Chemie in Lebensmitteln - Johannes Friedrich Diehl - E-Book

Chemie in Lebensmitteln E-Book

Johannes Friedrich Diehl

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Beschreibung

Fast täglich berichten die Medien über Lebensmittelskandale und "chemisch verseuchte" Nahrung. Ob Rückstände von Pflanzenschutzmitteln in Obst und Gemüse, von Tierarzneimitteln in Fleisch, Milch und Eiern, ob Schwermetalle oder Dioxine - mit modernen Analysenverfahren können die geringsten Spuren solcher Stoffe sehr zuverlässig nachgewiesen werden. Aber welche gesundheitliche Risiken sind mit dem Vorhandensein dieser Substanzen in der Nahrung verbunden? Die Lebensmittelbranche versichert uns, ihre Produkte seien nicht nur unbedenklich zu genießen, sondern gesundheitlich sicherer als je zuvor. Kritiker des heutigen Lebensmittelangebots warnen dagegen vor schlimmen Folgen. Was stimmt nun, welche Argumente können überzeugen? Ein solch komplexes und heikles Thema wie "Chemie in Lebensmitteln" verlangt nach Beurteilung und Erläuterung durch unabhängige Experten. Als solcher hat sich Johannes Friedrich Diehl, viele Jahre Leiter der Bundesforschungsanstalt für Ernährung, durch zahlreiche Veröffentlichungen und Gutachten sowie durch seine Mitarbeit in Beratergremien einen Namen gemacht. Ohne zu beschönigen und ohne zu dramatisieren berichtet er über die neuesten Erkenntnisse zur gesundheitlichen Qualität von Lebensmitteln, über aktuelle Entwicklungen bei der Zulassung und Verwendung von Zusatzstoffen, über den erstaunlichen Wandel in den Ansichten über Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krebs, Allergien und anderen Krankheiten sowie über die gesundheitsschädlichen und -fördernden Wirkungen natürlicher Lebensmittelinhaltsstoffe. Das mit fundiertem wissenschaftlichem Hintergrund, jedoch für einen breiten Leserkreis geschriebene Buch kann zugleich als fesselnde Lektüre und als Nachschlagewerk Ernährungsberatern, Ärzten, Apothekern, Ökotrophologen, Agronomen und Chemikern dienen - natürlich auch allen, die sich eine eigene Meinung bilden wollen.

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Inhaltsverzeichnis

1 Ein Blick zurück in die „gute alte Zeit“

2 Einige Grundbegriffe

Toxikologie

Lebensmitteltoxikologie

Methoden der Toxizitätsprüfung

Das ADI-Konzept

Höchstmengen

Richtwerte

Epidemiologische Untersuchungen

3 Rückstände

Pflanzenschutzmittel (PSM)

Tierarzneimittel und Futterzusatzstoffe

Sonstige Rückstände

4 Verunreinigungen (Kontaminanten)

Elemente

Polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK)

Polychlorierte Biphenyle (PCB)

Dioxine

Moschusduftstoffe

Populäre Irrtümer zum Thema Kontaminanten

5 Düngemittel, Nitrat, Nitrit, Nitrosamine

Notwendigkeit des Düngereinsatzes

Einfluß der Düngung auf die Zusammensetzung der Ernteprodukte

Nitrat in Lebensmitteln

Nitrataufnahme durch den Menschen

Nitrit in Lebensmitteln

Endogene Nitrosaminbildung

Exogene Nitrosaminbildung

Methämoglobinämie

Der ADI-Wert für Nitrat

Unnötige Warnungen an Verbraucher

6 In Lebensmitteln entstehende Reaktionsprodukte

Verarbeitung und gesundheitliche Qualität der Lebensmittel

Nährwertverluste

Maillardprodukte

Heterocyclische aromatische Amine (HAA)

Lysinoalanin

D-Aminosäuren

Chlorpropanole

Trans-Fettsäuren

Ethylcarbamat

7 Naturstoffe mit potentiell gesundheitsschädlichen oder gesundheitsfördernden Wirkungen

Toxische Pflanzeninhaltsstoffe

Schimmelpilzgifte (Mycotoxine)

Alkohol

Sonstige sekundäre Pflanzenstoffe

Toxische Stoffe in Meerestieren

8 Lebensmittelzusatzstoffe

Warum werden Zusatzstoffe verwendet

Die lebensmittelrechtliche Situation

Gesundheitliche Bedenken

Warnungen der Verbraucher-Zentralen

Warum so viele Zusatzstoffe?

Zufuhrmengen

Nährstoffangereicherte und funktionelle Lebensmittel

Neue Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr

9 Ernährung und Gesundheit

Überfluß und Hunger zugleich

Indikatoren der Volksgesundheit

Ernährung und Krebs

Lebensmittelallergien und Pseudoallergien

Vom hyperkinetischen Syndrom zum chronischen Müdigkeitssyndrom

Die desinformierte Gesellschaft

Kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen

Bibliographie

Index

Prof. Dr. J. F. Diehl

Wildbader Straße 6

76228 Karlsruhe

Das vorliegende Werk wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autor und Verlag für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler keine Haftung.

Nachdruck 2001

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich

ISBN 3-527-30233-6

Gedruckt auf säurefreiem und chlorarm gebleichtem Papier

© WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69469 Weinheim (Federal Republic of Germany), 2000

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, Vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, daß diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige gesetzlich geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche markiert sind.

All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form – by photoprint, microfilm, or any other means – nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Registered names, trademarks, etc. used in this book, even when not specifically marked as such, are not to be considered unprotected by law.

Print ISBN 9783527302338

Epdf ISBN 978-3-527-62461-4

Epub ISBN 978-3-527-66084-1

Mobi ISBN 978-3-527-66083-4

Vorwort

Wenn ein Besucher vom Mars sich anhand von Presseberichten und Rundfunkoder Fernsehsendungen der letzten Jahre über die Ernährung der Erdbewohner informieren wollte, so müßte er den Eindruck gewinnen, daß die Menschen – und insbesondere die Deutschen – systematisch vergiftet werden. Cadmium oder Blei, DDT oder DES, Formaldehyd oder Dioxin, Nitrat oder Aflatoxin, Monochloressigsäure oder Perchlorethylen stehen in den Schlagzeilen. Begriffe wie giftig oder toxisch sind schon so abgegriffen, daß man anscheinend nur noch mit hochtoxisch oder Supergift Aufmerksamkeit gewinnen kann. Würde der Außerirdische das Statistische Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland studieren, so würde er mit Verwunderung feststellen, daß immer mehr Menschen bei guter Gesundheit ein hohes Alter erreichen. Mit den Gift-Schlagzeilen scheint also nicht alles zu stimmen.

