Chinas Kapitalismus - Ronald Coase - E-Book

Chinas Kapitalismus E-Book

Ronald Coase

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Beschreibung

In rasantem Tempo ist China zur größten Volkswirtschaft hinter den USA aufgestiegen. Nach einer OECD-Studie soll das Reich der Mitte spätestens 2016 die Nummer eins der Welt sein. Vom Kommunismus zum Kapitalismus. Steckt dahinter ein Masterplan der Mächtigen?Nein, sagen Ronald Coase und Ning Wang. Es waren "marginale Revolutionen", die das Land nach und nach für Markt und Unternehmertum öffneten. Kenntnisreich zeichnen Coase und Wang den Lernprozess von Chinas Wirtschaft nach. Kann das Land seinen Ruf als "Werkbank der Welt" abschütteln? Solange staatliche Banken Geld nach dem Grad der Beziehung zu Peking vergeben, werden es Chinas Gründer und Unternehmer schwer haben, ihre Ideen umzusetzen und auf den Markt zu bringen.

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Inhalt

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Impressum

Vorwort

Danksagung

Landkarten

1 Die Lage Chinas bei Maos Tod

2 China im Wandel

3 Wie Chinas Marktreform begann

4 Ein Vogel im Käfig: Marktreform im Sozialismus

5 China entwächst dem Sozialismus: Kapitalismus chinesischer Prägung

6 Von Kapitalismus zu Kapitalismen

Nachwort

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Ronald Coase ist Ökonomie-Nobelpreisträger. Seine Arbeiten auf den Gebieten der Transaktionskosten- und Principal-Agent-Theorien sind von grundlegender Bedeutung für die moderne Sozialwissenschaft, z. B. das Coase-Theorem. Professor Coase ist Clifton R. Musser Professor Emeritus für Ökonomie an der University of Chicago Law School, zudem wissenschaftlicher Berater am Ronald Coase Institute, USA, und Gründer des Ronald Coase Center for the Study of the Economy an der Zheijiang University, China.

Ning Wang ist Assistant Professor an der School of Politics and Global Studies, Arizona State University, USA.

Übersetzung von Nina Sattler-Hovdar, Salzburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

E-Book ISBN 978-3-7992-6706-9

© Ronald Coase and Ning Wang

First published 2012 by PALGRAVE MACMILLAN

First published in English by Palgrave Macmillan, a division of Macmillan Publishers Limited under the title How China Became Capitalist by Ronald Coase and Ning Wang. This edition has been translated and published under licence from Palgrave Macmillan. The authors have asserted their right to be identified as the author of this work.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys temen.

© 2013 Deutsche Lizenzausgabe: Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft • Steuern • Recht [email protected]

Einbandgestaltung: Jessica Joos (Foto: Shutterstock.com)

Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart • www.dtp-text.de

April 2013

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart

Ein Tochterunternehmen der Verlagsgruppe Handelsblatt

Vorwort

In einem Vortrag auf der Chicagoer Konferenz über Chinas Wirtschaftstransformation im Juli 2008 bezeichnete Steven Cheung den wirtschaftlichen Übergang Chinas von einem kommunistischen System zum Kapitalismus als »das großartigste wirtschaftliche Reformprogramm der Geschichte.«1 Cheungs Schlussfolgerung ist zweifellos richtig, doch ebenso außerordentlich ist der Umstand, dass die Abfolge von Ereignissen, die letztlich zu Chinas Kapitalismus führten, nicht programmiert und das Endergebnis völlig unerwartet war. Vielleicht noch erstaunlicher an dieser ganzen Geschichte ist, dass der Übergang zum Kapitalismus unter der Aufsicht der Kommunistischen Partei Chinas erfolgte. Ein höchst anschauliches Beispiel für das, was Hayek als »die unbeabsichtigten Folgen menschlicher Handlungen« bezeichnete.2

1982 veröffentlichte das Institute of Economic Affairs in London Cheungs Abhandlung »Wird China kapitalistisch?« – eine Frage, die er bejahte.3 Cheungs Schlussfolgerung stieß nahezu allenthalben auf schiere Ungläubigkeit. Auch er selbst war in seiner Formulierung eher vorsichtig: »Der Übergang wird nicht schnell vonstatten gehen.«4 Dass er so dachte, ist verständlich. Die jahrelange kommunistische Indoktrinierung, so seine Vermutung, hätte dem chinesischen Volk wohl eine extrem ungünstige Auffassung davon vermittelt, wie ein kapitalistisches System funktioniert. Zudem wäre, wie Cheung betont, eine Veränderung hin zu einem kapitalistischen System voraussichtlich auf den Widerstand der Armee und Regierungsfunktionäre gestoßen, die angesichts einer solchen Veränderung um ihre Positionen gebangt hätten. Vier Jahre später, im Jahr 1986, als die zweite Auflage seiner Abhandlung veröffentlicht wurde, gestand Cheung, »das Tempo der Veränderung unterschätzt«5 zu haben, und schlussfolgerte, dass »die Wirtschaftsreform in China nur in einem erheblichen langsameren Tempo als in den letzten fünf Jahren fortschreiten« könne.6 Tatsächlich aber hielt das Tempo der Veränderungen unvermindert an. Die Auswirkungen der kommunistischen Indoktrinierung auf die Sichtweisen der chinesischen Bevölkerung erwiesen sich, ebenso wie die Widerstände der Armee und Regierungsfunktionäre, als weniger stark als Cheung vermutet hatte. China fand innerhalb einer relativ kurzen Zeit zum Kapitalis-mus.7 In diesem Buch beschreiben wir die Abfolge von Ereignissen, die zu diesem Ergebnis führten.

Angesichts unserer Unkenntnis eines derart komplexen Themas ist es uns nicht möglich, auf alle Aspekte dieses außergewöhnlichen Geschehnisses einzugehen. Es gibt immer noch viel, was wir über Chinas Markttransformation noch nicht wissen. Zudem entsprechen viele der in der Literatur vorgebrachten Fakten zu diesem Thema nicht der Wahrheit. Sowie neue Fakten zum Vorschein kommen, werden Einzelheiten des hier Gesagten zweifelsohne berichtigt werden müssen. Doch am Gesamtbild, das wir hier skizziert haben, wird sich voraussichtlich nichts ändern.

Bei diesem Gemeinschaftsprojekt hat Ning Wang Informationen über Ereignisse in China und deren Interpretation eingebracht. Die beiden Autoren erörterten daraufhin deren Bedeutung und Relevanz, berichtigten Fehler und stimmten ihre Ausführungen entsprechend ab. Das Endprodukt ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit.

Unsere Ausführungen beruhen auf Informationen, die wir aus Gesprächen und einer Vielzahl von Quellen in chinesischer und englischer Sprache zusammengetragen haben (siehe Anmerkungen und Literaturhinweise am Ende des Buches). Unsere Interpretation dieser Informationen mag sich von jener in der bisherigen Literatur unterscheiden; in mehreren wesentlichen Aspekten weicht sie jedenfalls deutlich ab. Aus Gründen der Klarheit und Stringenz in unserer Darstellung haben wir die bestehende Literatur, die immens ist und weiterhin wächst, nur selten direkt eingebunden. Was folgt, ist unsere Schilderung dessen, wie Chinas Kapitalismus zustande kam.

Danksagung

Zunächst möchten wir Stephen Littlechild und Philip Booth vom Institute of Economic Affairs danken, die uns in diesem Gemeinschaftsprojekt von Anfang an ermutigten und unterstützten.

Unsere Arbeit an diesem Buch begann unmittelbar im Anschluss an die Konferenz über Chinas Markttransformation, die vom 14. bis 18. Juli 2008 in Chicago stattfand. Nach Fertigstellung der ersten Rohfassung luden wir zum Chicago Workshop on the Industrial Structure of Production ein, der vom 19. bis 23. Juli 2010 stattfand. Von den Teilnehmern der Konferenz und des Workshops haben wir viel gelernt, insbesondere in jenen Fällen, in denen wir nicht einer Meinung waren. Unser Dank gilt hier auch Marjorie Holme, Lennon Choi und Joey Nahom für ihre hervorragende logistische Betreuung, ohne die weder die Konferenz noch der Workshop möglich gewesen wären.

Von jenen, die die erste Rohfassung lasen, erhielten wir detaillierte Rückmeldungen von Stephen Littlechild, Douglass North, Mary Shirley und Chenggang Xu. Zu einzelnen Kapiteln erhielten wir auch Anmerkungen von Lee Benham, Philip Booth und Steven Cheung. Wir danken ihnen für ihre Kritik und ihre Anregungen, die zu vielen Verbesserungen geführt haben. Besonderer Dank gebührt auch Hu Wei für seine Hilfe bei den Landkarten.

Die beiden Autoren sind in den vergangenen Jahren monatlich zusammengekommen, um an diesem Buch sowie an damit verbundenen Projekten zu arbeiten. Wir danken auch unseren Universitäten, der University of Chicago Law School (im Fall von Ronald Coase) und der School of Global Studies sowie später der School of Politics & Global Studies an der Arizona State University (im Fall von Ning Wang). Der ehemalige Dekan Saul Levmore ebenso wie der aktuelle Dekan Michael Schill von der University of Chicago Law School haben unsere gemeinsame Arbeit großzügig unterstützt.

Auch den vielen Einzelpersonen, die uns mit ihren Informationen und Ansichten geholfen haben, möchten wir ausdrücklich danken. Es sind so viele, dass sie hier gar nicht alle namentlich genannt werden können. Besonders erwähnen möchten wir jedoch folgende: Alexandra und Lee Benham, Linda und Steven Cheung, Jin Lei, Liang Xiaowei, David Pickus, Richard Sandor, Guang-zhen Sun, Xiao Geng, William Xiao, Xiong Jialong, Xu Liangying, Wang Tianfu, Zhang Weiying, Dingxin Zhao, Zhou Qiren, Zhou Weibing und Zhu Xiqing.

