Chur 1947 (rot) - Philipp Gurt - E-Book

Chur 1947 (rot) E-Book

Philipp Gurt

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Beschreibung

Ein Kriminalroman aus der Schweiz der 1940er Jahre. Chur im Hitzesommer 1947: Ein grausamer Fräuleinmörder versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Schnell fällt der Verdacht auf einen jungen Mann, der in einer Armenanstalt als Knecht arbeitet. Nach der ersten Einvernahme flüchtet er in die Berge, und eine gnadenlose Hetzjagd beginnt. Doch Landjäger Walter Caminada stösst bei seinen Ermittlungen auf Ungereimtheiten. Die Spuren führen ihn ins Irrenhaus, aber auch in die höchsten Kreise der lokalen Regierung – bis Caminada selbst in Bedrängnis gerät ....

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Seitenzahl: 540

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Ralf Falbe/Alamy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-580-0

Originalausgabe

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In Liebe für meinen Papa Konrad4. Juni 1930 – 4. März 1997

Maladers, 1972

«Philippli, los, kumm ändlich, suss holt di dänn dr Landjägär», sagte mein Papa immer dann, wenn ich auf der Landstrasse im Schanfigg stehen blieb, weil ich mich doch so sehr nach ihm gesehnt hatte, es aber nicht sagen konnte, dass es in meiner Brust schmerzte.

Wenn du den wahren Charakter eines Menschen erkennen willst, dann gib ihm Macht!

VORWORT

Chur, im Februar 2019

Katarzyna Mathis, Mitarbeiterin Stadtarchiv Chur

Liebe Leserin, lieber Leser,

ein historischer Kriminalroman ist ein Balanceakt zwischen Fiktion und Geschichte. Wie muss man sich die Bündner Kapitale mit ihren damals circa neunzehntausend Einwohnern vorstellen? Wie lebte man in einer Zeit, in der Kühlschränke und Autos keine Selbstverständlichkeiten waren? Philipp Gurt recherchierte viele Stunden in historischen Dokumenten, um so nah wie möglich an die vergangene Wirklichkeit anzuknüpfen. Sogar die alten dreistelligen Telefonnummern stimmen im Buch. Das Stadtarchiv Chur lieferte ihm die Fakten und Informationen, und er erweckte den Landjäger Walter Caminada zum Leben.

Wir begegnen Walti Caminada in Chur 1947. Es ist ein Jahrhundertsommer mit unglaublicher Hitze und Dürre – staubige Strassen, drückende Wärme, stickige Luft und die überfüllten Abfallkübel in den engen Altstadtgassen verbreiten fauligen Gestank. Man sehnt sich nach Regen. Die Zeit verrinnt nur langsam. Hier tauchen wir in die Vergangenheit ein.

1947 ist ein Jahr voller Hoffnung auf die Aufhebung der Lebensmittelrationierung und die Normalisierung des Alltags nach dem Krieg. Chur ist überschaubar und noch von der Landwirtschaft geprägt. Jede freie Parzelle des Stadtgebiets und auf den Churer Alpen wird zum Kartoffel- und Getreideanbau genutzt. Aus den wenigen vorhandenen Lebensmitteln, die nur gegen Rationierungsmarken erhältlich sind, werden Mahlzeiten gezaubert. Diese bestanden oft aus Suppe oder Eintopf. Mehrere fleischlose Tage unter der Woche sind an der Tagesordnung. Trotz dieser Umstände herrscht in der Stadt Vorfreude auf das Eidgenössische Schützenfest, das 1949 in Chur stattfinden soll. Ungeachtet der Sparmassnahmen wird wegen des Festes rege gebaut und renoviert. Alle hoffen auf bessere Zeiten.

Der Posten des Landjägerkorps befindet sich im Karlihof, der des Stadtpolizeiamtes ist im Rathaus untergebracht. Wie lebt ein Bündner Landjäger, der hinter einem Mörder her ist? Wie ist er vorgegangen? Erfahrungsberichte gibt es keine, denn brutale Mordfälle sind im ruhigen Chur zum Glück eine Seltenheit. Also sind diesbezüglich der Phantasie fast keine Grenzen gesetzt.

Lassen Sie sich in die Welt der Churer Landjäger entführen und geniessen Sie die Stimmung der 1940er Jahre.

1

Chur – Freitag, 18. Juli 1947

Ein heisser Tag neigte sich im Sommer 1947 seinem Ende zu. Schon seit Wochen brütete die Sonne über der Hauptstadt Graubündens, als wolle der Herrgott die Menschen ermahnen. In den Gassen und Häusern staute sich die Wärme Hitzköpfen gleich, dass manch einer nächtelang in seiner stickigen Kammer sich wälzend den Morgen herbeisehnte, dessen zartes Licht doch nur einen weiteren Gluttag ankündigte. Denn Tag für Tag spannte sich ein blassblauer Himmel über der Schweiz. Die unbarmherzige Sonne knallte einem gleissenden Schmiedehammer gleich hernieder, als entzünde sich damit das bevorstehende Unheil in der schwülen Luft.

Es war kurz vor neunzehn Uhr. Die Hoffnung auf ein abkühlendes Gewitter schwand gleichsam mit den goldgelb geränderten Schleierwolken dahin, die der träge Südwind vom Bündner Oberland ins Churer Rheintal schob.

Ungeduldig blickte Flurina Hassler auf die grosse Uhr in der Telefonvermittlungszentrale. Vor zwei Jahren, nur einen Tag nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, hatte sie diese Arbeitsstelle am Postplatz angetreten. Seit dem Tag sass sie auf dem dritten Stuhl von rechts und trug wie die anderen einen weissen Kittel, als stände sie in der Unteren Gasse beim rotwangigen Riffel hinter dessen Metzgereitheke.

Flurina ertappte sich schon wieder dabei, wie sie erwartungsfroh auf die weisse Uhr blickte, deren schwarzer Minutenzeiger sich nicht bewegen wollte, als wäre er bloss aufgemalt. Sie wusste, dass jede Regung ihrerseits registriert wurde. Hinter ihr und den anderen Vermittlerinnen sassen die drei Aufseherinnen an den Kontrolltischen. Bereits gestern hatte die steifhalsige und meist schlecht gelaunte Clementina Clavout sie wegen ihrer Blicke auf die Uhr ermahnt: «Flurina, du Donnersmaitli! Was ist in den letzten Tagen bloss in dich gefahren? Reiss dich endlich zusammen. Man könnte ja fast meinen, es erwarte dich ein Prinz in seiner Kutsche auf dem Postplatz unten.»

Flurina hatte entschuldigend gelächelt und sofort ein weiteres Gespräch angenommen. «Grüaziwoll, hier spricht die Vermittlung in Chur. Welche Verbindung wünschen Sie? – Sehr gära, Härr Toggtr von Planta. Einen Moment bitte schön. – Härr Toggtr? Ihre Verbindung zum Palace Hotel in St. Moritz steht. Sie können jetzt sprechen. Uf fiderlosa, Härr Toggtr.»

Flurina gefiel diese Arbeit, und viel Auswahl gab es in Chur in diesen Nachkriegsjahren ja sowieso nicht. Zuvor hatte sie in der Seifenfabrik Hegner & Cie. ein bescheidenes Auskommen gefunden, doch das Handwerk des Seifensiedens gefiel ihr gar nicht. Vor allem der Gestank nicht, wenn aus den Knochen das Fett ausgekocht wurde und deshalb eine schwere Dampfwolke in der alten Fabrikhalle hing. Ihre Haare fühlten sich jeden Abend schmierig an, und das trotz des Kopftuches. Das war aber vorbei, und darüber war sie froh. Sie war in ihrer Schicht für jeweils zehn der insgesamt einhundert Leitungen in der Telefonzentrale verantwortlich. Gemeinsam vermittelten sie die Anrufe für den grössten Teil Graubündens und mussten so schnell wie möglich und immer freundlich die Verbindungen für die Anrufer aufbauen und bei Ende der Gespräche diese sofort schliessen. Bei den automatischen Direktverbindungen innerhalb von Chur erlosch als optische Hilfe das rote Lämpchen und zeigte so an, dass diese Leitung neu vermittelt werden konnte. Bei den Transitverbindungen hingegen mussten sie sich immer wieder kurz diskret ins Gespräch einkabeln, um teure Stehzeit zu verhindern, denn jede ungenutzte Minute war kostbar.

Zu gewissen Zeiten lief die Anlage Sturm. Mit flinken Händen und Umsicht hantierten die Vermittlerinnen dann gekonnt an dem jeweiligen Steckpult in ihrer Front, während die Anrufer auf eine freie Leitung warten mussten. Die Aufseherinnen führten penibel Buch darüber, wie viele Gespräche jede Vermittlerin während ihrer Zehn-Stunden-Schicht abzuwickeln vermochte, um die Faulen, wie sie gerne betonten, heimzuschicken und den Fleissigen Platz zu machen. Es galt deshalb jeden Tag aufs Neue, mindestens einhundert Punkte in der Leistungstabelle zu erzielen, die Ende jedes Monats nach Bundesbern geschickt wurde.

Flurina wusste, sie war nicht nur die jüngste, sie war auch meist die schnellste unter den Vermittlerinnen ihrer Schicht. Dass ihre aussergewöhnliche, schöne Stimme, in der ein fröhliches Lachen mitschwang, grossen Anklang fand – vor allem bei den überwiegend männlichen Anrufern –, wusste sie gewinnbringend einzusetzen. Schnell erlangte sie ein Gespür dafür, wer wie lange in etwa sprach, und hatte so die geringste Anzahl toter Minuten, und das nicht nur bei den Transitverbindungen.

