China am Klavier - Etienne Barilier - E-Book

China am Klavier E-Book

Etienne Barilier

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Beschreibung

Bei einem Sommerfestival in Südfrankreich spielt eine junge chinesische Pianistin (inspiriert von Yuja Wang) Scarlatti, Brahms und Chopin. Überwältigt von ihrer Kunst, ehrt ein Musikkritiker sie als die grösste Pianistin der Gegenwart. Ein anderer Kritiker, ironisch und distanziert, bemängelt bei der gleichen Interpretin ein Spiel ohne Seele, das lediglich aus Kunstgriffen und Imitation bestehe. Die beiden Journalisten streiten sich via Blog und E-Mail. Sie kennen einander schon lange, und ihre ästhetische Auseinandersetzung ist mit einem persönlichen Konflikt verbunden. Eher ein Zusammenstoss der Egos als der Kulturen? Auch wenn ihr immer heftigerer Wortwechsel darauf hinweist, entdeckt man in diesem Buch vor allem Überlegungen zur westlichen Musik: Warum geniesst sie im Fernen Osten so grosses Prestige? Ist Europa dabei, seiner Seele beraubt zu werden? Oder findet es sie vielleicht unter den Fingern einer chinesischen Pianistin wieder? Der Roman ist 2011 unter dem Titel "Piano chinois" bei Éditions Zoé erschienen und wurde bereits ins Japanische und Polnische übersetzt. China am Klavier ist die deutsche Erstübersetzung.

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Etienne Barilier

China am Klavier

aus dem Französischen vonGabriela Zehnder

Originaltitel: Piano chinois

© Éditions Zoé, CH-1227 Carouge-Genève

www.editionszoe.ch

Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung, subventioniert.

www.diebrotsuppe.ch

ISBN ebook 978-3-905689-93-8

Alle Rechte vorbehalten

© 2017, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne

Übersetzung: Gabriela Zehnder, Cavigliano

Umschlag, Gestaltung, Satz: Ursi Anna Aeschbacher, Biel

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel Der Autor

Kapitel Die Übersetzerin

I

AN DIE MUSIK

Der Blog von Frédéric Ballade

«Ich sage kein Wort:»Arthur Rimbaud

25. Juli

Wir haben es gestern Abend begriffen: Was man ein Wunder nennt, ist die natürlichste Sache der Welt; die Quelle, die auf uns wartet, geduldig, schalkhaft und zuverlässig, die Quelle, von der man trinken kann. Warum haben wir es nicht früher erkannt, in diesem Land der Sonne, und so nah der Quelle von Fontaine-de-Vaucluse, grün wie die Augen von Petrarcas Laura? Mit dem Alter glaubt man eben nicht mehr an Wunder – dabei geht es gar nicht darum zu glauben. Wir brauchen nur zuzuhören.

Früher einmal wussten wir undeutlich, dass es Wunder gibt. Damals, als die Meisterwerke neu waren. Kann man sich das vorstellen, wenn man schon abgestumpft ist: einen Jugendlichen, der zur grossen Reise aufbricht? Der Chopins Klaviersonate Nr. 2, den «Trauermarsch», entdeckt? Leider entwächst er dieser Phase. Am Anfang hört er nur das Werk, glaubt, es spiele sich selbst. Was kümmert es ihn, den Namen der zufälligen Ursache, Pianist genannt, zu kennen, die ihm diese Musik übermittelt, wenn er das erste Mal zum langsamen, düsteren Prélude des ersten Satzes gelangt, einem dunklen Wald, dessen dichte Baumreihen bald vom Sturm gelichtet werden. Er hört das Wunder, und dieses Wunder ist Chopin.

Doch der Jugendliche wird erwachsen. Die Finger der Interpreten zeigen ihm den romantischen Mond, und immer häufiger blickt er auf diese Finger. Mit dem Wissen über die Interpretation erwirbt er das Laster der Kritik: nicht mehr die Botschaft lesen, sondern die Boten begutachten. Gewiss, der Jugendliche täuscht sich: Dieser Chopin, der ihn mit freudiger Bangigkeit erfüllte, war nicht Chopin allein, es war auch Arthur Rubinstein, oder Dinu Lipatti. Doch auch wir alten Konzertschwärmer und abgebrühten Festivalratten täuschen uns: So erstaunlich, so skandalös dies uns erscheinen mag, das Werk existierte vor dem Interpreten; es ist für ihn ein Mittel zur Existenz, in jedem Sinn des Wortes.