Landkarten

Karte 1: China – Verwaltungsstruktur

Karte 2: China – Verwaltungsstruktur mit Sonderwirtschaftszonen

1 Die Lage Chinas bei Maos Tod

Als Mao Zedong, Gründer der Volksrepublik China und ab 1943 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas, am 9. September 1976 verstarb, war die Kulturrevolution in China im vollen Gange, die Mao ein Jahrzehnt zuvor auf den Weg gebracht hatte.1 Sie war als Beginn einer Reihe von Revolutionen gedacht, die den Sozialismus verjüngen, mithin von kapitalistischer Korruption und starrer Bürokratie befreien sollte.2 Der Kulturrevolution gingen mehrere soziale und politische Kampagnen voraus, von Mao unermüdlich vorangetrieben in dem Bestreben, China in das gelobte sozialistische Paradies zu führen. Mao glaubte, dass China sich vom Joch seiner Armut befreien und den goldenen Weg zum Sozialismus beschreiten könne, wenn – und nur wenn – das chinesische Volk, vereint in Gedanken und Taten, alle seine Talente und Energien in die gemeinsame Sache einbrächte.3 Selbstlos und besitzlos würde das chinesische Volk wiedergeboren werden. Befreit von der Bürde der Geschichte und dem chinesischen Feudalismus einerseits und unbelastet von materiellen Interessen und dem westlichen Kapitalismus andererseits würde das chinesische Volk einmütig dem Ruf des Sozialismus folgen. Statt das Paradies jedoch bescherte Mao mit seiner zutiefst fehlgeleiteten Ideologie und seinen wenig durchdachten Revolutionen dem chinesischen Volk nicht nur die tödlichste Hungersnot in der Geschichte der Menschheit, sondern nahm ihm auch seine kulturellen Wurzeln und den modernen Fortschritt.4 Ein dynamisches Volk wurde so innerhalb kürzester Zeit zu apathischen Rädchen im sozialistischen Getriebe.

Es mag schwer zu glauben sein, doch so groß wie das Desaster war, das Mao über das chinesische Volk brachte, so groß empfand man auch seine unauslöschlichen Errungenschaften. »In letzter Instanz«, so schrieb The Economist, »muss Mao als einer der großen Macher der Geschichte akzeptiert werden: für seine Entwicklung einer im ländlichen Kleinbauerntum zentrierten Revolutionsstrategie, die der Kommunistischen Partei Chinas die Machtergreifung ermöglichte, entgegen allen marxistischen Vorgaben; für die Lenkung der Wandlung Chinas von einer feudalen Gesellschaft, zerrüttet und ausgeblutet durch Kriege und Korruption, hin zu einem geeinten, egalitären Staat, in dem niemand Hunger leidet; und für das Wiederaufleben eines nationalen Stolzes und Selbstbewusstseins, so dass sich China, in Maos eigenen Worten, im Reigen der Großmächte behaupten konnte.«5 Auch wenn The Economist hinsichtlich des angeblich nicht vorhandenden Hungers in Maos China schwer irrte, konnten nur wenige die Inspiration und den Einfluss in Abrede stellen, die Maos Revolution auf sowohl China als auch auf die restliche Welt hatte. Richard Nixon, der 1972 die diplomatischen Beziehungen zwischen China und den USA wieder aufnahm, beschrieb Mao als »einzigartigen Mann in einer Generation großer Revolutionsführer«.6 Der pakistanische Premierminister Zulfikar Ali Bhutto, der letzte Staatsmann, der sich vor Maos Tod noch mit ihm traf, nannte ihn gar »den Sohn der Revolution, deren wahre Essenz, deren Rhythmus und Romantik, der begnadete Architekt einer brillanten neuen Ordnung, die die Welt in ihren Grundfesten erschüttert«, und setzte noch einen drauf: »Männer wie Mao gibt es in hundert Jahren nur einmal.«7

Mit diesem höchst widersprüchlichem Erbe trat China seine Reise in das postmaoistische Zeitalter an, ohne einen strategischen Fahrplan in der Hand, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen. Niemand hätte sich damals auch nur im Entferntesten träumen lassen, dass die Volksrepublik China bloß drei Jahrzehnte später ihr 60-jähriges Bestehen als boomende Marktwirtschaft feiern würde. Diesen unglaublichen Wandel oder besser: den Weg, den China zurücklegen musste, um dorthin zu gelangen, kann man nur dann verstehen, wenn man sich bewusst macht, wo alles begann – im China unter Mao.

Chinas postmaoistischer Wandel hin zu einer Marktwirtschaft hat insofern eine besondere Faszination, als die postmaoistische Reform keineswegs der erste Versuch Chinas war, seine sozialistische Wirtschaft neu aufzustellen. Bereits 1958 hatte Mao höchstpersönlich eine kühne Kampagne zur Dezentralisierung des wirtschaftlichen und politischen Systems des Landes in Angriff genommen.8 Doch Maos eifrige Bemühungen, China vom Stalinismus weg zu manövrieren, mündete im katastrophalen Großen Sprung nach vorn (1958–1961). Nach einer kurzen Rückzugs- und Erholungsphase in den frühen 1960er-Jahren läutete Mao die Kulturrevolution ein (1966–1976), mit der er einen neuerlichen Vorstoß unternahm, die chinesische Wirtschaft und politische Struktur zu dezentralisieren.9 Beide Versuche scheiterten kläglich.

Hinsichtlich der Regierung des Landes war die postmaoistische Reform als Fortführung der großen gemeinsamen Sache angelegt, die Mao ins Leben gerufen hatte. Am 28. März 1985 stellte Deng Xiaoping in einem Treffen mit einer Delegation der Liberalen Demokratischen Partei Japans erstmals die jüngste Wirtschaftsreform Chinas als »zweite Revolution«10 Chinas vor – nach der ersten, die unter Maos Ägide zur Gründung der Volksrepublik geführt hatte. Deng, weithin geachtet als »Architekt der chinesischen Wirtschaftsreform«, sollte diese Bezeichnung noch bei vielen weiteren Anlässen wiederholen, sie fand sogar Eingang in die offizielle Terminologie, die in Verbindung mit der postmaoistischen Wirtschaftsreform verwendet wurde. Wenn Deng die Wirtschaftsreform jedoch als »zweite Revolution« bezeichnete, muss er die erste Revolution als gescheitert betrachtet haben, trotz der beachtlichen Vereinigung Chinas nach mehr als einhundert Jahren an Tumulten und Krieg. Doch fragt man sich, wenn die zweite Revolution das vollendete, was die erste nicht erreicht hatte, was genau hatte Mao verabsäumt? Was hatte Mao daran gehindert, sie zu einem erfolgreichen Ende zu bringen? Worin hatten die Mängel der ersten Revolution bestanden, die Deng auszumerzen versuchte, wo war sie an ihre Grenzen gestoßen?

I

Als Mao 1949 auf dem Platz des himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) mit seinem unverkennbaren Hunan-Akzent ausrief, das chinesische Volk habe sich durchgesetzt, jubelte ihm eine ganze Nation voller Überschwang und Freude zu. Hu Feng, ein berühmter Literaturkritiker und Schriftsteller, der erst kurz davor aus Hongkong zurückgekehrt war, schrieb anlässlich dieses historischen Augenblicks ein über 4000 Zeilen langes Gedicht, »Die Zeit hat begonnen«.11 Nach dem langwierigen, gewaltsamen und demütigenden Zusammenbruch der Qing-Dynastie im Jahr 1911, gefolgt von jahrzehntelangen internen Kämpfen zwischen verschiedenen Kriegsherren, einem grauenhaften Widerstandskrieg gegen Japan und einem blutigen dreijährigen Bürgerkrieg war China endlich wieder als unabhängige Nation vereint. Fast ein Jahrhundert lang hatte das chinesische Volk unter Krieg und Aufruhr gelitten und sehnte sich nun nach Frieden und einem besseren Leben.

Doch der vermeintliche Weg zu Frieden und Wohlstand war tückisch. Wie viele andere Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg, als ein starker sozialistischer Wind wehte, ihre Unabhängigkeit erlangten, fiel auch China dieser Doktrin zum Opfer. Von der Ideologie her bekannte sich die Kommunistische Partei Chinas von Anfang an zum Kommunismus, d. h. bereits 1921, als sie mit Hilfe der Kommunistischen Internationale in Moskau gegründet wurde.12 Doch die Beziehung zwischen Moskau und der Chinesischen Volkspartei war stets zwiespältiger Natur.13

Anfangs favorisierte Moskau die Nationalistische Partei Chinas (chinesisch » Kuomintang«) – eine ältere, größere und in ihren eigenen Augen »revolutionäre« Partei, gegründet 1919 von Sun Yat-sen – und drängte die chinesischen Kommunisten, sich der Kuomintang anzuschließen, welche unter Suns Führung ihre Türen für die Kommunisten öffneten. Doch Sun starb am 12. März 1925, und sein Nachfolger Chiang Kai-shek war weniger davon angetan, die Kommunistische Partei aufzunehmen. Knapp zwei Jahre später hatte Chiang eine dreimonatige Reise nach Moskau zum Studium des sowjetischen Systems unternommen. Er hatte sich mit Leo Trotzki und anderen führenden Politikern Russlands getroffen und war zu dem Schluss gelangt, dass das sowjetische Modell für China nicht geeignet sei.14 1927 wandte sich Chiang daher gegen die Kommunisten und konsolidierte das Zentrum seiner Macht in der Kuomintang. Ein Jahr später gründete er die nationalistische Regierung in Nanjing und zwang die Kommunistische Partei Chinas in den Untergrund. Moskau wies daher die Kommunistische Partei Chinas an, in den Städten Aufstände zu organisieren, ganz auf Linie der marxistischen Lehre und der bolschewistischen Revolution. Der Schuss ging jedoch nach hinten los, denn die chinesischen Städte waren von Streitkräften der Regierung schwer bewacht. So überlebte die kommunistische Bewegung denn auch nur in einigen wenigen »sowjetischen Basislagern« – in abgelegenen Regionen verstreute Gebiete, die von der chinesischen kommunistischen Miliz kontrolliert wurden und für die nationalistische Armee schwer zu erreichen waren. Im Oktober 1934 verloren die kommunistischen Truppen einen ihrer größten und am längsten überlebenden ländlichen Stützpunkte in der Provinz Jiangxi, unter der Führung von Otto Braun (in China bekannt als Li De), einem von der Kommunistischen Internationale entsandten Militärberater, der innerhalb der Kommunistischen Partei eine befehlshabende Rolle übernahm.15 Zur Flucht gezwungen, begaben sich die überlebenden Kommunisten auf eine lange, gefährliche Reise vom Süden in den Norden Chinas, auf der sie durch Gebiete mussten, die unter schwerer Bewachung der nationalistischen Armee standen, von feindlichen ethnischen Minderheiten und Bandenchefs kontrolliert wurden, oder auch Gebiete waren, die kaum je ein Mensch zu Gesicht bekam, etwa schneebedeckte Gebirge und Sumpflandschaften. Nach dem Ende dieser Flucht in Shaanxi im Oktober 1935 gab Mao ihr sehr bald den Namen »der Lange Marsch«.16 Ein Jahr später schlossen sich ihm zwei Trupps kommunistischer Soldaten an. Sie machten anschließend Yan’an, eine alte, heruntergekommene Stadt im Norden von Shaanxi, zum Sitz ihrer Regierung. Yan’an sollte für viele progressiv denkende junge chinesische Studenten sowie westliche Sympathisanten zum Symbol der Hoffnung werden und blieb bis 1948 das Zentrum der kommunistischen Revolution Chinas.17 Während des Langen Marsches ergriff Mao im Januar 1935 nach der Konferenz von Zunyi den Vorsitz der Partei und setzte Braun aufgrund seiner gescheiterten militärischen Führung ab. Obwohl Mao zum unumstrittenen Führer der Kommunistischen Partei Chinas wurde, genoss er nie die Gunst Moskaus. Isoliert und trotzig in den Höhlen von Yan’an ausharrend wurde Mao von Stalin gar als »Höhlenmarxist« verhöhnt.18