Wer nach zuverlässigen Informationen sucht, um sich selbst ein Bild von der gesundheitlichen Qualität des heutigen Lebensmittelangebots zu machen, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Die einschlägige Buchliteratur bietet entweder veraltete Daten oder behandelt das Thema ebenso sensationsorientiert wie die erwähnten Medienberichte. Keines der bisher verfügbaren Bücher, ob rein wissenschaftlicher oder populärwissenschaftlicher Art, beschreibt die enormen Veränderungen, die im Verlauf der letzten zwei bis drei Jahrzehnte in den Gehalten der Lebensmittel an Schwermetallen, Pflanzenschutzmittelrückständen, Nitrosaminen und sonstigen Fremdstoffen eingetreten sind. Zuverlässige Informationen bieten die in Vierjahresabständen von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung veröffentlichten Ernährungsberichte. Dem Thema toxikologische Aspekte der Ernährung wird jedoch in diesen Berichten immer nur ein Kapitel gewidmet. Viele Einzelthemen können dort aus Platzmangel nur sehr knapp, andere gar nicht behandelt werden. Außerdem sind die Ernährungsberichte Momentaufnahmen des jeweiligen Vierjahreszeitraums. Nur ausnahmsweise kann eine Entwicklung über längere Zeit dargestellt werden.

Hier setzt dieses Buch ein; es beschreibt – soweit die Daten verfügbar sind – für jeden besprochenen Stoff die Einschätzung der gesundheitlichen Risiken und wie diese sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Während meiner langjährigen Tätigkeit an der Bundesforschungsanstalt für Ernährung habe ich immer wieder Briefe von besorgten Verbrauchern erhalten, in denen um Auskunft zu Problemen der Lebensmittelsicherheit gebeten wurde. Nicht selten gipfelten sie in der Frage: Was kann man überhaupt noch essen? Aus den Antworten auf diese Briefe und aus meinen an der Universität Karlsruhe gehaltenen Vorlesungen ist allmählich eine Einführung in die Lebensmitteltoxikologie anhand praktischer Fälle („Lebensmittelskandale“) der letzten 25 Jahre geworden. Zu allen angesprochenen Themen wird weiterführende Literatur zitiert, wobei ich auf Aktualität besonderen Wert gelegt habe. Zum überwiegenden Teil stammen die Zitate aus den Jahren seit 1990. Ein Handbuch der Lebensmittelkontaminanten sollte daraus nicht entstehen, Vollständigkeit wurde nicht angestrebt. Die Auswahl der Themen richtet sich in erster Linie nach der Bedeutung, die ihnen in den letzten Jahrzehnten in der öffentlichen Diskussion über die gesundheitliche Qualität der Lebensmittel zugemessen wurde. Fragen der mikrobiologischen Sicherheit der Lebensmittel werden nur am Rande erwähnt – nicht etwa weil sie nicht wichtig wären, sondern weil ein gründliches Eingehen auf dieses Thema den Rahmen des Vorhabens gesprengt hätte.

Das Buch richtet sich an Ernährungsberater, Ärzte, Tierärzte und Apotheker (auch sie werden von ihren Kunden häufig zu den hier referierten Themen befragt), an Studenten der Ökotrophologie, Agronomie, Lebensmittelchemie und -technologie, an Praktiker in der Ernährungsindustrie und dem Lebensmittelhandel und an alle, die sich für Ernährungsfragen interessieren und über einfache Grundkenntnisse der Chemie verfügen. Ich habe dieses Buch auch für Chemiker geschrieben, die beruflich nichts mit Lebensmitteln zu tun haben, die sich aber – eben weil sie Chemiker sind – im Familien- und Bekanntenkreis mit Fragen und Kommentaren zur Chemie in Lebensmitteln konfrontiert sehen und die sich über den Stand der Forschung auf diesem Gebiet informieren möchten. Wenn ein so großer Leserkreis angesprochen werden soll, muß man Kompromisse schließen. Die Chemiker unter den Lesern werden die Erläuterungen zur Chemie als elementar empfinden, Ärzten und Tierärzten wird die Erklärung medizinischer Fachausdrücke als überflüssig erscheinen, Agronomen können die einführenden Sätze zu Themen wie Pflanzenschutz und Düngung getrost überspringen. Aber ich bin zuversichtlich, daß doch jeder an anderen Stellen Lesenswertes finden wird.

Der Buchtitel mag bei Wissenschaftlern Kritik herausfordern. Chemie ist die Lehre von den Eigenschaften und Umwandlungen der Stoffe. Ein der Chemie in Lebensmitteln gewidmetes Werk müßte demnach vor allem die Eigenschaften und Umwandlungen der Hauptbestandteile der Lebensmittel berücksichtigen, also der Kohlenhydrate, Fette und Proteine. Hier wird der Terminus jedoch in dem Sinn verwendet, in dem er sich in der breiten Öffentlichkeit eingebürgert hat, nämlich als Sammelbegriff für all das, was beim Verbraucher Unbehagen auslöst, wenn er von Chemie in der Nahrung oder Gift im Kochtopf oder chemisch verseuchten Lebensmitteln hört. Ein eigenes Kapitel gilt jedoch auch den in Lebensmitteln vorkommenden Naturstoffen und ihren potentiell gesundheitsschädlichen oder gesundheitsfördernden Wirkungen – ein Thema an das man meist nicht denkt, wenn von Chemie in Lebensmitteln die Rede ist. Die eingestreuten Cartoons aus der Tagespresse sollen nicht nur den Text etwas auflockern, sondern auch zeigen, wie sehr die hier angesprochenen Themen die Zeitungsleser beschäftigt haben und noch beschäftigen. Den Künstlern und den Verlagen danke ich für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.

Die Forschung schreitet auch auf den Gebieten Lebensmittelchemie, Ernährungswissenschaft und Toxikologie schneller voran als je zuvor; die Flut der lebensmittelrechtlichen Regelungen ist in den letzten Jahren ständig angestiegen. Ein Alleinautor kann das hier besprochene Gesamtgebiet kaum mehr in allen Einzelheiten überblicken. Ich werde jedem Leser für Hinweise auf Fehler dankbar sein; die Kritik wird mir helfen, bei einer Neuauflage Lücken zu füllen, Überholtes zu beseitigen und Fehler auszumerzen. Meinen Kollegen Professor Dr. Peter Elias, Karlsruhe, Professor Dr. Werner Grosch, München, und Dr. Fritz Ruf, Heilbronn, danke ich für anregende Diskussionen und wertvolle Hinweise.

