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Spoiler Alert: Der nachfolgende Inhaltstext enthält Hinweise auf das Ende von »Chosen: Träume aus Gold«
Nach dem Attentat auf Cillian und der Enthüllung, dass Cylus der wahre Thronfolger ist, setzt der König alles daran, die Integrität der Royal Games zu wahren. Iris wird vor eine brutale Wahl gestellt: Entweder sie nimmt weiterhin an den lebensgefährlichen Spielen teil oder sie wird zum Tode verurteilt. Ein Sieg, und damit ein Leben an Cylus’ Seite, ist jedoch ausgeschlossen. Während Iris vor der Kamera die Fassade der toughen Teilnehmerin aufrechterhält, fällt es ihr dahinter zunehmend schwerer, ihre Gefühle für den Prinzen zu verbergen, der ihr nach dem Anschlag auf Cillian zutiefst misstraut. Doch wenn sie die Spiele nicht nur überleben, sondern auch ein für alle Mal beenden will, muss sie alles daransetzen, ihn wieder auf ihre Seite zu ziehen. Auch wenn es sie am Ende ihr eigenes Herz kostet …
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Seitenzahl: 584
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Nur eine kann Königin Werden
Nachdem sich die Ereignisse bei den Royal Games überschlagen haben, setzt der König alles daran, die Integrität der Spiele zu wahren. Er stellt Iris vor eine brutale Wahl: Entweder sie nimmt weiterhin an den lebensgefährlichen Spielen teil oder sie wird zum Tode verurteilt. Während Iris vor der Kamera die Fassade der toughen Kandidatin aufrechterhält, fällt es ihr dahinter zunehmend schwerer, ihre Gefühle für Prinz Cylus zu verbergen, der ihr inzwischen zutiefst misstraut. Doch wenn sie die Spiele nicht nur überleben, sondern auch ein für alle Mal beenden will, muss sie alles daransetzen, Cylus wieder auf ihre Seite zu ziehen. Auch wenn es sie am Ende ihr eigenes Herz kostet …
»Ein absoluter Pageturner von der ersten bis zur letzten Seite. Magisch, romantisch und nervenaufreibend! Chosen ist ein absolutes Must-Read voller Plottwists und Herzklopf-Momente.«
Basma Hallak, Autorin und Bloggerin
Die Autorin
Emily Bähr liebt gute Filme, den Herbst und Pfirsicheistee. Nachdem sie im Süden Deutschlands aufgewachsen ist, hat sie mittlerweile zusammen mit drei Katzen an der rauen Küste Irlands ihr Zuhause gefunden. Wenn sie nicht gerade mit vierstündigen YouTube-Videos prokrastiniert, schreibt sie an ihrem nächsten Romantasy-Roman oder gestaltet Buchcover. Mit Träume aus Gold, dem ersten Band ihrer Chosen-Dilogie, landete Sie auf Anhieb auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Auf Instagram und TikTok ist sie unter @emilybaehr zu finden.
EMILY BÄHR
HAUS AUS ASCHE
Roman
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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1. Auflage
Copyright © 2025 by Emily Bähr
Published by Wilhelm Heyne Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München
Copyright © 2025 der Originalausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: Emily Bähr
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-32184-0V001
www.heyne.de
Für Marie
I did it for the beans
Liebe Lesende,
wie auch schon im ersten Band sind viele Elemente in Haus aus Asche von Serien wie The Bachelor, Love Island, Germany’s Next Topmodel inspiriert.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle erneut den Hinweis aussprechen, dass in diesem Buch Themen behandelt werden, die für manche nicht leicht zu verarbeiten sind und ungewollte Reaktionen auslösen können. Eine vollständige Liste dieser findet ihr auf der nächsten Seite.
Passt auf euch auf.
Und: Willkommen zurück bei den Royal Games.
Emily
Content Note
Dieses Buch enthält sensible Themen, die bei manchen Menschen ungewollte Reaktionen auslösen können. Diese sind:
Freiheitsberaubung, toxische Eltern, Fatshaming, Slutshaming, Misogynie, (Cyber-)Mobbing, Tod, Blut, Trauer, Verletzung, Feuer, Verbrennungen, (Brand-)Narben, Depression, Panikattacken, PTBS, emotionale und körperliche Folter, toxischer Umgang mit Mental-Health-Themen und Neurodivergenz, Eugenetik.
Dazu werden folgende Themen erwähnt und impliziert, jedoch nicht explizit beschrieben/behandelt:
Queerfeindlichkeit, Suizid, selbstverletzendes Verhalten, Grooming.
Außerdem enthält dieses Buch explizite Sexszenen.
The Water is Fine (Crimson Edition) – Chloe Ament
Princess of China – Coldplay & Rihanna
Can’t Catch Me Now – Olivia Rodrigo
Seven Nation Army – Zella Day
Nobody’s Home – Avril Lavigne
Polemonium – Fewjar feat. Frodo
THEDRAIN – Bad Omens, HEALTH & SWARM
Unforgivable Sinner (Acoustic Version) – Lene Marlin
I’ve Got a Dark Alley and a Bad Idea That Says You Should Shut Your Mouth – Fall Out Boy
The Emptiness Machine – Linkin Park
Clocks – Coldplay
Look What You Made Me Do – Taylor Swift
Cylus, vier Tage nach dem Anschlag
Ich betrat das hell erleuchtete Speisezimmer und zuckte erschrocken zusammen, als ich den Tisch dort nicht mit einem Gedeck vorfand, sondern mit zweien. Ein silberner Teller wartete auf meinem Platz, während sich der König bereits gegenüber niedergelassen hatte und mich erwartungsvoll musterte.
Hinter ihm nahm das übergroße Porträt Timothy Is, dem Gründer der Royal Games, einen Teil der stuckverzierten Wand ein. Jahrhunderte lagen zwischen meinem Vater und seinem Vorfahren, und dennoch war die Familienähnlichkeit mit den dunklen Haaren und der ernsten Miene kaum zu leugnen. Ein Eindruck, den der gepflegte Vollbart, den der König trug, verstärkte.
»Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du mir so spät Gesellschaft leistest«, sagte ich kühl mit Blick auf meine Armbanduhr – eines der wenigen Erbstücke meiner verstorbenen Mutter. »Gibt es dafür einen Grund?«
»Setz dich, Sohn«, forderte der König, seine Stimme noch einige Grad kälter. »Wir müssen reden.«
Ein Seufzen unterdrückend, kam ich der Aufforderung nach. »Und das kann nicht bis morgen warten?«
»Wie lief der Dreh?«
Kaum hatte ich mich niedergelassen, brachte der Butler die Vorspeise herein. Bis eben wäre ich über diesen Umstand noch dankbar gewesen, doch mein Hunger hatte sich beim Anblick des Königs komplett verflüchtigt. Ich nahm einen zu großen Schluck Wein, ehe ich antwortete: »Gut, denke ich.«
»Gut?«
»Was willst du hören?«
»Ich habe heute mit Marcus gesprochen. Unter anderem über die Quote. Die Produktion ist nicht zufrieden. Seit dem letzten Special ist die Zahl der Zuschauer stetig am Sinken.«
»Ich nehme an, es waren nicht alle glücklich über unseren großen Plot Twist, oder darüber, den falschen Prinzen angefeuert zu haben.«
»Es war nötig. Zu deinem Schutz, wie du weißt. Und wenn man den Stimmen auf Chatter glauben darf, liegt der abnehmende Erfolg der Royal Games nicht allein am Wechsel selbst.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Du weißt genau, worauf ich hinauswill. Stell dich nicht so naiv an, du kennst die Umfrageergebnisse genauso wie ich.«
Ich schnaubte. »Und was soll ich dagegen tun? Ich war nie der Strahlemann. Du kannst nicht verlangen, dass ich den charmanten Märchenprinzen spiele, um Cillians Rolle zu erfüllen.«
»Ich verlange, dass du deine eigene erfüllst, Cylus«, zischte der König. »Nicht die deines Cousins. Dass du dieses Land mit Stolz vertrittst und unserem Haus alle Ehre machst. Dass du dich endlich wie ein Prinz verhältst und das Volk für dich gewinnst.«
»Sonst noch etwas?« Allmählich verlor ich die Geduld. Ich war erst seit drei Tagen in der Show, doch dieses Gespräch hatte ich in ähnlicher Form schon so oft durchgespielt. In jeder freien Minute erinnerten mich mein Onkel oder Alfie, der Produzent, daran, dass ich eine Rolle zu spielen hatte. Dass ich mir mehr Mühe geben musste. Dass angeblich die Zukunft des ganzen Königreichs davon abhing, wie ich mich in einer Fernsehserie präsentierte.
Eine Show, die mich von Tag zu Tag mehr ermüdete. Die mir die Kräfte raubte und mich wünschen ließ, es wäre einfach nur vorbei. Meinetwegen konnten sie meine Braut auch auslosen, es machte keinen Unterschied. In den Royal Games war es ohnehin nie um Liebe gegangen.
»Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt«, sagte der König, wobei seine Stimme eine bedrohliche Nuance bekommen hatte. »Ab morgen gibst du in der Show einhundert Prozent. Nicht fünfzig, nicht siebzig. Einhundert. Solange die Kameras auf dich gerichtet sind, wirst du lächeln und der charmanteste junge Mann sein, den dieses Land zu bieten hat. Du wirst warmherzig und romantisch sein und diesen Mädchen einem nach dem anderen den Kopf verdrehen, sodass sie gar nicht anders können, als dich heiraten zu wollen. Hast du mich verstanden?«
Die Gabel landete mit einem lauten Klirren auf dem Teller, als ich mich aufrichtete. Ich war bereits im Begriff, zur Tür hinauszustürmen, als mich die mahnende Stimme meines Vaters innehalten ließ.
»Cylus!«
Meine Hand verharrte regungslos auf der Türklinke. »Was?«
»Ist dir klar, was auf dem Spiel steht?«
»Die Ehre unseres Hauses. Unsere Herrschaft«, erwiderte ich matt. Denn das war alles, worum es ging. Worum es immer gegangen war.
»Was für dich auf dem Spiel steht …«
Ich wandte mich um, versuchte, in den dunklen Augen meines Vaters zu lesen, ob er mit mir spielte. Was sollte für mich schon auf dem Spiel stehen? Ich kannte mein Schicksal. Meine Zukunft. Es gab nichts, was der König mir noch rauben konnte.
»Iris Boness«, sagte er, und es kostete mich alles, meine Mimik unter Kontrolle zu behalten.
»Was ist mit ihr?«
»Ihr Urteil steht noch aus. Es steht die Todesstrafe im Raum, aber womöglich könnte ich Milde walten lassen, solltest du mir einen Anlass dafür geben.«
»Ich wüsste nicht, was das mit mir zu tun hat.«
»Ach nein? Halte deinen Vater nicht zum Narren. Allein dein Blick verrät mir alles, was ich wissen muss. Wie viel dir an dieser Göre liegt. Daher rate ich dir, meinem Befehl Folge zu leisten, wenn du nicht willst, dass ihr ein ähnliches Schicksal widerfährt wie deiner geliebten Mutter.«
Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Ich blinzelte, und für einen Augenblick waren sie wieder da. Die Schreie. Die Hitze. Der beißende Gestank von verbranntem Fleisch in meiner Nase.
»Was, wenn Iris unschuldig ist?«, hörte ich mich fragen und erkannte mich kaum wieder.
»Hoffst du das?«
»Nein«, log ich.
»Dann kann ich dich beruhigen. Die Untersuchung zu Cillians Vergiftung wurde heute abgeschlossen.«
»Gibt es einen Bericht?«
»Er liegt bereits auf deinem Schreibtisch, wenn du dich selbst von der Wahrheit überzeugen willst.«
Übelkeit stieg in mir auf. Die Worte des Königs raubten mir schier den Verstand. Es war Iris gewesen. Von Anfang an. Sie hatte es auf mein Leben abgesehen. Und ich hatte ihr vermutlich noch in die Hände gespielt, weil ich wirklich so töricht gewesen war, zu denken, sie wäre anders.
Der Schmerz in meiner Brust war kaum zu ertragen. Ein kaltes Brennen, als hätte Iris einen Speer aus Eis mitten durch sie hindurch gejagt. Verrat.
Ich wünschte, es wäre mir egal. Egal, was sie mir angetan hatte. Egal, was sie mich hatte fühlen lassen. Egal, was mit ihr passierte. Aber das wäre gelogen. Selbst jetzt, trotz der Enttäuschung und des Schmerzes konnte ich den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren. Weil mein naives Herz sich weigerte, zu akzeptieren, dass Iris eine Mörderin war. Etwas, das mein Vater nur zu genau wusste.
»Cylus?«, fragte der König, nachdem ich eine Weile geschwiegen hatte.
Unwillkürlich versteifte ich mich. Ich hob das Kinn und verstärkte den Griff um die Türklinke. Meine Mundwinkel wanderten nach oben, bis sie meine Zähne entblößten. Alles an diesem Lächeln fühlte sich falsch an.
»Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater.«
»Das hoffe ich.«
Mein Körper setzte sich von allein in Bewegung. Die Tür krachte ins Schloss, ihr Echo hallte durch den ganzen Palast. Und ich brannte. Jede Zelle meines Körpers schien vor Wut in Flammen zu stehen. Genauso wie die Wände, der Boden, die Decke.
An solchen Tagen, wenn der Schmerz in meiner Brust besonders unerträglich wurde, meinte ich ihn wieder schmecken zu können. Den Rauch auf der Zunge. Ich meinte zu spüren, wie das Feuer über meine Haut leckte, mein Fleisch zerfraß, während ihre Schreie in meinen Ohren wüteten und jedes andere Geräusch übertönten. Ich war wieder da, in Mums Atelier, steckte fest in der Erinnerung, die mein Leben bestimmte, und erst das eiskalte Wasser der Dusche schaffte es allmählich, mich zurückzuholen.
Keine Ahnung, wie ich es in meine Suite geschafft hatte. Keine Ahnung, wie ich die Brause aufgedreht hatte. Aber ich war hier. Im Jetzt, wo die Kälte des Wassers die Hitze der Flammen allmählich erstickte. Ich lehnte die Stirn gegen die Fliesen aus schwarzem Marmor und versuchte, meinen unregelmäßigen Atem unter Kontrolle zu bringen, während ich die Bilder zurück ins Unterbewusstsein drängte.
Mühevoll konzentrierte ich mich auf meine zitternden Hände, die nassen Ärmel meines Hemds und die Uhr an meinem Handgelenk, die mir mit ihrem steten Ticken versicherte, dass ich noch am Leben war.
Wie ich es hasste, wenn das passierte. Wenn ein einziges Gespräch mich völlig die Kontrolle verlieren ließ und mich in einen unbezwingbaren Strudel aus Erinnerungen riss. Ich hasste es, dass mein Vater diese Macht über mich besaß. Und dass ich mich nicht dagegen wehren konnte.
Ich hasste es, dass er mir so eine Scheißangst einjagte.
Allmählich beruhigte sich mein Puls. Ich streifte die nassen Kleider ab und drehte die Temperatur der Brause auf lauwarm, doch obwohl ich mich nach und nach entspannte, wollte das Unwohlsein nicht weichen.
Die heutigen Dreharbeiten saßen mir zu tief in den Knochen. Die Schuldgefühle schienen mich zu ersticken. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mir Mühe zu geben, doch kaum war ich mit den übrigen sechs Kandidatinnen beim Gruppendate gewesen, hatte Resignation die Kontrolle an sich gerissen. Mein ganzes Leben war ich darauf vorbereitet worden, vor der Kamera den verdammten Traumprinzen zu spielen, und jetzt, wo ich es musste, wünschte ich mir mehr denn je, jemand anders zu sein.
Aber solange ich nicht König war, ging in Vesmon das Geburtsrecht über alles. Und das sah eben vor, dass ich so tat, als wäre ich jemand anders, während neunzehn junge Frauen meinetwegen ihr Leben wegwarfen.
Seit ich denken konnte, hatte es immer wieder Momente gegeben, in denen ich überlegt hatte, wegzurennen, doch das gäbe meinem Vater nur mehr Macht. Eine neue Staffel Royal Games zu seinen Ehren und fünfundzwanzig weitere Jahre an der Spitze unseres Landes mit einer Braut, die halb so alt war wie er.
Nein, so sehr ich mein Leben auch verabscheute, ich konnte nicht einfach davonlaufen. Wenn ich diese grausamen Spiele abschaffen wollte, musste ich sie durchziehen und selbst den Thron besteigen, auch wenn ich mir am Ende nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. Auch wenn das bedeutete, dass …
»Cylus?«, ertönte Malias Stimme aus dem Nebenzimmer. »Bist du da?«
»Dusche«, rief ich zurück.
Sie wartete nicht darauf, dass ich sie hereinbat. Sie dachte auch nicht daran, mich zu fragen, ob es mir gerade passte. Malia und ich waren längst über diesen Punkt hinaus. Und es gab so ziemlich nichts von mir, was sie nicht kannte. In jeglicher Hinsicht.
Beim Betreten des Badezimmers huschte ein anzügliches Grinsen über ihre Lippen. Ich spürte ihren Blick kurz auf meinem nackten Rücken, bevor er unweigerlich auf dem nassen Bündel Kleidung am Boden landete. »Stressiger Tag?«
»Weißt du das nicht schon längst?«
»Ich hab Gerüchte gehört.« Sie strich sich wie beiläufig über die roten Locken und lehnte sich gegen das Waschbecken.
»Hast du das?«
»Gerüchte, dass der Prinz sein Abendessen kaum angerührt hat.«
Ich verzog die Lippen. »Was? Bin ich ein Kind, oder warum werden jetzt auch meine Essgewohnheiten kontrolliert?«
»Willst du drüber reden?«
»Nein.«
»Willst du Ablenkung?«
Ihre Worte klangen beinahe beiläufig, aber ich wusste, was sie meinte, spürte es an der Art, wie sie mich musterte. Und für einen Sekundenbruchteil ließ ich den Gedanken zu. Noch vor ein paar Wochen hätte ich diese ungestörte Zweisamkeit mit Malia sofort genutzt. Nichts war besser als Sex, um die lästigen Erinnerungen für eine Weile aus meinem Kopf zu drängen. Doch im selben Augenblick, in dem ich den Gedanken zuließ, bereute ich ihn bereits.
»Nein.«
»Was? Sag nicht, du hast plötzlich ein Gewissen entwickelt.«
Ich verdrehte die Augen und griff zum Duschgel.
