledigt. Das ist alles keine Zukunftsmusik, Leben und Arbeit der Zukunft finden längst statt. Dabei gilt: Nichts ist so beständig wie die Veränderung, ein Ende des technologischen Fortschritts ist also nicht abzusehen.

Darauf sollten wir uns einstellen und uns für die Veränderungen wappnen, die weiter auf uns zukommen werden. Denn sie sind nicht abstrakt, sondern wirken auch in Zukunft hinein in unser Leben, in unser Miteinander, in unsere Arbeit. Albert Einstein hat dazu einmal treffend bemerkt: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“

Die Chemiebranche im digitalen Wandel

Von den Veränderungen für die Arbeitswelt durch die Digitalisierung sind nahezu alle Tätigkeitsfelder und Branchen tangiert. Allerdings verläuft der digitale Wandel nicht überall gleichförmig.

Da sie aufgrund der Prozessfertigung bereits einen hohen Automatisierungsgrad aufweist, sind viele der Entwicklungen, die in anderen Branchen derzeit unter den Stichworten Automatisierung, Digitalisierung und Robotisierung diskutiert werden, für die chemisch-pharmazeutische Industrie bereits bekanntes Terrain. In der Chemie ist oft schon gängige Praxis, was im Maschinenbau unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ gefasst wird. Die Herstellung wird bereits seit langem rechnergestützt und hochintegriert gesteuert. Dabei werden auch Vorleistungen erbracht und Komponenten, zum Beispiel für schnelle Glasfaserkabel, ultraflache Bildschirme und leistungsfähige Computerchips und Akkus, hergestellt, ohne die weitere Fortschritte bei der Digitalisierung kaum vorstellbar wären.

Einer Studie des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. und von Roland Berger zufolge werden sich daher die Marktverhältnisse in der chemisch-pharmazeutischen Industrie durch die fortschreitende digitale Transformation nicht grundlegend verändern. Sie sieht die Chemie weniger vor strategische Fragen gestellt als andere Branchen, da diese bereits heute über eine hohe digitale Reife verfüge. Evolutionäre Weiterentwicklungen im Sinne einer fortschreitenden Automatisierung oder die Entwicklung von Spezialprodukten (Agrochemie) stünden im Mittelpunkt. Dies spiegelt sich auch in den Einschätzungen zur Branche wider: Einer Befragung von 300 Top-Managern der deutschen Wirtschaft zufolge schätzt die Chemiebranche ihre digitale Reife als bereits hoch ein.

Aber auch wenn die Digitalisierung in der chemisch-pharmazeutischen Industrie bereits weiter fortgeschritten ist als in anderen Bereichen und man bereits auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann, stellen sich gleichwohl auch hier Zukunftsfragen: Wie verändert die Digitalisierung unsere Arbeitswelt? Wie werden wir morgen arbeiten? Und welche neuen Antworten brauchen wir für die Aushandlung von Kompromissen, die Unternehmen und Beschäftigten gleichermaßen nutzen?

Dialogprozess „Arbeiten 4.0“

Um eine übergreifende und breite gesellschaftliche Debatte über diese Fragen anzustoßen, habe ich im April 2015 einen Dialogprozess über die Arbeitswelt von morgen angestoßen. Gemeinsam mit den Sozialpartnern, Expertinnen und Experten und der Zivilgesellschaft diskutieren wir darüber, wie wir in Zukunft arbeiten wollen und arbeiten werden. Mir ist es ein großes Anliegen, wegzukommen von der oft techniklastigen Debatte um die „Industrie 4.0“. Dem habe ich bewusst das Motto „Arbeiten 4.0“ entgegengesetzt und den Menschen mit seinen Bedürfnissen, Möglichkeiten und Wünschen in den Fokus unseres Dialogprozesses gerückt.

Zu Beginn des Dialogprozesses haben wir das Grünbuch „Arbeiten 4.0“ herausgegeben, das die zentralen Herausforderungen skizziert und die wichtigen Handlungsfelder aufzeigt. Es geht dabei etwa um die Frage, wie wir die Menschen ausreichend für den Wandel qualifizieren können, wie wir Arbeit, Familie und Freizeit – auch durch neue Möglichkeiten in der digitalen Arbeitswelt – in den verschiedenen Lebensphasen besser vereinbaren können. Es geht darüber hinaus auch darum, welche Auswirkungen der digitale Wandel von Marktstrukturen, Unternehmens- und Arbeitsorganisation auf unser Modell der sozialen Marktwirtschaft hat. Wie wirkt es sich zum Beispiel auf unser System der verfassten Mitbestimmung aus, wenn Konzerne und ihre Beschäftigten über Ländergrenzen und Kontinente hinweg agieren und – immer häufiger rein digital vermittelt – zusammenarbeiten? Wie organisieren wir die soziale Absicherung, aber auch die betriebliche Partizipation bei einem wachsenden Anteil von Arbeit über die Crowd, der Verlagerung von Tätigkeiten aus Betrieben an eine Masse unbekannter Akteure in der digitalen Welt, vorwiegend über eigens darauf spezialisierte Plattformen? Das alles sind Fragen, die wir miteinander diskutieren – Politik, Sozialpartner, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.