1

Ein Blick zurück in die „gute alte Zeit“

Im ständigen Kampf gegen den Hunger lernten die Menschen der Urzeit durch Erfahrung, welche Pflanzen oder Pflanzenteile eßbar waren und welche sie meiden mußten, um nicht zu erkranken oder sich den Tod zu holen. Sie erkannten auch, daß zu lang gelagerte Lebensmittel, vor allem von Tieren stammende, sterbenskrank machen können und sie lernten, ihre Überlebenschancen durch Trocknen oder Räuchern der Beute zu verbessern. Als sich die Jäger- und Sammler-Kultur zur bäuerlichen Kultur weiterentwickelte, beruhte die Ernährung der Familie zunächst weiterhin auf Selbstversorgung. Allmählich erfolgte jedoch eine zunehmende Arbeitsteilung. Es entstanden die Tätigkeiten des Müllers, Bäckers, Fleischers und anderer Handwerker, und es entwickelte sich ein Handel mit Lebensmitteln. Dies gab unredlichen Händlern und Handwerkern Gelegenheit, sich einen Vorteil zu verschaffen, indem sie ihre Ware durch wertlose Zusätze streckten. Vorschriften zum Schutz des Verbrauchers vor Täuschung und vor gesundheitsschädlichen Lebensmitteln gab es daher, oft in Form religiöser Anweisungen, schon in den ältesten Kulturen. In einem Ritual gegen verdorbenes Essen und Trinken aus dem im 2. Jahrtausend v.Chr. im östlichen Kleinasien (Kappadokien) gegründeten Hethiterreich heißt es: „Du sollst das Fett Deines Nachbarn nicht vergiften. Du sollst das Fett Deines Nachbarn nicht verzaubern“. Eine im Orientalischen Museum in Istanbul aufbewahrte Keilschrift-Tontafel mit diesen Geboten kann als das älteste erhaltene Lebensmittelgesetz betrachtet werden [1].

Über die verschiedensten Praktiken von Lebensmittelverfälschungen berichtet das Kochbuch des APICIUS, der um die Zeitwende in Rom lebte. Der kampanische Grieß erhielt sein helles Weiß durch Zusatz von Kreide oder Ton. Bei der fabrikmäßigen Herstellung von Linsenmehl wurde Sand zugefügt. Rosenwein wurde ohne Rosen aus Zitronenblättern hergestellt, und um „verdorbenen Honig wieder brauchbar zu machen“, vermischte man zwei Teile guten mit einem Teil verdorbenen Honig [2]. Der Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. in Alexandria und Rom lebende ATHENÄOS erwähnt in seiner Deipnosophistae Klagen über einen durch Harzzusatz konservierten Wein, der zur Hälfte aus Kiefernharz bestanden haben soll [3],

Die Entstehung einer ersten planmäßigen Überwachung der Lebensmittelqualität und eines Lebensmittelstrafrechts hängt mit der Ausbildung des Städtewesens und des Handelsverkehrs im Mittelalter zusammen. Mitglieder bestimmter Zünfte, wie Fleischer, Bäcker, Bierbrauer, Fisch- und Weinhändler, mußten sich einer strengen Marktaufsicht unterwerfen, welche Menge, Preis und Qualität der angebotenen Waren prüfte. Wurden durch die Kornmesser, Brotwieger, Fleischmarktmeister und Weinstecher Verstöße festgestellt, blieben harte Strafen nicht aus. Prangerstehen, Ausschluß aus der Zunft, Turmhaft, Handabschlagen, Hängen oder Verbrennen wurden als Sanktionen gegen das Strecken des Mehls mit Kreide, Schwerspat oder Gips, das Mischen des Wurstinhalts mit minderwertigen Zusätzen, die Verminderung des Brotgewichts, die Bier- und Weinpanscherei und ähnliche Vergehen verhängt. Wegen des hohen Preises der Gewürze war im Gewürzhandel die Versuchung zur Fälschung besonders groß. In den Nürnberger Stadtarchiven wird berichtet, daß 1444 ein Gewürzhändler und 1456 zwei weitere samt einer mitschuldigen Frau zusammen mit den gefälschten Gewürzen verbrannt wurden. Der Nürnberger Rat ließ 1499 einem Safranfälscher beide Augen ausstechen [4]. Trotz der Härte der Strafen wurde immer wieder gegen die bestehenden Vorschriften verstoßen, so daß sich seit dem späten 15. Jahrhundert auch die Landesfürsten, der Kaiser und der Reichstag wiederholt mit diesen Mißständen befassen mußten. Die Peinliche Gerichtsordnung KARLs V. (Carolina) enthielt Bestimmungen zum Schutz der Lebensmittel gegen Verfälschungen; die Kontrolle war den Landesherren und den Städten überlassen.

Die in zahllosen Gerichtsurteilen dokumentierten absichtlichen Verfälschungen ließen sich oft durch den Augenschein oder durch einfache Prüfmethoden beweisen und konnten häufig, wenn zum Beispiel ein Geselle die Manipulationen des Meisters beobachtet hatte, durch Zeugenaussagen belegt werden. Es ist jedoch anzunehmen, daß die Gesundheit der Menschen schon von frühesten Zeiten an auch durch unabsichtlich in Lebensmitteln vorhandene Verunreinigungen gefährdet wurde, die jedoch mit den damals verfügbaren Methoden meist nicht erkannt werden konnten. Hierauf wird in Kapitel 4 zurückzukommen sein. Beispielhaft seien hier bereits die durch Verwendung von Bleigefäßen zur Aufbewahrung von Lebensmitteln und durch Verwendung von Wasserleitungsrohren aus Blei verursachten Bleivergiftungen im Altertum und im Mittelalter erwähnt. Ein weiteres Beispiel sind die Massenvergiftungen durch Verzehr von mutterkornhaltigem Roggen (Kap. 7).