Flurina war sich sicher: Das Telefon würde bald noch wichtiger werden. Die Einwohnerkontrolle in Chur hatte erst letzten Monat einen zweiten Apparat angeschafft, da die eine Leitung fast dauernd genutzt wurde. Ausserdem würde bestimmt jede Firma im Kanton, die etwas auf sich hielt und an die Telefonleitung angeschlossen wurde, bald auch so einen Fernsprechapparat besitzen, wie es immerhin bereits mehr als die Hälfte der Churer Geschäfte tat.

Endlich hatte der grosse Zeiger den letzten Sprung auf Punkt neunzehn Uhr geschafft. Berta Kobelt, eine blasse, hagere, alleinerziehende Dreissigjährige mit schlechten Zähnen, übernahm die Abendschicht und setzte sich auf den Platz mit der an der Stuhllehne angebrachten Nummer 3.

Mit einem freundlichen Lächeln und einem «A guata Obad allersits» verliess Flurina aufgeregt, vom missmutigen Blick Clementina Clavouts begleitet, die saalähnliche Telefonzentrale und trat in die gestaute Wärme der Altstadt hinaus. Die Sonne stand bereits tief über dem Gipfelgrat des mächtigen Calanda und warf blendend ihre Strahlen zwischen die schmalen grauen Häuserzeilen.

Flurina, die zart und zerbrechlich wie ein Vogel schien, trug ihr braunes Haar schulterlang, das passend ihr ovales Gesicht umrahmte. Den schicken hellbraunen Rock und die weisse Bluse hatte sie zusammen mit ihrer besten Freundin, der Lisa Brunner, im Globus am Kornplatz gekauft.

Lisa, die als Hilfscoiffeuse beim jüngsten Coiffeur der Stadt, dem jungen Spatz, arbeitete, hatte ihr am Mittag ein kleines Fläschlein mit dem neuesten Parfüm aus Zürich in die Hand gedrückt und dabei vielsagend gelacht und gemeint, dass sie es ihr unbedingt vor Montag zurückgeben solle, damit sie es vor Arbeitsbeginn rechtzeitig ins Geschäft zurücklegen könne, damit es der Spatz nicht bemerke, der erst dann vom Unterland zurückkehren werde.

Mit diesem Gedanken tupfte sich nun Flurina das sündhaft teure «Miss Dior» des französischen Parfümeurs Paul Vacher an ihre Halsseiten und atmete den Duft der weiten Welt ein. So fühlte sie sich fast wie eine noble Mademoiselle aus dem so fernen Paris, das sie eines Tages unbedingt mit eigenen Augen sehen wollte.

Aus ihrem Handtäschchen zückte sie einen Lippenstift und einen üppig verzierten Handspiegel, den sie von ihrer Nana geerbt hatte, und färbte ihre Lippen der neuesten Mode entsprechend knallrot. Sie richtete kurz ihr Haar, setzte sich die schwarze Sonnenbrille auf, die in ihrem feinen Gesicht etwas gross erschien, und schlüpfte in ihre Schuhe, die wegen den dicken Ledereinlagen an den Fersen, welche die flachen Absätze kaschieren sollten, nicht mehr richtig passten. Ihr Gang war ein wenig staksig, doch sie war zu aufgeregt, als dass sie auch nur einen Gedanken daran hätte verschwenden wollen, denn heute war es so weit, und heute wäre sie bereit dazu. Eine Mischung aus Angst, Neugierde und Vorfreude mischte sich mit dem Duft von «Miss Dior».

***

Die Sonne war längstens hinter den Gipfeln des Calanda untergegangen, die Nacht lag wie ein schwarzes Leichentuch über dem Alpenstädtchen, als Flurina schnellen Schrittes durch das spärlich beleuchtete Chur lief. Ihr Herz klopfte vor Anspannung bis zum Hals. Immer wieder drehte sie sich um und versuchte, in ihren Schuhen, in denen sie noch immer nicht richtig gehen konnte, so schnell wie möglich durch die totenstillen Gassen zu laufen, in denen nur das unrhythmische Klacken ihrer Absätze widerhallte.

Vom alten Schuppen des Güterbahnhofs her war sie gekommen. Auf einmal war da dieser Schatten, der sie verfolgte und immer wieder verschwand, sich nicht abschütteln liess, als wäre es ihr eigener. Kurz tauchte er wieder auf, um diesmal beim Postplatz hinter dem grossen und einzigen Laternenlichtkegel ins Dunkel zu verschwinden.

Dass jemand sie verfolgte, war zu offensichtlich. Doch was wollte dieser Jemand von ihr? Ausserdem machte dieser Jemand sich nicht mal die Mühe, unentdeckt zu bleiben. Es schien ihr, als wolle er, dass sie wusste, dass er sie verfolgte, aber mehr auch nicht.

Vielleicht war es einer dieser Vaganten, vor denen man sich in Acht nehmen musste, die vor allem unmittelbar nach Kriegsende fast zur Plage geworden waren.

Oder war er es? Wenn ja und wenn er ihr so Angst einzujagen versuchte, damit sie schwieg, wäre er an die Falsche geraten, und das sollte er eigentlich am besten wissen. Über das, was sie an diesem Abend erlebt hatte, könnte sie niemals schweigen. So hatte sie sich das Ganze nicht vorgestellt. Sie musste sich jetzt nur noch überlegen, wie sie es geschickt zur Anzeige bringen konnte, ohne selbst ins schlechte Licht gerückt zu werden. Nicht auszudenken, wenn dies ihr Vater erführe! Sie steckte wahrlich in einer Zwickmühle fest.

Sie folgte nicht dem kürzesten Weg nach Hause, sondern dem, von dem sie wusste, dass er besser beleuchtet war. Solange wegen der Nachkriegswirren die Lebensmittel weiter rationiert blieben, sparten die Stadtväter, wo sie konnten, denn in zwei Jahren stand die Ausrichtung des Eidgenössischen Schützenfestes bevor, dessen Vorbereitungsarbeiten und Austragung jeden Rappen verschlingen würden, bevor die erhofften Einnahmen in die Stadtkasse kämen.

Die Altstadt lag wie ausgestorben vor ihr, alle Fenster dunkel. Die Polizeistunde hatte die Wirtshäuser schon längst geleert, nicht mal ein Betrunkener sass irgendwo an einer Fassade angelehnt oder stolperte lamentierend im Rausch durch die Nacht. Eine seltsame, gespenstische Ruhe lag über allem.

Die wenigen Strassenlaternen warfen mit ihrem mattgelben Schein Flurinas flüchtenden Schatten auf die nass glänzende Strasse. Seit einer halben Stunde fielen feine Regentropfen auf den warmen Asphalt der Tagesglut. Die Luft war drückend, der erlösende Regen kam noch immer nicht, als wollten die in der Schwüle der Nacht zusammengeballten Wolken ihr kostbares Gut ums Verrecken nicht fallen lassen, nur um die Böden so lange dorren zu lassen, bis alle hundertsiebzig Landwirte in Chur händeringend zum Himmel blicken würden.

Flurinas Stirn und ihre zierlichen Arme glänzten feucht. Auf ihrem braunen Haar lag elfengleich ein hauchdünner Schleier Regentröpfchen wie morgendlicher Tau auf einem Spinnennetz. Aus ihren sonst aufgeweckten, warmherzigen Augen stach die Angst hervor. Hektisch blieb sie stehen, nachdem sie in die Poststrasse eingebogen war, und warf ihren Kopf zurück. Ihre Bluse hob und senkte sich im stürmischen Atem. Vermischt mit einer Note Schweiss lag feuchtwarm der Duft von «Miss Dior» in der Luft.

In der Nähe des Güterschuppens musste sie bei ihrer überstürzten Flucht die kleine Handtasche verloren haben – samt dem teuren Parfüm und den Schlüsseln. Auch demjenigen für die schwere hölzerne Haupttüre zur Vermittlungszentrale, vor der sie nun stand und in der jetzt nur Berta Kobelt die Nachtschicht bis um sechs Uhr morgens abarbeitete, so wie sie es selbst schon viele Male gemacht hatte. Ihr Blick schweifte der dunklen Fassade folgend nach oben. Die unteren zwei Stockwerke der Kantonalbank waren dunkel. Nur im dritten Stock erhellte schwaches Licht die vier Fenster des hohen Raumes der Telefonzentrale, sodass im Innern die Holzdecke vage zu erkennen war.

Flurina überlegte, laut zu rufen, doch wenn Kobelt Gespräche vermittelte und die in Leder eingefassten Kopfhörer trug, müsste sie halb Chur aus dem Schlaf reissen, um gehört zu werden. Und wie würde sie dastehen? Spott fand ein Jedermann in einer kleinen Stadt wie Chur genauso sicher wie der Tod einen Sterbenden.

Sie blickte sich angstvoll um. Ihre schlanken Beine zitterten, als fröre sie trotz der Wärme der Nacht.