Wir sind nach der Halbzeitkonferenz im März 2016 in der zweiten Hälfte des Dialogs angekommen und werden Ende 2016 auf der Abschlusskonferenz ein Weißbuch vorlegen. Darin werden wir Handlungsoptionen aufzeigen, mit denen die künftige Arbeitswelt gestaltet werden kann.

Wichtige Rolle des BAVC im Dialogprozess

Für unseren Dialogprozess „Arbeiten 4.0“ war und ist es wichtig, dass der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) e.V. sich mit seiner Expertise so engagiert beteiligt. Als Spitzenverband der Chemie-Arbeitgeber in Deutschland vertritt der BAVC nicht nur die Interessen von insgesamt 1.900 Mitgliedsunternehmen, in denen 550.000 Menschen beschäftigt sind. Auch aufgrund ihrer Vorreiterrolle in Zukunftsfragen sind die Sozialpartner der chemisch-pharmazeutischen Industrie ein unverzichtbarer Gesprächspartner. Ich habe die Stellungnahme des BAVC zu unserem Grünbuch deshalb mit großem Interesse gelesen. Die Vorschläge und Anregungen werden im Herbst auch ihren Niederschlag im Weißbuch finden.

Chancen versus Risiken

Bereits jetzt ist klar, dass wir bei allen Veränderungen der Arbeitswelt in der sozialen Marktwirtschaft dafür Sorge tragen müssen, dass die Menschen auch in Zukunft unter fairen und verlässlichen Bedingungen arbeiten. Die Herausforderung ist, die Arbeit in unserem Land so zu gestalten und zu organisieren, dass die persönlichen Fähigkeiten der Beschäftigten mit dem Potential von Computern und Robotern sinnvoll zusammengebracht werden.

Entscheidend ist auch, dass wir die Chancen benennen und ergreifen, die in der Digitalisierung stecken. Das beutet nicht, die Risiken auszublenden. Ich denke zum Beispiel an die negativen Folgen der Entgrenzung von Arbeit, etwa an die ständige Erreichbarkeit, die zur psychischen Belastung werden kann. Auch sind viele nicht in der Lage, von sich aus das Diensthandy aus der Hand zu legen, also im Wortsinn „abzuschalten“. Diese Risiken existieren, aber wenn wir dem Grundsatz folgen und die Zukunft der Arbeit vom Menschen, von seinen Bedürfnissen und Wünschen her denken und versuchen, sie in Balance zu bringen mit den Anliegen der Unternehmen, dann bin ich voller Zuversicht, Lösungen im Sinne guter Arbeit zu finden und die Chancen zu nutzen, die der technische Fortschritt mit sich bringt – für Arbeitgeber und Beschäftigte gleichermaßen. Kurz gefragt: Wie können wir mehr Selbstbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammenbringen mit mehr Effizienz, Flexibilität und Produktivität für die Betriebe?

Sozialpartnerschaft als Erfolgsmotor

Die chemische Industrie hat die Chancen der digitalisierten Arbeit erkannt und setzt sich dafür ein, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen am Standort Deutschland aktiv mitzugestalten und zu verbessern. Gerade in der chemischen Industrie hat sich die Sozialpartnerschaft über Jahrzehnte fest etabliert und ist dort stark ausgeprägt. Arbeitgeberverbände wie der BAVC und die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) arbeiten in wesentlichen Fragen wie Qualifizierung, Demographie oder Energiepolitik eng zusammen.

Auch in der Wirtschaftskrise 2008/2009 hat sich die Sozialpartnerschaft als ein wichtiges Instrument zur Krisensteuerung bewährt. Beschäftigte und Arbeitgeber der Chemiebranche haben einen kühlen Kopf bewahrt und gemeinsam Wege gesucht, um der Krise mit guten Konzepten zu begegnen. Die traditionell vertrauensvolle Kooperation der Sozialpartner bildete dafür ein stabiles Fundament. Management und Betriebsräte suchten gemeinsam Möglichkeiten, um die Entlassung von Beschäftigten zu vermeiden. Sie setzten bei der Bewältigung der Krise auf Vertrauen und Kooperation – und das, wie wir heute wissen, mit großem Erfolg!