Mit der Zunahme des Kaffee- und Zuckerverbrauchs im 18. und frühen 19. Jahrhundert begann eine neue Periode in der Geschichte der Lebensmittelverfälschungen [5]. Um der einheimischen Wirtschaft Devisen zu ersparen, wurden mit behördlicher Duldung oder gar Förderung die teuren Kolonialprodukte mit einheimischen Ersatzstoffen vermischt oder vollständig durch solche ersetzt. Damit wurden dem Betrug Tür und Tor geöffnet, was seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer regen öffentlichen Diskussion führte. Nachdem der in England lebende Detmolder Apotheker FRIEDRICH MARCUS unter dem Pseudonym FREDRICK ACCUM 1820 in London ein aufsehenerregendes Buch über die Verfälschung der Lebensmittel und über Gift in der Nahrung veröffentlicht hatte [6,7], folgten auch in anderen Ländern zahlreiche Veröffentlichungen mit Anleitungen zur Analyse von Lebensmitteln und Schilderungen der damals üblichen Verfälschungen.

Die Industrialisierung und Urbanisierung brachte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine gewaltige Expansion der Lebensmittelmärkte. Zunehmend traten städtische Haushalte, die ihren Lebensmittelbedarf durch Kauf decken mußten, an die Stelle kleiner, sich selbst versorgender ländlicher Familienwirtschaften. Die Stadtbewohner wurden von der damals entstehenden Lebensmittelindustrie (Dampfmahlmühlen, Brotfabriken, Großbrauereien, Molkereien) versorgt, der nun nach dem Bau der Eisenbahnen leistungsfähige Transportwege zur Verfügung standen. Die Möglichkeiten einer unredlichen Lebensmittelmanipulation verstärkten sich, zumal gleichzeitig die Kontrollfunktion der Zünfte zurückgedrängt oder aufgehoben wurde. Besonders krass war das Problem der Milchpanscherei, die damals wohl nicht die Ausnahme, sondern die Regel war (DÖBEREINER, zitiert bei [8]). Milch wurde mit Wasser oder Magermilch verdünnt und zur Wiederherstellung der Konsistenz mit Mehl, Stärke, Hammelfett, Hirn oder Gummilösung versetzt; zur Verzögerung des Sauerwerdens dienten Soda, Natriumbikarbonat, Borsäure und Wasserstoffperoxid [5]. Die schlechte Qualität der Milch war einer der Gründe für die damals sehr hohe Kindersterblichkeit, wobei wahrscheinlich die bakterielle Kontamination eine noch verhängnisvollere Rolle gespielt hat, als die Zusätze. Diese Praktiken wurden in der Fachliteratur jener Zeit heftig angeprangert, aber die Verabschiedung reichseinheitlicher Gesetze und die Etablierung eines wirksamen staatlichen Kontrollsystems kamen nur schrittweise voran. Daß sich auch die für breite Leserschichten bestimmte Presse dieses Themas annahm, zeigt die Karikatur eines Weinfälschers aus den Fliegenden Blättern von 1874 (Abbildung 1.1).

AlS JOSEF KÖNIG 1883 sein Standardwerk über die menschlichen Nahrungs- und Genußmittel veröffentlichte [9], hatte sich schon manches gebessert. Trotzdem war, wie man Meyers Konversationslexikon von 1897 unter dem Stichwort „Nahrungsmittel“entnehmen kann, auch damals die Situation noch keineswegs befriedigend:

Abbildung 1.1: „Ein moderner Weinberg“ (Fliegende Blätter, Jahrgang 1874).

„Die Nahrungsmittel unterliegen häufigen und argen Verfälschungen. Mehl wird mit Gips (bis 30 %), Schwerspat (bis 20 %) und anderen farblosen, oft gesundheitsschädlichen Pulvern vermischt, verdorbenes Mehl „verbessert“man durch Alaun und Kupfervitriol, Nudeln färbt man mit Pikrinsäure statt mit Eigelb, und in der Konditorei werden Gips, Schwerspat, Kreide und schädliche Farbstoffe angewendet. Zucker wird mit Mehl, Dextrin, indischer Sirup mit Runkelrüben- und Kartoffelsirup verfälscht. Beim Fleisch kommen Unterschiebungen des Fleisches kranker oder gar gefallener Tiere, von Pferdefleisch für Rindfleisch vor, und Wurst wird sehr oft mit Stärkemehl oder Mehl verfälscht, Honig mit Stärkesirup, Butter mit Kunstbutter versetzt. Die Fälschungen von Wein (Unterschiebungen geringerer Sorten und Gemische, Färbungen, Zusatz von Spiritus etc.) sind allgemein bekannt, es wird sehr viel mehr Madeira, Medoc etc. getrunken, als die betreffenden Weingegenden produzieren, und reiner Rum, Kognak oder Arrak ist eine Seltenheit im Handel. Kaffeebohnen und Teeblätter werden gefärbt, letztere auch durch Pulver beschwert oder mit bereits benutzten und wieder getrockneten Teeblättern gemischt, gemahlener Kaffee wird mit Kaffeesatz, Sand, Zichorie, gebranntem Getreide gemischt, Kakao und Schokolade enthalten oft bedeutende Mengen von Stärke, Mehl, Talg, Ocker, Kalk etc. Für die Verfälschung gemahlener Gewürze werden geeignete Fälschungsmittel in besonderen Fabriken dargestellt“.

Die Gründung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes in Berlin (1876), der Erlaß des reichseinheitlichen Nahrungsmittelgesetzes vom 14. Mai 1879, die Einrichtung zahlreicher Lebensmitteluntersuchungsämter, die Schaffung von Lehrstühlen für Lebensmittelchemie, der Erlaß einer Prüfungsordnung für Nahrungsmittelchemiker (1894) sind Meilensteine dieser Zeit–auch wenn die getroffenen Maßnahmen erst allmählich greifen konnten. Fachleute, die in der Lage waren, eine wirksame Kontrollfunktion auszuüben, mußten erst herangebildet werden. Das erste Chemische Untersuchungsamt wurde 1876 in Nürnberg gegründet, gefolgt von Hannover 1877 und Hamburg 1878. Ende des Jahrhunderts gab es im Deutschen Reich über 100 solche Ämter. Als erstes ausschließlich der Lebensmittelchemie gewidmetes Fachblatt erschien seit 1886 die Vierteljahresschrift über die Fortschritte auf dem Gebiete der Chemie der Nahrungs- und Genußmittel, der Gebrauchsgegenstände sowie der hierhergehörenden Industriezweige, später in Zeitschrift für Lebensmittel-Untersuchung und -Forschung umbenannt. Eine Blütezeit von Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Lebensmittelchemie setzte ein, charakterisiert durch Namen wie A. BEYTHIEN, A. BÖMER, A. JUCKENACK und J. KÖNIG. Unter ihrem Einfluß und ihrer Mitwirkung hatten sich die Verhältnisse auf dem Lebensmittelmarkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend gebessert. Genauso wichtig wie die Fortschritte in der Lebensmittelchemie waren diejenigen in der Lebensmittelmikrobiologie–aber das soll nicht Gegenstand dieses Buches sein.