»Du lässt es klingen, als hätte ich nie eines gehabt.«
»Es ist nur ein Angebot, Cylus«, sagte sie knapp.
»Ich weiß. Aber es wäre den anderen gegenüber nicht fair.«
»Sie müssen es ja nicht erfahren.« Plötzlich wanderte ein wissendes Lächeln auf Malias Lippen. »Es sei denn, du redest von jemand Bestimmtem …«
»Mal …«, zischte ich warnend.
»Was? Ich bin nur überrascht, dass dir jemand so den Kopf verdreht, dass du sogar mich von der Bettkante schubst, so unwiderstehlich, wie ich bin.«
Ich ging nicht auf ihren Versuch ein, die Situation locker zu halten, denn das Karussell aus Gedanken hatte schon wieder volle Fahrt aufgenommen. Und dieses Mal drehte es sich um Iris.
Als ich die Lider schloss, um mir die Haare einzuschäumen, tauchte ihr Gesicht vor mir auf. Ihre grünbraunen Augen, die vollen Lippen, ihr nackter Körper unter meinem. Die Art, wie sie meinen Namen rief, flüsterte und stöhnte, ließ mir einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen und entfachte das Feuer von Neuem. Stärker als zuvor.
Hastig drehte ich die Temperatur der Dusche runter und konzentrierte mich auf das Gefühl der Wassertropfen auf meiner Haut.
»Hast du etwas von ihr gehört?«, fragte Malia, obwohl sie es eigentlich besser wissen sollte.
»Sie ist im Gefängnis, oder?«
Einen Moment herrschte Schweigen, was mich stutzig machte. Normalerweise zögerte Malia keine Sekunde, Informationen mit mir zu teilen. Egal, um wen es ging.
»Mal?«
»Ich hab mich umgehört«, gestand sie.
»Und?«
»Nichts. Entweder weiß wirklich niemand, was mit ihr ist, oder dein Vater hat dafür gesorgt, dass keiner am Hof mit mir darüber redet.«
»Ich dachte, vor dir ist kein Geheimnis sicher?«
»Das dachte ich auch.«
Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, nicht daran zu denken, was das bedeutete. Obwohl ich dem König vieles zutraute, hielt ich es für beinahe ausgeschlossen, dass Malia nichts herausfinden konnte. Sie hatte ihre Augen und Ohren überall im Palast. Sie war diejenige, die überhaupt in Erfahrung gebracht hatte, dass jemand einen Anschlag während der Royal Games plante.
Dass sie nicht wusste, wo sich Iris befand, konnte bedeuten, dass man sie wirklich ins Gefängnis gebracht hatte. Oder schlimmer – dass mein Vater vorhin geblufft und sie längst hatte hinrichten lassen.
Ich konzentrierte mich mit aller Kraft auf meine Atmung. Versuchte, die Vorstellung, dass Iris nicht mehr am Leben sein könnte, nicht an mich heranzulassen. Es konnte mir egal sein. Sie konnte mir egal sein. Aber das war sie nicht. Nach allem, was geschehen war, und obwohl sie Cillian vergiftet hatte, war sie mir nicht egal. Weil ich es immer noch nicht schaffte, sie als Mörderin zu sehen.
»Denkst du, sie ist tot?«, fragte Mal geradeheraus.
»Verdammt, Mal.«
»Ich mein ja nur«, erwiderte sie beschwichtigend. »Das würde zumindest die Stille erklären.«
»Er hat mir gedroht«, gestand ich widerwillig. »Der König.«
»Hm?«
»Er hat gesagt, dass er sie zum Tode verurteilt, wenn ich mich während der Spiele nicht zusammenreiße.«
»Könnte ein Bluff sein.«
»Ich weiß. Aber laut der Untersuchung der Garde steckt sie wirklich hinter dem Attentat.«
»Und glaubst du das auch?«
»Warum sollte ich nicht?«
»Weil dir offenbar ziemlich viel an ihr liegt. Sonst würde dein Vater wohl kaum versuchen, dich mit ihr zu manipulieren.«
Gott, wie sehr ich es manchmal hasste, dass mich Malia so leicht durchschaute. Dass sie in Sekunden Gefühle aus mir herauslas, die ich mir auch nach Wochen nicht einzugestehen erlaubte.
»Wenn sie hinter Cillians Vergiftung steckt, tut das nichts zur Sache«, stieß ich mühevoll aus. »Der Untersuchungsbericht liegt auf meinem Schreibtisch, wenn du ihn lesen willst.«
Endlich drehte ich die Brause ab und schnappte mir ein weiches Handtuch vom Heizkörper, das ich mir um die Hüften schlang. Mit einem weiteren trocknete ich meine Haare. Ich trat aus der Dusche und fand mich Malias analytischer Miene direkt gegenüber. Fast schon konnte ich die Worte sehen, die ihr auf der Zunge klebten, doch schließlich nickte sie nur.
»Ich werfe einen Blick drauf und höre mich weiter um.«
»Nein«, sagte ich entschieden.
Malia legte fragend den Kopf schief. »Nein?«
»Es macht keinen Unterschied. In vier Wochen muss ich mir eine Braut aussuchen. Ich darf mich nicht ablenken lassen.«
»Bei den Dreharbeiten wirkst du aber ziemlich abgelenkt.«
Ich schnaubte. »Das werde ich ändern.«
»Du könntest dich vorher betrinken«, schlug sie vor.
»Ist ein bisschen respektlos den Kandidatinnen gegenüber, meinst du nicht?«
»Respektloser, als so zu tun, als hättest du ernsthaftes Interesse daran, eine von ihnen zu heiraten, obwohl du eine andere liebst?«
»Fuck, Malia!«
»Was?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich erwartungsvoll an.
»Was willst du von mir hören?«, fragte ich verzweifelt. »Was schlägst du vor, das ich tun soll?«
Sie zuckte mit den Schultern. Offenbar war ihr genauso klar wie mir, wie aussichtslos die Lage war.
»Was ich fühle oder nicht, spielt keine verdammte Rolle. Hat es noch nie. Und daher ist auch egal, was mit Iris passiert. Mein Vater hätte ohnehin niemals zugelassen, dass sie Königin wird. Und wenn ich sein Spiel spielen muss, um überhaupt etwas zu erreichen, dann soll es eben so sein.«
Malia zog skeptisch die Brauen zusammen und trat einen Schritt auf mich zu. Es wirkte fast, als wollte sie sich vergewissern, dass wirklich ich vor ihr stand.
»Was hast du vor?«
»Ich werde tun, was er verlangt. Ich werde der widerlichste Schleimscheißer, den dieses Land zu bieten hat, bis ich auf dem Thron sitze.«
»Und dann?«
»Dann sorge ich dafür, dass diese sinnlosen Spiele ein für alle Mal Geschichte werden.«
Chatter – Top 10 Posts des Tages #royalgames34
MauriceT @TMaurice
Keine Ahnung, wie’s euch geht, aber ich fühle den neuen Prinzen nicht. #royalgames34
Julia @julia_niederstrasser_
Anfangs dachte ich, es wäre nur der Schock über diesen Twist, aber ich werde immer noch nicht warm damit und finde es den Girls gegenüber ziemlich mies! #royalgames34
Nikki @ylikedis
Die #royalgames34 so ›Just a prank, bruh‹, aber keiner hat gelacht.
Asiya @a.s.i.y_a
Petition, dass Cillian wieder Prinz wird, wann? #royalgames34
E-Lou @ellalouise1
Ey, ich hoffe, die #royalgames34 haben sich was Gutes für das Gruppendate morgen überlegt, dass alle mal wieder auftauen.
Alina @alina.bookworm
Maybe der erste Tag heute, wo ich ernsthaft überlege, mir statt der #royalgames34 einen Film anzumachen. Hat jemand Empfehlungen?
Rodney @RodTheRodent
Nicht nur, dass jetzt alles super awkward ist, weil keine weiß, wie sie mit dem neuen Prinzen umgehen sollen – ist sonst noch wem aufgefallen, dass Cylus abwesend wirkt? #royalgames34
Verena @verena_bachmann_autorin
Normalerweise stehe ich echt auf coole, unnahbare Dudes, aber super unterhaltsam ist das nicht. #royalgames34
Christin @christins_wunderkiste
Kann bitte irgendjemand irgendwas tun? Laaaaaaaangweilig. #royalgames34
Chiara @Kiki82
Boah, ich ertrage Clovers Fresse langsam wirklich nicht mehr. Können die Kameras bitte mal wieder mehr von den Kandidatinnen zeigen, für die sich die Leute interessieren? Ach nee, Iris wurde ja rausgeworfen. #royalgames34
It’s always darkest
Iris
Wenn es der Plan des Königs war, mich mit Langeweile zu brechen, dann war er auf dem besten Weg. Ein dunkles Verlies in irgendeinem Keller wäre nicht so schlimm wie diese Tortur. Eingesperrt in einem der opulenten Gästezimmer des Palasts ohne Fernseher, Handy oder ein gutes Buch. Die Wachen, die mir dreimal am Tag Essen vorbeibrachten, unterhielten sich nicht mit mir. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass es mir an nichts mangelte, aber tagelang dazu verdammt zu sein, tatenlos aus dem Fenster zu starren, während die Welt sich weiterdrehte, war die reinste Folter.