Die Zukunft gemeinsam zu gestalten, frühzeitig die Weichen zu stellen, diese Leitlinie zieht sich wie ein roter Faden durch die Erfolgsgeschichte der chemisch-pharmazeutischen Industrie in Deutschland. Die Chemiebranche demonstriert seit Jahr und Tag, wie gelebte Sozialpartnerschaft und wirtschaftlicher Erfolg Hand in Hand gehen können. Vor allem zeigt sie, dass eine ausgeprägte Mitbestimmung auf der betrieblichen und der Unternehmensebene und ein hohes Lohnniveau keine Hindernisse für die erfolgreiche Behauptung im globalen Wettbewerb sind.

Das ist in Zeiten, da manch einem Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung bereits wieder als Auslaufmodell gelten, das vom digitalen Wandel und dem durch ihn beschleunigten und verschärften globalen Wettbewerb überrollt wird, ein sehr wichtiges Signal. In der Tat wirft die digitale Transformation der Wirtschaft und der Arbeitswelt neue Fragen auf; ich bin indes der festen Überzeugung, dass auch diese in der Regel am besten durch sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen auf der tariflichen oder betrieblichen Ebene zu beantworten sind.

Neuer Flexibilitätskompromiss

Der erfolgversprechendste Weg in die Zukunft ist, dass wir bei neuen Fragen in der guten Tradition der sozialen Marktwirtschaft neue Kompromisse aushandeln. Ein zentrales Thema ist dabei die Flexibilität. Zum einen geht es um die Frage von Arbeitszeit und Arbeitsort. Zum anderen geht es aber auch ganz grundsätzlich um die Frage der Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen.

Die Folgen einer zunehmenden Flexibilisierung sind oft weitreichend, wenn auch nicht auf den ersten Blick sichtbar. In der Stellungnahme zum Grünbuch hat der BAVC auf den Fall eines Arbeitnehmers hingewiesen, der nachmittags die Kinderbetreuung übernimmt und sich dafür abends nach 21:00 Uhr noch einmal für zwei Stunden an den Computer setzt. Nach heutiger Gesetzeslage darf dieser Arbeitnehmer erst nach der vorgeschriebenen Ruhezeit von elf Stunden erneut die Arbeit aufnehmen, also erst später am nächsten Vormittag. Es ist richtig, dass wir uns mit der Frage auseinandersetzen müssen, wie wir hier zu einer guten Lösung im Sinne der Beschäftigten und der Unternehmen kommen können, ohne das hohe Niveau des Arbeitnehmerschutzes, das wir zu Recht haben, in Frage zu stellen.

Der BAVC weist in seiner Stellungnahme auch darauf hin, dass wir eine Arbeitszeitgestaltung brauchen, die sich an den Lebensphasen der Menschen orientiert. Mit der Fortentwicklung des Tarifvertrags „Lebensarbeitszeit und Demografie“ (TV Demo) haben die Tarifvertragsparteien der chemisch-pharmazeutischen Industrie im Jahr 2012 ein Modell geschaffen, mit dem zum Beispiel in Phasen der Kinderbetreuung, der Pflege von Angehörigen oder auch während einer Weiterbildung die Arbeitszeit flexibel gestaltet wird und bis auf 80 Prozent reduziert werden kann, ohne dass sich die Vergütung entsprechend verringert. Auch hier konnte von den Sozialpartnern durch partnerschaftliches Aushandeln eine gute Lösung erreicht werden.

Mir zeigt das einmal mehr: Flexibilität muss immer von beiden Seiten aus gedacht werden: Was wünschen sich die Beschäftigten, was ist gut für sie, ihre Gesundheit und Motivation? Und was brauchen die Unternehmen für ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihren Erfolg? Wie also können die Forderungen der Wirtschaft nach Freiheit und Flexibilität mit dem Bedürfnis der Beschäftigten nach Selbstbestimmung, Beteiligung und vor allem auch nach Sicherheit in Einklang gebracht werden?

Denn mehr Flexibilität verlangt auch neue Sicherheiten. Ich nenne das den „neuen Flexibilitätskompromiss“. Und diesen Kompromiss sehe ich als Prozess, in dem wir gemeinsam Spielregeln finden, die es möglich machen, in einer sich ständig wandelnden und differenzierenden Arbeitswelt zu einem fairen Ausgleich zu kommen.

Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge sind gute Beispiele für die Fähigkeit, kluge Kompromisse zu finden. Deshalb setze ich mich für eine Stärkung der Tarifbindung ein. Die Tarif- und die Betriebspartner brauchen Spielräume, um für ihre jeweilige Branche und konkret vor Ort die Arbeit zu gestalten.