Ähnlich wie in Deutschland verlief die Entwicklung in anderen Industriestaaten. In England hatte Accums Buch, allgemein bekannt als Death in the Pot (Der Tod im Kochtopf), die Öffentlichkeit wachgerüttelt. In der Folge gründete THOMAS WAKLEY, Herausgeber der medizinischen Zeitschrift The Lancet, das Lancet Analytical Sanitary Committee. Vorsitzender des Komitees war ARTHUR HILL HASSALL, der als einer der ersten die Verfälschungen der Lebensmittel mit streng wissenschaftlichen Methoden untersuchte. Seine Berichte, in The Lancet veröffentlicht, führten zur Gründung eines Parlamentsausschusses zur Untersuchung von Lebensmittelverfälschungen und 1860 zur Verabschiedung des Food and Drink Act, des ersten modernen Lebensmittelgesetzes der Welt. Neuseeland folgte 1868 mit einem ähnlichen Gesetz, Kanada 1874 mit einem Food and Drug Law. Bis diese Gesetze zu einem wirksamen System der staatlichen Lebensmittelkontrolle führten, dauerte aber auch in diesen Ländern noch lange. Um hierfür nur ein Beispiel zu nennen: In England verursachte arsenhaltiges Bier im Jahre 1900 eine Massenvergiftung, von der etwa 6000 Personen betroffen waren, von denen mindestens 70 starben. Ursache war die Verwendung arsenhaltiger Schwefelsäure zur Stärkehydrolyse und die Nutzung der so gewonnenen Glucose bei der Bierherstellung. Die Schwefelsäure war aus arsenhaltigem Pyrit hergestellt worden.

In den Vereinigten Staaten hatten einige Bundesstaaten, wie Massachusetts mit dem Act Against Selling Unwholesome Provisions von 1785, bereits im 18. Jahrhundert versucht, das Problem der Lebensmittelverfälschungen in den Griff zu bekommen. Es zeigte sich jedoch, daß ein bundeseinheitliches Gesetz und eine Kontrolle durch eine Bundesbehörde erforderlich waren, um wirksam Abhilfe zu schaffen. HARVEY WILEY wurde 1883 zum chief chemist im Landwirtschaftsministerium USDA (United States Department of Agriculture) ernannt. Er ließ eine Reihe von Untersuchungen durchführen und veröffentlichte zwischen 1887 und 1893 mehrere Berichte, die zeigten, daß Verfälschungen bei fast allen Arten von Lebensmitteln üblich waren. Zum Teil handelte es sich um gesundheitlich harmlose Verbrauchertäuschung, zum Teil aber auch um giftige Zusätze. Die Verabschiedung des Pure Food and Drug Act von 1906 war ein Triumph für WILEY, der sich gegen viele Widerstände durchsetzen mußte. Wirksame Unterstützung hatte er noch kurz vor der Beratung des Gesetzentwurfs im Kongreß durch die Veröffentlichung von UPTON SINCLAIRS berühmt gewordenem Roman The Jungle erhalten, der haarsträubende Zustände in Chicagos Schlachthöfen und fleischverarbeitenden Fabriken schilderte.

Das neue Gesetz führte zu deutlichen Verbesserungen, es beschränkte jedoch die Eingriffsmöglichkeiten der Bundesbehörden stark und ließ zu viele Schlupflöcher für die Skrupellosen. Es wurde daher 1938 durch den Food, Drug, and Cosmetic Act ersetzt, der einer 1931 geschaffenen Bundesbehörde, der Food and Drug Administration (FDA), wesentlich erweiterte Kompetenzen verlieh. Die FDA wurde zu einer weltweit anerkannten Institution und hatte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in den Vereinigten Staaten erheblichen Einfluß auf die Bemühungen zur Reinhaltung der Lebensmittel.

In den 1930er Jahren stellten die japanischen Forscher YOSHIDA und KINOSHITA, unabhängig voneinander in Rattenfütterungsversuchen fest, daß das Buttergelb (Dimethylaminoazobenzol) bei Verabreichung über einen längeren Zeitraum zu Leberkrebs führte. Dieser Azofarbstoff soll damals in einigen Ländern zum Gelbfärben von Margarine verwendet worden sein. Ob er jemals in Deutschland für diesen Zweck eingesetzt wurde, ist unklar. Jedenfalls wurde die Verwendung von Buttergelb in Lebensmitteln 1938 in Deutschland und 1940 in USA verboten.

Um diese Zeit beobachtete man in England epilepsieartige Zustände bei Hunden, die über längere Zeiträume mit Hundekuchen gefüttert worden waren. EDWARD MELLANBY gelang der Nachweis, daß dies an der Verwendung von mit Stickstofftrichlorid gebleichtem Mehl lag. Das Stickstofftrichlorid reagierte mit der im Mehlprotein vorhandenen Aminosäure Methionin unter Bildung von Methioninsulfoximin, das die neurotoxischen Wirkungen verursachte. Die Mehlbleichung mit Stickstofftrichlorid, in USA, Großbritannien und manchen anderen Ländern jahrelang praktiziert, wurde daraufhin überall untersagt. In Deutschland, wo die Verbraucher nie das schneeweiße Brot verlangt haben, das in USA üblich ist, hat die Mehlbleichung immer eine geringere Rolle gespielt. Die Verwendung von Stickstofftrichlorid und ähnlichen Mitteln wurde in der Bundesrepublik durch die Mehlbleich-Verordnung von 1956 generell verboten.

Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Jahren danach galt das Interesse der Bevölkerung so stark der Beschaffung von Lebensmitteln, daß Sorgen über Zusatzstoffe und Verunreinigungen kaum aufkommen konnten. Das änderte sich in den 1950er Jahren, als das Interesse der Verbraucher sich von der Quantität mehr der Qualität zuwandte. Krankheiten, die man in den Jahren der Unterernährung kaum gekannt hatte, nahmen damals deutlich zu: Altersdiabetes, Gicht, Gallenleiden, Bluthochdruck, Herzinfarkte. Immer dringlicher wurde in der Öffentlichkeit die Frage diskutiert ob nicht die zunehmende Verwendung von Zusatzstoffen für diese Zunahme der Zivilisationskrankheiten verantwortlich sei. Befunde wie die Kanzerogenität des Buttergelbs und die Neurotoxizität gebleichten Mehls wurden dabei häufig zitiert, oft mit dem warnenden Zusatz, das sei ja nur die Spitze des Eisbergs.