Ich hatte keine Ahnung, ob Cillian noch lebte. Keine Ahnung, was bei den Spielen passierte. Und keine Ahnung, was mit mir geschehen würde. Alles, was ich wusste, war, dass das rote Eichhörnchen im Baum vor meinem Fenster Nüsse in einer Höhle hortete, die hin und wieder von einem grauen Eichhörnchen gestohlen wurden. Noch hatte ich keine Namen für sie, aber wenn ich länger hier feststeckte, würde mir sicher etwas Passendes einfallen.
Bis dahin war ich dazu verdammt, alle paar Stunden meine Position zu wechseln. Vom Fensterbrett zum Bett und von dort irgendwann auf den Boden, wo ich hingehörte. Ein seltsames Déjà-vu wie bei meiner Ankunft im Palast. Nur, dass Cylus sich nicht blicken ließ, um mir zu sagen, dass ich aufstehen solle.
Ich seufzte. Jedes fucking Mal, wenn er in meinen Gedanken auftauchte, seufzte ich, und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, weil ich so scheiße wütend auf ihn war. Weil er sich so leicht hatte überzeugen lassen, dass ich hinter dem Attentat auf Cillian steckte. Nach allem, was wir durchgemacht hatten, vertraute er mir immer noch nicht, und das schmerzte fast mehr als die Tatsache, dass ich ihm nie hätte vertrauen dürfen.
Er war der Prinz. Der verdammte Prinz. Er hatte mich angelogen. Und ich war auch noch so naiv gewesen, mich in ihn zu verlieben. Gott, was war nur falsch mit mir?
Ich war nie für meine geistreichen Entscheidungen bekannt gewesen, aber in eine solche Scheiße wie jetzt hatte ich mich bisher noch nicht hineinmanövriert. Ich war am Ende. So was von am Ende.
Keine Ahnung, wieso sie mich in diesem Zimmer vermodern ließen. Ich war davon ausgegangen, dass sie mich sofort ins Gefängnis werfen würden, aber vielleicht galten für Kandidatinnen der Royal Games, die angeblich versucht hatten, den Nicht-Prinzen umzubringen, andere Regeln?
Oder vielleicht …
Als die Tür aufgerissen wurde, fuhr ich erschrocken zusammen und richtete mich aus reinem Reflex von meiner liegenden Position auf. Ein kindischer, naiver Teil von mir hoffte, Cylus würde hereinkommen, vor mir auf die Knie fallen, sich entschuldigen, dann mit mir durchbrennen und ein neues Leben auf einem anderen Kontinent anfangen. Aber die Langweile hatte sich offensichtlich auf meine Kreativität ausgewirkt.
Stattdessen kam der Mann durch die Tür, den ich am allerwenigsten sehen wollte: der König. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, sein grau melierter Vollbart war sauber gestutzt, und die dunklen Locken waren zurückgekämmt. In seinem Blick lag eine solche Feindseligkeit, dass ich unwillkürlich darunter zusammensinken wollte. Aber diese Genugtuung durfte ich ihm nicht geben.
»Begrüßt du so deinen König?«
»Ich sitze auf dem Boden«, informierte ich ihn. »Nicht leicht, einen Knicks zu machen.«
Ich wusste, wie gefährlich ich lebte, wenn ich mich dem König gegenüber so verhielt, aber was hatte ich schon zu verlieren? Und mein Respekt ihm gegenüber hatte sich in dem Moment aufgelöst, als er mich vor dem Rat der Spiele mit Blitzen gegrillt und mir einen Mord unterstellt hatte.
»Für diese Unverfrorenheit könnte ich dich hängen lassen.«
»Habt Ihr das nicht ohnehin vor? Wo ich sowieso eine Mörderin bin?« Noch vor einer Woche hätte ich vermutlich geheult, aber mittlerweile war es, als hätte ich keine Tränen mehr. Mir fehlte die Kraft für Trauer. Jetzt gab es nur noch Wut und Bitterkeit, etwas, das dem König ebenfalls klar zu werden schien. Missbilligend verschränkte er die Arme vor der Brust, und mir kam ein Gedanke.
»Es sei denn, Ihr habt immer noch keine Beweise für meine Schuld gefunden.«
»Ich habe alle Beweise, die ich brauche.«
»Ach ja?« Als ob. Wie wollten sie mir etwas anhängen, das ich nicht getan hatte? »Welche zum Beispiel?«
»Dein loses Mundwerk oder mich als Lügner zu bezeichnen, wird dir nicht helfen.«
Ich verkniff mir ein überlegenes Lächeln, denn offenbar lag ich mit meiner Vermutung richtig. »Mir würde nicht im Traum einfallen, Eure Majestät einen Lügner zu nennen, der mich für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe, hinrichten lassen will.« Ich ballte unauffällig die Hände zu Fäusten. »Und wir wissen beide, dass mir nichts helfen kann, wenn Ihr mein Urteil sowieso längst gefällt habt.«
»Hast du denn keine Angst? Würdest du dein Leben einfach so wegwerfen?« Seine Stimme klang trügerisch sanft, und in seinen Augen schien tatsächlich Neugierde zu stehen, als würde ihn die Antwort wirklich interessieren. Als hätte ich eine verdammte Wahl.
»Ist ja nicht so, als wäre das, was mit meinem Leben passiert, meine Entscheidung«, antwortete ich matt. »Und falls Ihr nur hergekommen seid, um mich daran zu erinnern …«
»Ich bin hier, um dir ein Angebot zu machen.«
Ich wurde hellhörig. Dabei würde ich ihn am liebsten ignorieren. Ich wollte nicht, dass er sah, dass mich seine Worte noch immer beeinflussen konnten. Ich wollte, dass mir alles, was aus seinem Mund kam, egal war. Nur war es das nicht. »Ein Angebot? Welches?«
»Ich möchte, dass du zu den Royal Games zurückkehrst.«
»Was?«, stieß ich aus und riss erschrocken die Augen auf, bevor ich vehement den Kopf schüttelte. »Danke. Aber nein, danke. Eher würde ich …«
»Sterben?«, beendete der König meinen Satz. »Dafür kann ich sorgen.«
Fassungslos starrte ich ihn an. Das war sein Ernst. Sein fucking Ernst? Er wollte mich zurück in die Spiele schicken? Nach allem, was passiert war. Nach allem, was ich jetzt wusste … »Ihr stellt mich also vor die Wahl zwischen meinem Tod und meinem Tod. Offenbar haben wir unterschiedliche Definitionen von einem ›Angebot‹.«
Der König funkelte mich ungläubig an und sah Cylus dabei für einen Moment so ähnlich, dass ich mich wunderte, wieso ich nicht schon früher hinter sein Geheimnis gekommen war. So ähnlich, dass es wehtat.
»Eine Wahl zwischen dem sicheren Tod und einer Chance«, verbesserte mich der König.
»Einer Chance? Ihr würdet doch niemals zulassen, dass ich die Royal Games gewinne.«
»Mach dich nicht lächerlich. Natürlich wirst du die Spiele nicht gewinnen.«
Obwohl ich darüber nicht überrascht war, konnte ich nicht verhindern, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog.
»Aber solltest du es unter die Top 3 schaffen, kann ich dafür sorgen, dass du den Palast unter glücklicheren Umständen verlässt. Freigesprochen.«
Ich runzelte die Stirn, darum bemüht, mir nicht anmerken zu lassen, was dieses Angebot in mir auslöste. »Und wenn ich vorher sterbe?«
»Das sind die Spiele.«
»Weiß Cylus davon?« Ich versuchte, meine Stimme unbeteiligt klingen zu lassen, obwohl sich allein die Silben seines Namens auf meinen Lippen wie ein verbotener Kuss anfühlten. »Kann mir nicht vorstellen, dass er besonders scharf darauf ist, mich zu sehen.«
Und das war nicht mal übertrieben. Er hatte deutlich gemacht, was er von mir hielt. Wem er vertraute und wem nicht. Und selbst wenn dem nicht so wäre, änderte es nichts daran, dass ich nie mit ihm zusammen sein könnte. Mein Verstand wusste das. Mein Bauch, der vor Wut brodelte, wusste das. Aber mein naives Herz glaubte immer noch, das alles würde ein glückliches Ende nehmen.
»Der Prinz kennt seine Verpflichtungen«, informierte mich der König. »Jetzt mehr denn je hat er Besseres zu tun, als sich von einem vorlauten Stück wie dir um den Finger wickeln zu lassen.«
»Ein vorlautes Stück, von dem eure Quote abhängt. Oder nicht? Warum sonst solltet ihr mich unbedingt zurück bei den Spielen haben wollen?« Die Erkenntnis kam so plötzlich, dass ich meine Worte nicht einmal überdenken konnte, da waren sie schon heraus.
»Du überschätzt deinen Wert.«
»Oh nein, ich glaube nicht«, erwiderte ich mit einem Selbstbewusstsein, das mich überraschte. »Euch liegt zu viel an der Integrität Eurer Spiele, um mich einfach gehen zu lassen.«
»Genug!«, donnerte der König, und Blitze schossen aus dem Boden. Sie kamen auf mich zugeschnellt und zogen immer engere Kreise um mich, ohne mich zu berühren. Dennoch konnte ich ihr elektrisches Prickeln und die Magie auf meiner Haut spüren. Eine Drohgebärde, die mich unweigerlich zurück in den Verhandlungssaal warf.
