Chicago Heat - Kein Reiz ist ohne Risiko - Jessica Westin - E-Book

Chicago Heat - Kein Reiz ist ohne Risiko E-Book

Jessica Westin

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Beschreibung

Ein Undercover-Einsatz führt die junge Houstoner FBI-Agentin Carriessa Gibson nach Chicago, wo sie zufällig in eine Razzia gerät und festgenommen wird. Wird ihre Tarnung lange genug halten, um ihre Operation nicht zu gefährden? Zugleich erpresst ein Bauunternehmer die Stadt Chicago mit mehreren Sprengsätzen. FBI-Agent Jaylen Jennings ist fest entschlossen, den Mann zu fassen. Kann ihm Carriessa dabei helfen? Schon bald erkennt er, dass nicht nur das Leben tausender Menschen in Gefahr ist, sondern auch sein Herz. (ca. 290 Seiten)

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Inhalt

TitelZu diesem Buch123456789101112131415161718Die Autorin Impressum

JESSICA WESTIN

Chicago Heat

Kein Reiz ist ohne Risiko

Zu diesem Buch

Ein Undercover-Einsatz führt die junge Houstoner FBI-Agentin Carriessa Gibson nach Chicago, wo sie zufällig in eine Razzia gerät und festgenommen wird. Wird ihre Tarnung lange genug halten, um ihre Operation nicht zu gefährden? Zugleich erpresst ein Bauunternehmer die Stadt Chicago mit mehreren Sprengsätzen. FBI-Agent Jaylen Jennings ist fest entschlossen, den Mann zu fassen. Kann ihm Carriessa dabei helfen? Schon bald erkennt er, dass nicht nur das Leben tausender Menschen in Gefahr ist, sondern auch sein Herz.

1

»Ist jeder auf seiner Position? Al? Thomas?«, fragte Jaylen mit ruhiger Stimme, womit er gleichzeitig zum letzten Mal sowohl die einwandfreie Funktion des kleinen Mikrofons unter dem Revers seines Jacketts als auch die seines Ohrknopfs überprüfte.

»Bereit!«, ertönte Thomas’ Stimme störungsfrei in seinem linken Ohr.

»Patrick? Chad?«

»Bereit!«

»Die Rückseite?«

»Alles klar!«, bestätigte Ray für sich und seinen Partner.

»Lieutenant?«, wandte sich Jaylen an den Vorgesetzten der fünfundzwanzig Polizisten, die heute Nacht zu ihrer Unterstützung eingeteilt waren.

»Bereit, wenn Sie es sind.«

»Okay. Liz und ich gehen rein. Wenn sich Dwayne Dickson im Club befindet, greifen wir wie besprochen zu.« Mit einem Blick auf die Frau an seiner Seite, die heute Abend seine Partnerin war, vergewisserte er sich, dass auch sie einsatzbereit war.

Elizabeth Crainton war einige Jahre älter als er, aber das würde im schummrigen Licht der Diskothek nicht auffallen. Die Tarnung als Liebespaar, das sich nach dem Essen noch ein wenig amüsieren wollte, würde ohnehin nicht lange aufrechterhalten werden müssen. Sie diente lediglich dem unauffälligen Eintritt in den Laden sowie der Möglichkeit, sich unbemerkt umsehen zu können.

Zwar hatte Jaylen mit seinen Kollegen zuvor einen Grundriss des Clubs studiert, doch angeblich bevorzugte Dickson bei jedem Besuch eine andere Ecke der Lounge, was seinen Aufenthaltsort in der Diskothek für sie nicht vorhersehbar machte. Sollte Dickson die Razzia allerdings bemerken, bevor das FBI in seiner Nähe war, bestand bei den vielen Gästen und dem dunklen Licht eine erhebliche Gefahr, dass ihnen der Mann entkam, bevor sie auch nur den Hauch einer Chance hatten, ihn zu verhaften. Auf keinen Fall wollte Jaylen so etwas riskieren. Bevor er den Befehl zum Zugriff erteilte, würde er sich daher in jedem Fall erst in Dicksons Nähe begeben.

Seit zwei Jahren war das FBI hinter dem Mann her, der in der Stadt mit Rauschgift und Waffen dealte. Bisher hatten sie ihm jedoch nichts nachweisen können. Jeder Versuch, einen Mann in seine Organisation einzuschleusen, war bislang gescheitert. Nach einer vertraulichen Information sollten heute Abend in dem Club jedoch fünf Kilogramm reinstes Heroin den Besitzer wechseln.

Das würde den Bastard zwar zunächst nicht für seine Waffengeschäfte hinter Gitter bringen, aber es würde reichen, um einen entsprechenden Durchsuchungsbefehl für alle seine Immobilien zu erwirken. Irgendwo würden sie dann ganz sicher die anderen Beweise finden, die sie benötigten, um den Mann für eine lebenslange Haftstrafe einzubuchten. Davon war Jaylen felsenfest überzeugt.

Doch zunächst einmal mussten sie den Typen fassen und das möglichst ohne Verletzte. Keine einfache Operation an einem Samstagabend in einem der angesagtesten Clubs der Stadt, wie Jaylen nur zu gut wusste.

Sobald sie zugriffen, würden in der Diskothek Panik und Chaos ausbrechen. Niemand konnte vorhersagen, wie sich die Ereignisse von da an entwickeln würden, egal, wie oft sie das Ganze im Team am Nachmittag und Abend durchgesprochen hatten. Zu viele unsichere Faktoren bildeten ein immer noch hohes Risiko.

Insgeheim musste sich Jaylen eingestehen, dass es ihm lieber gewesen wäre, bei diesem Einsatz Christopher an seiner Seite zu haben. Auch wenn Elizabeth fast fünfzehn Jahre Erfahrung vorweisen konnte und er jedem seiner Kollegen rückhaltlos vertraute, so waren er und Christopher doch seit sieben Jahren ein eingespieltes Team. Allerdings erholte sich sein Partner gerade von einer lebensbedrohlichen Schussverletzung, die er sich während ihres letzten Falls zugezogen hatte.

Wahrscheinlich sollte er dankbar sein, dass er überhaupt noch einen Partner hatte, auch wenn es einige Wochen dauern würde, bis Christopher wieder vollständig einsatzbereit war. Jaylen seufzte und beschloss, sich lieber auf die bevorstehende Razzia zu konzentrieren.

Mit einem Arm um Elizabeths Schultern ging er auf den linken der beiden Türsteher zu, der ihm noch einen Gefallen schuldete. Die Pupillen des Mannes weiteten sich leicht, als er den FBI-Agenten erkannte. Grinsend hob Jaylen seine Arme, um sich abtasten zu lassen. Als die Hände des Türstehers über seine Glock fuhren, die er versteckt in einem Schulterholster unter seinem Jackett trug, und dabei kurz innehielten, zischte er leise: »Zahltag, Johnson.«

Fast unmerklich nickte der Mann, der Jaylen trotz seiner stattlichen 1,86 Meter noch um mindestens zehn Zentimeter überragte. Routiniert strichen Johnsons Hände über die Hosenbeine.

»Er ist clean, Max«, rief er seinem Kollegen zu, der die Tür bewachte.

»Was ist mit ihr?«, erkundigte sich der Mann, während sein Kopf in Richtung Elizabeth zuckte.

Mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck sah der Türsteher zu Jaylen. »Wollt ihr auf Laura warten, oder soll ich abtasten?«

»Schatz?« Fragend sah Jaylen Elizabeth an.

»Von mir aus kann er das machen. Hauptsache, ich bekomme endlich etwas zu trinken«, sagte sie schmollend und zuckte mit den Schultern.

»Okay. Aber beeil dich«, brummte Jaylen, was den Türsteher sarkastisch grinsen ließ.

»Lass sie rein, Max«, wies er seinen Kollegen dann an.

Laute Technomusik schlug den beiden Agenten entgegen, als sie durch eine weitere Tür den eigentlichen Club betraten, der nicht sehr groß, dafür aber ziemlich exklusiv war. Modern eingerichtet erinnerte die Inneneinrichtung eher an ein Raumschiff als an eine Diskothek. Im Grunde dominierten nur die Farben Schwarz, Weiß und Lila den Raum. Selbst die Gäste schienen ihre Kleidung dieser Farbpalette angepasst zu haben. Die gesamte Atmosphäre verbreitete eine pulsierende Energie, die wahrscheinlich durch das perfekt aufeinander abgestimmte Zusammenspiel von Design, Lichttechnik und Musik erzeugt wurde.