Verfolgt man die auch heute weit verbreitete Ansicht von Gift in der Nahrung als Ursache chronischer Krankheiten bis zu dieser Zeit zurück, so stößt man immer wieder auf den Namen des Heidelberger Professors für Pharmakologie FRITZ EICHHOLTZ, der 1956 das Buch Die toxische Gesamtsituation auf dem Gebiet der menschlichen Ernährung – Umrisse einer unbekannten Wissenschaft [10] veröffentlichte. Er brachte darin seine Besorgnis über „die enorme Zunahme der Zusatzstoffverwendung“ zum Ausdruck, sprach (ohne dafür Daten zu nennen) von einer rapiden Zunahme allergischer Überempfindlichkeiten gegen chemische Stoffe in allen modernen Zivilisationen, beschwor (ebenfalls ohne Belege) eine rasche Zunahme der Krebserkrankungen, sprach die Erwartung aus, daß durch Entlarvung kanzerogener Stoffe und durch deren Ausschaltung aus der Nahrung künftig die Zahl der Krebserkrankungen zurückgehen werde, wetterte gegen die „Herrschaft der Chemokraten“, forderte öffentliche Schauprozesse gegen schädliche Stoffe in der Nahrung, um deren „unterirdische Wühlarbeit“ besser bekannt zu machen, rief dazu auf, sich dem „Furor der Technik und den Sirenenklängen der Bagatellisierung“zu widersetzen, das „Abgleiten ins Chaos“zu verhindern. Ein bei Eichholtz immer wiederkehrendes Thema ist die Summation, die „Kumulation der Giftwirkungen“. Der einzelne Stoff möge in geringer Dosierung unschädlich sein–aber die Vielzahl auf den menschlichen Körper einwirkender synthetischer Substanzen könne zu noch unerforschten Kombinationswirkungen führen. Daher seine zentrale Forderung, bei der lebensmittelrechtlichen Regelung der Zusatzstoffanwendung die toxische Gesamtsituation zu berücksichtigen. Diese Warnungen, von einem Experten der Pharmakologie und Toxikologie kommend, fanden ein enormes Echo in der Öffentlichkeit.

Die Thesen von EICHHOLTZ wurden von vielen anderen aufgegriffen. Vor allem die Frauenverbände nahmen sich des Themas Chemie in Lebensmitteln an und verlangten ein neues, schärferes Lebensmittelrecht. In Deutschland war durch das Nahrungsmittelgesetz von 1879 der Zusatz gesundheitsschädlicher Stoffe zur Nahrung grundsätzlich verboten worden. Was als gesundheitsschädlich galt, wurde in Listen (Negativlisten) erfaßt. Alles war erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten war. An diesem Prinzip war auch bei den Novellierungen des Lebensmittelgesetzes von 1927 und 1936 festgehalten worden. Wurde in der Lebensmittelindustrie ein neuer Zusatzstoff eingeführt, der gesundheitliche Bedenken auslöste, so konnte es Jahre dauern, bis die zuständige Behörde mit ausreichender Sicherheit festgestellt hatte, daß der betreffende Stoff gesundheitsschädlich und daher in die Negativliste aufzunehmen sei. Angesichts des rapiden Wachstums der chemischen Industrie und ihrer Fähigkeit, immer neue Chemikalien zu produzieren, die Lebensmitteln zugefügt werden konnten, mußte unbedingt eine andere rechtliche Regelung der Zusatzstoffverwendung gefunden werden.

Nach eingehenden Beratungen in den zuständigen Bundesministerien und Bundestagsausschüssen wurde schließlich im Dezember 1958 ein neues Lebensmittelgesetz (LMG) verabschiedet, das die Bedingungen für die Verwendung von Zusatzstoffen sehr verschärfte. Die Listen verbotener Stoffe wurden durch die Nennung erlaubter Stoffe in Positivlisten ersetzt, vom Mißbrauchsprinzip ging man zum Verbotsprinzip über. Die Verwendung von Zusatzstoffen ist seither grundsätzlich verboten; nur ausdrücklich in den Listen genannte Stoffe dürfen verwendet werden, meist nicht allgemein, sondern nur für bestimmte Zwecke, in bestimmten Lebensmitteln, unter Beachtung vorgeschriebener Höchstmengen. Für bestimmte Zusatzstoffgruppen, wie die Konservierungsstoffe, wurde eine vollständige Deklarationspflicht eingeführt–bis hin zu den Speisekarten der Restaurants. Auf der Grundlage des Gesetzes von 1958 erschien 1959 eine Reihe von Verordnungen (VO), in denen die Einzelheiten festgeschrieben wurden: die Allgemeine Fremdstoff-VO, die Konservierungsstoff-VO, die Farbstoff-VO und einige weitere.

Neue Entwicklungen und neue Erkenntnisse machten Novellierungen des Gesetzes und Neufassungen der Verordnungen erforderlich. Seit der Novelle vom August 1974 heißt das Gesetz mit seinem vollen Namen Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen (LMBG). In seinen Grundzügen entspricht es weiterhin dem LMG von 1958. Seither erfolgte Änderungen dienten der schrittweisen Anpassung des deutschen Lebensmittelrechts an die Richtlinien der Europäischen Union.