Und da schreiben wir also diese Zeilen, wo wir uns gerade anschicken, das höchste Loblied zum Ruhm einer Pianistin anzustimmen! Tatsächlich gibt sie Chopin, Brahms, Scarlatti und Stravinsky ihren ursprünglichen Glanz und ihren Perlen deren ganzen Schmelz zurück. Mei Jin kommt aus dem Osten, jenem Osten, der im Spiegel ihres heiteren Temperaments unserem alten europäischen Genie neue Jugend verleiht und unsere alexandrinische Liebe zur Musik der Toten weniger bestürzend erscheinen lässt. Sie ist diejenigen, die sie spielt. Und während wir ihr zuhören, finden wir die Emotion des Heranwachsenden wieder, der etwas Neues entdeckt. Nur sehr wenige Interpreten haben diese Transparenz des Genies erreicht: abgesehen von Rubinstein und Lipatti, Clara Haskil, Svjatoslav Richter und Rudolf Serkin. Vor allem nicht Glenn Gould, vor allem nicht Horowitz, um nur die Aufsehen erregendsten der Piano-Narzissen zu nennen. Nicht einmal Argerich, die zu launenhaft, nicht einmal Pollini, der zu nüchtern ist. Doch verstummen wir und hören wir Mei Jin zu.

Und sehen wir ihr zuerst einmal zu, wie sie auf der Bühne des Internationalen Klavierfestivals La Roque d’Anthéron erscheint, wo seit drei Jahrzehnten die Blüte der jungen Pianisten aus aller Welt zusammenkommt, um sich mit dem Gesang der Zikaden und dem Quaken der Frösche zu messen – und wo sie Abend für Abend zu beweisen versucht, dass die Kultur die unersetzliche jüngere Schwester der Natur ist, noch reiner und wahrer als diese; Cordelia, die König Lear am Schluss als sein liebstes Kind anerkennt. Denn die Musik wird für uns immer wertvoller sein als die natürlichen Geräusche, denen wir bisweilen Melodien zuschreiben, bis zu dem Augenblick, wo sich Chopin über die Frösche und Schubert über die Zikaden erhebt. Sehen wir ihr zu, wie sie auf der Bühne erscheint, die junge Mei Jin, in ihrem langen, mohnroten, oder vielleicht orientroten Kleid. Sie geht mit schnellen Schritten; ihre Verbeugung ist noch schneller, wenn auch tief: wie die Palme, die Paul Valéry in seinem Gedicht besingt.

Das Recital beginnt, und zwar mit Domenico Scarlatti. In diesem Repertoire imitieren leider die meisten Pianisten die Cembalisten: Bewundert mein perlendes Spiel, ihr Leute. Wie eine Kokette, die ihre Unkulturperlen zur Schau stellt. Die ganz grossen Interpreten haben diese Fälscherpraxis natürlich abgelehnt. Allerdings war ihr Spiel allzu oft nur hochmütige, beunruhigende, steife Kälte.

Doch während wir schwatzen, hat Mei Jin sich gesetzt. Die Hände auf den Knien, konzentriert sie sich fünf Sekunden lang. Dann beginnt sie. Wir haben nichts zu sagen über das, was wir hören. Eine ganze Sonate lang, vielleicht zwei, buchstäblich nichts. Wir sind nicht stumm vor Bewunderung, noch starr vor Entrüstung, noch gelähmt vor Verblüffung. Auf die Gefahr hin, mehr als einen Kollegen zu überraschen, könnten wir sagen, wir merken in diesen sonderbaren Minuten nicht einmal, dass wir nichts zu sagen haben. Unser Schweigen kommentiert sich nicht selbst.