Auch im Hotel Lukmanier auf der gegenüberliegenden Strassenseite war niemand mehr auf, auch nicht im Restaurant im Parterre. Im mattgelborangen Schein der Laterne ragte eine einzige der Markisen, die tagsüber wie Spaliere die Waren der Geschäfte beschatteten, irritierend in die verwaiste Strasse. Flurina blickte zurück: Der schwarze Schatten, als hätte er ihr zeigen wollen, dass er noch da war, huschte soeben im Halbdunkel hinter dem Restaurant Calanda in die Scharfrichtergasse.

Die gezügelte Angst wollte wie ein wild gewordener Vierspänner mit ihr durchbrennen. Als müsste sie die hochsteigenden Pferdeleiber beruhigen, riss sie am inneren Zügel, doch es war zu spät. Hastig zog sie ihre Schuhe aus. Barfuss lief sie immer schneller werdend in der Strassenmitte die Poststrasse hoch, in jeder Hand einen ihrer Schuhe haltend, die schon ihre Mutter getragen hatte. Sie hoffte, dass der von einer Strassenlaterne hell erleuchtete Rathauseingang, in dem sich auch das Wachtstübli des Stadtpolizeiamtes befand, ihren Verfolger vielleicht zaudern liesse. Ausserdem fürchteten Schatten bekanntlich das Licht. Oder sollte sie um Hilfe rufen?

Als stände die Zeit einmal mehr an diesem Abend still, wollte das Ende der Poststrasse nicht näher rücken. Ihren Blick weiter auf den Lichtkegel der Laterne gerichtet, der gespenstische schwarze Schatten auf die Eingangsbereiche der nahtlos aneinandergereihten Häuserfronten warf, unterdrückte sie weiter ihre Angst, damit sie nicht kreischend aufschrie.

Sie wusste aus ihren Nachtschichten, dass im Rathaus zu dieser Zeit der Wachtposten unbesetzt war. Zwei Beamte versahen dann in der Nähe, im Wärmeraum Kornplatz, ihren Dienst, der nicht nur in der kalten Jahreszeit von Randständigen und Vaganten aufgesucht werden konnte. Doch um zu diesem zu gelangen, müsste sie erst ein Stück am finsteren Fontanapark entlanglaufen, was ihr unheimlich erschien.

Sollte sie es wagen, hin zum alten Karlihof zu rennen? Es war fast sicher, dass jemand vom Landjägerkorps dort Dienst schob. Sie hatte schon mehrfach Anrufer von ausserhalb mitten in der Nacht dahin vermitteln müssen und meist direkt einen der Beamten erreicht. Dennoch musste sie diesen Gedanken gleich wieder verwerfen und weiter die Poststrasse hochlaufen, denn links von ihr lag der Mühleplatz, dahinter die Reichsgasse – beide im Stockdunkeln, die Laternen abgeschaltet, und wohin der Verfolger verschwunden war, wusste sie auch nicht.

Kurz bevor sie das Rathaus erreichte und nachdem sie auf dem schmalen Trottoir am ersten der drei mit Holz verschlossenen Bögen der Rathaushalle vorüberlief, schoss aus dem Schatten derselben, einem Reiter der Finsternis gleich, eine schwarze Gestalt hinter ihr hervor.

Sofort fühlte sie einen Riemen um ihren Hals, der ihren Kopf heftig nach hinten riss und ihr die Stimme raubte. Ihre Schuhe fielen dabei mit einem Klock aufs Trottoir. Kraftvoll wurde sie durch das nach innen halb offene Holztor ins Dunkel gezerrt. Für einen kurzen Moment löste sich durch ihre zappelnde Gegenwehr die Schlinge. Sie stiess einen panikerfüllten, grellen Schrei aus, der aus dem Hallengewölbe, durch das offen stehende Holztor, in die Stille der Nacht drang, als käme er geradewegs aus dem Schlund der Hölle, ehe sich die Schlinge gänzlich zuzog. In diesem Moment schlug die St.-Martins-Kirche kraftvoll zwei Uhr.

Panisch versuchte Flurina, mit ihren zarten Händen unter den Riemen zu greifen, um wieder atmen zu können, doch wie ein Schraubstock presste dieser ihre Kehle zu. Mit letzter Kraft des Überlebenswillens schlug sie nach hinten, um den Angreifer in ihrem Rücken zu attackieren, sein Gesicht, seine Augen zu zerkratzen, doch die tanzenden Schatten liessen ihre Kraft aus den Armen weichen. Ihr Blick flüchtete durch das halb offene Tor nach draussen – schemenhaft sah sie den glänzenden Widerschein der Laterne auf der nassen, verlassenen Poststrasse. Dann wurde es immer stiller in ihr, ja beinahe friedlich.

Zwei Gedanken tauchten in dieser zunehmenden Leere auf wie zwei Schafe, als weisse Farbtupfer in der Weite der grünen Greinaebene: Eine Strafe des Allmächtigen für das bisschen Sünde? Was hatte ihr die Stimme vor einer Woche durchs Telefon gesagt?

«Fräulain Hassler, guati Maitla kömmand in da Himmal, Donnersmaitli überallherra.» Dass damit nicht Paris, sondern die Hölle gemeint war, das hatte die Stimme ihr verschwiegen.

Flurina wusste, sie würde jetzt sterben – müssen.

Die Schlinge liess keinen Zweifel daran aufkommen, und diese Endgültigkeit war plötzlich befreiend. Ihre Sinne schwanden wie der Strudel in dem sich leerenden Wassertrog auf der Alp Nurdagn, auf der sie als Maitli ein paar Sommer bei ihrem Onkel Niklaus gearbeitet hatte.

Verwirrende Bilder und Stimmen tauchten auf: «Donnersmaitli», hörte sie die Aufseherin Clementina Clavout sagen, dabei hielt diese eine Rasierklinge in der Rechten, und ihr Hals stand ganz schief. «Reiss dich zusammen, man könnte ja meinen, ein Prinz in einer Kutsche warte auf dem Postplatz auf dich.»

Es war aber nicht nur der erhoffte Prinz gewesen, den sie getroffen hatte. Der Tod selbst hatte sie heute Nacht in seiner schwarzen Kutsche abgeholt, und die Regentropfen hatten die Strassen dunkel eingefärbt, um damit den Weg für die Feuerrosse der Finsternis zu bahnen. Selbst die beiden Schläge der St.-Martins-Kirche hatten sich wie das unheilige Geläut der Hölle angehört.

Donnersmaitli no mol!

Dann war es vorbei.

Mit verzerrtem, angeschwollenem Gesicht lag Flurina im dunkelsten Eck der düsteren, vor dem Krieg so prächtig gehaltenen Rathaushalle. Das schwere Holztor schloss sich leise, dass es nur noch einen Spaltbreit offen stand. Der Teufelsschatten beugte sich über sie, schob ihren schmächtigen toten Körper hin und her, bevor er nach draussen huschte.

Abziehendes Donnergrollen rollte dabei in der Ferne durch den Himmel. Ein paar Blitze zuckten bläulich in der Weite vom Bündner Oberland her auf. Der Regen würde wieder nicht fallen.

Donnersmaitli no mol!

2

Schräg gegenüber dem Güterbahnhof hämmerte jemand im alten Wohnhaus im Küblereiweg an die ebenso alte Wohnungstüre im dritten Stock.

«Ja, ja, ich komme ja. Willst du gleich das ganze Haus zusammenschlagen, Harrgottsacknomol!»

Walter Caminada, Landjäger beim kantonalen Landjägerkorps in Chur, schlüpfte in seine dunkle Hose und knöpfte sich auf dem Weg zur Türe sein hellblaues Hemd flüchtig zu. Sein Schädel brummte, eine leere Flasche Rotwein lag umgekippt neben dem alten Gutschi auf dem Holzboden. Im übervollen Aschenbecher auf dem hölzernen Küchentisch lag eine erloschene Villiger-Krumme, neben einem halb leeren Teller mit angetrockneten Tomatenspaghetti. Die gestaute Hitze in dem Altbau hatte ihn schlecht schlafen lassen und so früh am Morgen dann auch noch dies. Entsprechend missmutig war seine Laune, als er seine Haustüre öffnete.

«Sternasiachnomol! Willst du meine Türe einschlagen? Ich bin doch nicht taub. Was ist denn passiert?», donnerte er dem jungen Hilfspolizeimann des städtischen Polizeiamtes ins Gesicht, der sichtlich eingeschüchtert seine Dienstmütze in der Hand drehte.

Das laute Klopfen war nicht etwa dessen Selbstbewusstsein entsprungen, es war vielmehr seinem Pflichtverständnis und dem Eifer geschuldet, den Caminada sofort zu holen, so wie es ihm befohlen worden war.

«Mein Vorgesetzter, der Wachtmeister Clavadetscher, schickt mich. Sei dringend. Ein Mord ist geschehen! In der Rathaushalle. Eine junge Frau. Sie sollen sofort kommen», schoss es aufgeregt und etwas atemlos aus dem schmächtigen Rothaarigen mit den vielen Sommersprossen und der runden Brille im Gesicht, das bubenhaft freundliche Züge trug.

«A biz patschifig, junga Ma, ich versteh ja sonst die Hälfte nicht. Du bist doch der Hilfspolizeimann Marugg? Der Neue, oder?» Caminada strich sich durchs volle schwarze Haar.

«Ganz recht, Landjäger Caminada. Ist mir eine Ehre, Sie zu treffen. Hab schon viel von Ihnen gehört.» Langsam schien er sich zu beruhigen, seine Gesichtszüge entspannten sich etwas.