Ich unterdrückte den Impuls, mich zu wehren, denn wahrscheinlich wartete er nur darauf, dass ich ihm einen neuen Grund lieferte, mich zu verurteilen. Doch so weit würde es dieses Mal nicht kommen. Ich hatte meine Lektion gelernt.
»Du wirst direkt morgen zu den Spielen zurückkehren«, informierte mich der König. »Du wirst dich mit aller Macht darum bemühen, unter die Top 3 zu kommen. Und du wirst niemals, niemals Königin werden. Hast du das verstanden?«
Ich zuckte nicht einmal mit der Wimper, als die Blitze noch näher kamen. Statt sie mich verlieren zu lassen, half die Wut mir, die Kontrolle zu behalten. Am Ende hielt sie sogar meine Angst im Zaum.
»Ob du das verstanden hast?«, wiederholte der König, und die gesamte Luft im Raum schien jetzt wie aufgeladen. Hinter den Fenstern verdunkelte sich die Sonne.
Innerlich kochte ich, doch obwohl ich am liebsten all den Zorn in einem Gewitter entladen hätte, nickte ich. »Ja, habe ich.«
»Gut.« Der König zeigte ein zufriedenes Lächeln, in dem nicht eine Spur Wärme lag. »Dann sehe ich dich am Sonntag zum Ball. Sofern du bis dahin bestehst.«
Übelkeit stieg in mir auf, während er sich abwandte und ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus verschwand.
Sofern du bis dahin bestehst. Es klang wie eine verdammte Drohung. Was es zweifelsohne war. Als König kannte er die Spiele und vermutlich ebenso die Pläne der Produktion. Sicher wusste er längst, was mich erwartete. Und sicher rechnete er fest damit, dass ich verlor. Aber ausnahmsweise stieg mir diese Feststellung nicht zu Kopf. Obwohl ich es besser wusste, obwohl ich mich fürchten sollte, packte mich mit einem Mal eine seltsame Motivation. Der Wille, mich zu beweisen. Ihm zu zeigen, dass er sich in mir getäuscht hatte. Der Wille, um jeden Preis zu überleben.
Während ich den Nachmittag mit der gewohnten Langeweile verbrachte, kamen mir immer wieder Zweifel. Zweifel daran, ob ich eine Chance hatte zu überleben. Zweifel, ob der König seine Worte überhaupt ernst gemeint hatte. Zweifel, ob ich mir das Gespräch mit ihm nicht nur eingebildet hatte.
Dann stand plötzlich Felicity in meinem Zimmer.
»Hast du geduscht?«, wollte sie ohne ein Wort der Begrüßung wissen.
»Heute Morgen.«
»Gut. Du hast in einer halben Stunde einen Termin bei deiner Stylistin. Danach ein Fotoshooting für die Truth Daily. Sie haben dich für ein Interview angefragt, aber in Anbetracht der Umstände hat unsere PR-Abteilung die Fragen für dich beantwortet, was auf keinen Fall zur Gewohnheit werden soll, deshalb müssen wir uns schleunigst daranmachen, alles Wichtige zu besprechen.«
Geschäftig ließ sie sich auf dem einzigen Sessel im Raum nieder, ein unbequemes, mit cremefarbenem Samt bezogenes Ding, das einen scharfen Kontrast zu ihrer dunkelbraunen Haut bot, und schlug ein Notizbuch auf. Keine Ahnung, ob mich ihre pragmatisch direkte Art nervte oder ich nicht insgeheim sogar dankbar dafür war. Ein Ziel vor Augen zu haben, half. Punkte auf einer imaginären To-do-Liste, die ich einen nach dem anderen abarbeitete, um nicht daran zu denken, dass jeder Atemzug mein letzter sein könnte.
Seufzend nahm ich die Füße von der Fensterbank, um mich einigermaßen vernünftig hinzusetzen. »Was habe ich verpasst?«
Ich studierte Felicitys ausdruckslose Miene, auf der Suche nach einem Hinweis darauf, ob sie es wusste. Ob sie wusste, was man mir vorwarf? Ob sie wusste, unter welchen Bedingungen der König mich zurück in diese grausamen Spiele schickte.
»Nicht sonderlich viel. Dass der wahre Prinz offenbart wurde, ist dir sicherlich bewusst.«
Ich schluckte und kämpfte mit aller Macht gegen das Stechen in der Brust an, als Cylus’ Gesicht in meinen Gedanken auftauchte. Prinz Cylus. »Ja.«
»Ursprünglich wollten wir damit bis zur Halbzeit warten, aber durch Cillians Unpässlichkeit waren wir gezwungen, unsere Pläne umzuwerfen.«
»Unpässlichkeit heißt?«, fragte ich mit staubtrockener Kehle, doch Felicity ging nicht darauf ein.
»Sicher wurdest du bereits informiert, dass du ab morgen wieder Teil der Show bist. Deine Rückkehr erfolgt im Zuge der Icebreaker-Challenge, nach der du …« Erneut betrat jemand, ohne zu klopfen, den Raum. »Ach, Malia. Wie schön, dass du es einrichten konntest.«
Für einen Moment hatte ich das Gefühl, das Herz würde mir in die Kehle hüpfen und mich von innen ersticken. Beim Anblick der blassen rothaarigen Frau, die mit ihrem perfekt sitzenden Make-up, dem schwarzen Jumpsuit und den schwindelerregend hohen Pumps auf das Cover eines Modemagazins gehörte, hatte ich das Gefühl zu erstarren. Bisher hatte ich sie nur einmal kurz gesehen, doch die Umstände dieser Begegnung hatten sich tief in mein Gedächtnis gebrannt.
Eine alte Freundin, so hatte Cylus sie bezeichnet, ohne mir genauer zu erklären, was er damit meinte.
»Hey.« Weder ihre ungezwungene Antwort noch die Art, wie sie sich ans Fußende meines Betts setzte, als wäre das hier ihr Zimmer, passte an den Hof. Sie musterte mich mit verschränkten Armen. Unter dem ungnädigen Blick ihrer braunen Augen glaubte ich für einen Moment sogar selbst, schuldig zu sein.
»Iris, darf ich dir Malia Narramore vorstellen? Da seine Königliche Hoheit jetzt anderen Verpflichtungen nachkommen muss, hat sie sich freundlicherweise dazu bereiterklärt, deine Mentorin zu werden.«
Hat sie das?
»Malia, vielleicht möchtest du selbst noch ein paar Worte sagen.«
»Nein, schon gut. Iris wird mich in den nächsten Wochen sowieso nicht los. Wir sollten das Briefing durchgehen, damit wir alle auf demselben Stand sind. Die Formalitäten können warten.«
»Sehr wohl.« Felicity räusperte sich und strich sich über die kurzen roten Haare. »Wie gesagt, kehrst du ab morgen zur Show zurück. Dein Auftritt kommt als Überraschung bei der Challenge. Nach dieser brauchen wir ein ausführliches Confessional. Anschließend läuft alles wieder so ab, wie du es gewohnt bist.«
»Einfach so?«, fragte ich überrascht. »Ihr lasst mich einfach so zurück zu den anderen?«
»Gibt es einen Grund, warum wir das nicht tun sollten?« Malias Stimme war scharf wie ein Messer, aber ich war nicht so naiv, ihr in die Hände zu spielen. Sie gehörte zum Hofstaat, und damit konnte ich ihr genauso wenig trauen wie irgendjemand anderem.
»Die Frage scheint Ihr wesentlich zufriedenstellender beantworten zu können als ich.«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, doch Felicity ließ sich von diesem kurzen Austausch nicht ablenken.
»Aufgrund der Umstände mussten wir unsere Ausstrahlung ein wenig anpassen. Das bedeutet, dass du für das Publikum seit der Stadium-Challenge offiziell ausgeschieden bist.«
»Was? Ihr habt doch gefilmt, wie der Prin… wie Cillian mich zurückgeholt hat.«
»Wir mussten unseren Sendeplan umstellen – wie du dir sicher vorstellen kannst. Die Ausstrahlung nach der Challenge ist ausgefallen. So hatten wir Zeit, das Material neu zusammenzuschneiden und uns Gedanken über das weitere Vorgehen zu machen.«
»Und wie rechtfertigt ihr meine Rückkehr?«
»Wir hatten ein paar Optionen. Ursprünglich war unser Gedanke, dass du dich über die Regeln der Spiele hinwegsetzt und zum Palast zurückkehrst. Das würde auch zu deinem Character Arc passen.«
»Ich habe einen Character Arc? Was bin ich? Eine fucking Figur aus einer Serie?«
»Achte auf deine Wortwahl«, informierte mich meine neue Mentorin, woraufhin ich ihr einen scharfen Blick zuschoss. Ein weiterer Pfeil gesellte sich zu den Dutzenden, die bereits in meinem Herzen steckten.
»Du bist unsere Rebellin.« Felicity setzte eine diplomatische Miene auf. »Dafür lieben dich die Leute und würden es daher sicher feiern, wenn du dich ein weiteres Mal über die Konventionen hinwegsetzt, um deinem Herzen zu folgen.«
Ich verdrehte die Augen. Mein Herz wollte das genaue Gegenteil, was sicherlich alle hier wussten.