Erst als die Sonate K 87 ertönt, bisweilen «Fuge» genannt, weil darin tatsächlich ein kleines Fugato in h-Moll entwickelt wird, erst in diesem Moment beginnen wir zu begreifen: Mei Jin versucht nicht, ihr Klavier für ein Cembalo auszugeben; sie versucht umgekehrt aber auch nicht, durch die Präsenz des Klaviers die Erinnerung an das Cembalo zu verdrängen. Sie spielt weder zu betont staccato noch zu betont legato. Weder zu regelmässig noch zu sehr rubato. Sie versucht nie, uns von ihrem Talent als Interpretin zu überzeugen, sie trachtet nicht danach, den Vorhang des Tempels zu zerreissen. Doch was geschieht genau? Unter Mei Jins Fingern wird diese melancholische kleine Fuge plötzlich Herz zerreissend.

Was uns in Wahrheit unvermittelt trifft und uns das Herz zerreisst, sind nicht Scarlattis Noten, sondern ihre Anwesenheit unter uns. Das Wunder einer Musik in ihrem ursprünglichen Zustand, wie man sie bisweilen erahnen kann, wenn man die Noten der Partitur liest, in der stets bedrohten Stille unserer inneren Welt, oder dem, was von ihr übrig bleibt. Und Schönheit, das, was man Schönheit nennt, ist wohl das: die ganze, uneingeschränkte Anwesenheit dessen, was war, was tot ist, was man nie erreichen wird; die kristallklare Nennung eines verloren gegangenen Worts, der unbewegliche, unsterbliche, deutliche Umriss dessen, was vergeht, stirbt und flieht, wie ein ins Wasser gezeichnetes Gesicht, das für immer erhalten bleibt.

Später, nach dem Recital, ist immer noch Zeit, uns zu fragen, wer uns ein solches Geschenk macht, und ob wir nicht geträumt haben. Ob für einmal, dem Wunsch Cocteaus gehorchend, nicht einfach nur wir, Kritiker und Zuhörer, es sind, die Talent haben. Oder ist es womöglich etwas Unbestimmtes in unserer Umgebung, das uns getäuscht hat: die Milde der Provence (doch sie begleitet uns so oft in La Roque), die Beschaffenheit des Lichts (doch ändert es sich so stark von einem Abend zum anderen?). Vielleicht die neue Haltung unserer Reisegefährten (denn es schien uns, die Zuhörer, die sich für gewöhnlich in ihrem Sitz zurücklehnen und vor Behagen seufzen, hätten sich leicht vorgebeugt, als wären sie nicht sicher, richtig zu sehen, richtig zu hören)?

Und das war erst der Anfang. Als Nächstes kommt Chopin.

II

ADIEU, KLAVIERE …

Der Blog von Léo Poldowsky

«Musiktelegraph, er könnt ihn übersetzen …»Tristan Corbière

25. Juli

Das Recital von gestern Abend in La Roque d’Anthéron? Der jungen Mei Jin, zweiundzwanzigjährig, amerikanisierte Chinesin, war ein schmeichelhafter Ruf vorausgeeilt. Von den alternden Stardirigenten beweihräuchert und mit einer beachtlichen Technik (China bildet bekanntlich die besten Zirkusartisten aus) und einem reizenden Lärvchen ausgestattet, ist Mei Jin zweifellos ein Spitzenprodukt, ein Konzentrat von pianistischem Hightech, in einer verführerischen Verpackung obendrein, wie die Computer und Handys, deren Design man im gleichen Masse pflegt, wie man ihre Leistungsfähigkeit dopt.

Man könnte den Vergleich noch weiterführen, wenn man böse sein wollte: Wie die Computer, die jedes Jahr über mehr Speicherkapazität und Potenz verfügen, streben die klassischen Pianisten in jeder neuen Generation (also ebenfalls jedes Jahr) danach, sich noch gewaltigere Programme einzuverleiben und diese mit noch dröhnenderen Mitteln zu spielen. Nur verständlich, dass eines der grossen Plattenlabels, genau wie die kleinen vom Untergang bedroht, alles auf dieses neue Phänomen aus China setzt, das, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, den unbestreitbaren Charme des Oxymoron besitzt: Dieser eher schmächtige Körper mit eher zurückhaltender Gestik entfesselt die gleichen Klangorkane wie die Bühnentiger, Elfenbeinhämmerer und Elefanten aus Asien, die vor ihr zu Medienruhm gelangt sind.