So markierte der Lange Marsch letztlich den Beginn der Wandlung der Kommunistischen Partei Chinas hin zu einer gänzlich chinesischen Partei, die sich von Moskau lossagte.19 Zwar stellte Mao Moskau nie direkt in Frage, doch konnte die Comintern das Gebaren der Kommunistischen Partei Chinas nach dem Machtaufstieg Maos nicht mehr diktieren. Mao verlor im Zuge des Langen Marsches mehr als 90 Prozent seiner Roten Armee, doch die Überlebenden waren entschlossen und wollten den Sieg. Sie bildeten später die stählernen Soldaten, das Bollwerk der kommunistischen Revolution Chinas.20 Darüber hinaus gewannen die Kommunisten ein weitaus größeres Gebiet im Norden Chinas, in dem sie sich ausbreiten konnten. Im Gegensatz zu den abgelegenen Bergregionen im Süden, wo sie vor dem Langen Marsch gekämpft hatten, bot der Norden Chinas eine breitere Plattform für die Konkurrenz mit Chiang Kai-shek. Die Kommunisten konnten ihre Gefolgsleute nun aus einer weit größeren Bevölkerung rekrutieren. Aufgrund der Nähe zur nördlichen Grenze Chinas konnten sie außerdem einen sicheren Verbindungsweg zu den Sowjets herstellen. Dazu kam noch, dass die Regierungsstreitkräfte aufgrund der starken Präsenz lokaler Kriegsfürsten nicht so dominant waren wie im Süden. Und nicht zuletzt zwang die japanische Invasion Chinas die Regierung in Nanjing in die Defensive und später in die Flucht, wodurch sich für die Kommunisten im Untergrund eine selten gute Gelegenheit bot, sowohl militärisch als auch politisch zu wachsen. Nach der Kapitulation Japans 1945 sah sich Chiang Kai-shek daher sehr bald einem alten Rivalen gegenüber, der viel stärker war als zuvor und auf den anschließenden Bürgerkrieg viel besser vorbereitet war. Angesichts einer korrumpierten Behördenbürokratie, einer entmutigten Armee und einer schlecht gelenkten Wirtschaft musste Chiang nach nur drei Jahren nach Taiwan fliehen und das Festland seinem Gegner Mao überlassen.

Das Verhältnis zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und Moskau besserte sich bis zur Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 nicht merklich. Danach konnte Stalin Mao nicht länger ignorieren, noch war es den sowjetischen Interessen dienlich, wenn er einen Keil zwischen die Kommunisten und die Kuomintang trieb. Kaum zwei Monate nach der Gründung der Volksrepublik, Mitte Dezember 1949, unternahm Mao, voll des Tatendrangs, seine erste Auslandsreise überhaupt. Sie führte ihn nach Moskau.21 Dort traf er sich, zum ersten und letzten Mal in seinem Leben, mit Stalin – jenem Mann, der in der Vergangenheit die Zusammenarbeit mit Chiang Kai-shek vorgezogen und sich geweigert hatte, Mao als Führer der Kommunistischen Partei Chinas anzuerkennen. Angesichts des bevorstehenden Ende des Bürgerkriegs, einer völlig daniederliegenden Wirtschaft und einem wenig gewogenen internationalen Umfeld lag Mao viel daran, einen politischen und militärischen Verbündeten zu gewinnen.22 Das war das Hauptmotiv für seine Reise. Sein Gastgeber allerdings war davon weniger angetan. Zwar leitete Stalin ihre erste persönliche Begegnung mit einer versöhnlichen Geste ein, doch musste Mao zwei Monate daran setzen, um Moskau zu einem diplomatischen Bündnis zu bewegen. Letztlich willigte Stalin ein, und die beiden Seiten unterzeichneten am 14. Februar 1950 ein umfassendes Abkommen über Freundschaft, Bündnis und gegenseitigen Beistand. Triumphierend trat Mao seine Rückreise an, wohl ohne erkannt zu haben, dass sich China mit diesem Abkommen dem Stalinismus unterordnete; die schmerzlichen Bemühungen, sich von dessen Einfluss zu befreien, sollten Mao für den Rest seines Lebens begleiten.

Dennoch wurde in den ersten drei Jahren der Volksrepublik China (1949– 1952) rasch wieder Ordnung hergestellt, vorangetrieben von einer disziplinierten und engagierten staatlichen Bürokratie und einer starken gemischten Wirtschaftsordnung. Die chinesische Wirtschaft erholte sich nachhaltig, trotz einer hasserfüllten und gewaltsamen Kampagne der Landreform, in der das neue Regime auf aggressive Weise ein Klassendenken in der ländlichen Gesellschaft vorantrieb. Als Hindernis für den anschließenden wirtschaftlichen Wiederaufbau erwies sich jedoch die Doktrin des Kommunismus – das Ergebnis der Vorreiterrolle der Kommunistischen Partei Chinas im Rahmen der chinesischen Revolution, aus der die Volksrepublik hervorging. Mit zunehmender Institutionalisierung des Sozialismus, insbesondere im Zuge des ersten Fünfjahresplans (1953–1957), der nach sowjetischem Vorbild und mit Hilfe von Moskau entstand, erkannte die neue Regierung die Stärke einer zentralisierten Macht in der Mobilisierung von Ressourcen und Stimulierung von Wachstum.23 Doch die Kollektivierung kettete die ärmlichen Kleinbauern an das Land und die Arbeiter an Arbeitsgruppen, wodurch das kurzzeitige Aufblühen eines freien Unternehmertums in Stadt und Land ein jähes Ende fand. In den folgenden Jahren kamen zu den ohnehin schon fatalen Mängeln der zentralen Planung an sich – mangelnde Anreize und Initiativen für jene am untersten Ende der sozialen Pyramide, mangelnde Information und Verantwortlichkeit für jene am obersten Ende – noch die unvermeidbaren Fehler hinzu, die beim Erlernen und Umsetzen des neuen, allumfassenden sozialistischen Systems begangen wurden, sowie Neid und Missgunst im allseitigen Streben nach Macht sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene.

Die größte Tragik war jedoch, dass die chinesische Politführung mit ihrem blinden Vertrauen in eine fremde Doktrin ein völlig starres Dogma entstehen ließ und dieses ohne jede Kritik als Allheilmittel akzeptierte. Sogar ein so unbeirrbarer und unabhängiger Staatsmann wie Mao tappte in diese Falle und verrannte sich im Kommunismus als einzige Möglichkeit, China zu Frieden und Wohlstand zu führen. Aufgrund ihres bedingungslosen Bekenntnisses zu und später auch ihrer starken Identifizierung mit dem Kommunismus mutierte die Kommunistische Partei Chinas zunehmend von einem Boten einer Ideologie zu einer Marionette derselben. Zugleich entwickelte sich auch der Kommunismus selbst von einem Instrument, das Frieden und Wohlstand nach China bringen sollte, zu einem obersten, nicht verhandelbaren Ziel.24 Durch diese selbst auferlegte, gleichsam doppelte Entfremdung geriet die Kommunistische Partei Chinas und mit ihr das chinesische Volk in den dunklen Tunnel einer in sich geschlossenen Ideologie. Erst nach dem Tod Maos sah die Partei, die in ihrer eifrigen Konvertierung zum Marxismus alle chinesischen Traditionen voller Verachtung über Bord geworfen hatte, wieder Licht, und zwar in der pragmatischen Wurzel des Konfuzianismus, die zur Suche nach der »Wahrheit in den Fakten« mahnt.

Doch wie schon ein altes chinesisches Sprichwort sagt: Ein ausgehungertes Kamel ist größer als ein Pferd. Denn weder das Desaster des Großen Sprungs nach vorn – der Millionen von Bauern in den Hungertod trieb – noch die Katastrophe der Kulturrevolution konnte die wirtschaftliche Infrastruktur, die unter Mao geschaffen worden war, gänzlich zunichte machen; auf diesem Fundament baute die postmaoistische Reform auf.