»Allerdings würde das mit unserem Plot Twist kollidieren.«
»Wieso? Wäre das nicht genau das, was ihr wollt? Ich komme auf einem magischen Einhorn in den Palast zurück, um mir meinen Prinzen zu schnappen. Nur wurde der in der Zwischenzeit ersetzt. Ist das nicht genau eure Art von Drama?« Ich hasste mich so sehr dafür, dass ich nicht mal dann die Klappe halten konnte, wenn mein Leben davon abhing. Es war nicht Felicitys Schuld, dass ich in dieser Scheiße steckte. Sie hatte meinen Frust nicht verdient.
»Auch das haben wir natürlich abgewogen – minus das Einhorn –, aber ob du’s glaubst oder nicht, das war sogar uns ein bisschen zu viel Action. Wir wollen Drama, ja. Aber auf keinen Fall alles auf einmal. Außerdem ist schon zu viel Zeit verstrichen, um zu rechtfertigen, dass du den Twist nicht mitbekommen hast.«
»Was, wenn sie eine Affäre mit ihrem Mentor hatte und seinetwegen zurückgekommen ist?«
Ich verlor die Kontrolle über meine Gesichtszüge. An Pfeil Nummer 36 war eine Bombe gekettet, die in meinem Brustkorb losging. Das konnte nicht Malias Ernst sein.
Glücklicherweise entging Felicity, wie viel Wahrheit in diesen Worten steckte. Zumindest wirkte sie mehr belustigt als schockiert oder besorgt. »Ich kann dich gern in der Produktion empfehlen, falls du dich beruflich umorientieren willst, Malia.«
Die Angesprochene grinste unschuldig, als hätte sie nicht gerade mein letztes Geheimnis ausgeplaudert. »Aktuell hab ich hier noch alle Hände voll zu tun, aber eventuell schicke ich dir nach den Spielen meinen Lebenslauf.«
»Ich bitte darum.« Felicity wandte sich wieder mir zu. »Wie du siehst, war es schwierig, etwas auszuarbeiten, das in die Kontinuität der Show passt, ohne künstlich zu wirken. Aber wie so oft ist die einfachste Lösung die beste. Die Tatsache, dass du Prinz Cylus’ ›Liebe auf den ersten Blick‹ bist, zusammen mit deinem Einsatz in der Stadium-Challenge, gibt uns genug Raum, deine Rückkehr zu rechtfertigen, weil seine Hoheit es so wollte.«
Die zweite Hälfte des Satzes schaffte es kaum, in mein Gehirn vorzudringen. Ich hörte sie, konnte sie jedoch nicht verarbeiten, weil sich mein Kopf zu sehr an dem anderen Teil festhing. »Ich bin Cylus’ was?«
»Seine Liebe auf den ersten Blick«, erwiderte Felicity wie selbstverständlich, und mein Herz schien komplett zu versagen, während ich Malias Blick deutlich auf mir spürte. »Ganz am Anfang, kurz nach eurer Ankunft, hat er Jeff verraten, welche der Kandidatinnen ihm sofort ins Auge gestochen ist. Und das warst du.«
Felicity lächelte, als wäre das etwas, worüber ich mich freuen sollte. Und ehrlicherweise tat ein Teil von mir das auch. Weil es bedeutete, dass er seine Worte ernst gemeint hatte. Dass er mich von Anfang an gewollt hatte und sich deshalb im Hintergrund für mich eingesetzt hatte.
Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Er war davon überzeugt, dass ich eine Mörderin war. Was auch immer er für mich empfunden hatte, es war weg. Zunichtegemacht von seinem grausamen Vater, der mich lieber tot sah als an der Seite seines Sohns. Und Cylus glaubte seine Lügen ohne Weiteres.
Ich versuchte, mir ein gezwungenes Lächeln abzuringen, doch die Anweisung erreichte meine Mundwinkel nicht. Stattdessen brannten meine Augen, und Leere füllte meine Brust.
»Alles klar«, hörte ich mich tonlos sagen.
»Wir werden dazu morgen noch ein paar Aufnahmen machen. Aber eins nach dem anderen.« Felicity schaute auf ihre Uhr. »Malia, wenn du nichts mehr hinzuzufügen hast, würde ich Iris gleich zu ihrem Termin bringen.«
»Eines noch.« Malia richtete sich auf und kam auf mich zu, dabei förderte sie aus der Tasche ihres Jumpsuits etwas zutage, bei dem es sich um irgendein Schmuckstück handelte. »Streck den Arm aus.«
Zögernd kam ich ihrer Aufforderung nach. Ich spürte den Zauber, der darin schlummerte, schon von Weitem. »Was ist das?«
»Ein Armband«, erklärte Malia, »das die Nutzung von Magie unterbindet. Eine Sicherheitsmaßnahme mit besten Grüßen Seiner Königlichen Majestät.«
Ich biss die Zähne zusammen. Der König konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass ich für irgendjemanden eine Gefahr darstellte außer mich selbst. Missmutig betrachtete ich das Stück, das Malia mir anlegte. Zwei feine Ketten aus Weißgold waren in regelmäßigen Abständen durch metallene Blütenblätter miteinander verbunden. Das Herzstück bildete eine etwas größere, mit funkelnden Diamanten besetzte Rose. Die filigrane Arbeit und das Gewicht zeugten davon, dass es sich dabei nicht um billigen Modeschmuck handelte. »Hätte es ein Gummiband nicht auch getan? Oder gleich eine Fußfessel?«
Malias Miene blieb unerwartet kühl, fast schon resigniert, als sich der magische Verschluss von allein um mein Handgelenk verengte. »Vielleicht solltest du das Seine Majestät selbst fragen, wenn du ihn das nächste Mal siehst.«
Sicher nicht.
»Wie gesagt, der Zauber im Armband verhindert, dass du Magie wirken kannst. Ebenso lässt es sich nicht einfach so abnehmen.«
»Was ist mit den magischen Challenges?«
Zum ersten Mal wirkte Malia kurz verunsichert. »Das bringe ich in Erfahrung. Wenn ich es einrichten kann, begleite ich dich morgen zum Dreh. Ansonsten sehen wir uns nach dem Abendessen zum Mentoring.«
Ich nickte, unsicher, wie ich mich deshalb fühlen sollte. Gerade wirkte sie zumindest halbwegs bemüht. Doch das konnte täuschen. Sicher war sie mir nicht ohne Grund zugeteilt worden. Oder hatte sich einfach so bereit erklärt, Cylus’ alten Job zu übernehmen. Ob der König sie dazu abbestellt hatte, mich im Auge zu behalten, um doch einen Beweis für meine Schuld zu finden? Dann wiederum hatte er längst deutlich gemacht, dass er keinen brauchte.
Nein. Ich musste vorsichtig sein. Nicht nur während der Show, sondern in jeder freien Minute, wenn ich die Spiele irgendwie überleben wollte. Jetzt, da Cylus mir nicht länger den Rücken freihielt, war ich auf mich allein gestellt. Mehr als ohnehin schon. Aber ich konnte nicht aufgeben. Ich wollte nicht aufgeben. Wollte kein weiterer Name auf einer endlosen Liste an Kandidatinnen der Royal Games sein. Ich wollte überleben. Ich wollte diesen Palast verlassen.
Und am Ende einfach alles vergessen …
Literally always, if you’re me
Und so wurde ich erneut zur Kandidatin der Royal Games.
Es war seltsam. Einerseits kam es mir vor, als wären Jahre vergangen, seit ich zum letzten Mal von Isla auf eine Sendung vorbereitet worden war. Und gleichzeitig hätte es genauso gut gestern sein können.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du zurück bist«, erwähnte meine Stylistin zum gefühlt zehnten Mal, während sie mir Eyeliner auftrug. Dabei hatte sie mich gestern schon für das Fotoshooting geschminkt. »Gott, ich bin so erleichtert.«
»Sag nicht, du hast mich vermisst.«
»Und wie. Meine Familie und, ich glaube, so ziemlich das ganze Königreich. Versteh mich nicht falsch, die anderen Girls sind absolut wundervoll, aber alle so verdammt steif. Und mit dem Plot Twist wird keiner so richtig warm. Gut, dass du ein wenig Feuer in die Sache bringst.«
Ich bemühte mich, eine neutrale Miene zu bewahren. Isla hatte durchblicken lassen, dass niemand zufrieden mit der neuesten Entwicklung der Royal Games gewesen war. Die Kandidatinnen wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten, das Volk war genervt, und Cylus fehlte es wohl an der Offenheit, die sein Cousin immer ausgestrahlt hatte. Eine wirkliche Überraschung war das nicht. So wie ich ihn kennengelernt hatte, war er noch weniger fürs Fernsehen geeignet als ich. Und jetzt musste er nach allem, was passiert war, plötzlich vor der Kamera den Traumprinzen spielen? Schwer vorstellbar. Sicher hatte er auch keine Luftsprünge gemacht, als man ihm verkündet hatte, dass ich ab sofort wieder von der Partie sein würde.
Ohne Zweifel hatte der König mir deshalb diese »Chance« gegeben. Eben weil er sich erhoffte, dass ich das Ruder herumreißen konnte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie. Ich wusste nicht, wie ich das Publikum begeistern sollte, und war mir ziemlich sicher, dass Cylus mich nicht einmal anschauen würde, sobald ich ihm unter die Augen trat.
Verdammt, das würde furchtbar werden. Schlimmer als die ersten Wochen.
Als die Tür zur Umkleide geöffnet wurde, konnte ich nicht verhindern, dass mein Herz einen kleinen Satz machte. Weil dieses naive Organ in meiner Brust wirklich glaubte, es wäre Cylus, der mir einen Besuch abstattete, um … keine Ahnung.