Kurz, und um Klartext zu reden: Mei Jin ist der ideale Supermarkt-Regalkopf. Dabei steht eine ganze Menge auf dem Spiel: Die so genannte klassische Musik ist genauso angeschlagen wie die anderen Musikgenres, vermag jedoch vorläufig noch zu überleben. Für die Major-Labels bleibt diese Marktnische erhalten. Nicht etwa, weil die Liebe zu dieser Musik beständiger wäre als diejenige zum Rock oder zum Pop, wie man sich denken kann, sondern ganz einfach deshalb, weil die Musikliebhaber dieser Kategorie weniger Raubkopien machen als die anderen! Sieh an, sind sie etwa ehrlicher? Fördert die klassische Musik vielleicht die Tugend? Leider ist die Erklärung auch hier viel prosaischer: Die Liebhaber von Bach oder Beethoven sind im Allgemeinen alt (die Interpreten dieser Musik werden zwar immer jünger, nicht aber ihr Publikum). Völlig hilflos im Umgang mit den so genannten neuen Technologien, wären sie unfähig, eine Raubkopie von was auch immer zu machen, ganz abgesehen davon, dass sie gar nicht wissen, was eine Raubkopie ist. Es lohnt sich folglich für die Plattenlabels noch, neue KlassikAlben zu produzieren, sofern es sich um «nie dagewesene Phänomene» oder «Pianisten des Jahrhunderts» handelt.

Kommen wir also zu Mei Jin. Jemand hat der jungen Frau wohl geflüstert, dass jeder Pianist, der etwas auf sich hält und in den erlauchten Kreis der grossen Interpreten aufgenommen werden will, ein bisschen Scarlatti spielen muss: Die Gelegenheit, in aller Demut seine Bravour zu zeigen (diese Sonaten erlauben, Funken zu entzünden, wenn sie auch nicht die romantische Feuersglut entfachen), und dass man ohne Pedal spielen kann. Man hört ihr zu, denn dazu ist man schliesslich hergekommen. Und man denkt an den Scarlatti eines Michelangeli, eines Horowitz. Man fragt sich, wie diese Männer eine solche Klarheit frei von Härte zu erreichen vermochten, ohne dass man in ihnen die Stachanows des Stakkato sah.

Mei Jin besitzt unbestreitbar technische Fähigkeiten und Mittel. Nur ist es so, dass man während ihres Spiels ständig an diese Mittel denkt. Die auf welches Ziel gerichtet sind? Erneut: Wenn wir streng wären, würden wir dieses zu perfekte Spiel mit dem verblüffenden Funktionieren eines Computers vergleichen, der beim Schachspiel gegen die grössten Meister gewinnt, ohne zu wissen, dass er gewinnt. Das wäre ungerecht, denn Mei Jin ist auf biedere und beherzte Art menschlich. Doch es ist offenkundig: Sie spielt nicht Scarlatti, sie rezitiert einen Vortrag über westliche Kultur, sie imitiert – so perfekt, dass man sich täuschen könnte (und gerade deshalb täuscht man sich nicht) – das perlende Spiel ihrer Vorgänger. Man kann es ihr nicht übelnehmen: Was ist für einen Chinesen die klassische Musik Europas anderes als zwei auswendig gelernte und zwei Mal rezitierte Lektionen (die Lektion der Werke und diejenige ihrer Interpretation)? Miss Jin imitiert perfekt, doch sie imitiert. Noch bevor sie versucht, sich ihm zu nähern, entfernt sich Chopin von ihr. Das ist natürlich. Unabänderlich.

III

AN DIE MUSIK

Der Blog von Frédéric Ballade

«Do I envy those jacks that nimble leap […]»William Shakespeare, Sonett CXXVIII

26. Juli

Vor Chopins Sonate Opus 35 und nach Scarlatti hörten wir zu unserer Verblüffung nichts Geringeres als Brahms’ Variationen über ein Thema von Paganini, ein so schwergewichtiges Werk, dass es noch heute nur wenige Pianisten in einem Recital zu spielen wagen. Und wenn sie es dennoch tun, dann wählen sie nachher nicht den «Trauermarsch», und schon gar nicht Petruschka zum Abschluss!