Hinsichtlich der wirtschaftlichen Errungenschaften Chinas unter Mao bleiben akademische Kreise weiterhin gespalten.25 Nach konventioneller Sichtweise wird die wirtschaftliche Reform Chinas als totale Ablehnung dessen dargestellt, was zuvor unter Mao geschehen war. So bezeichnete ein Autor etwa die postmaoistische Reform als »die große Umkehr«.26 Zu einem positiveren Urteil kommt eine revisionistische Sichtweise, die eine Kontinuität, wiewohl überschattet und nicht auf den ersten Blick erkennbar, zwischen Maos Wirtschaft und der postmaoistischen Reform herausstellt. Durch diesen Prozess wurde den wirtschaftlichen Errungenschaften Chinas in Maos Ära die gebührende Anerkennung zuteil.27 Dennoch besteht eine massive Diskrepanz zwischen Maos wirtschaftlicher Bilanz und den Versprechen, die er den Bauern und Arbeitern Chinas im Namen des Sozialismus gemacht hatte. Als Mao auf dem Sterbebett über seine Nachfolge an die Macht und das Schicksal der Kulturrevolution nachsann, war die einst himmelhohe Moral am Boden, eine einst vermeintlich klare Vision vom Sozialismus eingetrübt und die einst pulsierende sozialistische Dynamik von innen verkümmert. Die große Mehrheit schien zwar mit einem Leben der Passivität und Indifferenz zufrieden, doch ihre Enttäuschung im Innersten saß tief. So hatten sie, auch wenn sie selbst keine Alternative artikulieren konnten, für diese doch ein offenes Ohr. Zugleich fragten sich so manche Denker, sowohl innerhalb der herrschenden Klasse als auch außerhalb derselben, »Wenn dieses neue China nicht das ist, wofür wir und unsere Mitstreiter gekämpft haben, welchen Weg sollte China dann einschlagen?«

II

Ein auffallender Wesenszug des Sozialismus ist ironischerweise sowohl dessen Vorzug als auch dessen Verhängnis: sein inhärenter Antipopulismus. Im Gegensatz zur Demokratie nämlich, die gezwungen ist, auf den durchschnittlichen Wähler einzugehen, können sich sozialistische Regierungen den Luxus leisten, die Interessen der Mehrheit zu ignorieren oder diesen gar zu schaden, und rechtfertigen ihre Aktionen dann häufig mit einer hochfliegenden, doch inhaltsleeren Parole. In seiner klassischen Verteidigung der ökonomischen Logik des Sozialismus (The Economics of Control, 1944) eröffnet Abba Lerner seine Argumentation mit der Aussage, »das fundamentale Ziel des Sozialismus ist nicht die Abschaffung des privaten Eigentums, sondern die Erweiterung der Demokratie«.28 Auf den Sozialismus in Maos China traf dies jedoch nicht zu. Die größte gesellschaftliche Klasse Chinas stellten die Bauern, die zu Maos Zeit über 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Dennoch waren es die Bauern, die unter den Folgen der Kollektivierung am meisten zu leiden hatten. So erlaubte es die 1953 verabschiedete vereinheitlichte Beschaffung landwirtschaftlicher Erzeugnisse der chinesischen Regierung, die Industrialisierung zu subventionieren.29 Die 1958 erfolgte Einführung der Haushaltsmeldepflicht (hukou) schränkte zudem die Mobilität der Bevölkerung, insbesondere vom Land in die Stadt, sehr stark ein.30 Diese beiden politischen Maßnahmen trafen die bäuerliche Gesellschaft hart. Die einzige populistische Aktion der Kommunistischen Partei Chinas war die kurzlebige Landreform (1947–1952), bei der reiche Grundbesitzer zwangsenteignet wurden und arme Bauern für ihre politische Unterstützung des neuen Regimes etwas Land bekamen.31 Doch nahezu unmittelbar nach dem Ende der Landreform begann die Regierung, den Grund und Boden wieder Kollektivbetrieben einzuverleiben. Die Bauern verloren ihr Land, zunächst an ländliche Genossenschaften und später an die Kommunen. 1956 jubelte Mao über die »Flutwelle des Sozialismus« als reinigenden Effekt für das ländliche China.32 Doch 30 bis 40 Millionen verhungerten elendiglich während des Großen Sprungs nach vorn – eine Tragödie, die sich vorwiegend auf ländliche Gebiete konzentrierte. Auch wenn sich das ländliche China unter dem System der Kommunen weniger chaotisch darstellte: Was sich nicht änderte, war der allgegenwärtige Hunger. Wie Yang Jisheng, ein leitender Korrespondent der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua trefflich bemerkte, konnten die meisten chinesischen Bauern nach der Einführung der einheitlichen Beschaffung von Getreide »ihre Bäuche nicht mehr füllen«.33 Infolge dieser und anderer sozial- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen eklatant antibäuerlicher Prägung hatten zwei Drittel der Bauern 1978 ein niedrigeres Einkommen als in den 1950er-Jahren, bei einem Drittel war es sogar noch niedriger als in den 1930er-Jahren vor der japanischen Invasion Chinas.34

Doch trotz ihrer zahlenmäßig kolossalen Größe bereitete die hungernde, vergrätzte, doch machtlose Bauernschaft den Behörden keine großen Sorgen. Eine andere Gruppe hingegen, die angesichts Maos Politik mindestens genauso, wenn nicht sogar noch frustrierter war, stand mitten im Zentrum der chinesischen Politik. Im Zuge der diversen politischen Kampagnen Maos nämlich waren Militär- und Parteifunktionäre reihenweise ihrer Ämter enthoben worden. Viele wurden hinter Gitter gebracht, einige verloren ihr Leben. Zahlreiche dieser in Ungnade gefallenen Veteranen waren Opfer von Machtkämpfen mit Mao oder mit jenen, die Mao nahe genug standen, um ihre eigenen Agenden in seinem Namen zu verfolgen. Manche waren mutig genug, Meinungen zu äußern, die von Maos Position abwichen, einige wenige gingen sogar auf offenen Konfrontationskurs; manche Maßnahmen, die Mao ergriff, waren so extrem, dass es für jeden unabhängig denkenden Menschen schmerzlich schwierig gewesen sein muss, seinen Unmut nicht zu bekunden. Da Toleranz nicht zu den Qualitäten zählte, die von Mao geschätzt wurden – oder von der Diktatur des Proletariats gar gestattet waren – wurden kurzerhand Millionen von »Rechten« bzw. »kapitalistischen Abweichlern« geschaffen.

Liu Shaoqi, 1949 noch der zweite Mann nach Mao in der Parteihierarchie und Vorsitzender Chinas zu Beginn der Kulturrevolution, war schutzlos ausgeliefert, als er zur Nummer Eins dieser kapitalistischen Abweichler erklärt wurde.35 Als Nummer Zwei der Abweichler folgte kein Geringerer als Deng Xiaoping, der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, der nach Maos Tod als Chinas wichtigster Politiker wieder auf den Plan trat und den Markt in China erneut willkommen hieß.36 Konfrontiert mit einer Schar von Rotgardisten, bereit, jeglichen Feind des Sozialismus zu vernichten, hielt Liu in seinen Händen ein Exemplar der Verfassung zur Verteidigung seiner Rechte in die Höhe, jedoch vergebens. Liu wurde ohne Prozess und ohne jegliche Anhörung seines Amtes enthoben und unter Hausarrest gestellt, bevor er heimlich aus Peking deportiert und in ein Gefängnis gebracht wurde. Nach wiederholter körperlicher Misshandlung und ohne Zugang zu medizinischer Behandlung starb Liu aus ungeklärter Ursache unter einem Pseudonym am 12. November 1969 in der Provinz Henan.

Auch Zhu Rongji, der spätere Premierminister Chinas (1998–2003), wurde als »Rechter« abgestempelt, er verlor 1958 seinen Posten im staatlichen Planungsausschuss wegen seiner Kritik am Großen Sprung nach vorn.37 Erst 1962 wurde er wieder eingestellt, verlor seinen Posten aber erneut 1970 im Zuge der Kulturrevolution. Die nächsten fünf Jahre verbrachte er im Exil auf dem Land. Zhu wurde erst 1978 rehabilitiert.

Viele Parteispitzen ließen im Zuge der Kulturrevolution ihr Leben. Sechs von zehn chinesischen Marschällen (dem höchsten militärischen Rang in der Volksbefreiungsarmee) überlebten sie nicht, darunter auch Peng Dehui, der erste Verteidigungsminister Chinas (1954–1959). Jene Funktionäre indes, die sie überlebten, wollten die Politik Maos nicht fortgesetzt sehen. Nachdem sie erlebt hatten, wie die Versprechen der maoistischen Ideologie nach und nach gebrochen worden waren, hatten sie allen Grund, ihre »rechten«, kapitalistischen Ansinnen zu verteidigen, die Mao geschmäht und abgelehnt hatte. Mit ihrem Beitritt zur Kommunistischen Partei Chinas hatten sie ihr Leben riskiert, in der Hoffnung, dem chinesischen Volk Frieden und Wohlstand zu verschaffen. Mit dem Tod Maos ahnten sie nun, dass ihre Chance nahte. Nach zwei vergeudeten Jahrzehnten der politischen Kampagnen und Klassenkämpfe war es für China an der Zeit, sich wieder auf die Wirtschaft zu konzentrieren. Während einer seiner ersten Besuche Chinas in den frühen 1980er-Jahren traf sich Steven Cheung mit einer Gruppe von Regierungsvertretern in der Zentralen Parteischule der Kommunistischen Partei in Peking. Er war erstaunt über die positive Resonanz der Zuhörerschaft auf seine Warnung: »Ihr Leute habt das Land in den Abgrund gefahren. Jetzt müsst ihr es wieder flott machen.«38

III

Keine Gruppe erfuhr unter Mao vermutlich mehr Schmach und Leid als die I ntellektuellen. Diese stellten im kaiserlichen China eine hochgradig meritokratische, aber offene Gruppe dar, deren Mitglieder die Prüfung für den Staatsdienst bestanden hatten, und bildeten einen integralen Bestandteil der herrschenden Hierarchie. Mit ihrer überzeugten Zuwendung zum Sozialismus und ihrem radikalen Antitraditionalismus war die Kommunistische Partei Chinas indes ein Garant für eine stürmische Beziehung zwischen der neuen Regierung und ihren gebildetsten Mitgliedern. Maos Persönlichkeit tat sein Übriges.39 Als gieriger Leser und begabter Autodidakt, stolz und trotzig im Geist, machte Mao aus seinem Misstrauen in formale Bildungswege nie einen Hehl. In seiner Jugend stieg Mao für ein halbes Jahr aus der höheren Schule aus und las sich in einer Provinzbibliothek durch eine lange Liste von Büchern durch, die er selbst zusammengestellt hatte.40 Als er im Alter von 24 Jahren nach Peking kam, arbeitete er zunächst als Assistent an der Bibliothek der Pekinger Universität, wo er Zeitungen und Zeitschriften in einem Leseraum für Universitätsprofessoren studierte. Kühn und neugierig wie er war, ließ er keine Gelegenheit aus, um jene Professoren, denen er zuarbeitete, zu befragen oder in Gespräche zu verwickeln. Nur wenige zeigten jedoch sonderlich viel Respekt für den jungen Mann, der kaum StandardMandarin sprach. Diese entmutigende, frustrierende Erfahrung mit den Universitätsprofessoren hinterließ bei Mao keinen positiven Eindruck von den chinesischen Intellektuellen und dem formalen Bildungssystem, das sie repräsentierten.41 Maos späterer Kampf um die Macht an der Spitze der Partei gegen Wang Ming und andere, die den Marxismus in der Sowjetunion studiert hatten, verstärkte nur seine Vorbehalte und seine Verachtung gegenüber dem universitären Bildungssystem und dessen Verkörperung, den modernen Intellektuellen.