Es war Malia, die hereinkam, in der Hand einen Tumbler mit schillerndem Meerjungfrauenmotiv und Strohhalm. Ich erkannte das Logo darauf wieder. Es war ein Souvenircup, den es bei SirenCoffee zu kaufen gab. Sie reichte ihn mir.
»Ich hab nicht superviel Zeit, aber ich dachte, das kannst du gebrauchen. Double Caramel Latte mit Mandelmilch.«
Irritiert starrte ich auf den Silikondeckel, auf den jemand mit Edding #teamiris geschrieben hatte.
»SirenCoffee?«, wollte ich verblüfft wissen. »Wie?«
»Sicherheitsfreigabe Stufe 3.« Sie zwinkerte mir verschwörerisch durch den Spiegel zu. »Ich hol mir dort jeden Morgen mein Frühstück, um wenigstens ein paar Minuten aus dem Palast zu kommen. Laut den Daten der Produktion ist das dein liebstes Heißgetränk, und auch wenn du vermutlich kein Koffein brauchst, dann wenigstens etwas anderes als Tee und stilles Wasser.«
»Danke.« Ein aufrichtiges Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich einen Schluck des pappsüßen Getränks nahm, das mehr Milch und Zucker als Kaffee war. Himmlisch.
»Du hättest die Barista sehen sollen, als ich ihr gesagt hab, für wen der Kaffee ist.«
»Sollte das nicht bis zur nächsten Sendung geheim bleiben?«, fragte Isla.
Malia zuckte mit den Schultern. »Alles Teil des Plans. Wenn die Gerüchteküche wegen Iris vorher schon kocht, schalten bestimmt mehr Leute zu.«
Ich nahm einen weiteren Schluck, wobei mein Blick wieder an dem Schriftzug hängenblieb. #teamiris. Es kam mir wie ein Fehler vor. Glaubten die Leute das wirklich? Mochte das Publikum mich so sehr? Ich kannte meine Zahlen, Cylus hatte sie mir gezeigt, aber … es fühlte sich wie eine Verwechslung an.
»Ich hab gleich einen Termin«, sagte Malia plötzlich, wobei sie sich einen Eyeliner aus Islas Fundus schnappte und im Spiegel ihren eigenen, prominenten Lidstrich nachzog. »Brauchst du noch etwas?«
Was ging hier vor sich? Warum gab sie sich so viel Mühe? Warum tat sie so, als würde sie mir aufrichtig helfen wollen?
»Keine Ahnung. Einen Tipp, was in dieser Challenge passiert? Irgendeine Weisheit, die du mit mir teilen willst? Und bitte sag mir nicht, dass ich einfach ich selbst sein soll.«
Sie schnaubte amüsiert. »Ich sehe, du bist schon gebrieft. Aber nein. Ich glaube, du weißt mittlerweile, wie du dich für die Spiele verhalten sollst.« Sie legte den Liquid Liner wieder weg und strich ihre roten Wellen zurecht, bevor sie sich umwandte. »Ich kann dir nicht verraten, was gleich passiert.«
»Okay.«
Kurz wurde ihre Miene ernster. Der Ausdruck in ihren braunen Augen unergründlich. »Bleib stark. Das ist der beste Tipp, den ich habe.«
Ich schluckte, spürte, wie sich meine Kehle unter ihren ominösen Worten zuschnürte. »Ich versuch’s.«
»Gut. Dann sehen wir uns heute Abend.« Sie ging zur Tür, hielt aber noch mal kurz inne. »Oh, und Isla?«
»Ja?«
»Den anderen Lippenstift.«
»Den hier?« Aus dem Augenwinkel sah ich nicht, was sie hochhielt.
»Ja, genau.«
Isla hielt mein Make-up überraschend schlicht. Kein Lidschatten, sondern nur brauner Eyeliner und Wimperntusche. Statt Schichten an Foundation benutzte sie CC-Cream und Puder. Lediglich meine Lippen waren in einem tiefen Rotton geschminkt, sodass sie riesig wirkten.
Das lange Kleid, in das sie mich steckte, war sommerlich. Dünne Träger, tiefer V-Ausschnitt und ein mit gestickten Lilien verziertes Korsett, das in einen Rock aus schwarzem und rosafarbenem Tüll überging. Es war hübsch, auch wenn ich im Hinterkopf deutlich die Stimme meiner Mutter hören konnte, die mich darauf hinwies, dass ich besser meine dicken Oberarme verdecken sollte.
Felicity brachte mich zu einer hohen Tür, hinter der ich den Thronsaal vermutete. Obwohl ich mir in den immer gleichen Korridoren des Palasts nie völlig sicher war, wo ich mich gerade befand.
»Die anderen sind schon drin«, informierte sie mich, während sie die obere Lage meines Rocks zurechtzupfte. »Wir starten gleich mit dem Dreh. Jeff wird ein paar Worte sagen, dann wird die Tür geöffnet. Du trittst ein und wirst von den anderen in Empfang genommen. Gern darfst du ein bisschen weinen.«
Weinen? Als ob ich das auf Kommando konnte.
»Es soll ruhig schön emotional werden. Danach startet die Challenge. Alles klar?«
Ich nickte. Mittlerweile hatte das mir zu vertraute Lampenfieber eingesetzt. Das Wissen, dass ich wieder in den Royal Games sein würde, sickerte erst jetzt vollständig in mein Bewusstsein durch, und mit ihm kam die Panik.
Vorsichtig und darum bemüht, mir keinen Blick auf den Thronsaal zu gewähren, schob Felicity sich durch die Tür. In der darauffolgenden Stille kam mir das schnelle Pochen meines Herzens dreimal so laut vor, sodass ich das Gefühl hatte, das Echo würde von den hohen Wänden zurückgeworfen werden.
Scheiße.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Fieberhaft sah ich mich um, während sich Fluchtgedanken manifestierten, einer waghalsiger als der andere. Ich hatte Mühe, die Beine stillzuhalten. Musste alle Kraft dazu verwenden, nicht einfach loszurennen. Weil es keinen Ausweg gab. Jetzt weniger denn je. Ich konnte nicht fliehen. Ich konnte nicht mit Absicht verlieren. Ich konnte nicht gewinnen. Ich musste dieses verdammte Finale erreichen. Vier Wochen und drei Tage. Fünf magische Challenges. Fünfmal überleben. Für meine fucking Freiheit.
Wie? Wie sollte ich das nur schaffen?
Aus dem Innern des Thronsaals drang Jeffs Stimme klar und deutlich zu mir durch.
»Ladys! Willkommen, willkommen zu unserer heutigen Challenge. Nachdem ihr die letzten Tage bereits Gelegenheit hattet, euren wahren Prinzen kennenzulernen, ist es nun an der Zeit, das Eis zu brechen und die Temperaturen ordentlich aufzuheizen, meint ihr nicht?«
Die anderen jubelten, doch von hier aus klang es verhalten.
»Passenderweise haben wir unsere heutige Herausforderung auch genau so benannt: Die Icebreaker-Challenge. Bevor ich euch aber gleich die Regeln erkläre und endlich enthülle, was es mit dieser mysteriösen Wand auf sich hat, habe ich zuerst eine Überraschung für euch.« Er klatschte zweimal in die Hände, worauf die Flügeltüren vor mir aufschwangen. »Ladys, begrüßt bitte unsere geliebte Iris Boness.«
Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Meine Knie schlotterten so sehr, dass es mich alles kostete, überhaupt nur geradeaus zu laufen. Ich wollte nicht. Aber ich musste. Gleich drei Kameras waren auf mein Gesicht gerichtet. Dazu die Augen der anderen Kandidatinnen und des Moderators. Ich versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, selbstbewusst zu wirken, dabei war ich nur einen Fehltritt davon entfernt, auf die Fresse zu fliegen.
»Iris?!« Es war Verity, die sich zuerst aus ihrer Schockstarre löste. Verity, die meinen Namen rief, als könnte sie nicht glauben, dass ich echt war. Verity, die mir entgegenrannte und mich in eine Umarmung zog, bevor ich tatsächlich hinfiel.
»Du bist hier«, stieß sie unter Tränen aus. »O mein Gott, du bist hier.«
Mein Herz zog sich zusammen. Vor Trauer. Frust. Aber auch vor Dankbarkeit. Weil es in diesem Albtraum tatsächlich eine Person gab, der ich nicht egal war. Die mich mit ihren Worten, dem Zittern in ihrer Stimme und dieser innigen Umarmung spüren ließ, dass ich nicht vollkommen allein war.
Verity.
Verdammt, was hatten sie ihr erzählt? Ihr und den anderen Kandidatinnen? Wussten sie, was mit Cillian passiert war? Was man mir vorwarf? Oder hatte man ihnen nur eine weitere Lüge aufgetischt, so wie dem Volk?
Nach und nach näherten sich auch die anderen. Laurelin war die Zweite, die mich umarmte. Dann Opal, Willow und zu meiner Überraschung sogar Clover.
»Hätte nicht gedacht, dass ich das sage«, flüsterte sie mir ins Ohr, »aber du hast mir fast gefehlt.«
»Fast?«
»Glaub ja nicht, dass ich glücklich über die zusätzliche Konkurrenz bin.« Sie grinste und trat zur Seite, sodass mich auch die letzte Kandidatin begrüßen konnte.