«Soso … Mord?» Caminada tat, als hätte er das Lob überhört. «Ein grosses Wort so früh am Morgen.» Er blickte kurz auf seine Uhr, die sechs Uhr fünfundzwanzig zeigte. «Also, ich werde in der nächsten halben Stunde am Fundort sein. Rathaushalle, sagst du? Aber die ist doch normalerweise verschlossen?»

Marugg nickte. «Ein Tor stand in der Früh etwas offen, mehr kann ich nicht dazu sagen, aber kommen Sie bitte und sehen Sie selbst.»

«Also, sag es dem Wachtmeister Clavadetscher, und dass mir Gopfardeckal niemand was berührt. Verstanden? Und noch was, wenn du schon da bist. Weisst du, wo der junge Saluz wohnt?» Caminada sah den fragenden Blick des Auszubildenden. «Das ist der Privatfotograf, der für das Landjägerkorps die Fotografien macht und das bis vor Kurzem auch für das Stadtpolizeiamt getan hat, bevor ihr ein eigenes kleines Labor eingerichtet habt.»

«Ach, der Fotograf Saluz. Natürlich weiss ich, wo der wohnt. Entschuldigung, Landjäger Caminada, ich bin erst seit Anfang März im Dienst», antwortete Marugg mit leuchtenden, klaren Augen, die etwas von der Frische ausstrahlten, die nur junge Menschen besassen.

«Dann schwing dich auf deinen Drahtesel und fahr auf dem Rückweg in der Kupfergasse vorbei. Hausnummer 3. Im Parterre ist das Atelier, er aber wohnt im ersten Stock, aber das weisst du ja in dem Fall. Und sag, der Caminada schickt dich. Er soll sofort in die Rathaushalle gehen – mit seiner Fotoausrüstung natürlich. Verstanden? Und hämmere nicht wieder fast die Türe ein. Einmal am Morgen reicht.»

«Verstanden. Befehl wird sofort ausgeführt.»

Der vierzigjährige Caminada wunderte sich, dass der junge Heissspund nicht noch salutiert und dabei die Hacken zusammengeschlagen hatte, bevor dieser sich umgedreht hatte und das hölzerne Stiegenhaus hinuntergelaufen war, dass es unter seinen Schuhen knarzte.

Nachdem Caminada sich einen Zichorienkaffee gebrüht, das Hemd ordentlich zugeknöpft, seinen dunklen Tschoopa übergezogen und seinen Hut auf das zerzauste Haar gesetzt hatte, hockte er sich auf sein Rex-Velotöffli. Der vor dem Lenker montierte kleine Ein-Zylinder-Motor knatterte fleissig und hinterliess eine blassblaue Rauchfahne in der warmen Morgenluft. Der Wald und die felsige Gipfelregion des mächtigen Calanda leuchteten im frühmorgendlichen Sonnenschein im Hintergrund, während er die nicht immer geteerten und leicht ansteigenden Strassen zur Rathaushalle hochtreten musste, um wenigstens knappe zwanzig Stundenkilometer zu erreichen. Er atmete einige Male die Morgenluft tief ein und rieb sich wiederholt mit der linken Hand sein Gesicht, um einen klareren Kopf zu bekommen.

Nach zwei Kilometern knatterte der Landjäger kurz nach sieben die Poststrasse hoch. Von Weitem schon sah er die Traube von Gaffern vor der Rathaushalle stehen. Einige streckten ihre Hälse in die Länge, um durch das offene Tor ins Innere zu linsen. Ein uniformierter Gefreiter des Stadtpolizeiamtes sorgte dafür, dass sich niemand reinschlich. Drei Pferdefuhrwerke standen auf der rechten Strassenseite, dahinter war ein Automobil parkiert.

Wie jeden Samstag öffnete bald der Gemüse- und Früchtemarkt auf dem nahen Kornplatz. Händler, die ihren Stand aufbauen sollten, scharten sich ebenfalls um das offene Tor, als gäbe es dort Esswaren zu verschenken. Caminada stellte sein Vehikel neben Marugg ab und sagte: «Heb a Aug druf. Nit dassas no so a huara Glünggi klaut», denn er wusste, dass jedes Jahr fast zweihundert der Velos und auch einige der Velotöfflis in der Stadt gestohlen wurden. Auch wenn die meisten davon irgendwo wieder auftauchten, hatte er keine Lust, zu Fuss durch diese elendige Hitze zu gehen.

Er hörte die Gaffer schwatzen. «Herr Jessas nai au. Um Gotts willa. Wella Saukhaib hät das däm arma Maitli atua? Herrjemine, isch das nit vum Schieasser dia Jüngscht, wos so zuagrichtet händ?»

Caminada hatte sich eine Krumme angezündet und warf das Schwefelhölzchen achtlos auf die Strasse, bevor er «Uf Zita» rief und sich durch die Gaffer in die Rathaushalle schob.

Sein Blick fiel auf die an eine alte Kommode angelehnte Tote, die im gelblichen Lichtschein einer Glühbirne etwas Puppenhaftes an sich hatte: Ihr Kopf war in den Nacken gefallen, ihre Augen weit aufgerissen, als hätte sich die Todesangst wie ein kalter See in ihnen gestaut, ihr Kiefer einer kaputten Schublade gleich aufgeklappt.

«Wer hat das tote Fräulein gefunden?» Caminada blickte zu den beiden Polizeimännern des Stadtpolizeiamtes, die unter der schlecht erhellten Bogendecke standen, als wüssten sie nicht recht, was zu tun wäre. Caminadas Augen gewöhnten sich nur langsam an das schummrige Licht.

Einer der beiden, Gefreiter Pünchera, winkte einem schwarzhaarigen Fräulein, das sich daraufhin aus der gaffenden Menge schälte. Martina Lütscher, eine kräftige, junge Bäuerin aus Haldenstein, die mit dem Pferdekarren ihre Waren auf den Kornplatz bringen wollte, kam auf Caminada zu.

Dieser musterte sie kurz, denn sie stand mit etwas eingezogenem Kopf und schief vor ihm, als fiele ihr gleich was auf den Pölli. Ungeachtet dessen zog er seine Ausweiskarte aus einer Innentasche seines Tschoopas. «Caminada, Landjägerkorps. Sie haben die Tote gefunden?» Er blickte in das vom Schrecken noch immer blasse Gesicht der Bäuerin. «Etwas angerührt?», fügte er in leicht mürrischem Ton hinzu, als hätte ihm etwas den Tag bereits gründlich versaut, und zog an seiner Krummen.

«Um Herrgotts willen, nein. Ich hatte auf der Strasse die Schuhe gesehen und das spaltbreit offen stehende Tor. Ich hatte das Gefühl, da stimmt etwas nicht, bin vom Wagen abgestiegen und habe vorsichtig einen Blick ins Innere geworfen. Als ich schemenhaft die Tote gesehen habe, bekam ich einen Narrenschrecken und bin sofort die paar Meter ins Rathaus gerannt, in die Wachtstube, und habe um Hilfe gerufen.»

«Jemanden gesehen? Vor oder gar in der Rathaushalle?» Caminada musste sich konzentrieren, sein Schädel brummte noch immer.

«Nein, niemanden. Also nur unten auf der Poststrasse, den Knecht Mehli Jürg von der Armenerziehungsanstalt Plankis, der wie immer mit den Milchtausen in die Molkerei unterwegs war. Sonst niemanden, den ich kenne. Bin ja fast immer als Erste auf dem Markt.»

«Dieser Mehli, ist das einer vom bäuerlichen Anstaltspersonal?»

«Nein. Eine Art Insasse, der als Knecht arbeitet, das weiss ich genau. Er kommt fast jeden Samstag nach dem Abladen der Milch auf den Kornplatz und hilft mir, den Stand herzurichten. Für manche ist er ein seltsamer Kauz. Vielleicht weil er taub und stumm ist. Doch der tut bestimmt niemandem etwas zuleide. Das kann ich Ihnen schon jetzt versichern», betonte die Jungbäuerin.

«War er heute wie sonst auch, ich meine, ist Ihnen was an seinem Verhalten aufgefallen?»

«Nein. Alles wie sonst auch. Er war gerade dabei, die Milch in die Molki zu bringen und hat mir beim Kreuzen freundlich zugewinkt, wie halt schon so oft.»

«Und, kennen Sie die Tote? Scheint ja nicht viel jünger als Sie zu sein.»

«Ich hoffe nicht», murmelte sie, doch Caminada sah ihr an, dass es ihr widerstrebte, genauer in das aufgequollene Gesicht der Toten zu blicken.

«Na dann, danke, Fräulein Lütscher, das wär’s fürs Erste. Geben Sie bei einem der Polizeimänner des Stadtpolizeiamtes Ihre Personalien ab, falls wir weitere Fragen haben.»

Die junge Frau drehte sich sofort um. Erst dann erkannte Caminada den grossen Buckel auf ihrem Rücken, der ihre leicht seltsame Körperhaltung beim Gespräch erklärte. Sie aber verliess schnellen Schrittes und eine Hand vor den Mund haltend den Tatort.

Der Gefreite Pünchera trat auf Caminada zu, der seine linke Hand in der Hosentasche vergraben hatte und mit der rechten weiter die Krumme hielt.