In der Geburtsstunde der Volksrepublik China zogen es viele gebildete Eliten vor, auf dem Festland zu bleiben – nicht etwa aus überzeugtem Glauben an den Marxismus, sondern aus Enttäuschung über die korrupte und flüchtende nationalistische Regierung.42 Einige chinesische Wissenschaftler, die im Westen ausgebildet worden waren, kamen in die neu gegründete Volksrepublik zurück, darunter auch Qian Xuesen, Mitbegründer des Jet Propulsion Laboratory am California Institute of Technology (Caltech) und späterer Vater des chinesischen Raketen- und Weltraumprogramms.43 Doch die Kommunistische Partei war auf die chinesische Intelligentia nicht gut zu sprechen.44

Geschichtlich betrachtet war China stark vom Konfuzianismus geprägt. Die gebildeten Eliten genossen einen zentralen und privilegierten gesellschaftlichen Status.45 Als Interpreten und Botschafter des Konfuzianismus kam ihnen eine wichtige Rolle in der Legitimierung der politischen Ordnung und Wahrung des moralischen Kompasses in der Gesellschaft zu. Als Beamte übten sie eine direkte politische Macht am kaiserlichen Hof aus und stellten so ein institutionelles Gegengewicht zur imperialen Macht des Kaisers dar. Darüber hinaus bildeten sie den Kern einer lokalen Bildungselite (in der englischsprachigen Literatur daher häufig als » Gentry Class« bezeichnet), die auf örtlicher Ebene, jenseits des zentralisierten Zugriffs der kaiserlichen Gewalt, für die Verteilung öffentlicher Güter und die Wahrung der sozialen Ordnung sorgte. Doch unter dem Sozialismus wurden alle diese Funktionen von der Kommunistischen Partei Chinas vereinnahmt.46

Überzeugt von dem als allmächtig und unfehlbar gepriesenen Sozialismus sah Mao für die Intellektuellen im sozialistischen China eine begrenzte Rolle. Dennoch bemühte sich die Regierung zunächst, eine funktionierende Beziehung zu ihnen aufzubauen, erkannte sie doch deren potenziellen Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufbau. Die Intellektuellen ihrerseits fühlten sich unterlegen und beschämt. Sie feierten das Ende des Krieges und hießen Mao und seine Armee in Peking willkommen.47 Dass sie an der Befreiung der Nation und den Kämpfen des revolutionären Krieges nicht teilgenommen hatten, ließ viele in der Gegenwart ihrer Befreier Unfähigkeit und Schuld empfinden, was sie dadurch wettzumachen versuchten, dass sie sich dem Wiederaufbau im Nachkriegschina widmeten. Dies führte jedoch dazu, dass einige die neue Regierung allzu eifrig akzeptierten und ihr eigenes unabhängiges Urteilsvermögen ausschalteten. Die meisten Intellektuellen sprangen auf den fahrenden Zug des Sozialismus auf. Nur wenige unabhängige Denker waren so mutig wie Liang Shuming. Der chinesische Philosoph und Anführer der ländlichen Aufbaubewegung des frühen 20. Jahrhunderts konfrontierte Mao 1953 in aller Öffentlichkeit zur neuen Wirtschaftspolitik Chinas.48 Chen Yinke, einer der begnadetsten chinesischen Historiker des 20. Jahrhunderts, hielt an seinem Ideal der freien Gedanken und des unabhängigen Geistes fest und weigerte sich, seinen Posten als Professor an der Zhongshan Universität in Guangzhou im Austausch für die Leitung des Instituts für Geschichte an der chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking aufzugeben.49 Ein weiterer bemerkenswerter Dissident war Hu Feng, der bereits 1955 aufgrund seiner Befürwortung der schriftstellerischen Freiheit und Unabhängigkeit von politischer Ideologie als »Rechter« attackiert worden war.50 Doch diese wenigen unabhängigen Geister konnten der zunehmenden Macht des Sozialismus keinen wirklichen Widerstand entgegensetzen.

Die schwelende Spannung zwischen den gebildeten Eliten und der kommunistischen Regierung brach mit der Ausrufung der Anti-RechtsBewegung schließlich vollends auf.51 Zum Ende des Jahres 1956 war eine Mischwirtschaft vom Sozialismus ersetzt worden. Mit der Abschaffung der freien Wirtschaft und Konzentration der politischen Macht traten indes bald Schwächen der übermäßig zentralisierten Bürokratie zutage. Im Frühjahr 1956 beschloss Mao daher, innerhalb der Partei eine Ausrichtungskorrektur durchzuführen, in der Hoffnung, auf diese Weise die Mängel erkennen und beheben zu können. Die Intellektuellen wurden gebeten, Kritikpunkte zu äußern und Empfehlungen dazu abzugeben, wie die Arbeit der Partei und der Regierung verbessert werden könne. Was Mao dabei jedoch zu hören bekam, war nicht das, was er erwartet hatte. Während die meisten Kritiker versuchten, der Partei und der neuen Regierung zu einer Verbesserung ihrer Arbeit zu verhelfen, stellten manche unverblümt die Legitimität des politischen Machtmonopols der Partei sowie auch Maos Führungskompetenz in Frage. Alarmiert und beleidigt wandte sich Mao gegen seine Kritiker und verpasste ihnen das Etikett der »R echtsabweichler«. So hatte sich eine Kampagne zur Verbesserung der Partei unversehens in eine Bewegung gegen die Kritiker der Partei verkehrt, mit verheerenden Folgen sowohl für die intellektuelle Gemeinschaft als auch für die Partei selbst. Bei den Intellektuellen sorgte die Anti-Rechts-Bewegung dafür, dass sie offiziell zum Klassenfeind des Regimes erklärt wurden. Somit wurde den gebildetsten Mitgliedern und dem knappsten Produktionselement des Landes das Recht verwehrt, an der Entwicklung des Sozialismus mitzuwirken. Für die Partei wurde das Etikett »Rechtsabweichler« zu einer potenten und praktischen Waffe gegen jeden, der es wagte, die offizielle Linie zu kritisieren oder von ihr abzuweichen. Jahre später schrieb Bo Yibo (1997): »Während der zwanzig Jahre zwischen dem Beginn der Anti-Rechts-Bewegung und dem Dritten Plenum des Elften Zentralkomitees (1978) war das, was Vorsitzender Mao ›lebhaftes politisches Leben‹ nannte, verloren.«52 Dies ist eine euphemistische Umschreibung dafür, dass Mao die einzige Stimme der Partei war, und zwar sowohl innerhalb derselben als auch nach außen, ohne Platz für andere Meinungen.

An einem kritischen Wendepunkt, als sich die Kommunistische Partei Chinas von einer revolutionären zu einer herrschenden Partei wandelte und aus den Trümmern des Krieges ein neues China zu errichten begann, eliminierte China die gebildetsten Mitglieder seiner Bevölkerung. Durch diesen selbstzerstörerischen Drang verlor China weit gehend den Zugang zu seinem eigenen kulturellen Erbe ebenso wie zur modernen Wissenschaft und Technologie. Unter dem Deckmantel einer allwissenden Ideologie durchdrang der sozialistische Staat sowohl die ländliche als auch die städtische Bevölkerung in einem Ausmaß, das kein chinesischer Herrscher je zuvor versucht hatte. Mit der Diskreditierung der tradierten sozialen Ordnung und des konfuzianischen Moralkodex gab es praktisch keine externe soziale Kraft noch interne moralische Disziplin mehr als Gegengewicht zur Zwangspolitik des Staates. Dazu kam noch, dass die Kommunistische Partei Chinas – als zwar erfolgreiche, aber dennoch junge politische Partei – keine Zeit gehabt hatte, eine institutionelle Gewaltenteilung zu entwickeln. Unter der Leitung eines eigensinnigen und zunehmend von sich überzeugten Anführers mutierte die Partei zu einem unantastbaren politischen Frankenstein.

IV

Auch wenn Mao den Markt in seiner freien Entfaltung knebelte und jegliches Denken monopolisierte, war er nie ein Befürworter einer zentralisierten Verwaltung. Im Gegensatz zu Lenin oder Stalin, die die politische und wirtschaftliche Zentralisierung als elementare Voraussetzung des Sozialismus betrachteten, setzte sich Mao zeitlebens vehement gegen eine zentralisierte Verwaltung ein. Seine jahrzehntelange Erfahrung in Guerillakämpfen hatte ihn gelehrt, dass es Selbstmord wäre, wollte man alles auf eine Karte setzen, unabhängig davon, wer diese Karte in der Hand hielt. Während ihres Aufstiegs an die Macht hatte die Kommunistische Partei Chinas daher stets über mehrere verteilte Stützpunkte verfügt, die jede für sich ums Überleben kämpfte und nur periodisch mit dem Zentralkomitee und noch sporadischer miteinander kommunizierten. Diese Kombination aus zentraler Befehlsmacht und lokaler Autonomie hatte recht gut funktioniert.