Richtig ist aber auch, dass sich nicht jedes Thema für Tarifverträge eignet. Die chemisch-pharmazeutische Industrie ist mit ihren Sozialpartnervereinbarungen, die außerhalb von Tarifverhandlungen getroffen wurden, ein echter Vorreiter. Von dieser Möglichkeit, gemeinsam Dinge zu verabreden, profitieren beide Seiten – Unternehmen und Beschäftigte. Der Rahmen der Verabredungskultur soll möglichst weit sein.

Allerdings muss es dort, wo ein Aushandeln nicht gelingt, Standards, Schutz und Regeln geben. Dabei muss auch die Politik stets lernfähig bleiben – und sie ist es auch. Im Dialogprozess „Arbeiten 4.0“ profitieren wir vom Wissen und Erfahrungsschatz aus der Praxis, von neuen Erkenntnissen der Wissenschaft und von den Wünschen und Meinungen der Zivilgesellschaft. Das alles kann und wird in Gesetzgebungsprozesse einfließen.

Dabei zeichnet sich in unserem Dialogprozess zunehmend ein Ergebnis ab: Es gibt immer seltener die „One size fits all“-Regelung, die wir nur in Gesetzesform gießen müssten. Parallel zur Veränderung der Arbeitswelt durch technologische Neuerungen und die Flexibilitätsanforderungen an Unternehmen im internationalen Wettbewerb verändern sich auch kulturell und gesellschaftlich Bedürfnisse und Ansprüche.

Anders als vor vielen Jahren haben wir es heute zudem mit sehr viel gemischteren Belegschaften zu tun. Die Erwerbsbiographien sind bunter geworden. Auch darauf müssen wir reagieren und bei der Aushandlung neuer sozialer Kompromisse die wachsende Diversität der Belegschaften, die mit ganz unterschiedlichen Ansprüchen und Bedürfnissen einhergeht, berücksichtigen. In der Studie „Wertewelten Arbeiten 4.0“, die Mitte März 2016 im Rahmen der Halbzeitkonferenz „Arbeiten 4.0“ vorgestellt wurde, wird die Verschiedenheit der Ansprüche an Arbeit und soziale Sicherheit ganz deutlich, die Unternehmen in ihren Belegschaften versammeln. Die Chemiebranche hat hier gewiss eine Vorbildfunktion und steht beispielhaft für den hohen Wert von Vertrauen und Kooperation bei der Aushandlung von Kompromissen. Das Ziel ist es, insgesamt zu intelligenten Lösungen zu kommen, die unsere gesetzlichen Vorgaben mit dem Spielraum für tarifliches und betriebliches Handeln verbinden.

Qualifizierung und Weiterbildung

Von Benjamin Britten stammt der kluge Satz: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört, treibt man zurück.“ Diese Einschätzung ist in Zeiten des digitalen Wandels hochaktuell. Denn er ist ein gewaltiger Strom, der uns allen eine hohe Schlagzahl abverlangt. Deshalb werden Qualifizierung und Weiterbildung immer wichtiger, um im Wandel zu bestehen. Das unterstreicht auch der BAVC in seiner Stellungnahme zum Grünbuch. Darin heißt es, dass „in einer zunehmend stärker digitalisierten Arbeitswelt (…) neben fundierten Fachkenntnissen vermehrt auch IT-Kompetenzen, umfassendes berufliches Erfahrungswissen, interdisziplinäre Kompetenzen sowie die Fähigkeit, miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren, erforderlich“ sind. Dem stimme ich zu. Lebenslanges Lernen muss selbstverständlich werden. Nur wer sich kontinuierlich weiterbildet, kann mit dem technischen Fortschritt Schritt halten. Und das ist eine Grundvoraussetzung dafür, ein ganzes Arbeitsleben lang gesund, motiviert und zufrieden zu sein. Ich bin der festen Überzeugung: Weiterbildung ist die beste Arbeitslosenversicherung.

Über die Bedeutung von Weiterbildung und Qualifizierung in der digitalen Arbeitswelt herrscht weitgehend Einigkeit. Aber dann gehen die Auffassungen auch wieder recht weit auseinander. Auch das haben wir aus den Stellungnahmen zum Grünbuch herauslesen können. Aus meiner Sicht sollte Weiterbildung nicht allein als Aufgabe der Betriebe gesehen werden. Die Gesellschaft insgesamt hat ein Interesse daran, dass in einer sich rasch wandelnden Arbeitswelt auch jenseits des konkreten Bedarfs weitergebildet wird. Eine innovative Wirtschaft braucht ein großes Potential von möglichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die auf der Höhe der Zeit sind. Darüber hinaus muss es gelingen, die Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen zu erhalten. Insofern sind Weiterbildung und Qualifizierung auch gesamtgesellschaftliche Anliegen.