«Die Tote ist wahrscheinlich Flurina Hassler. Das hat mir soeben der Alte dahinten gesteckt. Ganz sicher ist er aber nicht, denn mit dem aufgequollenen Gesicht und dem schlechten Licht ist es schwierig zu erkennen. Sie war die Tochter vom Kohleschaufler Hassler Sepp, der beim Storz arbeitet. Der ist auf dem städtischen Polizeiamt weiss Gott kein Unbekannter, genau wie dieser Mehli Jürg übrigens auch nicht. Und noch was, zwei Bewohner von gegenüber haben mir zuvor berichtet, dass sie um kurz vor zwei Uhr nachts einen markerschütternden Frauenschrei gehört haben.»

Caminada nahm seinen Hut ab, um sich nachdenklich im feuchten Haar zu kratzen. Die Wärme staute sich bereits so früh am Morgen, obwohl die Sonnenstrahlen erst vor Kurzem den Calanda hinabgestiegen waren und über den Rhein und die Untere Au mit dem Gaswerk und der Rheinmühle, die beide weit ausserhalb der Stadt standen, gezogen waren, bevor sie die Plessurgüter und die kleinen westlichen Quartiere Scaletta, Wiesental und Daleu besonnten und nun die höchsten Dachgiebel der Altstadt aufleuchten liessen.

Aus seinem zerknitterten Tschoopa zog Caminada einen Stift und einen kleinen Papierblock. Er wirkte ungepflegt mit seinem nicht getrimmten schwarzen Schnauz und der schlechten Rasur. Dennoch waren seine attraktiven männlichen Gesichtszüge und schönen Lippen im Ansatz zu erkennen. Er trug Kleider, die so aussahen, als hätte er in ihnen geschlafen, was meist zutreffend war, denn er nächtigte auf dem Gutschi in der kleinen Stube und nicht mehr im Ehebett. Dessen Leere ertrug er seit dem Tod seiner Frau vor eineinhalb Jahren nicht mehr.

«Was ist denn dieser Mehli für einer?», fragte er den Gefreiten Pünchera.

«Ein Wirrkopf, der einem jungen Fräulein nachgestellt hat. Er selbst muss mittlerweile bald dreissig sein. Vor etwa zehn Jahren hat er einem Fräulein in Ober-Masans nachgestellt und unzüchtige Handlungen an ihr vollzogen, wurde aber wegen der Schreie des Opfers auf frischer Tat von der Polizei ertappt. Deshalb sass er insgesamt sieben Jahre im Asyl, genauer gesagt, erst in der Irrenanstalt, dann in der Korrektionsanstalt Realta im Domleschg, bevor er vor drei Jahren wiederum ins Plankis kam, in dem er schon fast seine ganze Kindheit verbracht hatte. Den Fall gaben wir damals an euch ab. Die Akten müssten deshalb im Archiv des Landjägerkorps liegen.»

Nur schwach konnte sich Caminada an den Fall erinnern, den er damals nicht bearbeitet hatte. Doch bevor er weitere Fragen stellen konnte, traf der neunundzwanzigjährige Fotograf Saluz ein. Als der grosse und kräftige Kerl die Tote sah, erstarrte er einen Moment vor Schreck und riss Augen und Mund auf. Als könne er es nicht fassen, trat er langsam, etwas hinkend, näher an die Leiche heran, bückte sich vorsichtig zu ihr hinunter, als wäre er unschlüssig, ob er das verzerrte Gesicht auch wirklich erkannt hatte.

Caminada trat seitlich an Saluz heran, der etwas Gutmütig-Teddybärenhaftes an sich hatte.

«Kennsch dia öppa?», fragte Caminada und legte Saluz seine Hand fragend auf die Schulter, dass dieser zusammenzuckte.

«Herrjesasnai au, das isch doch d’ Flurina? Oder ni?», murmelte Saluz mit seiner sonoren Stimme und drehte sein fast bittendes Gesicht Caminada zu, der leider nur bestätigend nicken konnte.

«Das tut mir leid, Saluz. Kanntest du sie gut?»

Saluz nickte. «Wir haben uns in dieser Affenhitze öfter mit anderen zusammen hinten in der Badeanstalt im Sand getroffen. Zuletzt am vorigen Dienstag erst, nach Feierabend, und haben vor dem Heimweg abgemacht, dass wir alle morgen Sonntag vor dem Mittag hinfahren und gemeinsam den ganzen Tag dort verbringen wollen. Du weisst ja: baden, jassen und etwas schnabuliara.» Er hielt sich seine grossen Hände an die glatt rasierten Wangen.

«Hat sie etwas Spezielles erwähnt oder sich anders verhalten in letzter Zeit?», fragte Caminada nach.

«Wir trafen uns wie gesagt in der Badeanstalt Sand zusammen mit den anderen. Sie war immer fröhlich und schwatzte gerne. Also mir wäre von ihrem Verhalten her rein gar nichts aufgefallen. Ausser vor ein paar Wochen vielleicht, Anfang des Sommers, da kam sie mit einigen blauen Flecken am Körper ins Bad. Aber ich habe nicht gefragt, da ich gehört hatte, dass ihr Vater so ein Grobian sei. Und das ausgerechnet bei ihr, die doch so as Spränzali isch, kaum was auf den Rippen hat.»

«Das war also bekannt?»

«Ja, aber niemand redete halt so direkt darüber. Ich sprach sie ja auch nicht darauf an, dachte mir, dass sie bestimmt nicht darüber reden mag. Ich meine, es war ja der eigene Vater.»

«Weisst du, ob sie einen Freund hatte?»

«Nicht dass ich wüsste. Sie war da eher eine, wie soll ich sagen … eine Zurückhaltende. Wir waren meist über zwanzig junge Leute im Sand, doch dort hat sie nie mit jemandem gschätzalat oder so. Aber ausschliessen kann ich es natürlich nicht, denn ich kenn sie sonst nicht so gut.»

«Kannst du dir dennoch vorstellen, wer so was Scheussliches im Umfeld von ihr getan hat? – Entschuldigung, ich muss das fragen», hakte Caminada weiter nach.

Saluz schüttelte den Kopf. Caminada sah, dass Saluz um Fassung rang. «Nein, ausser vielleicht ihr eigener Vater. Offen gesagt, ein brutaler Säufer, wenn sein Ruf stimmt.» Der junge Saluz, der seine dichten braunen Haare der Mode entsprechend nach hinten gekämmt hatte und stets schick gekleidet war, hielt seine linke Hand vor den Mund und starrte wieder zu Boden.

«Falls du was in den nächsten Tagen hörst, du weisst ja, wo du mich finden kannst.» Caminada legte ihm bei diesen Worten seine Hand fast väterlich auf die Schulter.

Saluz nickte geistesabwesend.

«Geht’s, um die Bilder zu schiessen, oder soll ich den alten Berger bestellen?», riss Caminada diesen aus der wieder einsetzenden Starre.

Saluz atmete hörbar lange aus. «Es wird und es muss gehen. So kann ich meinen Teil dazu tun, um den Mörder zu finden. Lass mir bitte bloss einen Moment Zeit, Walter.»

Caminada blickte ihn an. Er hatte das geschwollene linke Auge von Saluz sofort bemerkt gehabt, doch nachdem ihm der Tod seiner Bekannten so naheging, wollte er nicht gleich fragen, was passiert war, und holte es nun nach. «Und sag, Saluz, was ist denn mit deinem linken Auge passiert? Sieht übel aus, und zu hinken scheinst du auch.»

«War wohl nicht meine Woche, Walter. Erst am Dienstagabend, nach dem Baden im Sand, hinten bei der Baustelle im Welschdörfli, bin ich in einem Nagel gestanden und wegen genauso einer grossen Lampe, wie die da auf dem Dreibeingestell», er zeigte auf die mitgebrachten Lampen, «die ich jetzt aufbauen muss, habe ich das geschwollene Auge. Vorgestern beim Zusammenbau umgefallen und an den Pölli kriagt.» Er zuckte mit der Schulter und begann mit dem Aufbau des Lichts.

Der Schreck war ihm noch immer anzusehen. Caminada zückte deshalb seine zerknitterte Packung Schwarze Lasso und hielt sie Saluz hin. Der klaubte mit etwas zitternden Händen eine heraus, während Caminada das Petroleumfeuerzeug anschnippte.

«Hogg doch a Moment an dia frisch Luft dussa.» Caminada machte einen Wink mit dem Kopf Richtung Tor.

Nach einigen Minuten stand der junge Saluz, der vor drei Jahren das Fotogeschäft vom alten Saluz, seinem Vater, nach dessen Tod übernommen hatte, wieder in der Rathaushalle. Er schien gefasster zu sein, als er aus einer hellbraunen, steifen Lederbox seine Fotokamera entnahm.

«Potz Blitz, eine neue Kamera?», staunte Caminada und wollte Saluz mit seinem Lob etwas ablenken. «Und nicht grösser als zwei Fäuste. Die hat bestimmt ein Vermögen gekostet.»

«Walter, du wirst noch mehr staunen. Die macht sogar Farbaufnahmen, dank dem speziellen Kodak-Farbfilm, und das ausserdem gestochen scharf.»

«Farbaufnahmen?» Caminada war verblüfft, denn er hatte bis anhin selber noch keine gesehen.

«Da staunst du, was?» Fast schien Saluz vergessen zu haben, weswegen er hier war. «Und ausserdem kostet euch das Ganze im Moment ja nicht einen Rappen mehr pro Fotografie.»