Sogar nach der Gründung der Volksrepublik war Mao nur selten frei von Angst vor einem bevorstehenden Krieg. In den 1950er-Jahren ging die Gefahr vom US-gestützten Taiwan aus. Nach dem Zerwürfnis zwischen China und der Sowjetunion in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren wurde diese Gefahr aus dem Süden von einer viel größeren Bedrohung aus dem Norden – der Sowjetunion – verdrängt. Chinas Verhältnis zur Sowjetunion begann zu bröckeln, nachdem Chruschtschow in seiner »Geheimrede« am 5. März 1956 die unter Stalin begangenen Gräueltaten anprangerte und den Personenkult rund um Stalin offen verurteilte. China war darüber höchst erzürnt, da Stalin als Anführer der kommunistischen Bewegung nach wie vor hohes Ansehen genoss und sein Konterfei in ganz China neben jenem von Marx, Engels Lenin und Mao zur Schau gestellt wurde. Mao und andere chinesische Spitzen sahen in Chruschtschows Verleumdung Stalins einen gezielten Angriff auf den Sozialismus. Die anschließende Rivalität zwischen Mao und Chruschtschow um die Vorherrschaft der sozialistischen Welt, ihre grundlegend divergierenden Ansichten zur Beziehung zwischen Kapitalismus und Sozialismus sowie die territorialen Streitigkeiten zwischen China und der Sowjetunion führten schließlich zum endgültigen Bruch zwischen Peking und Moskau.53 Die Spannungen und Feindseligkeiten verschärften sich immer weiter und eskalierten letztlich im militärischen Grenzkonflikt von 1969 im Nordosten Chinas.

Der Umstand, dass sich Maos China nur selten innerhalb seiner eigenen Grenzen sicher fühlte, hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik des Landes. Die permanente Vorbereitung auf einen Krieg durchsetzte Maos – ohnehin von der eigenen Kriegszeit geprägte – Denkweise und war ihm als abschreckendes Mittel gegen eine zentralisierte Verwaltung höchst dienlich. Während sich Lenin also die sozialistische Wirtschaft als ein einziges gigantisches Unternehmen ausmalte, bestand Maos Wirtschaft aus einem Meer an eigenverantwortlichen, mehr oder weniger identischen Untereinheiten. In Maos Gesellschaftsideal stellte die Kommune die nahezu perfekte Verkörperung einer gesellschaftlichen Grundeinheit dar. Jede Kommune umfasste alle wirtschaftlichen und sozialen Funktionen: Produktionsgruppen in Landwirtschafts-, Kommunen- und Brigadenbetrieben, Kinderkrippen und Schulen, Kliniken mit eigens ausgebildeten Sanitätern (»Barfußärzten«) und sogar eine eigene Militärbrigade. Die Kommunen waren voneinander unabhängig und interagierten kaum untereinander. Folglich gab es in Maos China keine integrierte Volkswirtschaft mit wechselseitigen Abhängigkeiten, koordiniert von einer zentralen Planungsstelle.

Einmal gab es zwar eine Z entralisierung, doch war diese nur von kurzer Dauer. Das nach dem Übergang zum Sozialismus (1952–1956) eingerichtete politische und wirtschaftliche System war stärker zentralisiert als jedes andere System in der Geschichte Chinas. Doch es dauerte nicht lange, bis Mao in der zentralisierten Verwaltung ernsthafte Probleme witterte. In seiner Rede »Über die zehn großen Beziehungen« im April 1956 betonte Mao, wie außerordentlich wichtig die Ausgewogenheit zwischen dem Staat, den Produktionseinheiten (Fabriken in den Städten und Arbeitsgruppen auf dem Land) und den Arbeitern und Bauern sowie die Ausgewogenheit zwischen zentralen und lokalen Behörden sei.54 Über Erstere soll er gesagt haben:

Es ist nicht richtig, fürchte ich, alles in die Hand der zentralen, regionalen oder lokalen Behörden zu legen und den Fabriken keine eigenen Befugnisse, keinen Raum für eigenverantwortliches Handeln, keinen Nutzen zu lassen. Wir besitzen nicht viel Erfahrung darin, wie Befugnisse und Erträge zwischen zentralen, regionalen und lokalen Behörden und den Fabriken aufzuteilen sind, und sollten uns daher eingehender mit dieser Frage befassen. Zentralisierung und Unabhängigkeit bilden prinzipiell eine Einheit der Gegensätze, und es muss sowohl Zentralisierung als auch Unabhängigkeit geben.55

Abschließend schrieb Mao:

Beide Seiten sind daher zu beachten, nicht bloß die eine, sei es nun der Staat und die Fabrik, der Staat und der Arbeiter, die Fabrik und der Arbeiter, der Staat und die Genossenschaft, der Staat und der Bauer oder die Genossenschaft und der Bauer. Beachtet man nur die eine Seite, welche auch immer das sei, schadet man dem Sozialismus und der Diktatur des Proletariats.56

Hinsichtlich der Beziehung zwischen zentralen und lokalen Regierungsbehörden warnte Mao:

Unser Staatsgebiet ist so ausgedehnt, unsere Bevölkerung ist so groß und die Bedingungen sind so komplex, dass es weitaus besser ist, wenn die Initiative sowohl von den zentralen als auch den lokalen Behörden ausgeht als bloß von einer Quelle. Wir dürfen nicht dem Beispiel der Sowjetunion folgen, indem wir alles in den Händen der zentralen Behörden konzentrieren und die lokalen Behörden in Ketten legen, ohne jegliches Recht auf eigenverantwortliches Handeln.57

Ferner schrieb er:

Um ein mächtiges sozialistisches Land aufzubauen, ist eine starke und geeinte zentrale Führung und eine landesweit einheitliche Planung und Disziplin unabdingbar; eine Zerrüttung dieser Einheit ist unzulässig. Zugleich ist es erforderlich, die Initiative der lokalen Behörden im vollen Umfang einzubringen und jeden Ort die Besonderheit genießen lassen, die ihren lokalen Bedingungen entspricht.58

Letztlich erkannte Mao das Problem der Zentralisierung im gesamten Spektrum der administrativen Hierarchie, nicht nur begrenzt auf die zentrale Re-

gierung.

So sollten die zentralen Behörden Freiräume für die Initiative der Provinzen und großen Städte vorsehen, und Letztere wiederum sollten dasselbe für die Präfekturen, Landkreise, Bezirke und Gemeinden tun. In keinem Fall sollten niedrigere Ebenen in eine Zwangsjacke gesteckt werden. Genossen der niedrigeren Ebenen müssen selbstverständlich über Angelegenheiten informiert werden, bei denen eine Zentralisierung erforderlich ist, und dürfen hier nicht nach eigenem Belieben handeln. Somit ist Zentralisierung dort durchzusetzen, wo sie möglich und notwendig ist, anderenfalls ist von ihr Abstand zu nehmen. Alle Provinzen, Großstädte, Präfekturen, Landkreise, Bezirke und Gemeinden sollten ihre eigene Unabhängigkeit und Rechte genießen und dafür kämpfen. Der Kampf um solche Rechte im Interesse der gesamten Nation und nicht der lokalen Gemeinschaft kann nicht als Lokalismus oder ungebührliches Unabhängigkeitsstreben bezeichnet werden.59

Maos tiefes Misstrauen gegenüber Zentralisierung führte zu seinem ersten Versuch, Chinas Wirtschaftssystem zu reformieren und eine Abkehr vom orthodoxen stalinistischen Modell des Sozialismus zu vollziehen. So wurde auf dem Dritten Plenum des Achten Zentralkomitees im Oktober 1957 ein Reformvorschlag verabschiedet, der 1958 umgesetzt werden sollte.60 Kernpunkt der Reform war eine Neuverteilung der Machtverhältnisse zugunsten der lokalen Behörden. So erhielten die lokalen Behörden mehr Autonomie in ihrer wirtschaftlichen Planung, Ressourcenzuweisung, Fiskal- und Steuerpolitik sowie Personalverwaltung. Darüber hinaus wurde die Verwaltung der meisten staatlichen Unternehmen an lokale Verwaltungsbehörden übertragen. Rund 88 Prozent der staatlichen Unternehmen, die zuvor an verschiedene Ministerien und Abteilungen der zentralen Regierung angebunden gewesen waren, wurden so der Kontrolle lokaler Behörden unterstellt.61

Diese D ezentralisierung hatte zur Folge, wenn auch unbeabsichtigt, dass Mao die Provinzregierungen nun direkt erreichte, ohne die Bürokratie der verschiedenen Ministerien in Peking durchlaufen zu müssen. Besonders empfänglich für Maos Ideen und Politik waren die lokalen Behörden in Shanghai, Sichuan und Hubei. So kam es, dass die lokalen Behörden nun mehr Autonomie in der Führung der lokalen Wirtschaft genossen, jedoch wenig Verantwortung für den Erfolg oder Misserfolg ihrer Entscheidungen trugen. Mit Maos Aufruf zu einem zügigen Vorantreiben der wirtschaftlichen Entwicklung waren die Bedingungen für die lokalen Behörden nun ideal, um den Großen Sprung nach vorn in Angriff zu nehmen.

V

Rückblickend betrachtet war der G roße Sprung nach vorn eine durch menschliches Versagen verursachte Tragödie.62 Sie geschah nicht aus heiterem Himmel. Mit nur wenigen Ausnahmen (etwa Chen Yun) waren die meisten chinesischen Politspitzen, insbesondere im Anfangsstadium, vom Großen Sprung nach vorn genauso begeistert wie Mao.63 Mao war zwar dessen leidenschaftlicher Initiator und unbeirrbarer General, doch konnte er sich auf eine breite Zustimmung stützen und bekam durch die von ihm jüngst erreichte dezentralisierte Verwaltung zusätzlich Auftrieb.