Daher schaffen wir auch mit unserem Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung (AWStG) weitere Verbesserungen und gestalten Weiterbildung attraktiver – für Arbeitgeber und Beschäftigte. So wollen wir zum einen Bildungserfolge belohnen und mit Erfolgsprämien Anreize setzen, eine Weiterqualifizierung auch bis zum Berufsabschluss durchzuhalten und abzuschließen. Wenn heute nahezu jeder Vierte vorzeitig seine berufsabschlussbezogene Weiterbildung abbricht, führt das nicht nur zu Frustration bei den Leuten selbst, es kostet auch eine Menge Geld. Darum bin ich sicher: Erfolgsprämien lohnen sich für alle. Zudem wollen wir Weiterbildung gerade in kleinen und mittleren Unternehmen erleichtern, etwa indem Weiterbildung in Zukunft auch außerhalb der Arbeitszeit besser gefördert werden kann. Damit kommen wir einem Anliegen des Mittelstandes nach. Schließlich verbessern wir auch den Schutz für berufliche Auszeiten bei Weiterbildung oder Kindererziehung nach dem dritten Lebensjahr. Wir schaffen die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung, um Lücken im Versicherungsschutz zu vermeiden. Das sind wichtige Schritte hin zu einer neuen Weiterbildungskultur. Diese beinhaltet neben lernförderlichen Arbeitsbedingungen auch eine passende institutionelle Rahmung. Perspektivisch müssen wir daher über ein Recht auf Weiterbildung nachdenken und die präventive Ausrichtung der Arbeitslosenversicherung stärken. Das schließt auch die Möglichkeit zur regelmäßigen Berufs- und Weiterbildungsberatung ein.

Ich stimme mit dem BAVC völlig überein, wenn er uns ins Stammbuch schreibt: „Ein hohes Qualifikationsniveau und die kontinuierliche Fortentwicklung der Kompetenzen liegen im gemeinsamen Interesse von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Qualifizierung dient der Sicherung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und dem Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer.“ Zu Recht heißt es in der Stellungnahme ferner: „Mit modernen Ausbildungsberufen, einem hohen Ausbildungsstandard und einer im Industrievergleich bereits überdurchschnittlichen Weiterbildungsintensität verfügt die Chemiebranche insgesamt über eine gute Ausgangsbasis, um die Beschäftigten auch qualifikatorisch für die Arbeit der Zukunft fit zu machen.“ Damit kann die chemisch-pharmazeutische Industrie auch im Bereich der Qualifizierung und Weiterbildung die Vorreiterrolle spielen, die sie in anderen Zukunftsfragen innehat.

Soziale Absicherung neuer Arbeitsmodelle

Im Zuge der Digitalisierung verändern sich nicht nur Arbeitsabläufe, es entstehen auch völlig neue Arbeitsformen wie das bereits erwähnte Crowdworking. In dieser Grauzone des Arbeitsmarktes gelten weder die Regelungen des Mindestlohns noch andere arbeitsrechtliche Schutzvorschriften wie zum Beispiel der bezahlte Mindesturlaub oder die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Auch die Regelungen zur betrieblichen Mitbestimmung können nicht greifen. Zudem stellt sich bei der internationalen Reichweite der Plattformen häufig die Frage, inwieweit deutsches oder europäisches Recht überhaupt Anwendung findet.

Eine dritte Frage, die die Digitalisierung der Arbeitswelt aufwirft, betrifft deshalb die soziale Absicherung neuer Arbeitsformen. Wir müssen die Mitbestimmung, die sozialen Sicherungssysteme und die Tarifpartnerschaft so weiterentwickeln, dass sie auch unter den veränderten Bedingungen einer digitalen Arbeitswelt die tragenden Pfeiler unseres Wirtschaftsmodells bleiben. Ob wir ein neues berufsständisches Versorgungswerk für die sogenannten Crowdworker schaffen, oder ob wir die Rentenversicherung für Solo-Selbständige öffnen, ist noch nicht entschieden. Aber eines ist nicht verhandelbar: dass wir auch in Zukunft Sicherheit im Alter solidarisch organisieren.

Am Beispiel Crowdworking lässt sich aber auch ersehen, dass es im Moment noch keinen Grund gibt, die Entwicklungen zu dramatisieren: In Deutschland zumindest ist es bisher ein Randphänomen. Selbst in der Informationswirtschaft, wo Arbeit zerlegt und portioniert ins Netz gestellt und dann auch dort abgerufen werden kann, nutzen heute nur 3 Prozent der Unternehmen aktiv diese Möglichkeit.