Caminada erklärte ihm die zwei Blickwinkel, die er für die Fotografien brauchte. Für Saluz nicht so einfach zu bewerkstelligen, in der schlecht beleuchteten Halle mit der knapp fünf Meter hohen Bogendecke, doch nach verschiedentlichem Ausrichten seiner Lampen klappte es.

Caminada kniete vor der Leiche. Seine dunkelbraunen Augen, die fast schwarz wirkten, musterten konzentriert die schmächtige Tote. Immer wieder kritzelte er einige Notizen auf den kleinen Block mit dem karierten Papier.

«Wo sind ihre Schuhe abgeblieben?» Er blickte fragend zu Pünchera hoch.

«Die lagen vor dem Eingang.»

«Das heisst, jemand hat sie aufgelesen?», brummte Caminada.

«Das war ich, als die Gaffer kamen, aber ich habe mit Kreide die Umrisse nachgezeichnet», rechtfertigte sich Pünchera schnell.

«Macht endlich das verreckte Tor zu und bringt die Lampe näher ran. Weiss der Geier, wann der Bezirksarzt kommt. Bei Toten eilt es dem Bargätzi ja nie», polterte Caminada.

Pünchera schien alles nicht so geheuer zu sein, doch er tat wie befohlen, bemerkte Caminada und hoffte, dass der noch nicht gefrühstückt hatte, als er das käsebleiche Gesicht sah, während der die Tote besser ausleuchtete.

Caminada hatte Mühe, das sitzende, mit dem Rücken an die Wand gelehnte tote Fräulein hinzulegen, da bereits die Leichenstarre eingesetzt hatte. Hitze liess Tote schneller erstarren, wusste er aus Erfahrung. Mindestens vier Stunden musste deshalb das Verbrechen her sein. Pünchera nahm die schwere mobile Polizeilampe wieder in die Hand und beleuchtete die Leiche von allen Seiten, so wie es Caminada anordnete.

«Möglicherweise hat ein Riemen dem Fräulein Hassler die Gurgel zugschnürt, das ist schon mal sicher, wenn ich den Durchmesser der Male sehe», murmelte Caminada in gedämpfter Lautstärke, dass nicht klar war, ob er wollte, dass es die anderen hörten.

Die Würgemale waren für ihn klar zu erkennen, genauso wie die Einblutungen in ihren Augäpfeln. Caminada betrachtete ihre Fingernägel. Sie schienen gepflegt zu sein. An der rechten Hand waren aber die Nägel an Zeige- und Mittelfinger abgebrochen. Sie hatte sich mit Sicherheit gewehrt, und jemand musste diese Spuren nun tragen, ausser sie hatte nur dessen Bekleidung erwischt. Caminada untersuchte ihre Hände und Arme nach Abwehrverletzungen, doch er fand keine weiteren. Ihre Kleider wiesen auch keine Spuren eines Kampfes auf: Die Bluse war ordentlich zugeknöpft, und die Tote trug Unterhosen, wie ihm ein flüchtiger Blick unter ihren Rock verriet. Wenn ein lüsterner Unhold am Werk gewesen war, dann einer, der sich die Mühe gemacht hatte, das Fräulein wieder ordentlich anzukleiden.

Vorsichtig hielt er seine Nase nah an sie ran, an die Halsseiten, Achselhöhlen, Bluse. Am Hals und Dekolleté nahm er den Duft von zwei Parfümen gemischt mit etwas Schweiss wahr, im Bereich ihres Bauches und an den Schenkeln hingegen nur einen süssherben Herrenduft. Vielsagend hob er die Augenbrauen hoch. Nochmals, diesmal im Scheinwerferlicht, betrachtete er die Unterwäsche genauer. Im Bereich ihrer Scham war sie etwas dunkler verfärbt. Womöglich doch ein Sexualverbrechen, mutmasste er traurig.

Mehr müsste der Bezirksarzt Dr. Werner Bargätzi dazu sagen können. Doch bis dieser kam, bedeckte Caminada die Tote mit einem weissen Laken, das ihm Pünchera in die Hand gedrückt hatte. Solche brauchte das Stadtpolizeiamt bei den tödlichen Unfällen oder den Selbstmorden innerhalb des Stadtgebiets. Leider jedes Jahr über zehn, und auch diese Bilder waren weiss Gott nicht immer schön, wie er aus den Akten wusste. Doch der Anblick dieser jungen Toten war etwas ganz anderes.

Caminada zog das schmale Tor der Rathaushalle nach innen auf und trat in die blendende Morgensonne, dass er blinzeln musste. Sein Schädel brummte dabei auf, als hämmere jemand im Innern.

Er schob sich durch die Gaffer, die an seinem Gesichtsausdruck Neuigkeiten abzulesen versuchten. Er hingegen fragte sich, wo die beiden Beamten des Stadtpolizeiamtes geblieben waren. Immerhin, sein Velotöffli stand noch an seinem Platz.

Pünchera zeigte ihm, wo die Schuhe gelegen hatten, und positionierte diese, wie er sie vorgefunden hatte, alles genau beäugt von den etwa fünfzig Leuten, die sich in einem Abstand von zehn Metern im Halbkreis scharten.

Caminada winkte Saluz, der draussen neben dem Tor eine weitere Zigarette rauchte, damit die Lage der Schuhe in einer weiteren Fotografie festgehalten werden konnte. Danach verabschiedete sich Saluz, noch immer sichtlich aufgewühlt, und versprach, schon am Montag je zwei Abzüge ins Landjägerkorps zu bringen.

Erstaunlich schnell traf diesmal Bezirksarzt Dr. Werner Bargätzi ein. Er keuchte wie die alten Dampflokomotiven am Güterbahnhof, wenn diese voll beladene Waggons in Bewegung setzen mussten, als er aus seinem schwarzen Vauxhall stieg. Das Automobil mit den geschwungenen Kotflügeln und den runden Lichtern in der kantigen Front hatte er halbseitig auf dem Trottoir abgestellt. Der Wagen, der beim Eintreffen von Caminada an selber Stelle gestanden hatte, war verschwunden. Caminada ärgerte sich, die Nummer nicht notiert zu haben.

Bargätzi zog seinen Hosenbund über seinen aufgewölbten Wanst. Er hatte zwar in den Jahren der strengen Lebensmittelrationierung abgespeckt wie alle, die zuvor zu viel auf den Rippen hatten, doch Caminada war es ein Rätsel, woher der die Esswaren herbekam, um noch immer so feist zu sein. Sein nobles, seidenes Jackett trug er offen. Das aufgedunsene Gesicht dampfte rot. Er wischte sich bereits so früh am Morgen mit einem Taschentuch Nacken und Stirn trocken, bevor er sich wieder den schwarzen Hut aufsetzte.

Bargätzis Schwägerin war eine der Bayern, die eine Bäckerei-Konditorei am Kornplatz betrieben. Vor dem Krieg sah man den Bezirksarzt daher tagein, tagaus sich die süssen Backwaren in den Hals stopfen, als gäbe es kein Morgen mehr. In den Beizen quoll sein Teller zur Mittagszeit über vor deftigem Essen. Sein Ranzen schien ihn schon damals nicht zu stören, genau wie die Blicke auf seinen übervollen Teller. Damals war er noch dicker und hatte ausgesehen wie ein Mastschwein im Plankis draussen, das den Schlachttag mehrmals verpasst hatte. Und nun, in den Nachkriegsjahren, in denen sich ein jeder mit Essensmärkli die mageren Wochenrationen ganz genau einteilen musste, damit nicht jeden Tag nur Patati auf dem Tisch standen, löste sein Anblick Missgunst aus, denn ein jeder wusste, seine Völlerei ging auf Kosten anderer. Irgendwoher musste er ja die Lebensmittel herkriegen.

«Also, Walti, wo ist das tote Fräulein?», fragte er nach der typisch trockenen Begrüssung, als Walter auf ihn zuging.

Mit behäbigen Schritten folgte er Caminada in die Rathaushalle, in der Saluz soeben seine Fotoausrüstung zusammenpackte.

Bargätzi legte seinen Hut auf eines der eingelagerten Möbelstücke, die in dieser Hälfte der mit einer Holztrennwand unterteilten Rathaushalle vom Fürsorgeamt eingestellt worden waren. Dann krempelte er sein weisses Hemd zurück und zog die schwarzen Hosenträger straff.

«Ach herrjemine. Was für ein Unglück!» Er schüttelte mehrmals seinen Kopf ob des Anblicks der Toten.

Caminada wusste, dass Bargätzi schon viel Grausiges gesehen hatte, denn meist war er es, der bei Unfällen oder den Selbstmorden gerufen wurde.

Als sich Bargätzi an die Arbeit machte, war es Viertel vor acht in der Früh, wie die Schläge der St.-Martins-Kirche es kundtaten. Auf dem nahen Kornplatz fanden sich derweil die letzten Händler ein und richteten ihre Stände her. Im Kaufhaus Globus bereiteten die Verkäuferinnen alles vor, um um Punkt neun Uhr die Türe zu öffnen. Immer mehr Volk war nun unterwegs. Neben vorwiegend Fussgängern fuhren viele Velofahrer, einige Pferdefuhrwerke und hie und da ein Lastkraftfahrzeug oder eines der stinkenden und lärmenden Automobile kreuz und quer durch die Gassen der Altstadt. Es roch nach Pferdedung, und dort, wo der Abfall vor den Häusern stand, der nur einmal die Woche mit einem Pferdefuhrwerk, dem Kübelwagen, weggekarrt wurde, stank es entsprechend, dass Katzen, vom Geruch angezogen, herumstreunten.