Auf einer Empore standen zwei DJs, von denen jeder enthusiastisch die verschiedenen Regler seines Mischpultes bediente, während sie gleichzeitig dem Publikum einheizten. Auf einer großen Tanzfläche in der Mitte bewegten sich mindestens zweihundertfünfzig Leute im Rhythmus der Musik, von denen sich bereits die meisten in einem mehr oder weniger starken Rauschzustand befanden.

»Noch mehr Variablen«, murmelte Jaylen.

»Diese verdammten Drogen machen die Leute unberechenbar«, stimmte Elizabeth ihm sofort zu. »Siehst du Dickson?«

»Noch nicht. Lass uns weiter nach vorn zur Bar gehen. Von dort haben wir einen besseren Überblick.«

Aufmerksam beobachtete Carriessa das Paar, das gerade den Club betreten hatte. Der Mann war groß, schlank und recht attraktiv, zumindest auf diese Entfernung. Auch die Frau wirkte durchaus apart. Selbst wenn ihre Schultern für Carriessas Geschmack ein wenig zu breit waren. Irgendetwas an dem Paar hatte allerdings sofort bei seiner Ankunft ihre Aufmerksamkeit erregt. Viele Jahre der Erfahrung hatten sie gelehrt, immer auf ihren Instinkt zu hören. Unwillkürlich musterte sie die Frau genauer. Unter einem schwarzen Blazer trug sie ein silberfarbenes Paillettentop zu einer engen schwarzen Jeans.

»Merkwürdig«, fand Carriessa. Keine der Frauen in der Diskothek trug eine Jacke. Abgesehen davon, dass es dafür hier drinnen viel zu heiß war, befanden sie sich in einem Club, in dem jedes weibliche Wesen alle Reize offen zur Schau trug. Hier ging es darum, sich gegenseitig anzumachen und dabei die eigene sexuelle Lust in die Höhe zu treiben, um diese schließlich in einem der Hinterzimmer oder auch auf dem Rücksitz eines Autos zu befriedigen. Anschließend kehrte man auf die Tanzfläche zurück und das Spiel begann von Neuem.

Unter all den zahlenden Gästen befanden sich – was niemand ahnte – etliche junge Frauen sowie einige Männer, die nur darauf aus waren, andere zum Trinken zu animieren, um so den Alkoholkonsum anzukurbeln. An diesen zusätzlichen Umsätzen waren sie prozentual ebenso beteiligt wie am Verkauf synthetischer Drogen.

Langsam glitt Carriessas Blick zu den Füßen der Frau. Sie trug Stiefeletten. Schwarze Stiefeletten mit niedrigem Blockabsatz. Erstaunt griff Carriessa nach ihrem Cocktailglas und trank nachdenklich durch den Strohhalm. Das ergab keinen Sinn. Beim Gedanken an die zwölf Zentimeter hohen Pfennigabsätze ihrer eigenen dunkelvioletten Lackstiefel war ihr klar: Diese Frau war nicht hergekommen, um sich zu amüsieren.

In diesem Moment beobachtete Carriessa, wie der Mann die Frau näher zu sich heranzog. Allerdings war es eindeutig keine erotische Umarmung. Zwar standen die beiden dicht beieinander, doch sie berührten sich nicht. Dafür konnte allerdings jeder von ihnen eine Hälfte des Raumes überblicken. Und genau das war es, was die beiden taten, erkannte Carriessa, als ihr auffiel, wie die zwei sich suchend umblickten.

Im grellen Licht eines zufällig vorbeischwenkenden Scheinwerfers konnte Carriessa sehen, wie sich die Gesichtszüge des Mannes für einen kurzen Moment verhärteten. Automatisch folgte sie seinem Blick über den Rand ihres Glases hinweg. Wen oder was hatte er gesehen?

»Verdammt!«, murmelte sie, als sie feststellte, dass die Aufmerksamkeit des Mannes dem Tisch galt, an dem Tyrone Epstein und Dwayne Dickson saßen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Wer immer die zwei waren, sie funkten ihr hier ganz gewaltig ins Geschäft.

Noch einmal sah sie zu dem Paar hinüber und mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Sie waren von der Polizei. ›Wahrscheinlich FBI‹, ging es Carriessa durch den Kopf. Mit Sicherheit würde es hier in wenigen Minuten von Agenten und Polizisten wimmeln. Das Paar war lediglich die Vorhut für eine gleich stattfindende Razzia und sollte sich ein Bild von der Situation verschaffen. Gerade beugte sich die Frau zu ihrem Begleiter nach vorn und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin der Mann zu Carriessa sah. Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment.

Als Jaylen in diese Augen schaute, die von einem so intensiven Türkis waren, wie er es noch bei keiner Frau gesehen hatte, schien seine Welt mit einem Mal stillzustehen. Es musste ein Spiel im Licht der Scheinwerfer und Stroboskope sein. Niemals konnte jemand Augen von dieser Farbe haben. Während die Frau den Blickkontakt abbrach und dabei ihren Barhocker zurück zum Tresen drehte, drang Elizabeths Stimme an sein Ohr.

»Ich glaube, er hat etwas gemerkt.«

»Was?« Verwirrt sah Jaylen hinüber zu ihrem Zielobjekt.

»Dickson. Er hat was mitbekommen. Irgendetwas stimmt nicht.«

»Du hast recht«, stimmte Jaylen ihr zu, als er seine Aufmerksamkeit wieder dem Mann widmete, auf den sie es abgesehen hatten. Im selben Augenblick gab er den Befehl für die Kollegen: »Zugriff! Jetzt!«

Gemeinsam drängten er und Elizabeth durch die Masse der Leute auf Dickson zu, doch sie kamen nicht schnell genug voran. Es war, als hätten sich plötzlich alle gegen sie verschworen. Ständig wurden sie von jemandem am Weiterkommen gehindert.

»Ray! Henry! Dickson haut ab. Passt auf die Hintertür auf«, informierte Jaylen die Kollegen draußen.

»Das Schwein soll nur kommen«, antwortete Henry.

»Wo ist er hin?« Irritiert blieb Elizabeth vor der Sofaecke stehen, wo der Clubbesitzer gerade eben noch gesessen hatte und sah sich suchend um.

»Hinten in der Ecke ist eine Tür. Dort, wo der Gorilla steht.« Jaylen deutete auf den Mann, der noch vor wenigen Sekunden hinter Dickson gestanden hatte.

»FBI. Zur Seite«, befahl er, während er dem Türsteher seine Marke vors Gesicht hielt.

»Das sind Privaträume. Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl, Detective?«

»Hier!« Jaylen riss das Papier aus seiner Brusttasche und hielt es ihm ebenfalls vor die Nase. »Im Übrigen heißt es Agent, nicht Detective.«

»Bitte sehr! Agent« Der Mann öffnete schließlich seelenruhig die Tür, nachdem er das Dokument betrachtet hatte.

Mit vorgehaltenen Pistolen betraten Elizabeth und Jaylen den Raum. Er war leer. Wo war Dickson hin? Der Mann konnte sich unmöglich in Luft aufgelöst haben.

»Ray! Henry! Seht ihr ihn?«

»Nein, Jay. Keine Spur von ihm.«

»Behaltet alle Türen im Auge. Dickson muss irgendwo stecken.« Frustriert sah er sich um und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Woher hatte der Mann überhaupt gewusst, dass sie hier waren? Kurz zuvor hatte er noch völlig entspannt mit dem Typen geplaudert, der ihm gegenübergesessen hatte. Kein Zeichen von Aufbruchsstimmung war zu sehen gewesen. Hatte der Türsteher Johnson geredet?

›Nein‹, entschied Jaylen. Zum einen hätte er dann schon früher etwas gesagt, zum anderen wusste er, dass Jaylen die Haftbedingungen für seinen Bruder jederzeit ändern konnte. Ein Anruf von ihm und die Freigänge würden gestrichen. Nein, das würde Johnson nicht riskieren. Doch wie hatte Dickson dann von ihnen erfahren?

›Die Frau! Es muss die Frau mit den blaugrünen Augen gewesen sein‹, überlegte er. Wer war sie? Und wo war sie? Eilig kehrte er zurück in den öffentlichen Bereich des Clubs, wo er seinen Blick aufmerksam durch den Raum streifen ließ.