Fazit

Es kommt also viel Arbeit auf uns zu. Aber bei allen Anpassungen, die wir vornehmen müssen, bleibt doch eine Konstante, die sich über Jahrzehnte hinweg bewährt und unserem Land wirtschaftliche Stärke und sozialen Frieden beschert hat: die soziale Marktwirtschaft. Und mit ihr die gute Tradition der Sozialpartnerschaft, in der Arbeitgeber und Beschäftigte auf Augenhöhe verhandeln und zu guten Lösungen für beide Seiten kommen. Das führt nicht nur zu Win-win-Ergebnissen; die Erfahrung zeigt auch, dass wir durch die großen Spielräume für sozialpartnerschaftliche Regelungen vielfach flexibler und anpassungsfähiger auf neue Herausforderungen reagieren konnten. Das war in der Vergangenheit das Erfolgsrezept der deutschen Wirtschaft. Und das kann und wird es auch sein, wenn es um die Gestaltung der Arbeit der Zukunft geht.

Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE)

Industrie- und Arbeitsbeziehungen im digitalen Wandel

Worum geht es?

Deutschland gehört weltweit zu den führenden Wirtschaftsnationen mit hohem Innovationspotential. Wie in allen Industrieländern verändern sich auch in Deutschland die Produktionsstrukturen tiefgreifend und schnell. Mit fortschreitender Digitalisierung der Produktionsprozesse entsteht eine neue Ebene der Globalisierung, deren Konturen erst langsam sichtbar werden.

Wie wir einkaufen, wie wir Musik hören, wie gearbeitet wird: Die Digitalisierung verändert unser Leben — auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene. Sie bestimmt mehr und mehr den Alltag und die Arbeitswelt der Menschen. Unser gesamtes Leben wird immer stärker erfasst und gestaltet. Dabei wächst der Grad der Vernetzung von Menschen, Dingen und Informationen. Daten werden immer schneller, effizienter und ressourcensparender genutzt und kommuniziert. Der digitale Wandel bietet vielfältige Chancen. Wir brauchen Mut, um diese Chancen umzusetzen. Wir dürfen aber auch die Augen vor damit einhergehenden Risiken nicht verschließen.

Auch die Arbeitswelt ist hiervon betroffen. Erste Umrisse einer digitalen Arbeitswelt 4.0 werden sichtbar. Allerdings ist der Stand der Umsetzung in den einzelnen Industriesektoren sehr zeitversetzt. Trotzdem muss bereits heute darüber nachgedacht werden, in welche Richtung dieser Weg führt.

Aus gewerkschaftlicher Sicht müssen schon heute die Folgen für die Beschäftigung und die Qualität der Arbeitsplätze diskutiert werden. Elemente einer gewerkschaftlichen Strategie im Umgang mit der Digitalisierung müssen entwickelt werden. Dazu gehört zum einen, eine grenzenlose Rationalisierung und Flexibilisierung der Arbeitsprozesse zu vermeiden, und zum anderen, qualifizierte Arbeitsplätze mit guter Bezahlung in einer humanisierten Arbeitswelt zu schaffen.

Auch für Europa birgt die Digitalisierung Chancen, aber auch Risiken. Rein nationale Maßnahmen zur Gestaltung sind vielfach nicht mehr ausreichend. Die voranschreitende Globalisierung sowie die immer stärker werdende Vernetzung des europäischen Binnenmarktes fordern deshalb eine digitale Agenda auf europäischer Ebene, die über das bisherige Engagement hinausgeht.

Ökonomische und industriepolitische Rahmenbedingungen

Die Industrie war in den vergangenen Jahren der zentrale Stabilitäts- und Wachstumsfaktor der deutschen Wirtschaft. Die zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung und veränderte Nachfragestrukturen haben zu immer komplexeren Beschaffungs- und Absatzmärkten, zu neuen Produkten, komplexeren Geschäftsprozessen und immer schnelleren Innovationszyklen geführt. Die Differenzierung der Kundenbedürfnisse sowie die Entwicklung von Verkäufer- zu Käufermärkten haben neue Anstrengungen initiiert, um die Kunden an sich zu binden. Neue Konkurrenzen durch ausländische Unternehmen haben auf den Märkten zu mehr Wettbewerb geführt.

Die Internationalisierung der Wirtschaft schreitet auch in Zukunft weiter fort. Demographische Herausforderungen werden das Arbeitskräftepotential verknappen, und Unternehmen müssen ihre Wirtschaftsweise mit höherer Nachhaltigkeit ausrichten. Die Digitalisierung der Wertschöpfungsketten wird dadurch weiter optimiert. Damit werden sich Produktion und Arbeit in den Unternehmen Zug um Zug verändern. Die Produktion, vor allem in vor- und nachgelagerten Bereichen, wird noch stärker vernetzt.

Neue Konzepte wie die „Smart Factory“ führen zu weitreichenden Veränderungen auch für die Beschäftigten und deren Arbeitsbedingungen.