Bargätzi sass breitbeinig auf einem alten Holzstuhl, den er aus dem Lager genommen hatte, und drehte einen der Schuhe der Toten in seiner Hand, als sässe er in einem Schuhfachgeschäft und begutachte diesen. Wo die rechte Schuheinlage geblieben sei, wollte er von Caminada wissen, der vor dem Antworten nochmals an der Krummen zog.

«Ich wette, die hat bestimmt ihre Schuhe zum Schluss in der Hand getragen. Weibsbilder eben. Quetschen sich mit aller Macht in zwei Nummern zu kleine – Hauptsache, der Schuh ist schön.» Schmerzhaft schossen Caminada dabei Erinnerungen seiner Jolanda ins Herz. An damals, als sie vor zwei Jahren, nur wenige Wochen nachdem auch Japan kapituliert und somit der Zweite Weltkrieg offiziell sein Ende gefunden hatte, gemeinsam das Kino Rex besuchten. Seiner Jolanda zuliebe sah er sich «Es war eine rauschende Ballnacht» an. Zarah Leander und Marika Rökk liessen die Kinokassen klingeln und die Frauen träumen. Die über fünfhundert Plätze waren restlos besetzt gewesen. Er aber hätte lieber im Tonfilm-Theater Quader den neuen Schweizer Kriminalfilm «Matto regiert» mit Heinrich Gretler in der Rolle des Wachtmeisters Studer geschaut.

Jolanda war am Nachmittag extra beim Coiffeur gewesen und trug an jenem Herbstabend ihr umwerfendes cremefarbenes Deuxpièces mit passendem Hut, der ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar zierte. Das schwarz-weisse Seidentuch, das sie um den Hals trug, und die feinen schwarzen Lederhandschuhe hatte er ihr zu Weihnachten geschenkt. Nur die passenden Schuhe besass sie aus ihrer Sicht nicht. Deshalb borgte sie sich schon tags zuvor von ihrer jüngeren Schwester Margrit ein Paar schwarze aus, die aber mindestens eine Nummer zu klein waren.

An jenem Abend assen sie in der «Helvetia» Wildfleisch mit Bratkartoffeln. Zur Bezahlung legten sie neben dem Geld die geforderte Dreitagesration Märkli für die je hundert Gramm Fleisch bei und eine Tagesration für das enthaltene Fett im Essen, bevor sie ans untere Ende der Bahnhofstrasse schlenderten.

Männer in dunklen Anzügen und mit Hüten auf dem Kopf scharten sich mit ihren sich hübsch gemachten Begleiterinnen vor dem Eingang mit den grossen Filmplakaten. Es roch nach Raucherwaren und den süsslichen Parfümen der Damen. Wer es vermochte und besonderen Eindruck schinden wollte, fuhr mit seinem Automobil vor die Abendkasse. Inszeniert öffnete der Mann dann seiner Angebeteten mit einem charmanten Lächeln schwungvoll die Beifahrertür und parkierte danach seinen Wagen direkt in der Bahnhofstrasse.

Es herrschte Aufbruchsstimmung in Chur, im ganzen Land, wie die «Schweizer Filmwochenschau», die vor jedem Kinofilm lief, in ihrem wenige Minuten dauernden, mit schwungvoller Musik und euphorischem Kommentar untermalten Bericht darstellte. Hoffnung war der Antrieb für Pläne, und Pläne waren der Garant für Veränderung. Und auch Jolanda und er hatten Pläne gehabt.

In der Filmpause standen sie in Grüppchen in der Bahnhofstrasse im lauen Herbstwind, der die Blätter über ihren Köpfen in feinen Schüben rascheln liess. Das Licht der wenigen Laternen liess die meist schwarzen Karossen der Automobile sündhaft teuer glänzen. Jolanda trank ein Gläschen Weissen, er selbst hielt einen Zweier Roten in der Linken und seine obligate Krumme in der Rechten, als Regierungsrat Barblan, in Begleitung seiner Gattin Helene, sie ansprach.

«Landjäger Caminada, das war ja wieder einmal ausgezeichnete Arbeit von Ihnen gewesen, wie ich von Major Kübler erfahren habe. Den Grenzwächtern war die Schmugglerbande schon einige Male am Splügenpass entwischt, habe ich gehört. Dass die ihre Ware in Chur zwischenlagern wollte, war ihr Pech, und nun hocken die drei im Loch.» Dabei nickte er anerkennend, dass sich seine Hutkrempe kurz senkte. Ein teures Modell, wie Caminada feststellte, wie bestimmt auch der Anzug und der weisse Kaschmirschal. In seinen schwarzen dünnen Lederhandschuhen hielt er seinen Spazierstock mit dem verzierten Knauf aus Silber, ohne den er nirgends anzutreffen war.

«Warum in Herrgottsnamen lehnen Sie bloss jede Beförderung ab? Ist mir weiterhin ein Rätsel. Sie wären bestimmt schon lange Wachtmeister oder gar Leutnant. Einem wie Ihnen, der ein Gespür für das Verbrechen hat und so manchen Fall in den vergangenen Jahren erfolgreich gelöst hat, dem gebührt ein anständiger Titel.» Achselzuckend blickte er dabei auf Jolanda Caminada, deren elegantes, tailliertes Deuxpièces sichtlich Wohlgefallen bei ihm auslöste.

«Mir ist wohl, wie es ist, und der ganze Papierkrimskrams liegt mir nicht. Ich bin ein einfacher Mann, Herr Regierungsrat Barblan, und das, was ich tue, passt mir so, wie’s ist. Landjäger hin oder her. Respekt verschafft sich unsereiner sowieso nicht mit einem Titel. Aber ich bedanke mich ausdrücklich, dass Sie die Besoldungsstufe angehoben haben. So liegt ja auch mal so ein Abend drin, ohne dass wir es vom Mund absparen müssen.»

«Soll mir recht sein, Landjäger Caminada, Hauptsache, Sie bleiben uns im Dienst treu. So, und nun will ich die werten Damen nicht länger langweilen. Habe die Ehre.» Er tippte beim Nicken an seine Hutkrempe und schenkte dabei Jolanda ein unverschämt freundliches Lächeln, ehe er mit Gattin Helene in der Traube der Kinobesucher verschwand.

Caminada war froh gewesen, dieses leidige Thema einmal mehr vom Tisch zu wissen. Er mochte nicht darüber reden. Er wusste, etwas stimmte seit seiner Kindheit nicht mit ihm. Was genau es war, dafür hatte er keinen Namen gefunden. Lesen und Schreiben bereiteten ihm grosse Mühe, die Schulzeit war deshalb oft eine Qual gewesen. In allen anderen Fächern war er gut gewesen, sogar sehr gut. Sein Vater Hermann, ein strenger und kräftiger Fuhrhalter, der mit seinen Pferdegespannen die umliegenden Seitentäler mit Waren belieferte, hatte ihm oft Prügel verteilt, doch weder die Schläge noch viele Stunden Üben machten es besser.

Nach dem Filmstreifen spazierte er mit Jolanda gemütlich der Plessur folgend durch den Herbstabend. Es duftete nach feuchter Erde und dem Laub, das überall in den Strassen lag. Die kühle Nachtluft prickelte anregend auf der Gesichtshaut, der Atem wölkte sich in den wenigen gelben Lichtkegeln der Laternen. Seine Jolanda hatte den ganzen Abend wie immer ihre gute Laune verströmt wie eine Blume ihren Duft, doch als er zu Hause ihre blutig wund gescheuerten Zehen und Fersen sah, erschrak er. Sie aber lächelte es weg, stellte einen Topf Wasser auf den Gasherd und stellte ihre Füsse danach in ein lauwarmes Salbeibad und schwärmte dabei vom Film, davon, wie Zarah Leander brillierte und was für eine unglaubliche Stimme sie hatte.

Auch die Tage danach, bis die Wunden langsam heilten, hörte er kein Klagen von ihr. So war sie gewesen – seine grosse Liebe, die er seit seiner Schulzeit kannte und fast ebenso lange liebte und noch immer in seinem Herzen trug.

«Walter? Walter!» Die Stimme Bargätzis riss ihn aus seinen schweren Gedanken zurück in die Rathaushalle. «Willst du deinen Satz nicht fertig machen? Stehst ja da, als hätte dir jemand eins über den Pölli gedonnert. Was ist los?»

Caminada fing sich wieder. «Ach ja, die Schuhe. Also, was ich sagen wollte, so wie die auf der Poststrasse lagen, musste die junge Hasslerin sie im Schreck fallen gelassen haben. Aus welcher Richtung sie gekommen ist, das zeigt die Stellung der Schuhe meiner Meinung nach nicht eindeutig. Sehr wahrscheinlich befand sie sich gegen zwei Uhr aber auf dem Heimweg, wenn man den Schrei, welchen einige Anwohner um diese Zeit gehört haben, mit dem Verbrechen in Verbindung bringt. Wobei – je nachdem, wo der Übeltäter ihr nachgestellt hatte, könnte sie auch auf dem Heimweg flüchtend umgekehrt sein.» Er nahm einen kräftigen Zug, blies den blauen Dunst ins Gewölbe und kratzte sich an der Stirn, dass er dabei seinen dunklen Hut ein wenig nach hinten schob. «Ich habe aber eine Idee.»