Durch den Haupteingang kamen die Kollegen des örtlichen Polizeireviers hereingestürmt, die die Masse an Gästen unter Kontrolle halten würden. Es würde einige Stunden dauern, alle Personalien aufzunehmen und die von ihnen mitgeführten Drogen sicherzustellen, wenngleich das alles nur Kleinkram im Vergleich zu den fünf Kilo Heroin war, die sie eigentlich hatten einkassieren wollen. Doch Jaylen ahnte bereits, dass sie von diesem Stoff heute Nacht nichts mehr sehen würden.

Wo war diese Frau? Systematisch wanderte sein Blick durch den Raum und plötzlich sah er sie. Während alle Gäste in Panik schrien, bewegte sie sich ruhig, aber zügig zwischen den Leuten hindurch in Richtung Toilette.

O nein, sie würde ihm nicht auch noch entkommen, entschied Jaylen und sprang in rascher Folge über einen Tisch nach dem anderen, um ihr den Weg abzuschneiden.

»Darf ich fragen, wo Sie hin wollen?« Entschlossen stellte er sich ihr in den Weg und sah sie mit vor Wut funkelnden Augen an. Doch in dem Moment, in dem sie zu ihm aufblickte, erlebte er ein Déjà vu.

Die Welt blieb für Agent Jaylen Jennings erneut stehen! Die Geräusche um ihn herum verstummten, die Sicht verschwamm. Einzig und allein diese Frau existierte für seine Sinne. Trotz all der in der Luft hängenden Gerüche nahm er nur den betörenden Duft ihres Parfums wahr. Es war ein schwerer Duft, der ihn jedoch sofort in seinen Bann schlug.

›Pfirsich, Honig und ein Hauch Vanille‹, stellte er fest, während er sich gleichzeitig wunderte, wie sehr ihm der Geruch gefiel. Normalerweise stand er nur auf leichte blumige Düfte.

Forschend betrachtete er ihr Gesicht. Dabei nahm er die hohen Wangenknochen ebenso wahr wie das schmal zulaufende Kinn, das von den seidigen Spitzen ihrer dunkelblonden Haare umspielt wurde. Ihr Haar war zu einem Bob geschnitten, wobei sie den Scheitel auf der linken Seite trug. Ihre großen runden Augen erinnerten ihn an eine Puppe, wenngleich er noch nie bei einer Puppe Augen mit einer solchen Irisfarbe gesehen hatte. Selbst von Nahem konnte er nicht sagen, ob diese Augen eher blau oder eher grün waren.

Sein Blick registrierte jedoch, wie sich ihre Pupillen plötzlich weiteten. Allerdings löste sich seine Schockstarre nicht schnell genug. Sein Verstand meldete ihm noch, er solle sich umdrehen, um zu sehen, was diese Reaktion bei der Frau ausgelöst hatte, als er auch schon den Boden unter den Füßen verlor.

Augenblick mal! Was war passiert? Zum ersten Mal hatte Jaylen das Gefühl, er könne seinem Gehirn bei der Arbeit zusehen, während alle seine Sinne ihm meldeten, dass die Frau ihn gerade in einem perfekten Kampfgriff zu Boden brachte.

Umgehend wollten seine reichlich verspäteten Reflexe einsetzen, den Sturz abfangen und gleichzeitig die Energie des Aufpralls nutzen, um sich sofort wieder vom Boden abzustoßen und zum Gegenangriff überzugehen. Doch dann spürte er, wie die rätselhafte Unbekannte herumwirbelte. Gleichzeitig hallte ein lauter Schuss durch den Club und er verspürte einen leichten Luftzug an seinem rechten Ohr.

Noch bevor Jaylen begriffen hatte, was gerade geschehen war, lag die Frau auf dem Boden. Ein zweiter Schuss fiel. Hysterische Schreie erfüllten den Club, dennoch hörte Jaylen deutlich die Stimme seines Kollegen im Ohr.

»Schütze am Boden. Gefahr ausgeschaltet.«

Verwirrt sah er auf die Frau hinunter, die angestrengt nach Luft schnappte. Sie war hart aufgeschlagen, und nun drückte auch noch Jaylens Gewicht auf sie.

›Wie hat sie bloß unter mir landen können, wo sie doch in jeder Hinsicht im Vorteil gewesen war?‹, wunderte sich Jaylen. Doch im Augenblick blieb keine Zeit darüber nachzudenken, wie sich die Situation in ihr Gegenteil verkehrt hatte. Vielmehr würde er den strategischen Vorteil seiner Position ausnutzen.

Selbst wenn er noch keine Ahnung hatte, welche Rolle diese Frau heute Abend wirklich während der Razzia gespielt hatte, so war er sich doch sicher, dass sie für Dicksons erfolgreiche Flucht verantwortlich war. Dafür würde sie bezahlen! Egal, wie hübsch sie war.

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, packte er sie an den Handgelenken und zog ihre Arme über den Kopf, während er sie gleichzeitig mit dem Gewicht seines Körpers am Boden hielt. Es war ein absolut professioneller Griff. Daher hätte er dabei niemals das registrieren dürfen, was sein Körper aktuell erfasste.

Die Frau war schmal. Dünn. Dennoch hatte sie jede Menge weiblicher Kurven, die das enge, in verschiedenen Lilatönen changierende Kleid kaum verhüllte.

›Es harmoniert perfekt mit der Farbe ihrer Augen‹, stellte Jaylen fest und konnte sich trotz aller Willenskraft nicht dazu durchringen, seinen Blick von ihr abzuwenden. Stattdessen wanderte dieser an ihrem Körper hinunter zum Saum ihres Kleides, der ohnehin schon in der Mitte ihrer Oberschenkel geendet hatte und nun noch ein Stück weiter nach oben gerutscht war. Überrascht hob er seine Augenbrauen, als es unter dem Kleid silbern aufblitzte.

»Nanu, was haben wir denn hier?« Seine Hände juckten. Nur zu gern hätten sie den Stoff noch etwas mehr beiseitegeschoben und dabei die leicht gebräunte Haut dieser Beine berührt. Nur zu gern wären seine Fingerspitzen über die Innenseite dieser makellosen Oberschenkel geglitten.

Feine Schweißperlen bildeten sich bereits auf Jaylens Rücken, als es ihm schließlich gelang, seinen Gedankengang zu beenden. Allerdings konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob ihm das auch gelungen wäre, hätte er nicht in diesem Moment die besorgte Stimme seines Kollegen Thomas in seinem Ohr gehört.

»Jay, alles in Ordnung bei dir?«

Er hielt Carriessas Blick stand, als er antwortete: »Ja, danke. Aber ich brauche Liz.«

»Schon unterwegs«, antwortete Elizabeth.

Spöttisch grinsend sah Carriessa ihn an. Sofort beschlich Jaylen das ungute Gefühl, dass die Frau unter ihm sehr genau wusste, was eben in ihm vorgegangen war, selbst wenn sie vorhin keinerlei Reaktion gezeigt hatte. Noch immer war er heilfroh, heute Abend keine enge Jeans zu tragen, sondern stattdessen eine weite Anzugshose gewählt zu haben, was seiner frustrierten Stimmung allerdings keineswegs entgegenwirkte. Im Gegenteil. Wie hatte ihn sein Körper nur derart unprofessionell im Stich lassen können?

»Dann stehen wir mal langsam auf«, forderte Jaylen sie auf, während er sich selbst erhob. Dabei klang seine Stimme brüsker als beabsichtigt.

Mit Argusaugen beobachtete Jaylen jede Bewegung der Frau vor ihm. Ohne jedoch auch nur den Versuch einer Flucht zu unternehmen, richtete sie sich auf.

»Beine breit, Hände hinter den Kopf.«

Bereitwillig befolgte Carriessa seine Anweisungen. Lediglich ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen, als er ihr die Arme auf den Rücken drehte, um ihr Handschellen anzulegen. Sofort lockerte er seinen Griff. Prüfend betrachtete er ihr Profil. Machte sie ihm nur etwas vor oder hatte sie sich wirklich wehgetan? Immerhin war nicht zu leugnen, dass sie härter auf dem Boden aufgeschlagen war als er.

»Haben Sie sich verletzt?« Jaylens Stimme klang jetzt sanfter. Es lag nicht in seinem Naturell, jemandem wehzutun. Wenn es im Kampf um die Gerechtigkeit darauf ankam, würde er keinen Moment zögern. Weder schreckte er vor einer körperlichen Auseinandersetzung zurück, noch davor, seine Pistole im Ernstfall einzusetzen. Wenn es jedoch einen anderen Weg gab, nahm er diesen nur allzu gern. Vor allem hasste er, Gewalt gegen Frauen anwenden zu müssen.