Vor knapp fünf Jahren wurde in Deutschland der Begriff Industrie 4.0 kreiert. Zunächst sah es so aus, als handele es sich um einen Modebegriff aus dem politischen Marketing. Inzwischen zeigt sich allerdings, dass Industrie 4.0 keine Eintagsfliege ist. Sie verändert die Arbeitswelt nachhaltig. Neu und prägend sind hier zwei Elemente: Es geht um die Zusammenführung aller dezentralen Anlagen zu einer digital vernetzten Welt. Cloud-Anwendungen sind der Schlüssel für dieses Element. Und es geht um die Fähigkeit, riesige Datenmengen in kürzester Zeit zu erfassen und auszuwerten, um damit Steuerungsprozesse zu optimieren.

Industrie 4.0 steht für ein neues Entwicklungsstadium der industriellen Produktion. Nach der Automatisierung steht nun die digitale Vernetzung im Zentrum. Industrie 4.0 zielt auf eine autonome und intelligente Steuerung von digitalisierten Entwicklungs-, Produktions- und Logistikprozessen. Basis ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch die Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure. Diese Vernetzung bietet uns bereits heute Möglichkeiten, schneller und wesentlich effizienter Daten zu übermitteln und miteinander zu kommunizieren. Dies wird in den kommenden Jahren erheblich an Qualität gewinnen. Nicht nur für die Industrie bietet die zunehmende digitale Vernetzung große Innovations- und Produktivitätspotentiale, sondern auch für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche.

Voraussetzungen schaffen

Grundbedingungen für eine flächendeckende digitale Vernetzung sind leistungsfähige Kommunikationsnetze und eine komfortable digitale Infrastruktur. Deshalb muss der Ausbau des Hochleistungsinternets vorangetrieben werden. Für die Industrie mit ihren komplexen Anlagen ist dabei ein hohes Maß an IT-Sicherheit unabdingbar. Zudem müssen Haftungsfragen sowie Fragen von Eigentums- und Urheberrechten geklärt sein sowie ausgewogene Datenschutzregeln erlassen werden.

Die Digitale Agenda der Bundesregierung verfolgt das ehrgeizige Ziel, Deutschland in den kommenden Jahren zu einem Motor der Digitalisierung in Europa und der Welt zu machen. Die Grundlage für eine umfassende Teilhabe an den Chancen ist ein flächendeckender Zugang zur digitalen Welt. Vertrauen in die Sicherheit und Integrität müssen auf einem hohen Niveau gewährleistet werden, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potentiale der Digitalisierung umfassend zu erschließen.

All dies wirkt sich auf die Form der industriellen Arbeit aus. Hier ergeben sich Fragen nach zeitlichen Reichweiten, Beschäftigungsperspektiven, veränderten Tätigkeitsprofilen und der Entstehung neuer Berufsgruppen. Die Digitalisierung findet heute vorwiegend in der Fertigungsindustrie statt. Aber auch Prozessindustrien, wie die chemisch-pharmazeutische Industrie, werden zunehmend erfasst. Für die Unternehmen der Branche bieten Innovationen rund um Industrie 4.0 und Digitalisierung beträchtliche Innovationspotentiale. Allerdings ergeben sich auch soziale Risiken und erhebliche Anforderungen an zukünftige Formen der Arbeitsabläufe und der Mitarbeiterkommunikation. Politische Rahmenbedingungen zur Flankierung dieser Prozesse sind hierfür eine Voraussetzung.

Es geht hier nicht allein um technischen Fortschritt. Vielmehr ermöglicht digitalisiertes Wirtschaften neue Formen von Kommunikation, Kooperation und eines zwischenmenschlichen Umgangs in einem bisher unbekannten Ausmaß.

Nach unserem Verständnis muss jedes Unternehmen seine eigene Digitalisierungsstrategie entwickeln und umsetzen. Ein Lehrbuch „Wie implementieren wir Industrie 4.0?“ gibt es nicht. Es gibt weder eine allgemein anerkannte Definition von Inhalten und Umfang noch technische Referenzfälle oder Schätzungen zu Kosten und Nutzen.

Chemie- und Pharmaunternehmen haben im Laufe der Jahre Milliarden in die Automatisierung und Informationstechnik investiert. Diese Investitionen haben die Produktqualität gesteigert und die Produktionskosten gesenkt. Die nächste Stufe der Produktivitätssteigerung wird auch in der chemisch-pharmazeutischen Industrie durch die gerade erst begonnene digitale Revolution eingeleitet. Laut einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers erkennt die Mehrzahl der Unternehmen darin ein deutliches Plus. Für die Prozessindustrie wird danach bis 2020 ein Anstieg des Digitalisierungsgrades von 21 Prozent auf 77 Prozent erwartet. Durch damit veränderte Wertschöpfungsketten wird der Informations- und Warenfluss vom Kunden über das eigene Unternehmen bis hin zum Lieferanten und zurück transparent und deutlich optimiert.