Mir wurde übel, als Penelope herantrat, anmutiger und strahlender denn je. Der blumig herbe Duft ihres Parfums stieg mir in die Nase, als sie mich umarmte. »Wie schön, dass du zurück bist.«
Ihre Stimme klang trügerisch sanft und herzlich. Aber mir entging die feine Note Unsicherheit darin nicht. Penelope. Ich hatte Cillian nicht vergiftet, was bedeutete, dass es irgendjemand von den anderen gewesen sein musste. Und von allen war sie die Hauptverdächtige.
Mir kam ein Gedanke: Was, wenn ich ihre Schuld beweisen konnte? Was, wenn ich eine Möglichkeit fand, sie als die wahre Mörderin zu enttarnen? Würde mich das nicht freisprechen?
Bevor die Idee in meinem Kopf Wurzeln schlug, trat Jeff an uns heran und legte den Arm um meine Schulter. Er lächelte sein breitestes Zahnpastawerbelächeln und trug heute einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug mit Fliege in Neonpink.
»Iris Boness.« Er wischte sich eine Träne von der Wange, die zu perfekt dort saß, um echt zu sein. »Was für eine Freude, dich wieder begrüßen zu dürfen. Es waren nur ein paar Tage, aber ich glaube, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass dein Fehlen ein tiefes Loch hinterlassen hat, und das anscheinend nicht nur bei uns.« Vielsagend hob er die Brauen. »Wie fühlst du dich bei dem Gedanken, dass dein ehemaliger Mentor dir plötzlich als Prinz gegenübersteht?«
Ich schluckte und wusste nicht, ob ich dankbar sein oder fluchen sollte, dass mein Gehirn auf Autopilot schaltete und mein Mund einfach losplapperte. »Ein bisschen seltsam ist es schon. Ich hoffe, er besteht nicht darauf, dass ich ab sofort vor ihm knickse.«
Jeff lachte. »Das kannst du ihn gleich fragen. Hattest du irgendeine Vermutung? Hat er dir gegenüber seine wahre Identität durchblitzen lassen?«
»Nicht wirklich. Wobei es im Nachhinein plötzlich Sinn ergibt, wieso er so viele Termine hatte.«
»Das kann ich mir vorstellen. Eine letzte Frage, bevor wir mit unserer Challenge starten. Du weißt, dass du seine ›Liebe auf den ersten Blick‹ warst. Mit diesem Wissen: Glaubst du, du hast den anderen gegenüber einen Vorteil, wenn es darum geht, sein Herz zu erobern.«
»Nun, nachdem Cylus sich die letzten Wochen als mein Mentor mit mir rumschlagen musste, mache ich mir eher Sorgen, dass ich den anderen gegenüber im Nachteil bin.«
Erneut lachend warf er den Kopf zurück. »Oh, Iris, Iris. Es ist eine Freude, dich wieder dabeizuhaben. Und wie könnten wir deine Rückkehr besser feiern als mit einer Icebreaker-Challenge, um zu sehen, ob das Mentoring wirklich einen negativen Einfluss hatte. Ladys, darf ich eure Aufmerksamkeit auf unsere magische Wand lenken?«
Wir stellten uns nebeneinander auf, sodass wir einen guten Blick darauf hatten. Es war eine Art Schirm, wie ich sie aus Fernsehserien kannte, wenn jemand ein anonymes Statement abgab. Jedoch war auf der milchig-weißen Fläche nichts zu erkennen, bis Jeff mit den Fingern schnippte und diese plötzlich transparent wurde.
Schon wieder setzte mein Herz aus. Schon wieder hatte ich das Gefühl, zehn Stockwerke tief zu fallen. Schon wieder wünschte ich mir, ich würde einfach mein Glück auf der Flucht versuchen.
Hastig wandte ich den Blick ab, weil allein Cylus’ Erscheinung mir physische Schmerzen bereitete, aber der Sekundenbruchteil hatte gereicht, damit er sich in meine Netzhaut gebrannt hatte. Seine gerade Haltung, das gewollt zerzauste dunkle Haar. Das feine Lächeln auf seinen Lippen und das Grübchen in der linken Wange.
Und die Wahrheit ist, dass ich dich schon wollte, als ich dir im Salon gesagt habe, dass du vom Boden runtergehen sollst. Das raue Echo seiner Stimme jagte mir eine Gänsehaut über die Arme, raste wie ein Blitzschlag durch meinen Körper. Sehnsucht schien meine Lunge zu erdrücken, drohte mir die Tränen in die Augen zu treiben, aber ich blieb stark. So wie Malia es gesagt hatte. Nur anschauen konnte ich ihn nicht länger.
»Wie ihr seht, befindet sich Seine Hoheit in einer … sagen wir prekären Lage. Durch einen Zauber kann er uns nicht hören – beziehungsweise nur das, was er hören soll. Ebenso wenig sehen. Dafür sorgt nicht nur die Augenbinde, sondern auch unsere magische Wand, die nur von einer Seite transparent ist. Mit dem Einverständnis des Prinzen habt ihr gleich die Chance, ihn hautnah kennenzulernen und das Eis zu brechen. Und was könnte dafür besser geeignet sein als die Hitze eines leidenschaftlichen Kusses?«
Was?, entkam mir beinahe erstickt.
»Ihr werdet hinter die Wand treten«, fuhr Jeff fort, »und wie im Märchen euren Prinzen küssen. Wie lange? Wie intensiv? Nun, ihr wollt möglichst einen bleibenden Eindruck hinterlassen, denn der Prinz soll erraten, wer von euch bezaubernden Ladys ihm da gerade den Kopf verdreht. Errät er mehr als die Hälfte richtig, entscheidet er, welche Dame am Sonntag mit ihm zusammen den Ball eröffnet. Ansonsten bleibt diese Wahl unserem Publikum überlassen.«
Nein, nein, nein. Das konnten sie nicht machen! Ich konnte doch nicht … Wollten sie mir das Herz unwiderruflich brechen, bevor ich auch nur in die Nähe des Finales kam?
»Seid ihr bereit? Dann zeigt ihm, aus welchem Feuer ihr gemacht seid. Den Anfang macht Verity Wilberforce.«
Neben mir zuckte Verity beinahe erschrocken zusammen. Unsicherheit und Überforderung standen ihr ins Gesicht geschrieben, als sie zögernd hinter die Wand trat. Nein, mehr als das: Es war Panik, die in ihren Augen leuchtete. Aber wie die gute Kandidatin, die sie war, dachte sie an die Show, setzte ein Lächeln auf, das etwas schief wirkte, und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Cylus einen Kuss auf die Wange zu drücken.
Ein winziger Hauch Erleichterung durchflutete mich. Genau so könnte ich es auch machen. Ein kurzer unschuldiger Schmatz auf die Wange. Unverbindlich. Unbedeutend. Nicht der Rede wert. Nur warum ließ selbst der Gedanke daran mir die Hitze zu Kopf steigen?
»Mehr!«, rief da plötzlich jemand aus dem Off, und ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verarbeiten, dass es Reggie war, der da gesprochen hatte.
»Bitte?« Veritys Stimme war nur ein Hauch. Sie stand noch immer neben Cylus, der sich keinen Millimeter gerührt hatte. Offenbar bekam er wirklich nichts mit.
»Mehr«, wiederholte Reggie. »Hier geht es um Leidenschaft, um rohe Anziehung. Das müssen wir den Zuschauern zeigen.«
Selbst von hier sah ich, dass Verity schluckte. »Okay.«
»Leg die Arme um seinen Hals, und dann noch mal von vorne.«
Was bitte sollte das? Bisher hatte sich die Produktion nie derart aktiv in den Dreh eingemischt, solange es nicht um gestellte Szenen zum Ausfüllen der Sendezeit ging. Normalerweise hatten sie uns immer nur Anweisungen davor gegeben, und der Rest hatte sich entwickelt. Und genau das war doch der Appeal an Reality TV. Die Echtheit. Die Unberechenbarkeit. Nicht … das.
Mein Magen verkrampfte sich, als Verity sich die Regieanweisung zu Herzen nahm, die Arme um Cylus’ Hals legte und sich erneut auf die Zehenspitzen stellte. Kein kurzer Kuss auf die Wange mehr. Sondern ein richtiger.
Alles in mir stand unter Strom, als Cylus seinerseits sanft die Arme um sie schlang. Sie näher an sich heranzog, um den Kuss zu vertiefen. Es fühlte sich an, als würde Säure mir die Haut verätzen. Und obwohl ich es besser wissen sollte, obwohl die Produktion genau das wollte, schaffte ich es nicht, den Blick abzuwenden, als der Mann, in den ich mich verliebt hatte, vor meinen Augen meine einzige Freundin küsste.
Ich war nicht wütend. Zumindest nicht auf die beiden. Sie machten nur das, was ihnen vorgeschrieben wurde. Figuren auf einem Spielbrett, wie Cylus es genannt hatte. Aber das änderte nichts daran, dass die Szene mich von innen zerriss. Stück für Stück für Stück, bis bald nur noch Fetzen von mir übrig sein würden.
Ich war nicht wütend auf Cylus und erst recht nicht auf Verity. Sondern auf dieses ganze verdammte System. Den König. Darauf, was er aus uns machte. Darauf, dass ich nur weiter dabei zusehen konnte, wie es mich zerstörte.