Glücklicherweise hatte er in seinen bisherigen Dienstjahren nur wenige Male einer Frau als Gegnerin gegenübergestanden. Jedes Mal war dies für ihn jedoch eine besondere Herausforderung gewesen, denn er war stets bemüht, immer nur so viel Kraft einzusetzen, wie nötig war, um den Gegner zu überwältigen. Allerdings wusste er, dass gerade das weibliche Geschlecht dies sehr gern zu seinem Vorteil ausnutzte. Doch er ließ sich nicht mehr an der Nase herumführen und schon gar nicht von einem billigen Barmädchen, wobei er jedoch zugeben musste, dass nichts an Carriessas Auftreten billig wirkte, unabhängig davon, was ihre Kleidung sagte.

»Vergessen Sie’s«, antwortete Carriessa abfällig, während sie wütend seine Hände von ihren Armen abschüttelte, wobei sie ihre Lippen fest zusammenkniff.

Augenblicklich verstärkte er seinen Griff, während er sich über ihre Reaktion wunderte. Jaylen war sich sicher, die abrupte Bewegung hatte ihr Schmerzen bereitet. Warum nur hatte sie sie trotzdem ausgeführt? Unauffällig folgte Jaylen ihrem Blick zu einem Mann, der wie alle anderen Gäste mittlerweile bäuchlings auf dem Boden lag. Sein Kopf war jedoch leicht angehoben, seine Augen fixierten Carriessa.

»Thomas, weißer Mann, circa drei Meter rechts von dir, helle Haare, schwarzes T-Shirt. Von hier aus kann ich sein Gesicht nicht genau sehen, aber es könnte Murphy sein. Nehmt ihn mit ins Dezernat«, befahl Jaylen. Dabei entging ihm nicht die Reaktion der Frau ihm gegenüber. Hätte er nicht so dicht vor ihr gestanden, wäre ihm nicht aufgefallen, wie sich ihre Kiefermuskeln anspannten. So aber wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die beiden kannten sich. Daran gab es keinen Zweifel.

»Verstanden«, tönte Thomas’ Stimme durch seinen Ohrhörer.

»Hier bin ich. Was gibt es?«, wollte Liz wissen, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war.

»Kannst du sie abtasten? Ich glaube, ich habe eben ein Messerhalfter an ihrem Oberschenkel gesehen«, bat Jaylen und drehte die Frau vor ihm in Elizabeths Richtung.

»Klar«, antwortete seine Kollegin, während sie ihre Hände bereits auf Carriessas Schultern legte.

Jaylen hingegen ließ seinen Blick durch den Saal wandern. Keinesfalls brauchte er noch mehr Munition für seine erotischen Fantasien. Er musste nicht zusehen, wie Liz’ Finger über den kleinen, festen Busen dieser Frau glitten, mit dem sein Sixpack vor wenigen Minuten bereits weitaus engere Bekanntschaft geschlossen hatte, als ihm lieb gewesen war. Er musste nicht zusehen, wie sich Liz’ Hände über die zarte Wespentaille hinab zu den schmalen Hüften vortasteten, um schließlich über den kurvigen Po zu den grazilen Beinen zu gelangen.

»Hui!«, pfiff Elizabeth. »Ein schönes Stück.«

Neugierig drehte sich Jaylen wieder um und betrachtete interessiert das symmetrisch geformte flache Kampfmesser. Eine solche Form ermöglichte den Einsatz sowohl in der rechten als auch in der linken Hand. Wenn die Frau tatsächlich beidhändig mit der Waffe umgehen konnte, durften sie sie nicht unterschätzen. Ganz sicher war sie mehr als eine einfache kleine Nutte.

»Wenn sie hier drin mit einer solchen Waffe unterwegs ist, arbeitet sie für Dickson«, urteilte Al, der sich von hinten kommend zu ihnen gesellt hatte.

»Oder sie hat sie in ihrem Stiefel reingeschmuggelt«, hielt Elizabeth dagegen, wobei sie auf die Innenseite des Schuhs deutete, den sie gerade geöffnet hatte. »Ich muss ihr die Stiefel ausziehen!«

»Den Teufel werden Sie tun«, reagierte Carriessa ungehalten und spuckte auf den Boden.

Einer inneren Eingebung folgend, sah Jaylen hinüber zu dem blonden Mann, den Thomas soeben verhaftet hatte. Noch immer blickte dieser gebannt auf Carriessa. Sofort trat er vor die Frau, sodass der Blickkontakt unterbrochen wurde.

»Wie Sie meinen, Herzchen.« Liz zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Halt sie fest, Al. Ich will wissen, ob sie noch mehr nette Souvenirs dabeihat.«

Jaylen sah, wie die Augen seines älteren Kollegen aufblitzten. Nur allzu gern schien Al hier selbst Hand anlegen zu wollen.

»Wartet!«, unterbrach er unvermittelt, bevor er sich an die Frau vor ihm wandte. »Kommen Sie schon und helfen Sie uns. Warum wollen Sie uns und Ihnen das Leben unnötig schwer machen?« Innerlich betete er, dass sie nachgeben würde, denn aus irgendeinem unverständlichen Grund wollte er Als Hände nicht an ihrem Körper sehen.

Unentschlossen versuchte Carriessa an ihm vorbeizusehen, doch rigoros versperrte er ihr die Sicht. Schließlich nickte sie und hielt Elizabeth erst ihren rechten, dann den linken Fuß entgegen.

»Alles sauber«, bemerkte die Agentin, nachdem sie beide Schuhe gründlich untersucht hatte. Dann zog sie Carriessa die Stiefel wieder an, da deren Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt waren.

»Bringt sie ins Dezernat«, befahl Jaylen einem vorbeigehenden Polizisten, während er ihr hinterhersah.

»Scharfe Braut«, bemerkte Al.

»Halt dich zurück. Du bist nicht zu deinem Vergnügen hier«, rügte Jaylen seinen älteren Kollegen, wenngleich er ihm recht geben musste. Dann sprach er wieder in sein Mikro: »Mein Team sowie Lieutenant Starck in das hintere Zimmer. Ich will einen Lagebericht.«

»In dem Club befinden sich derzeit ungefähr fünfhundert Leute. Die meisten davon sind mehr oder weniger high«, stellte der Lieutenant fest. »Ich habe noch einmal zwanzig Mann Verstärkung angefordert, damit wir überhaupt eine Chance haben, alle Personalien aufzunehmen.«

»Sehr gut«, lobte Jaylen ihn. »Versuchen Sie, vor allem die Verkäufer der Drogen ausfindig zu machen. Hier gehen Mengen von Ecstasy sowie Speed und Crystal über die Theke wie ansonsten nur Smarties im Süßigkeitenland. Nehmen Sie vor allem die Angestellten mit aufs Revier. Irgendeiner von denen muss mit den Einzelheiten vertraut sein.«

Zustimmend nickte der Kollege. »Wird erledigt, Sir. Sonst noch etwas?«

»Im Augenblick nicht, vielen Dank.«

Jaylen wartete bis der Lieutenant gegangen war, dann wandte er sich an seine Kollegen:

»Was ist mit dem Schützen? Lebt er?«

»Leider nein. Er ist noch oben auf der Empore gestorben. Die Sanitäter waren schnell bei ihm, konnten aber nichts mehr für ihn tun«, erklärte Henry seufzend.

»Du bist eben ein zu guter Schütze«, meinte Al grinsend.

»Würde das stimmen, hätte ich ihn nur verletzt und nicht gleich umgebracht«, stellte der vierzigjährige Mann trocken fest.

»Du hattest keine andere Chance von hier unten«, bestätigte Jaylen die Entscheidung, musterte den Kollegen aber dennoch kritisch. »Ist alles in Ordnung? Kannst du weitermachen oder willst du aussteigen?«

»Mir geht es gut. Ich weiß, ich hatte keine andere Wahl. Aber das macht es trotzdem nicht leichter.«

Nein, das machte es in der Tat nicht. Nur allzu gut verstand Jaylen den Kollegen. Es war niemals einfach, für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein, selbst wenn es derjenige selbst heraufbeschworen und es keine andere Möglichkeit gegeben hatte.