Einige Worte zu Mei Jins Brahms. Worte, die, wir geben es schon jetzt zu, unzureichend, oder genauer gesagt, unpassend sind. Die Musik und die Wörter vertragen sich nie sehr gut miteinander, wir Kritiker wissen es besser als jeder andere. Das ist übrigens der Grund, weshalb wir so häufig streng sind: Es ist einfacher, die Abwesenheit von Musik zu beklagen, als ihre Anwesenheit zu würdigen. Ist diese Anwesenheit erwiesen, kann man nur schweigen.

Für Mei Jin sind die Paganini-Variationen kein schwieriges Werk, das es zu meistern gilt, und sei es mit Leichtigkeit. Es ist ein einfaches, einnehmendes, einladendes Werk, ein lustvolles Spielfeld. Verlassen wir für einen Augenblick das Schauspiel der Hände und wenden wir uns dem Gesicht der Interpretin zu. Was fällt uns auf während der schauerlichsten Momente dieser Hexenvariationen (wie Clara Schumann sie nannte)? Dieses Gesicht ist völlig entspannt, völlig gelassen, und mitunter huscht sogar ein leises Lächeln darüber. Die Lippen – die bei so vielen Pianisten von so viel Verkrampfung und Anstrengung zeugen und die Hände so oft Lügen strafen – bleiben bei ihr leicht geöffnet, locker, ruhig: Die Entspannung ist vollkommen. Man hat den Eindruck, ein junges Mädchen zu sehen, das auf seinem Balkon träumt, während die Elfen, ihre Finger, ihr ein Ständchen bringen.

Das Merkwürdige, aber auch Undankbare an Paganinis Capriccio, dem Ausgangspunkt dieser Variationen, ist, dass es nicht so sehr auf einem Thema als vielmehr auf einer Art Grundstruktur aufbaut, einer einfachen Melodie, ähnlich wie der Walzer von Diabelli, der Beethoven zu den bekannten Variationen inspiriert hat (und man wünschte sich, Mei Jin würde sie spielen und zum Singen bringen, wie sie Brahms zum Singen bringt). Paganini selbst findet in diesen paar Noten einen Vorwand zur Akrobatik. Liszt, und nach ihm Brahms, Rachmaninow und Lutoslawski, machen keinen Hehl daraus, dass sie ein ähnliches Ziel verfolgen: die Virtuosität.

Doch das Genie hat – auf jeden Fall bei Brahms – ebenfalls seinen Anteil. Es blitzt überall auf, macht alles zu Schönheit. Die Variationen von Brahms vermögen mit diesen paar Noten eine lange, schreckliche und wunderbare Geschichte zu erzählen, eine Art episches Gedicht voll Lärm und Furor, ein mit tragischer Energie geladenes Shakespeare’sches Stück, das in einer Apotheose glanzvoller Raserei endet. Solcherart beschrieben, scheint es übrigens, als könnte dieses Stück nicht von Frauenhänden gespielt werden. Es ist eine schrecklich virile Geschichte, eine Männerangelegenheit, sowohl wegen der physischen Kraft, die es verlangt, als auch wegen der Art seiner Gefühle und Emotionen. Clara Schumann drückte vielleicht weibliches Entsetzen vor einer so grimmigen Virilität aus, das Grauen, sich einen Weg durch die trotz ihrer Kettenhemden anstössigen Körper einer mittelalterlichen Soldateska bahnen zu müssen.

Mei Jin ist eine junge Frau, zierlicher noch als Clara es war. Sie zerteilt die Menge der Soldaten, die galant zurücktreten, um ihr Platz zu machen, und mit ihren Rüstungen ein funkelndes, wogendes Geschmeide für sie bilden, wie die beiden Hälften eines Flusses, den der Schwan zerteilt. Gleichzeitig ist ihre Weiblichkeit mit einer grossen Kraft verbunden. Mei Jin ist Jeanne d’Arc, unschuldig, doch unbeugsam, vor der die Haudegen niederknien und den Treueeid murmeln. Und diese weibliche Kraft erlaubt ihr, sich in dieser ungeheuerlich virilen Musik zu behaupten, mit sanfter Stimme deren Geschichte männlicher Gewalt zu erzählen, deren Schatz an Zärtlichkeit zu enthüllen, eine Ballade aus ihr zu machen (die Schwester des Opus 10 des gleichen Komponisten), die gewiss dunkel ist, doch dunkel wie ein gnädiger, mütterlicher Schatten, in dessen Schutz wir leben und in Frieden ruhen können.