Während in den 50er Jahren die Sorge um die Verwendung von Zusatzstoffen die Diskussionen über die Gesetzgebung auf dem Lebensmittelsektor beherrschte, trat in den Jahrzehnten danach die Problematik der Umweltverschmutzung und der dadurch verursachten Kontamination der Lebensmittel in den Vordergrund. Eingeleitet wurde diese Phase durch das Erscheinen des Buches Silent Spring von RACHEL CARSON in den Vereinigten Staaten, das bald auch in der Bundesrepublik unter dem Titel Der stumme Frühling zum Bestseller wurde [11]. CARSONS Kritik richtete sich vor allem gegen die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (Pestiziden) in Land- und Forstwirtschaft, aber auch gegen die Lebensmittelindustrie, die ihre Erzeugnisse mit Konservierungsmitteln und anderen Zusatzstoffen verunreinige. Die Rückstände der Pflanzenschutzmittel und die Zusatzstoffe könnten im menschlichen Körper in unbekannter Weise miteinander reagieren und ihre schädlichen Wirkungen gegenseitig verstärken, warnte sie. Es sei daher grundsätzlich nicht gerechtfertigt, von unschädlichen Mengen toxischer Stoffe zu sprechen. Natürliche krebserregende Stoffe seien äußerst selten; der Mensch sei der Schöpfer seiner eigenen kanzerogenen Welt, denn er sei das einzige Lebewesen, das krebserregende Stoffe hersteilen könne. Gegen Ende des Buches steigerte CARSON ihre Warnungen zu der apokalyptischen Vision, die Menschheit könne sich binnen zwanzig Jahren selbst auslöschen–wobei sie nicht von Atombomben sprach, sondern von Pestiziden. Die mögliche Rettung sah sie in einem radikalen Verbot aller Kanzerogene, die die Nahrung, das Wasser und die Luft verseuchten. Ihr Buch ist eine leidenschaftliche Anklage gegen die lebenszerstörenden Übel der modernen industriellen Technik [12]. Der Einfluß CARSONS auf die geistigen Strömungen ihrer Zeit, auf Gesetzgebung und Forschung in der ganzen Welt und auf die landwirtschaftliche und industrielle Produktion kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Die Schriften von EICHHOLTZ und CARSON und vieler anderer Autoren, die sich ihnen anschlossen, sollten die Menscheit warnen, was geschehen könnte, wenn der Kontamination der Lebensmittel durch Fremdstoffe nicht Einhalt geboten würde. In den folgenden Jahrzehnten wurden diese Schreckensvisionen jedoch mehr und mehr als Beschreibungen der Ist-Situation verstanden. Das Buch Chemie in Lebensmitteln, herausgegeben von der Katalyse-Umweltgruppe in Köln, verlegt vom Volksblatt-Verlag, erschien im Mai 1981 in einer Auflage von 3000. Fast auf jeder Seite wurde vor irgendwelchen Schadstoffen in Lebensmitteln gewarnt. Bereits im September 1981 erschien eine zweite Auflage von 10 000, nachdem der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) das Buch propagiert hatte. Inzwischen vom Versand Zweitausendeins herausgegeben, kam 1999 die 52. Auflage unter dem Titel Neue Chemie in Lebensmitteln auf den Markt; die Gesamtauflage erreichte damit fast 400 000 Exemplare. Unter dem provozierenden Titel Iß und stirb veröffentlichte 1982 ein renommierter deutscher Verlag eine weitere Litanei der Gifte in unserer Nahrung, verfaßt von den Lebensmittelchemikern KAPFELSBERGER und POLLMER. Das Erfolgsbuch erschien 1997 in siebter Auflage [13]. In diesen und vielen ähnlichen Werken wird nicht nur über die Anwesenheit von Fremdstoffen in Lebensmitteln berichtet, sondern auch über deren behauptete oder vermutete gesundheitsschädliche Wirkungen. EGMONT KOCH, bekannt als Mitautor des Bestsellers Seveso ist überall, in dem 1981 erschienenen Buch Krebswelt die Bundesrepublik als das Krebsnest Europas [14]. Hinsichtlich der Krebssterblichkeit bei den Frauen liege die Bundesrepublik weltweit mit Abstand an der Spitze, bei Männern nach Frankreich an zweiter Stelle. Als eine der Ursachen vermutete Koch die Verwendung von Kunstdünger in der Landwirtschaft.

Die Massenmedien nahmen sich des Themas Chemie in Lebensmitteln mit zunehmender Dramatisierung an. Schon 1955 hatte die Illustrierte STERN unter der Überschrift „Sind unsere Lebensmittel vergiftet? Schreckenskammer der Ernährung“vor der „ungeheuren Bedrohung durch eine tägliche Überdosis an unerforschten Chemikalien“gewarnt. Aber auch nachdem 1958 das neue LMG die Verwendung von Zusatzstoffen stark eingeschränkt und die Grundlagen für eine sehr verbesserte Lebensmittelkontrolle geschaffen hatte, überboten sich die Print- und Funkmedien gegenseitig mit Schilderungen der Gesundheitsschädlichkeit des Lebensmittelangebots. Im Märzheft 1982 der Zeitschrift DM las man unter der Überschrift „Immer mehr Gift im Essen: Bisher wurde nur die Spitze eines Eisbergs entdeckt, dessen wirkliche Ausmaße niemand abschätzen kann. Aber schon ist klar: Mit jeder Mahlzeit vergiftet sich der Bundesbürger ein kleines bißchen mehr“. In dem im Novemberheft 1990 der Zeitschrift ELTERN erschienenen Artikel „Spinat ist nichts für Kinder“war von einer „Horrorliste von geballten Umweltgiften“in Lebensmitteln die Rede. Man könne aber den „Beschuß mit Umweltgiften“um 50 % reduzieren, wenn man die im Artikel gegebenen Hinweise beherzige. Zu diesen Hinweisen gehörte die Empfehlung, im Winter auf Salat zu verzichten, denn „im Winter hat man den Gift-Salat“. Gemüse solle man aus dem Bio-Anbau nehmen; der höhere Preis zahle sich aus, weil die „Giftbelastung“geringer sei. Im gleichen Tenor berichteten und berichten unzählige Rundfunk- und Fernsehsendungen.

Nicht nur Journalisten haben die gesundheitliche Qualität der Lebensmittel als katastrophal beschrieben. Politiker und staatliche Stellen verstärkten nicht selten das furchterregende Bild. Im Januar 1981 stellte der damalige Bundesinnenminister Baum einen Bericht des Umweltbundesamtes vor, in dem es hieß, in der Bundesrepublik sei bereits mit 10 000 bis 100 000 Fällen von cadmiumbedingten Nierenfunktionsstörungen zu rechnen. Monatelang wurde die Berichterstattung der Medien beherrscht durch Schlagzeilen wie „Cadmium geht uns an die Nieren……Zehntausende bereits erkrankt….. Die Cadmiumverseuchung der Nahrung nimmt zu“. In den Jahren danach löste eine Schreckensmeldung die andere ab. Krebserreger aller Art wurden in Lebensmitteln gefunden. Nitrosamine, Formaldehyd, Perchlorethylen, Dioxine, Pestizidrückstände, Polychlorierte Biphenyle (PCBs), Benzpyren und eine lange Liste weiterer Chemikalien machten Schlagzeilen. Man sprach vom „Kanzerogen des Monats“[15]. In neuerer Zeit traten die Schreckensmeldungen über Krebserreger in der Nahrung etwas in den Hintergrund und wurden durch solche über Allergien als Volkskrankheit und die „Spermienkrise“(zunehmende männliche Unfruchtbarkeit durch hormonwirksame Stoffe in Lebensmitteln) abgelöst. Nach einer Agenturmeldung vom 11. Januar 1997 verkündete der umweltpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag MICHAEL MÜLLER, in Deutschland litten 30 Millionen Menschen an meist umweltbedingten Allergieerkrankungen. Den Vorsitzenden des von der Bundesregierung berufenen Sachverständigenrates für Umweltfragen, ECKARD REHBINDER zitierend, berichtete die FRANKFURTER ALLGEMEINE vom l.September 1999, an erster Stelle der Titelseite, jeder dritte Deutsche leide an einer Allergie (Abbildung 1.2); das Lebensmittelrecht trage dem Schutzbedürfnis des Allergikers nicht ausreichend Rechnung; der Sachverständigenrat fordere eine „allergiebezogene Kennzeichnung “ von Lebensmitteln.