»Er war einer der beiden DJs«, erklärte Elizabeth. »Dickson muss ihn da oben als zusätzliche Sicherung positioniert haben.«

»Wahrscheinlich. Im Moment interessiert mich aber vor allem, wie der Kerl es angestellt hat, uns zu entwischen. Stellt notfalls das ganze Haus auf den Kopf, aber fangt mit diesem Zimmer an. Irgendwo muss es hier eine Tür geben, die wir nicht kennen. Anschließend stellen wir alle Unterlagen sicher. Jedes Stück Papier, jeden Rechner, jede CD-ROM. Einfach alles. Wir können nur hoffen, dass wir irgendetwas finden, womit wir Dickson dauerhaft aus dem Verkehr ziehen können. Dafür brauchen wir jedoch zumindest einen Beweis, dass er unmittelbar mit den synthetischen Drogen zu tun hat, die hier verkauft werden. Ansonsten kassiert er bloß eine Geldstrafe, weil er nicht seiner Aufsichtspflicht nachgekommen ist, und dann ist er schneller auf freiem Fuß, als wir ihn verhaften konnten.«

›Vorausgesetzt wir finden überhaupt etwas, um ihn festnehmen zu können‹, fügte er in Gedanken hinzu. Frustriert kehrte Jaylen in die Diskothek zurück und beobachtete für einen Moment die Kollegen. Zufrieden stellte er fest, dass langsam Ordnung und Ruhe Einzug hielten und das Chaos zurückgedrängt wurde.

Zufällig fiel dabei sein Blick auf einen farbigen Cocktail, der zwischen halb leeren Champagner- und Biergläsern auf der Bar stand. Hatte nicht die Frau mit den blaugrünen Augen auf eben jenem Platz gesessen und den Cocktail in der Hand gehalten, als sich ihre Blicke zum ersten Mal begegnet waren?

Interessiert nahm Jaylen das Glas und drehte es zunächst unschlüssig in der Hand, bevor er daran roch. Saft. Kein Alkohol. Interessant. Als er es zurück auf die Theke stellte, hörte er ein leises Klirren. Überrascht betrachtete er das Glas aufs Neue, während er es leicht schüttelte. Dabei schlug eindeutig etwas Hartes von innen gegen das Glas. Rasch griff er nach einem leeren Longdrinkglas, in das er die restliche Flüssigkeit des Cocktails vorsichtig umschüttete. Schließlich sah er erstaunt auf den Boden des Glases, auf dem ein kleiner schwarzer runder Gegenstand lag. Ein Gegenstand, wie auch er einen unter dem Revers trug.

›Ein Mikrofon‹, stellte Jaylen mit einem sarkastischen Halbgrinsen fest. Die Lady hatte tatsächlich ein Mikrofon getragen. Auf diesem Weg also hatte Dickson von ihnen erfahren. Irgendwie war es ihr gelungen, seine Tarnung und die von Elizabeth zu durchschauen und ihren Chef rechtzeitig zu warnen.

Ohnmächtige Wut erfasste ihn. Wie hatte er sich auch nur eine Sekunde von ihr ablenken lassen können? Hätte er die von ihr ausgehende Gefahr früher durchschaut, wäre ihnen Dickson wahrscheinlich ins Netz gegangen. Sie waren heute Abend so nah dran gewesen. Obwohl sich der Großteil seiner Wut gegen ihn selbst richtete, meldete ihm sein Instinkt immer noch, dass irgendetwas hier nicht zusammenpasste.

Seufzend rieb sich Jaylen mit einer Hand über sein Kinn, als er der Wahrheit ins Auge blickte. Es war der perfekt geformte Körper dieser Frau, der seine Männlichkeit in primitivster Form angesprochen hatte. Es war ihre anmutige Schönheit, die ihn immer noch heimlich wünschen ließ, sie sei nicht ausgerechnet Dicksons Angestellte.

Sofort fragte sich Jaylen, seit wann er nur auf solch niederen Reiz reagierte? Schließlich war es nicht so, dass es ihm an Sex mangelte. Im Gegenteil. Und er hatte sogar ausschließlich attraktive Bettgespielinnen. Vielleicht waren nicht alle derart makellos wie diese unbekannte Schöne, aber jede war auf ihre Art apart und begehrenswert. Zumindest körperlich und das war das Einzige, worauf es letztlich ankam.

Allerdings musste er zugeben, dass er noch nie einer Frau begegnet war, die ihn mit ihren Augen so vollständig in ihren Bann geschlagen hatte. Mit einer Ausnahme. Elena.

Schlagartig stieg eine bekannte Übelkeit in ihm auf, die er jedoch sofort zurückdrängte. Ironisch lächelte er in sich hinein. Ganz offensichtlich hatte sich sein Geschmack in Sachen Frauen in den letzten Jahren nicht verbessert.

2

Verdammter Mist! Sie waren so dicht davor gewesen! Warum nur hatte diese Razzia ausgerechnet heute Nacht stattfinden müssen? So viel Pech war einfach nicht zu fassen. Äußerlich gelassen saß Carriessa auf dem Boden einer Sammelzelle. Sechzehn weitere Frauen befanden sich mit ihr in dem gleißend hell beleuchteten Raum. Gegenüber war eine weitere große Zelle, in der die verdächtigen Männer aus der Diskothek festgehalten wurden.

Der Blick des Mannes, der sie bereits im Club intensiv beobachtet hatte, wich auch jetzt keine Sekunde von ihrem Körper. Was wollte er von ihr? Zwar wusste Carriessa sehr genau, wer der Typ war, nämlich Dicksons Bodyguard. Umgekehrt konnte er jedoch nicht wissen, wer sie war. Anscheinend vermutete er jedoch, dass sie diejenige gewesen war, die Epstein und damit auch seinen Boss vor der Razzia gewarnt hatte.

Die ganze Sache war völlig undurchsichtig. Unter allen Umständen musste sie hier raus. Wenn die Arbeit der letzten Monate nicht vergebens gewesen sein sollte, musste sie so schnell wie möglich zurück ins Hotel. Doch das war leichter gesagt als getan. Im Grunde brauchte sie nur einen Telefonanruf. Dafür musste sie aber erst einmal einen Agenten sehen. Die Polizisten, die sie hierher gebracht hatten, hatten sich dafür nicht verantwortlich gefühlt und gemeint, sie müsse warten, bis ein für sie zuständiger Kollege Zeit hätte. Doch das konnte noch Stunden dauern.

Ihre Gedanken wanderten zu dem attraktiven Agenten, der zweifellos die Razzia geleitet hatte. Wenn sie ihre Augen schloss, konnte sie noch immer seinen muskulösen Körper auf ihrem spüren. Zu schade, dass sie den Mann nicht unter anderen Umständen kennengelernt hatte.

»Hey! Was machst du eigentlich hier?« Eine große wasserstoffgebleichte Blondine stieß sie mit dem Fuß an.

Mit wachen Augen sah Carriessa zu der Frau hoch. Sie hatte keine Lust auf eine Auseinandersetzung. Nur zu gut wusste sie, wie schnell so etwas unschön werden konnte, und Ärger war das Letzte, was sie in ihrer Situation gebrauchen konnte.

»Lass mich in Ruhe!«, erwiderte sie daher unwirsch.

»Die Schlampe hat unseren Tisch beobachtet. Ich hab’s gesehen, Layla«, mischte sich eine dünne Rothaarige ein.

»Wenn du ein Auge auf Dwayne geworfen hast, dann gebe ich dir einen guten Rat, Kleine. Vergiss es.« Während die Blonde sprach, drückte sie ihren Zeigefinger mehrmals in Carriessas Dekolleté. »Haben wir uns verstanden?«

Widerstrebend erhob sich Carriessa. Wie sie Zickenkrieg hasste. Aber anscheinend gab es keinen Weg, diesen hier zu vermeiden. Die letzte Provokation der Blonden konnte sie zumindest auf keinen Fall übergehen. Unter dem wachsamen Blick von Dicksons Bodyguard war es entscheidend für sie, dass sie sich hier und jetzt behauptete. Trotz ihrer hohen Stiefelabsätze stellte sie sich in einem sicheren Stand dicht gegenüber der Frau auf. Eindringlich sah sie ihr in die Augen.

»Jetzt hör mal gut zu, du kleine Nutte. Du bist nicht meine Mami. Daher hast du mir auch nichts zu sagen. Ich mache das, was ich will, wann ich will und mit wem ich will. Wenn dir das nicht passt, ist das dein Problem. Hast du verstanden?«

Die Augen der Blondine funkelten, während sich ihr Mund zu einem ironischen Grinsen verzog. »Nein, Schätzchen, so läuft das hier nicht. Ich habe keine Ahnung, wo du herkommst, aber lass dir eines sagen: An mir geht kein Geschäft vorbei. Wenn du Umsatz machen willst, erhalte ich einen Anteil, vorausgesetzt, ich lasse dich hier überhaupt arbeiten. Aber selbst dann ist Dwayne Dickson für dich tabu.«

Als sie zu Ende gesprochen hatte, ergriff die Frau in einer blitzschnellen Bewegung Carriessas Haare und zog ihren Kopf nach vorn, während sie gleichzeitig versuchte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch Carriessa war auf einen tätlichen Angriff vorbereitet gewesen. Vom ersten Augenblick an hatte sie geahnt, worauf das hier hinauslaufen würde.