Führende chinesische Politiker – und Mao ganz besonders – waren fasziniert von der wirtschaftlichen Erfolgsbilanz des Landes seit der Gründung der Volksrepublik. So erlebten Mao und seine Genossen, durchweg angenehm überrascht, eine zügige wirtschaftliche Erholung und einen reibungslosen Übergang zum Sozialismus; dies trotz des Koreakriegs und ihres gänzlichen Mangels an Erfahrung in der Führung einer Volkswirtschaft. Ihr Erfolg machte ihnen Mut, verleitete sie gar zu Übermut: Tatsächlich wuchs ihr Vertrauen in ihre Fähigkeiten derart, dass nur noch ihre eigene Fantasie als Grenze für weitere Errungenschaften galt. So veröffentlichte die Tageszeitung des Volkes am 27. August 1958 denn auch einen Artikel mit dem Titel »Das Land wird so viel Korn geben, wie wir bestrebt sind«. Das wurde bald zu einem populären Leitspruch, der landesweit propagiert wurde, um die vielen Kleinbauern zu motivieren, so als wäre die ökonomische Gesetzmäßigkeit vom abnehmenden Ertragszuwachs mit einem Mal ausgehebelt.64

Zugleich wurden die Bauern gedrängt, sich rasch dem Kommunismus anzuschließen. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft sah Peking die kommunistische Utopie zum Greifen nah, wenn sich die Bauern bloß dazu bekennen würden. Ländliche Genossenschaften wurden zusehends durch Kommunen ersetzt, die in China als der schnellste Weg zum kommunistischen Erfolg galten. Unter dem Kommunensystem wurde den Haushalten jegliches Eigentum genommen und als kollektives Gut geführt. Eine glanzvolle und gleichermaßen katastrophale Erfindung, die 1958 das ländliche China überrollte, war die Gemeinschaftskantine.65 Ursprünglich zum Zweck der Zeitersparnis und besseren Koordination in der Landwirtschaft gegründet, wurde die Gemeinschaftskantine als die Kantine beworben und verteidigt, in der die Bauern so viel und so oft essen durften, wie sie wollten. Folglich aß dort jeder, als ob es kein Morgen gäbe. Für eine sehr kurze Zeit vermittelten die Gemeinschaftskantinen den chinesischen Bauern eine flüchtige Vorstellung von der kommunistischen Utopie.

Die Attraktivität und das angebliche wirtschaftliche Potenzial des Kommunismus erhielt starken Auftrieb durch aufgeblähte Berichte über die landwirtschaftliche Produktion, die Peking im Herbst 1958 von den Lokalregierungen vorgelegt bekam.66 Dezentralisiert und ohne effektive Aufsicht steigerten sich diese in einen immer stärker eskalierenden Produktionswettbewerb hinein. Eine lokale Regierung nach der anderen erklärte spektakuläre Getreideernten. So vermeldete die Tageszeitung des Volkes am 18. September eine durchschnittliche Getreideproduktivität je mu (1 mu entspricht 660 m2) in Guangxi von 65.000 kg; eine realistische Schätzung würde unter 500 kg liegen.67 Wohl war den lokalen Funktionären die Wahrheit bewusst, doch wagten es nur wenige, aus den einmal eingefahrenen Mustern auszuscheren. Aus ihrer Sicht erzählten sie Peking bloß das, was es hören wollte. Peking zu enttäuschen war das Letzte, was sich diese Funktionäre leisten durften, wollten sie weiter im Amt bleiben, insbesondere im unmittelbaren Gefolge der Anti-Rechts-Bewegung. Letztere hatte ohnehin bereits die meisten jener eliminiert, die es vielleicht gewagt hätten, die Wahrheit über den Großen Sprung kundzutun.

Darüber hinaus wurden alle Zeitungen und Medien vom Staat kontrolliert, so dass es für etwaige Dissidentenstimmen keine Möglichkeit gab, sich zu äußern, auch wenn sie es gewollt hätten. So wurde alles, was durch die staatlich kontrollierten Medien übermittelt wurde, als wahr und richtig angenommen. Chinas renommiertester und anerkanntester Wissenschaftler, Qian Xuesen, veröffentlichte am 16. Juni 1958 einen Artikel in Chinas Jugend, wonach die Reis- und Weizenproduktion theoretisch bis zu 25.000 kg je mu betragen könne, unter der Voraussetzung, dass die Pflanzen 30 Prozent der erhaltenen Sonnenenergie aufnähmen.68 Qians Artikel wurde kaum in Frage gestellt und von Mao als theoretischer Beweis für die Zukunftsfähigkeit des Großen Sprungs in der Landwirtschaft herangezogen. Mit seinen streng kontrollierten Medien, die kritische Stimmen erst gar nicht zu Wort kommen ließen, war Peking nun ein Opfer seines eigenen Effizienzdrangs geworden. Im naiven Glauben an die von den lokalen Behörden vorgelegten Produktionsdaten prognostizierte das Landwirtschaftsministerium für 1958 eine Steigerung der Getreideproduktion von fast 70 Prozent. Mao und anderen Kadern in Peking wurde eingeredet, sie müssten sich langsam Gedanken über die Lagerung und Disposition dieses gewaltigen Überschusses an Getreide machen.69 So kam es, dass sich der Staat von den Bauern 1958 viel mehr und 1959 noch einmal mehr Getreide holte. Die Getreideexporte schnellten von 1,93 Mio. Tonnen in 1957 auf 2,66 Mio. Tonnen in 1958, 4,16 Mio. Tonnen in 1959 und 2,65 Mio. Tonnen in 1960, bevor China 1961 mit der Einfuhr von Getreide begann. Als Mao 1959 verkündete, die Getreideproduktion in China habe 375 Millionen Tonnen erreicht, betrug sie tatsächlich eher um die 170 Millionen.70 Man kann sich wohl kaum etwas Tragischeres und Sinnloseres vorstellen als die Millionen chinesischer Bauern, die elend verhungerten, während China auf aggressive Weise Getreide exportierte.

Ein weiterer tragischer Aspekt, vielleicht jener, der vom Großen Sprung nach vorn am lebhaftesten in Erinnerung geblieben ist, war die mit aller Macht forcierte Produktion von Stahl in Hinterhoföfen in ganz China, was die Getreideausbeute drastisch reduzierte und die Zahl der Hungertoten noch weiter erhöhte. Im November 1957 reiste Mao zum zweiten und letzten Mal nach Moskau, um den Feierlichkeiten anlässlich des vierzigsten Jahrestags der Oktoberrevolution beizuwohnen. Als älteste und charismatischste Führungspersönlichkeit im kommunistischen Lager wurde Mao von Spitzenpolitikern anderer kommunistischer Länder mit Ehrfurcht begegnet. Sogar sein sowjetischer Gastgeber Chruschtschow, nicht eben für Bescheidenheit bekannt, fühlte sich verpflichtet, ihm Respekt zu zollen. Doch Mao war peinlich berührt, wenn nicht sogar beschämt, angesichts des rückständigen agrarischen Wesens der chinesischen Wirtschaft. China war politisch vielleicht ein Gigant, doch ökonomisch gesehen immer noch ein Zwerg. Etwas musste unternommen werden, und zwar schnell, um sicherzustellen, dass China auch wirtschaftlich mit seinem politischen Status gleichzog. Zur damaligen Zeit galt die S tahlproduktion als zuverlässiger Index der Industrialisierung eines Landes. Als Chruschtschow daher verkündete, dass die Sowjetunion binnen fünfzehn Jahren die Stahlproduktion der USA überholen werde, fühlte sich Mao in seiner Rede zu der Ankündigung genötigt, dass China binnen fünfzehn Jahren die Stahlproduktion von Großbritannien – damals die zweitgrößte kapitalistische Volkswirtschaft – überrunden werde.71

Dieser überehrgeizige Plan ging weit über die Produktionskapazitäten Chinas hinaus. Als klar wurde, dass die bestehenden Stahlwerke die Produktionsquoten unmöglich erfüllen konnten, wurde das ganze Land zur Produktion von Stahl eingeteilt. Im ganzen ländlichen China wurden die Mitarbeiter aller Fabriken, Schulen und Produktionsgruppen für das Wettrennen um die Produktion von Stahl aufgeboten. Zur Erntezeit verrottete gar das Getreide auf den Feldern, da die Bauern vollauf mit der Herstellung von Stahl in primitivsten Öfen beschäftigt waren. Der Großteil dieses Stahls war natürlich unbrauchbar. Noch schlimmer war jedoch, dass diese improvisierte Stahlproduktion zu einem eklatanten Fehleinsatz von Arbeitskräften führte. Eine Studie sieht im Abzug von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft den wesentlichsten Faktor für den Rückgang der Getreideproduktion zwischen 1958 und 1961.72

Sogar nachdem in der Provinz Henan die ersten Hungersnöte gemeldet wurden, bemühten sich die Behörden nach Kräften um Vertuschung, aus Angst vor Strafen. Ein wichtiges, wenngleich kurzes Zeitfenster für ein entschlossenes Vorgehen verstrich damit ungenutzt. Zugleich waren die Bauern an ihr Land gekettet und durften ihre Dörfer auch dann nicht verlassen, wenn sie zu verhungern drohten. Jeglicher Exodus der Bauern würde als Zeichen der Unfähigkeit der lokalen Behörden gewertet werden. Da zudem kein privatwirtschaftlicher Handel mehr existierte, konnte das Getreide nicht dorthin gebracht werden, wo es am dringendsten benötigt wurde. Hätte es einen freien Markt gegeben, wären private Unternehmen entstanden, die Getreide aus weniger betroffenen Gebieten zu entsprechend günstigeren Preisen eingekauft und an die am stärksten betroffenen Gebiete zu höheren Preisen verkauft hätten. Adam Smith, der Vater der modernen Wirtschaftswissenschaft, hatte vielleicht dieses Szenario vor Augen, als er schrieb: »In einem großflächigen Getreideland, zwischen dessen vielen verschiedenen Teilen freier Handel und Austausch herrscht, kann ein Mangel, sei er von noch so ungünstigen Saisonen verursacht, nie so groß sein, dass daraus eine Hungersnot entsteht.«73 Doch mit dem Verbot jedweden Verkehrs von Getreide, Personen und Informationen wäre es keiner Regierung gelungen, eine Hungersnot zu bekämpfen. Wenn den lokalen Behörden mehr daran lag, Anweisungen aus Peking Folge zu leisten als sich um deren Auswirkungen vor Ort zu kümmern, hatten die chinesischen Bauern keine Chance.