Ein Stück weit ist sie also schon da, die Digitalisierung der chemischen und pharmazeutischen Industrie, aber der größte Teil liegt noch vor uns. Deshalb weiß auch niemand, wie genau das Szenario in den Unternehmen und damit für die Beschäftigten aussehen wird.

Abwarten und zusehen wollen die IG BCE und ihre Betriebsräte hier nicht. Wir werden von Anfang an die Arbeit der Zukunft mitgestalten. Auch wenn weder das wirtschaftliche Potential noch die Auswirkungen auf die Beschäftigung präzise erkennbar sind, müssen wir uns dieser Entwicklung stellen. Diese einfach zu ignorieren und sich die alten Zeiten zurückwünschen geht nicht und macht auch keinen Sinn in einer international aufgestellten Industrie wie der Chemie- und Pharmabranche. Gewerkschaften und ihre Betriebsräte müssen erreichen, dass sichere und gute Arbeitsplätze und die Wahrung der Mitbestimmung erhalten bleiben und weiterentwickelt werden. Mit anderen Worten: Wir müssen bereits heute klare Ziele für eine unklare Zukunft entwickeln.

Die größte Herausforderung ist das enorme Tempo, mit dem die Digitalisierung voranschreitet

Beispiele hierfür sind:

Logistik und Beschaffung: Die RFID-Chip- und Cloud-unterstützte Planung der Warenströme innerhalb und jenseits der Werkstore führt zu einer optimierten Steuerung von Verkehrsträgern zum Bezug von Rohstoffen und Vorprodukten und zur Belieferung der Kunden.

Sensorik: Smarte Sensoren gelten als ein Schlüssel für die Digitalisierung in der Prozessindustrie. Vernetzte Sensoren sind die Voraussetzung für die Realisierung von cyber-physischen Produktionssystemen (CPPS) und von zukünftigen Automatisierungskonzepten für die Prozessindustrie im Sinne des Zukunftsprojektes Industrie 4.0.

Digitale Assistenzsysteme sind in der Verfahrenstechnik sowohl für die Produktexperten als auch für die Anlagenfahrer und die Wartung ein weiterer Schritt in Richtung Industrie 4.0.

3-D-Druck ermöglicht eine individualisierte Produktion (Losgröße 1) und/oder die Produktion vor Ort mit präzisen räumlichen Produktstrukturen und kann so die Produktion in Pharmazie, Chemie sowie bei den Kunden verändern. Die Chemie kann hierbei durch ihre Materiallieferungen für den 3-D-Druck besonders profitieren.

Modularisierung der Produktion: Neue kleine und gegebenenfalls mobile Anlagen im Garagenformat, die Chemieproduktionen temporär bei Kunden vornehmen können, ersetzen die zentrale Produktionen, aufwendige Logistik und beschleunigen Zulieferungen.

Landwirtschaft (Digital Farming): Es geht um passgenaue „smarte“ Dienstleistungen für die Landwirtschaft. Dabei werden Lösungen zur Optimierung von Pflanzenschutzanwendungen für fast alle wichtigen Ackerbaukulturen angeboten. Big Data liefert große Datenmengen über den Zustand von Boden und Pflanzen zum effizienten und umweltschonenden Einsatz von Düngern und Pflanzenschutzmitteln.

Der Begriff Industrie 4.0 steht für ein neues Zeitalter der industriellen Produktion und Industriearbeit und bedeutet fundamentale Veränderungen für Prozesse, Strukturen, Geschäftsmodelle und industrielle Arbeitsbedingungen in der gesamten Wertschöpfungskette eines Unternehmens. Für die IG BCE sind diese Veränderungen der Arbeitswelt Herausforderungen, die wir mit Sachlichkeit, Kreativität und Dialogbereitschaft angehen. Für diesen Weg sind wir bekannt. Wir betrachten die Veränderungen im Rahmen der Digitalisierung als evolutionäre Entwicklungen, die nicht mit einem bestimmten Datum zu verbinden sind, sondern schrittweise erfolgen. Entscheidend sind für uns die Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsbedingungen im Betrieb. Dabei stehen die Interessen der IG BCE-Mitglieder und der arbeitenden Menschen in den Unternehmen für uns im Zentrum einer digitalisierten Arbeitswelt. Mit der Digitalisierung verbinden sich Hoffnungen, aber auch Risiken. Dem Wunsch nach höherwertigen Tätigkeiten und mehr Souveränität bei der Gestaltung von Arbeitszeit und Arbeitsort stehen Befürchtungen gegenüber, zum Beispiel im Hinblick auf Arbeitsplatzverluste. Treten in Einzelfällen solche Zielkonflikte auf, müssen wir Wege finden, diese auszubalancieren.