Zu den üblichen Negativberichten über die gesundheitliche Qualität des heutigen Lebensmittelangebots gab es vereinzelt Gegenstimmen, die aber außerhalb des akademischen Bereichs weitgehend ignoriert wurden. Der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde verbreitete 1983 die Erklärung einer Gruppe von Ernährungswissenschaftlern, Hygienikern, Lebensmittelchemikern und Toxikologen, deren Festellungen in dem Satz zusammengefaßt wurden: „Unsere Lebensmittel sind heute gesundheitlich sicherer als früher“ [16], In dem 1984 von der Eidgenössischen Ernährungskommission herausgegebenen Zweiten Schweizerischen Ernährungsbericht ([17], S. 128) konnte man lesen:

Abbildung 1.2: Teil der Titelseite der FAZ vom 1. September 1999: Jeder dritte Deutsche leidet an einer Allergie.(Mit freundlicher Genehmigung der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG)

„Bei nüchterner und sachlicher Wertung aller Befunde, die wir kennen, muß die Angst (auch diejenige der Panikmacher selbst) als unverhältnismäßig größer beurteilt werden, als die reale Bedrohung sie rechtfertigen würde. Eine Erklärung für diese Unverhältnismäßigkeit liegt darin begründet, daß die Nahrungsaufnahme einen ursprünglichen, von tiefer Symbolik beherrschten Akt darstellt. In magischer Denkweise wird der Mensch zu dem was er ißt, was er sich einverleibt. Da magisches Denken nicht quantitativ ist, empfindet sich der Mensch auch durch die kleinste Dosis „Gift“eben vergiftet. Das berechenbare Risiko hat in einer solchen Denkwelt keinen Platz. Um so mehr ist es Aufgabe der verantwortlichen Fachleute, den Konsumenten aus der Welt magischen Denkens hinauszuführen und ihm zu zeigen, daß Risiken meßbar und berechenbar sind“.

In den folgenden Kapiteln sollen diese gegensätzlichen Aussagen aus der Sicht des heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes geprüft werden. Haben die Schadstoffgehalte der Lebensmittel zu- oder abgenommen? Gibt es Anzeichen für durch Nahrungsbestandteile verursachte Gesundheitsschäden in der Bevölkerung? Leidet wirklich jeder dritte Deutsche an einer Allergie? Gibt es die Abertausende von cadmiumgeschädigten Nierenkranken? Nimmt die Häufigkeit von Krebserkrankungen ständig zu, wie so oft zu hören ist? Sollte man Produkte bevorzugen, die mit dem AUFRUCK FREI VON KONSERVIERUNGSSTOFFEN werben? Welche Veränderungen im Lebensmittelrecht hat die Zugehörigkeit Deutschlands zur Europäischen Union mit sich gebracht? Zum besseren Verständnis soll zunächst über die Methoden zur Prüfung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit von Lebensmitteln berichtet werden.

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Einige Grundbegriffe

Toxikologie

Wie aus dem auf die Zeit um 1500 v. Chr. datierten Ebers-Papyrus (benannt nach dem Ägyptologen GEORG MORITZ EBERS, 1837-1898) hervorgeht, besaßen die alten Ägypter gute Kenntnisse von den Giftwirkungen zahlreicher Pflanzen. Auch im Athen des Altertums spielten Pflanzengifte eine Rolle; das vielleicht bekannteste Beispiel dafür ist die Verurteilung von SOKRATES ZUM Tod durch den Schierlingsbecher. Der heilige Trank, den die Initianden der Mysterien von Eleusis zu sich nahmen, um in rauschhafter Stimmung Visionen zu erleben, soll von den Hierophanten, den leitenden Priestern des Mysteriums, aus dem Mutterkorn des Roggens gewonnen worden sein [18]. Im 1. Jhdt. n.Chr. verfaßte der in römischen Diensten stehende griechische Militärarzt LEONIDAS DIOSKURIDES seine Materia Medica, in der er nützliche und schädliche Eigenschaften von über 700 Pflanzen beschrieb–für eineinhalb Jahrtausende das maßgebliche Werk der Heilmittelund Giftkunde, deren praktische Anwendung stark von magisch-religiösen Vorstellungen geprägt war.

Ansätze zu einer wissenschaftlicheren Denkweise gab es im 16. Jahrhundert, als PARACELSUS (1493–1541) den grundlegend wichtigen Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung erkannte. Hiervon wird noch zu sprechen sein. Der in Paris lehrende spanische Arzt und Chemiker BONAVENTURE ORFILA (1787–1853), dessen Standardwerk Traité des poisons ou toxicologie générale 1814/15 erschien, wird manchmal als der Vater der Toxikologie, der Lehre von den Giften, bezeichnet. Aber wie alle Wissenschaften hatte die Toxikologie viele Väter. Es sei hier nur der italienische Arzt BERNARDINO RAMAZZINI (1633–1714) erwähnt, der als erster systematisch die Berufskrankheiten der Handwerker untersuchte und beschrieb. Als eigenständige akademische Disziplin innerhalb der experimentellen medizinischen Wissenschaft entwickelte sich die Toxikologie im 19. Jahrhundert zusammen mit der Pharmakologie, der Lehre von der Nutzung chemischer Stoffe als Heilmittel. Wichtige Beiträge zur Kenntnis der Gifte und ihrer Wirkungen kamen aus Laboratorien für Experimentelle Physiologie, Forensische Medizin, Medizinische Chemie und Gewerbehygiene. Zunächst beschäftigten sich die Pharmakologen/Toxikologen vor allem mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen, aber auch mit gewerblichen und suizidalen Vergiftungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es an den meisten medizinischen Fakultäten im Deutschen Reich einen Lehrstuhl für Pharmakologie und Toxikologie.

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