Innerlich seufzte sie, denn keine der Frauen in dieser Zelle stellte eine würdige Gegnerin für sie dar. Sicher stand sie auf dem rechten Bein, während sich ihr linker Fuß blitzschnell zwischen die Beine der Frau schob, das rechte Sprunggelenk umklammerte und ihr den Fuß vom Boden wegzog. Mit einem Griff an den Schultern brachte sie die Blondine zu Boden. Noch bevor die Frau reagieren konnte, saß Carriessa auf ihren Oberschenkeln und drückte ihren Oberkörper mit dem Unterarm an der Kehle auf den Boden.

»Hör zu, Layla«, sprach Carriessa die Frau in einem ruhigen, aber bestimmten Ton mit dem Namen an, den sie vorhin von der Rothaarigen gehört hatte, »denn ich sage es nur einmal: Lass mich in Ruhe. Ich mache mein Ding, du machst dein Ding. Dann geht alles klar zwischen uns. Verstanden?« Die Frau zwinkerte einmal mit den Wimpern, denn Reden war in dem Griff, in dem Carriessa sie hatte, nur schwer möglich.

»Gut.« Langsam erhob sich Carriessa, während die anderen Mädchen erschrocken vor ihr zurückwichen. Zur Sicherheit behielt Carriessa die blonde Frau jedoch im Auge. Niemand wurde gern vorgeführt. Zwar hatte sie unmissverständlich klargemacht, dass sie kein wehrloses Opfer war, dennoch hatte sie sich gleichzeitig mindestens eine Feindin gemacht.

»Nette Vorstellung!«, applaudierte Dicksons Bodyguard von gegenüber. Als Reaktion darauf zog Carriessa einen Mundwinkel ein wenig nach oben, bevor sie sich einen Platz auf der anderen Seite der Zelle suchte.

»Warum hast du den Bullen nicht mit deinem Messer abgestochen?«, tönte seine Stimme laut zu ihr herüber.

Überrascht sah Carriessa auf. Ihr Gefühl, dass der Mann sie die ganze Zeit beobachtet hatte, war also richtig gewesen. Trotzdem hatte sie mit einer solchen Frage nicht gerechnet, zumindest nicht in dieser Umgebung.

»Für wie blöd hältst du mich? Die Bullen haben nichts gegen mich in der Hand. Ich bin völlig clean. Warum hätte ich den Typen also erstechen sollen?«, gab sie zurück.

»Damit es ein Arschgesicht weniger auf der Welt gibt«, meinte der Mann grinsend, doch Carriessa zuckte nur gleichgültig mit einer Achsel.

»Spätestens in ein paar Stunden bin ich hier wieder draußen. Dann kann ich es mir immer noch überlegen. Aber vielleicht kannst du mir bei dieser Gelegenheit verraten, warum du nichts unternommen hast. Schließlich war es dein Chef, hinter dem die Bullen her waren«, forderte sie ihn heraus.

Der Mann grinste noch breiter. »Vielleicht habe ich genau das gemacht, was man von mir verlangt hat.«

Für einen Augenblick dachte Carriessa über diese Bemerkung nach. Hatte Dickson ihm befohlen, sie zu beobachten, nachdem sie Epstein über ihren Sender gewarnt hatte? Es hätte eine schnelle Reaktion von Dickson erfordert, war aber durchaus eine Möglichkeit. Im Moment konnte sie darüber jedoch nur Vermutungen anstellen, die zu nichts führen würden. Schließlich beendete sie das Gespräch von ihrer Seite in einem gleichgültigen Ton. »Du musst es ja wissen.«

»Eine nette Zeitgenossin habt ihr da mitgebracht«, spottete Chief Nick Vernshew, als er sich mit Jaylen, Thomas, Al und Elizabeth die Sequenz aus der Videoaufnahme der beiden Sammelzellen ansah.

»Das war eine direkte Drohung gegen dich, Jay«, stellte Elizabeth fest.

»Unsinn«, reagierte Jaylen.

»Hast du nicht zugehört? Sie hat gesagt, sie bringt dich um, wenn sie wieder draußen ist.«

»Nein, das hat sie nicht, Liz. Sie hat gesagt, sie kann es sich überlegen. Das ist etwas völlig anderes.« Nachdenklich fuhr sich Jaylen über Wange und Kinn. Die rauen Bartstoppeln, die sich mittlerweile auf seiner Haut zeigten, kratzten angenehm auf seinem Handrücken.

»Was überlegst du, Jay?«, wollte sein Vorgesetzter Nick Vernshew wissen.

»Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Frau.«

Seine Kollegin Elizabeth verdrehte die Augen. »Natürlich stimmt etwas nicht mit ihr. Welche normale Frau läuft schon mit einem Kampfmesser durch die Gegend? Ganz abgesehen von der Art ihrer Kleidung, die bereits alles über sie aussagt.«

»Das meine ich nicht. Nick, kannst du bitte noch mal zurückspulen zu dem Moment, in dem sie die große Blonde zu Boden schickt?«

Vernshew suchte die richtige Stelle und Jaylen sprang auf. »Seht ihr? Sie hat die Wucht des Aufpralls der Frau abgefangen. Sie hätte sie wesentlich härter zu Fall bringen können. Warum hat sie das getan?«

»Keine Ahnung, Jay. Vielleicht war es gar keine bewusste Bewegung. Vielleicht täuscht auch der Aufnahmewinkel der Kamera«, meinte Thomas skeptisch, doch Jaylen schüttelte den Kopf.

»Nein, das glaube ich nicht. Außerdem hat sie das Ganze beendet, bevor es überhaupt richtig angefangen hat. Dabei steigern sich Frauen typischerweise noch mehr in einen Kampf hinein als Männer.«

»Ich denke, du siehst hier etwas, was du sehen willst«, urteilte Al.

»Die Frau hat jedenfalls ohne Zweifel eine Schlüsselfunktion«, mischte sich der Chief in die Diskussion ein. »Ich will wissen, welche Rolle sie spielt. Jay, Al, kümmert euch darum. Thomas und Liz, ihr verhört die anderen. Vor allem Dicksons Bodyguard Liam Murphy, der von der anderen Zelle aus mit ihr gesprochen hat.«

»Machen wir«, versprach Jaylen und verließ mit allen anderen Nicks Büro.

Regungslos saß Carriessa am Tisch in dem kargen Verhörraum, in den man sie vor einer halben Stunde gebracht hatte. Nur zu genau wusste sie, dass jemand sie von der anderen Seite des Spiegels aus beobachtete, und sie gedachte nicht, diesem Jemand irgendwelche Informationen zu liefern. Weder bewusst noch unbewusst. Das hier würde eine der langweiligsten Vorstellungen werden, die er je gesehen hatte.

Gerade überlegte Carriessa, wie lange es wohl dauern würde, bis der Jemand dies begriff und zum Vorschein kam, als sich die Tür öffnete und zwei Männer den Raum betraten. Beide hatte sie bereits früher am Abend im Club gesehen. Der eine war Anfang sechzig und hatte eine Glatze. Auch wenn er eigentlich nicht als dick bezeichnet werden konnte, war er dennoch alles andere als schlank. In jedem Fall wies sein Körper mehr Fett als Muskelmasse auf, im Gegensatz zu dem wesentlich jüngeren Agenten, der selbst in dem grellen Neonlicht des Verhörzimmers attraktiv wirkte. Als sie den Mann vor der Kugel des DJs gerettet hatte, hatte sie die harten Muskeln seines Oberkörpers mehr als deutlich spüren können.

Automatisch fragte sich Carriessa, ob der Mann ihr Verhalten wohl verstanden hatte. Er hatte keine Sicherheitsweste getragen, was in ihren Augen mehr als leichtsinnig gewesen war, wenngleich es damit wahrscheinlich schwierig gewesen wäre, als Gast Zutritt zu dem Club zu erlangen. Andererseits würde er ohne ihr Eingreifen jetzt nicht hier sitzen. Er war ein hohes Risiko eingegangen.