Doch wäre es aufgrund der administrativen Dezentralisierung nicht zum Zusammenbruch der Kommunikation zwischen der zentralen Regierung und den lokalen Instanzen gekommen, hätte der Große Sprung nach vorn nicht so tragisch geendet. Aus diesem Grund war die administrative Dezentralisie-rung ein unglücklicher Schachzug. Die katastrophalen Folgen des Großen Sprungs nach vorn – und somit auch der Dezentralisierung – brachten die Wirtschaft wieder zur zentralen Planung zurück. Mit der zentralen Planung gelang es zumindest, die Ordnung wiederherzustellen, und Mitte der 1960erJahre ging es mit der Wirtschaft wieder aufwärts. Diese Erfahrung veranlasste viele chinesische Spitzenpolitiker, allen voran Chen Yun, der zusammen mit Deng Xiaoping die Wirtschaftsreform Chinas ab den späten 1970er-Jahren bis Mitte der 1990er-Jahre leitete, die zentrale Planung als heilig und unabdingbar zu betrachten.

Doch der administrativen Dezentralisierung von 1958 gingen mehrere schwere strukturelle Mängel voraus, ohne die der Große Sprung nach vorn vermutlich nicht stattgefunden hätte und die Zahl der Toten nicht in die Millionen gegangen wäre. Zu diesen Mängeln gehörten: marktfeindliche Mentalität, streng kontrollierte Binnenmigration, staatliches Medienmonopol sowie radikale Anti-Intellektualität. Keine dieser Praktiken hatte in irgendeiner Form mit Dezentralisierung zu tun. Es ist schade, dass die Debatten über den Großen Sprung nach vorn, zunächst innerhalb der chinesischen Regierung und später in akademischen Kreisen, großteils vom ursprünglichen Disput zwischen Mao und Liu Shaoqi beeinflusst wurden – und darauf beschränkt blieben – wonach der Große Sprung laut Mao hauptsächlich (zu 70 Prozent) auf Naturkatastrophen (schlechtes Wetter) und zu einem geringeren Grad (30 Prozent) auf menschliche Fehler zurückzuführen war, während Liu das genaue Gegenteil behauptete.74 Die damalige Sachlage wies allerdings deutlich auf ein hauptsächlich menschliches Versagen hin, und diese Sicht wurde auch von späteren quantitativen Studien bestätigt. Diese Meinungsverschiedenheit zwischen Liu und Mao war später der Hauptauslöser für Maos heftige Attacken gegen Liu während der Kulturrevolution. Die unglückliche Folge daraus war, dass sich die Debatte zu sehr auf die implizite persönliche Verantwortung der Entscheidungsträger konzentrierte und die strukturellen Mängel des sozialistischen Systems, verursacht durch eine Abfolge irriger politischer Entscheidungen, außer Acht ließ. Viele dieser Faktoren, die den Großen Sprung nach vorn überhaupt erst geschehen ließen und die das spätere Desaster letztlich noch weiter verschärften, wurden durch die Wiederherstellung der zentralisierten Verwaltung und Wiederaufnahme des wirtschaftlichen Fünfjahresplans endgültig im System verhaftet.

Kaum ein Regime wäre in der Lage gewesen, ein derart gigantisches, tragisches und sinnloses Desaster wie den Großen Sprung nach vorn zu überleben – Mao und die chinesische Regierung konnten sich eigentlich glücklich schätzen, dass die Bauern nicht revoltierten, sondern ihnen sogar noch eine zweite Chance gaben. Rückblickend hätte der Große Sprung nach vorn bei der chinesischen Regierung alle Warnglocken schrillen lassen und sie dazu bewegen müssen, das gesamte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche System gründlich zu durchleuchten, um sicherzugehen, dass der Tod von Abermillionen Bauern nicht vergeblich war und es nie wieder zu einer solchen Katastrophe kommen würde. Doch die Dezentralisierung der Verwaltung war ein allzu praktischer Sündenbock, ihr schob man alle Schuld zu. Für jene, die Maos Ansichten nicht teilten, diente der Große Sprung nach vorn lediglich als Bestätigung für die Überlegenheit einer zentralisierten Verwaltung und die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Planung. So verpasste die chinesische Regierung eine wertvolle Gelegenheit, ihre Fehler zu reflektieren und daraus zu lernen.

Maos Wirtschaftspolitik nach 1949 war stark von seiner Kriegserfahrung geprägt. Dabei bedachte er allerdings nicht, dass in Kriegszeiten jeder Stützpunkt volle Verantwortung für die Folgen seines Handelns trug. Ein schwerer Fehler konnte leicht zum Tod führen – was häufig auch der Fall war. Solch harte Aussichten hatten die regionalen und lokalen Behörden nicht zu befürchten, nicht einmal nach der Dezentralisierung. Lokale Funktionäre verloren aufgrund von wirtschaftlichen Versäumnissen nur selten ihre Posten. Bedingt durch die streng zentralisierte Kontrolle der Medien und Kommunikation innerhalb der Regierung hatten lokale Behördenvertreter zudem ohnehin keine Möglichkeit, abweichende Sichtweisen zu äußern oder die Pekinger Politik mit Ausblick auf Erfolg in Frage zu stellen. Maos Dezentralisierung ließ keine echte lokale Autonomie zu – noch wurde diese von Mao überhaupt angestrebt. Der rasche Übergang Chinas zum Sozialismus, im Gegensatz zur langwierigen und blutigen Kollektivierungskampagne Stalins, verleitete Mao zu dem Glauben, China habe einen gesegneten »goldenen Weg« zum Kommunismus gefunden. Von den lokalen Behörden wurde daher lediglich erwartet, dass sie Begeisterung zeigten und bereit waren, Anordnungen Folge zu leisten. Es waren jedoch die chinesischen Bauern, die die Konsequenzen tragen mussten, als die utopische Vision scheiterte.

Die Tragödie des Großen Sprungs nach vorn veranschaulicht, dass die Unterschiede zwischen einer Befehls- und einer Marktwirtschaft einen profunden Unterschied in Mentalität und Einstellung widerspiegelt. Eine Marktwirtschaft ist nur dann duldbar, wenn keiner sich für allwissend erklärt. Ein Punkt, den Hayek ins Feld führt und dessen weit reichende Implikationen immer noch nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannt wurden, läuft darauf hinaus, dass der entscheidende Vorteil eines Marktes weniger in seiner allokativen Effizienz als in seinem freien Informationsfluss liegt.75 Doch wäre der Informationsfluss kaum sinnvoll, er wäre sogar unnütz, wenn das Problem, zu dessen Lösung er beitragen kann, nicht erkannt wird. Eine Marktwirtschaft setzt daher zwei epistemische Grundhaltungen voraus: dass man Ignoranz erkennt und Ungewissheit duldet. Für einen starrsinnigen Mao und eine triumphierende Kommunistische Partei Chinas war beides schwer zu akzeptieren, auch nach dem Desaster des Großen Sprungs nach vorn.

VI

Nach dem Großen Sprung nach vorn kehrte im China der frühen 1960erJahre wieder soziale Ordnung und wirtschaftliche Erholung ein. Schon 1966 fanden diese mit Maos Einleitung der Kulturrevolution jedoch ein jähes Ende. Zu den komplexen Motiven, die Mao zu seiner Kulturrevolution veranlassten, liegt bereits eine umfassende und weiterhin wachsende Literatur vor.76 Klar ist, dass Maos instinktive Abneigung gegenüber jeglicher Zentralisierung eine Rückkehr zur zentralen Planung nicht lange zulassen würde. Ein wesentliches Ziel der Kulturrevolution war der Abbau der Behördenbürokratie, die in Maos Augen zu sehr ihre eigenen Interessen bediente; stattdessen sollte Verantwortung an das Volk übertragen werden. Da ihm Marktprinzipien jedoch noch suspekter erschienen und er nie ein Freund von Rechtsstaatlichkeit gewesen war, musste ein Angriff auf die zentrale Planung in einem Gesellschaftssystem, in dem lokale Autonomie ausgeschlossen war und der Rechtsstaat nicht existierte, unweigerlich in Chaos statt in jener wahren Demokratie enden, die Mao sich gewünscht hatte. Dies erkannte Mao jedoch nicht. So geriet die chinesische Wirtschaft in einen Teufelskreis aus Zentralisierung, starren Strukturen, Dezentralisierung und Chaos, der sich über viele Jahre hinziehen sollte.

Interne Parteipolitik und Maos Ideologie vom anhaltenden Klassenkampf hatten zur Folge, dass die K ulturrevolution ideologisch noch radikaler war als der Große Sprung nach vorn. Um die Reinheit des Sozialismus zu wahren und vor kapitalistischer Kontamination einerseits und feudalistischer Erosion andererseits zu schützen, wurden Maos Rotgardisten – hauptsächlich Gymnasiasten und andere Jugendliche – angehalten, alle Institutionen und Artefakte aus dem historischen Erbe Chinas zu zerstören. Diese wurden als die »Vier Alten« bezeichnet: alte Sitten, alte Kulturen, alte Gewohnheiten und alte Denkweisen. Infolgedessen wurden Tempel, Bücher, Gemälde und andere Kulturrelikte verbrannt und zerstört. Während der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre waren die einzigen Bücher, die den Lesern in China zur Verfügung standen, die gesammelten Werke von Marx, Engels, Lenin, Stalin, und Mao, sowie einige wenige von der Regierung ausgewählte Bücher, die den Triumph des Sozialismus darlegten. Alle anderen Bücher wurden verboten und alle Bibliotheken geschlossen. Lehrer und Professoren, insbesondere jene, die aus dem Ausland zurückkehrten, wurden gedemütigt und misshandelt. Viele kamen zu Tode oder begingen Selbstmord. Höhere Bildung wurde zur Zielscheibe von Hohn und Spott, worunter das gesamte Bildungswesen schwer zu leiden hatte. »Wissen ist unnütz«, war ein beliebter Spruch. Da viele der gebildeten Eliten als »Rechtsabweichler« denunziert und inhaftiert worden waren, wurde Wissen selbst oft zu einer tödlichen politischen Last. Zu diesem Zeitpunkt wurden alle wirtschaftlichen Kontakte zu Japan und