›Gefährlich und mit Vorsicht zu genießen‹, entschied Carriessa für sich, obwohl ihr Herz automatisch schneller schlug, als sich ihre Blicke begegneten.

»Ich bin Agent Jaylen Jennings. Das ist Agent Al Simmerson«, stellte Jaylen sich und seinen Kollegen vor.

›Er hat eine angenehme Stimme. Tief und weich‹, urteilte Carriessa, sagte aber nichts.

»Möchten Sie uns Ihren Namen verraten?«, fragte Jaylen schließlich, nachdem er und Al Platz genommen hatten.

»Warum? Mit Sicherheit steht er bereits in dieser Akte«, entgegnete sie nicht unfreundlich, aber auch nicht sehr verbindlich. Dabei deutete sie mit dem Kopf auf die braune Mappe in Jaylens Hand. Bevor sie überhaupt etwas sagte, musste sie herausfinden, was die beiden über sie wussten. Zumindest wollte sie wissen, welchen Namen die Agenten kannten. Doch noch dringender musste sie ein Telefonat führen. Sie hatte bereits mehr als genug Zeit verloren. »Ich würde gern telefonieren.«

Enttäuscht schlug Jaylen die Akte auf, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Insgeheim hatte er gehofft, die attraktive Frau würde es ihnen einfach machen. Anscheinend war heute jedoch tatsächlich nicht sein Glückstag.

»Carrie Michaels«, las er laut vor, dann sah er sie wieder an. »Dürfen wir Sie Carrie nennen?«

Gleichgültig zuckte Carriessa mit den Schultern. Innerlich atmete sie jedoch auf. Ihre Identität hatte gehalten. Seit sie verhaftet worden war, hatte sie sich gefragt, wie wasserdicht ihre Biografie war. Allerdings bedeutete das, dass sie noch dringender telefonieren musste.

»Ich würde gern telefonieren, Agent Jennings«, wiederholte sie ihren Wunsch eindringlich.

»Wen möchten Sie denn so dringend anrufen, Carrie?«, wollte Simmerson wissen.

»Das geht Sie nichts an.«

»Dwayne Dickson dürfte gerade andere Sorgen haben, als Sie hier rauszuhauen, auch wenn Sie zugegebenermaßen eine süße Schnecke sind.«

Erschrocken warf Jaylen seinem Kollegen einen warnenden Blick zu. Eine solche Bemerkung war eindeutig sexistisch. Jeder Anwalt konnte ihnen dieses Verhör ohne Schwierigkeit um die Ohren hauen. Bisher hatte er noch nie mit Al Simmerson enger zusammengearbeitet. Der Mann war ohnehin nicht gerade sein Lieblingskollege. Er neigte zu unkontrollierten Wutausbrüchen und sein Niveau befand sich irgendwo unterhalb der Gürtellinie, was Jaylen privat egal sein konnte. Schließlich musste er nicht mit ihm befreundet sein. Wenn er allerdings mit ihm zusammenarbeiten musste, sah die Sache anders aus. Auf keinen Fall würde Jaylen ein Verhör auf diese Art und Weise führen oder auch nur tolerieren. Glücklicherweise zeigte Carriessa keine Reaktion auf Als Bemerkung.

›Wahrscheinlich ist sie die Art von Sprache gewohnt‹, atmete Jaylen erleichtert auf. Das Letzte, was er brauchte, war eine interne Untersuchung.

»Ich habe das Recht auf einen Telefonanruf«, erinnerte ihn Carriessa bestimmt.

»Hören Sie, Süße, …«

»Al!«, unterbrach Jaylen seinen Kollegen verärgert. »Miss Michaels hat recht. Bitte sehr, nehmen Sie mein Telefon und rufen Sie an, wen immer Sie wollen. Ein Anruf. Zwei Minuten. Verstanden?«

Nickend griff Carriessa nach dem Handy, das Jaylen ihr über den Tisch zuschob. Auswendig wählte sie eine zwölfstellige Nummer. Es war nicht tragisch, dass der Agent die Nummer später in seiner Anrufliste sehen würde. Sobald sie ihr Gespräch beendet hatte, würde der Angerufene die dazugehörende SIM-Karte vernichten.

Bereits beim zweiten Klingeln meldete sich eine verschlafene Stimme. Kein Wunder, es war erst vier Uhr morgens.

»Es gab heute Nacht eine Razzia. Das FBI in Chicago hat mich verhaftet.«

»Haben Sie einen Namen?«

»Agent Jaylen Jennings.«

»Okay, ich kümmere mich darum.«

Erstaunt blickte Jaylen die Frau ihm gegenüber an, als sie ihm sein Telefon über den Tisch zurückschob.

»Vielen Dank.«

»Das war alles?«, kam er nicht umhin zu fragen. »Zwei Sätze und einen Namen?«

»Ja.«

»Sie wissen, Sie dürfen nur einmal telefonieren«, wunderte sich auch Simmerson.

»Ja.« Carriessa wusste, dass Adam Rawlings bereits dabei war, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, sie hier so schnell wie möglich rauszuholen. Dafür würde er allerdings jemanden nach Chicago kommen lassen müssen, was bedeutete, dass das Ganze einige Stunden dauern würde. Eine unliebsame Komplikation, aber leider nicht zu ändern. Gelassen lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück. Jetzt hatte sie Zeit.

»Warum erzählen Sie uns nicht, seit wann Sie für Dwayne Dickson arbeiten?«, schlug Jaylen vor.

»Ich kenne keinen Dwayne Dickson.«

»Oh, Schätzchen, bitte. Verarschen können wir uns auch allein«, warf Simmerson genervt ein.

»Ich kenne keinen Dwayne Dickson«, wiederholte Carriessa ruhig.

Wütend beugte sich Al zu ihr nach vorn, während er ihr ein Bild des Drogenbosses über den Tisch schob. »Klingelt es jetzt vielleicht?«

Aufmerksam betrachtete sie das Foto des Mannes.

»Schon mal gesehen?«, bohrte Simmerson.

»Ja. Heute Abend. Im Club.«

»Tatsächlich? Heute Abend? Im Club?« Seine Stimme klang spöttisch. »Vorher natürlich nicht. Oder doch? Vielleicht in einem Bett? In einem Hotelzimmer?« Anerkennend ließ der Agent seinen Blick über ihren Körper wandern. »Dickson ist nicht der Typ, der Frauen wie Sie übersieht.«

Die Tür des Raumes ging auf. »Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass ihr hier drinnen seid«, erklärte Thomas, der Dicksons Bodyguard im Schlepptau hatte, der wiederum grinsend Carriessa ansah.

»Frauen wie mich?«, sprang Carrie auf einmal wütend auf und beugte sich vor, während sie ihren Arm bedrohlich hob. »Was soll das hei…«

»Setzen Sie sich«, unterbrach Simmerson energisch, packte sie an der Schulter und drückte sie fast gewaltsam zurück auf ihren Stuhl.

»Alles in Ordnung hier drin?«, erkundigte sich Elizabeth mit einem fragenden Blick.

»Ja. Macht die Tür wieder zu. Danke«, entgegnete Jaylen. Mit gerunzelter Stirn ließ er die Szene Revue passieren. Warum war die Frau in diesem Moment derart explodiert? Nichts hatte auf einen solchen Emotionsausbruch hingedeutet. Bisher war sie völlig ruhig gewesen.

»Nehmen Sie Ihre Hände von mir, Agent Simmerson«, riss ihn Carriessas Stimme zurück in die Gegenwart.

Erstaunt stellte Jaylen fest, dass sein Kollege immer noch über den Tisch gebeugt stand und Carriessa auf den Stuhl drückte, wobei sein Hand aber ein ganzes Stück nach unten gerutscht war und sich ihrem Dekolleté bedenklich genähert hatte. Ein schaler Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, der sich noch verstärkte, als er die Lust in Als Augen sah. Das hier ging definitiv zu weit.

Im gleichen Moment registrierte sein Blick auch die Gänsehaut auf Carriessas Armen. Der Raum hatte gerade einmal zwanzig Grad. Genug, wenn man angezogen war, aber die Frau trug nur dieses dünne Kleid, das ihren Körper so gerade eben bedeckte. Kurz entschlossen zog er sein Jackett aus und reichte es ihr über den Tisch.

Verwundert sah Al ihn an, doch Jay ignorierte den Blick seines Kollegen. »Ziehen Sie das über. Es ist nicht sonderlich warm hier drin«, brummte er.

Einen Moment zögerte Carriessa, doch dann nahm sie die Jacke und schlüpfte hinein. Alles daran war viel zu groß. Die Ärmel waren zu lang, die Schultern hingen ihr fast an den Ellenbogen und der Saum war einen Zentimeter länger als ihr Kleid. Doch sie war dankbar für das Angebot. Zum einen war es ihr tatsächlich kühl, zum anderen aber gefiel ihr nicht, was sie in den Augen des älteren Agenten sah.

›Sie ertrinkt förmlich in der Jacke‹, stellte Jaylen fest, während all seine Beschützerinstinkte erwachten. Insgeheim hatte er gehofft, die Jacke würde Carriessa nicht nur etwas Wärme spenden, sondern darüber hinaus auch ihre körperlichen Reize verbergen. Doch sie tat nichts dergleichen. Im Gegenteil. In seinem Jackett wirkte die Frau auf ihn noch anziehender, als es ohnehin schon der Fall war.

Nein. Nein. Nein. Auf keinen Fall durfte er sich von Carrie Michaels Äußerem beeinflussen lassen. Vor ihm saß kein kleines, süßes, unschuldiges Mädchen, sondern eine Frau, die mit Waffen umgehen konnte und dabei nicht eine Sekunde zögerte, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was über sie in ihrer Akte stand. Jaylen musste aufhören, auf diese Frau in irgendeiner sexuellen Weise zu reagieren. Unter allen Umständen musste er seine körperlichen Reaktionen in den Griff bekommen, bevor es jemand hier im Raum mitbekam. Außerdem musste er der Realität ins Auge sehen. Sie war keine schöne Märchenprinzessin, die er vor dem König der Unterwelt retten musste. Sie war Teil der Unterwelt.

»Miss Michaels«, begann er das Gespräch von Neuem. Dabei klang seine Stimme hart und seine Augen blickten kalt. »Sie haben zweimal wegen Drogenbesitzes gesessen und einmal wegen einer Messerstecherei. Des Weiteren sind Sie einmal wegen Drogenhandels verhaftet worden.«

»Wobei es zu keiner Anklage gekommen ist«, warf Carriessa ein und bedauerte die abweisende Haltung des jüngeren Agenten. Selbst wenn sie ihn verstehen konnte. Sie würde sich auch nicht sehr liebenswert finden, wenn sie an seiner Stelle ihr Dossier vor sich liegen hätte.

Offen musterte sie den Mann. Er sah müde aus. Kein Wunder bei der Uhrzeit. Seinem Bartwuchs nach war er seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr zu Hause gewesen, obwohl Carriessa insgeheim zugeben musste, dass ihr dieser Look eines beginnenden Dreitagebarts gefiel. Er gab dem Mann etwas Verwegenes. Im Grunde war es unglaublich, wie viele unterschiedliche Facetten dieses Agenten sie bereits gesehen hatte.

Die Razzia im Club hatte er souverän und selbstsicher gehandhabt. Es war keine Frage, seine Kollegen respektierten ihn. Er konnte hart und unerbittlich sein. Das hatte er ihr bereits mehrfach zu verstehen gegeben. Allerdings hatte er auch eine weiche Seite. Wenn sie allein an seinen besorgten Blick zurückdachte, mit dem er sie gemustert hatte, als sie den unerwartet aufgetretenen Schmerz in ihrer Schulter nicht hatte unterdrücken können, wurden ihre Knie noch immer weich. Sie wünschte, in ihrem richtigen Leben würde es jemanden geben, der sich auch nur einmal derart um sie sorgen würde.

Darüber hinaus konnte sich aber auch ein Verlangen in seinen Augen spiegeln, das ihm eine derart erotische Aura verlieh, dass es Carriessas Herzschlag in Rekordzeit erhöhte. Jeder Autohersteller wäre glücklich, wenn er die Leistung seines Motors entsprechend schnell in die Höhe treiben könnte. Seufzend schloss sie für einen Moment die Augen.

»Alles in Ordnung, Miss Michaels?«, hörte sie seine Stimme.

Warum nur war er zu diesem Namen übergegangen. Carrie hatte so viel persönlicher geklungen, wenngleich sie diese Form ihres Namens im Grunde hasste. Sie erinnerte sie zu sehr an ihren Vater, der die Zeit, ihren Namen in voller Länge auszusprechen, nicht der Mühe wert gefunden hatte.

»Miss Michaels?«

»Ja. Alles in Ordnung.« Sie öffnete wieder die Augen. »Ich bin nur etwas müde.«

»Seit wann arbeiten Sie für Dwayne Dickson?«, griff Jaylen den roten Faden des Gesprächs wieder auf.

»Ich arbeite nicht für den Mann. Wie oft soll ich das noch sagen?«

»Für wen arbeiten Sie dann?«

»Ich arbeite alleine.«

»Was arbeiten Sie?«

»Mal dies, mal das. Was sich gerade ergibt.«

»Sie meinen, Sie schlafen mal mit dem einen, mal mit dem anderen«, brachte Simmerson seine Interpretation ihrer Antwort auf den Punkt.

Für eine Sekunde hatte Jaylen das Gefühl, ein aufgebrachtes Funkeln in ihren Augen zu sehen, aber es konnte ebenso gut ein Spiel des Lichts gewesen sein, denn die Frau saß genauso gelassen auf ihrem Stuhl wie die ganze Zeit zuvor, zumindest seit ihrem Wutausbruch.

»Keine Antwort ist auch eine Antwort«, stellte Al zufrieden fest.

»Was soll ich dazu sagen, Agent Simmerson? Sie glauben doch ohnehin nur das, was sie wollen.«

»Seit wann sind Sie hier in Chicago?«, brachte Jaylen das Thema zurück auf eine sachlichere Ebene. »Ihr Wohnsitz ist immer noch in Houston gemeldet.«

»Warum sollte er das auch nicht sein? Ich bin nur zu Besuch.«

»Das heißt, Sie leben gar nicht hier in der Stadt?«

»In Chicago? Nein.«

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«, ereiferte sich Simmerson.

»Warum haben Sie angenommen, dass ich hier lebe? In meinen Personalien ist schließlich Houston als Wohnsitz angegeben«, gab sie ruhig zurück.

›Da hat sie allerdings recht‹, musste Jaylen zugeben. Doch wenn sie nicht in Chicago lebte, was machte sie dann hier? Definitiv war sie keine gewöhnliche Touristin.

»Wann sind Sie angekommen?«, hakte er nochmals nach.

»Freitag.«

»Gestern oder letzte Woche?«

»Gestern.«

»Wie lange bleiben Sie?«

»Das kommt darauf an«, antwortete sie in einem gelangweilten Ton.

»Worauf, Miss Michaels?« Sie machte es einem wirklich nicht einfach.

»Wie lange Sie mich hier noch festhalten und wie mir die Stadt gefällt«, antwortete sie achselzuckend.

»Sie wollen uns tatsächlich erzählen, dass Sie hier sind, um sich Chicago anzusehen?« Mit hochrotem Kopf blickte Simmerson sie wütend an. »Süße, das hier ist nicht ›Verarschen wir die Bullen‹. Kapieren Sie das?« Laut ließ er seine Faust direkt vor Carriessa auf den Tisch knallen, die dabei kurz zusammenzuckte. Aufgebracht beugte sich Simmerson so weit vor, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Schwer atmend ließ er seinen Blick zu ihrem Dekolleté wandern.

Noch bevor Carriessa jedoch reagieren konnte, erhob sich Jaylen. Rein äußerlich war ihm nichts anzumerken, innerlich allerdings tobte ein Sturm in ihm. »Al, kann ich dich kurz sprechen?« Ruhig ging er zur Tür, die er für seinen Kollegen offen hielt. »Wir sind gleich zurück, Miss Michaels.«

»Was gibt es?«, fuhr Al ihn an, sobald die Tür des Verhörraumes hinter ihnen geschlossen war.

»Nicht auf dem Gang.« Entschlossen ging Jaylen zu dem angrenzenden Raum, durch dessen Glasscheibe sie Carrie beobachten konnten. Verärgert drehte er sich zu Al um. »Was ist los mit dir?«

»Das fragst du mich? Ernsthaft?«

»Ja, das frage ich dich.« Unbeeindruckt hielt Jaylen dem wütenden Blick des Kollegen stand. »Sie kann uns wegen deiner ganzen sexistischen Bemerkungen und Handlungen anzeigen. Die sind beleidigend. Ganz abgesehen von deinem Faustschlag auf den Tisch, der ihre Hand nur um Zentimeter verfehlt hat. In der Form war das eine Drohgebärde.«