«Lass hören.» Bargätzi, der nun neben der Toten kniete, stand so mühsam auf, dass man meinen konnte, dass ihm dabei sämtliche Gelenke bersten würden.

Caminada nahm einen Einfränkler aus dem Geldsäckel und rieb ihn an seinem Tschoopa glänzend.

«Es lungern bereits ein paar der Stadtbuben draussen herum. Sie sollen in den Strassen und Gassen nach der anderen Schuheinlage Ausschau halten, und wer diese findet …» Er schnippte das Geldstück in die Höhe, dass es durch die Luft wirbelte, bevor er es wieder auffing. «Dann wissen wir möglicherweise, woher sie gekommen ist und wo sie ihre Schuhe ausgezogen hat.»

Bargätzi nickte. Ein Pferdefuhrwerk würde die Tote in der nächsten Stunde ins Kantonsspital karren. In der Leichenhalle werde er sie heute noch genauer untersuchen, versprach er Caminada, bevor dieser die Rathaushalle verliess, um seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Draussen auf der Poststrasse pfiff Caminada den Buben zu, die sich weiter unten auf der Strasse tummelten, da es im Moment nichts Spannendes zu sehen gab. Kaum hatte er seinen Vorschlag der Bubenrunde erzählt, stob diese auseinander, als hätte er eine Schlange in deren Mitte geworfen.

Caminada hatte keine Lust mehr, sein Vehikel nochmals anzutreten, und wollte es soeben zu Fuss und auf direktem Weg zum Gasthaus Franziskaner beim Obertor schieben, als ihm Wachtmeister Clavadetscher entgegenkam.

«Wo geht’s denn hin, Walter? Den Fundort bereits gesichtet?»

«Franziskaner. Habe genug gesehen, und jemand muss es der Familie ja noch beibringen. Doch zuvor gibt’s einen Zweier Roten.»

«So früh am Morgen, und das auch noch im Dienst? Das ginge bei uns im Stadtpolizeiamt aber nicht. Walter, wir kennen uns schon lange, nicht wahr? Deshalb erlaube ich mir, zu sagen, dass du ein wenig Obacht geben musst. Du weisst, was ich meine. Wenn ich an den Caminada vor zwei Jahren denke, was glaubst du, würde dieser zu deinem Zustand sagen?» Dabei legte er Caminada eine Hand auf die Schulter.

«Papperlapapp. Ein solches Verbrechen verträgt kein normaler Mensch auf nüchternen Magen», wiegelte Caminada ab, doch er wusste, dass Clavadetscher recht hatte, und dass Clavadetscher das ebenfalls wusste, machte alles auch nicht besser.

«Dann bist du also auf dem Weg zum Hassler? Ich habe mittlerweile gehört, wer die Tote ist. Traurig. Ist ja so eine Sache mit den Hasslers», wechselte Clavadetscher das Thema.

«Wäga? Gefreiter Pünchera hat es mir zwar angedeutet, doch ich vergass, im Trubel nachzufragen. Die Adresse hingegen hat er mir noch in die Hand gedrückt.»

«Weisst du was, Walti? Ich vertrag auch was. Dann erzähl ich’s dir.»

Clavadetscher, ein gross gewachsener schlanker Mann, dessen Blick etwas Würdevolles, aber auch Väterliches widerspiegelte, rief Pünchera zu, der noch immer vor dem Tor der Rathaushalle stand, wo er zu finden sei und dass er das Wachtbuch nachtragen solle, damit die Tagesschicht Bescheid wisse.

Caminada setzte sich im Franziskaner wie immer an den kleinen Zweiertisch hinten rechts am Fenster, falls dieser frei war, ansonsten verliess er postwendend die Beiz und ging auf der gegenüberliegenden Plessurseite ins nahe Zollhaus. Clavadetscher nahm ihm gegenüber Platz.

Nur an zwei weiteren Tischen sass jemand – es war noch früh und ausserdem Samstag. Der eine der beiden, wahrscheinlich ein Handelsreisender, der im Hotel genächtigt hatte, sass über seinen Malzkaffee gebeugt, mit einer Suppe danebenstehend, und sprach mit der Serviertochter in seinem St. Galler Dialekt. Neben ihm stand ein grosser Koffer, wahrscheinlich mit Musterware darin. Der andere Gast war der mächtige Fuhrmann Klaus Bertogg, der einen Becher Bier geleert hatte und soeben bei der Serviertochter die fünfunddreissig Rappen bezahlte und wie immer nicht mal ein Füfarli Trinkgeld gab.

Durch eines der Fenster blickte Caminada am Brunnen vorbei durchs mittelalterliche Obertor. Die Bahnschienen inmitten der Strasse dahinter, auf welcher hin und wieder die seit 1913 elektrifizierte grau-weisse Arosabahn lärmend im Schritttempo vorüberzog, glänzten im Sonnenschein. Er bestellte einen Zweier Roten, als Vreni, die Serviertochter, mit der um ihre Hüfte gebundenen weissen Schürze an den Tisch trat. Vergebens zog er an seiner Krummen. Er rieb ein Schwefelzündholz an der rauen Tischplatte und paffte neue Glut hervor, bevor er es in dem wuchtigen eisernen Aschenbecher mit dem Steinbockmotiv versenkte.

Das Gesicht der Toten wollte nicht aus seinem Kopf weichen – ein so blutjunger Mensch, ein so zartfeines Fräulein so grausam erwürgt.

Der alte Hassler war polizeilich kein Unbekannter. Die Stadtpolizei hatte schon mehrmals wegen Familienstreitereien ausrücken müssen. Erst vor wenigen Wochen hatte er im Suff Flurina grün und blau geschlagen, wie Wachtmeister Clavadetscher nun berichtete, der dabei genüsslich seinen Malzkaffee trank. Sie hätten danach den alten Hassler mit einem Pferdefuhrwerk in die kantonale Irrenanstalt Waldhaus verbracht. Zwei Polizeimänner hätten dazu aber nicht gereicht. Erst als der stämmige Gefreite Montalta ihm eins mit dem Knüppel übergezogen hatte, habe der jähzornige Sauhund endlich Ruhe gegeben, schloss Calvadetscher seine Ausführungen. Dabei lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, damit die Serviertochter den Teller mit der goldbraunen Rösti und dem Spiegelei darüber auf dem Tisch vor ihm abstellen konnte, für die Clavadetscher, der zwanzig Gramm Butter wegen, eine gesamte Tagesration Butter-Märkli hergeben musste, für das Ei sogar einen von vier Monatscoupons.

Warum denn der Hassler nach nur einer Woche laufen gelassen worden sei, interessierte sich Caminada.

«Wahrscheinlich des lieben Geldes wegen. Ich habe aber nicht nachgefragt. Schaffen ging dä verreckti Khoga jo schu, wenn er nicht gerade tags zuvor vor lauter Sauferei nicht mehr grad laufen konnte. Dem armen Maitli, das in der Telefonzentrale geschafft hat, wollte man die Kosten nicht aufbürden. Wie auch, mit dem Hungerlohn, welchen die Vermittlerinnen erhalten, kommen diese ja nicht mal für sich selbst auf, ohne dass der Monat am Ende nicht zu viele Tage hat. Mehr wie ein Zweifränkler auf die Stunde verdiente die bestimmt nicht. Walter, du weisst ja, wie das heutzutage läuft.»

Caminada nickte. «Alles muss rentieren, sonst hast du die Oberen am Hals.»

Er blies den Rauch zur Decke hoch und sah, wie der Handelsreisende im Rücken von Clavadetscher seinen Koffer zum Ausgang schleppte.

«Wo du recht hast, hast du recht, Walter. Sowieso jetzt, wo die Planung für das Eidgenössische Schützenfest angelaufen ist. Die sparen doch jetzt schon jeden Rappen für die neue Schiessanlage in der Oberen Au, denn jeder weiss, dass die Mehrheit der Churer Männer im Oktober ein Ja in die Urne legen wird. Und überall haben sie mit der Sanierung und Erweiterung der Strassen begonnen, denn keiner der Stadtväter will sich in zwei Jahren schämen, dass wir ein Purakaff sind. Zudem ist es nur eine Frage der Zeit, bis nach und nach alle Lebensmittel und Waren aus der Rationierung fallen werden. Es wird zusehends besser. Immerhin ist ja nur noch der Freitag als fleischloser Tag für nicht private Haushalte Pflicht und Schaffleisch, als einziges Fleisch zwar, aber immerhin, nicht mehr rationiert. Das Eidgenössische Kriegsernährungsamt in Bern hebt mit Sicherheit in Bälde die Rationierung gänzlich auf, dann können wir diese Märkli endlich zur Seite legen. Die Versorgungslage ist weiss Gott nicht mehr angespannt wie in den aktiven Kriegsjahren», sagte Clavadetscher, als wäre es ein Plädoyer, und schob sich, wie als Beweis für die Richtigkeit seiner Worte, eine übervolle Gabel Rösti in den Mund.

«Bundesbern ist nicht für Schnellschüsse bekannt», pflichtete Caminada bei. «Irgendwo wird zu viel gehortet. Das kann höchstens noch ein paar Monate dauern. Der Stieger hat wieder mal aus der Stadtratssitzung geplaudert. Ein bisschen zu viel vom Kafi-Schnaps, und der schnorrt wie ein Waschweib. Der hat vor ein paar Tagen in der ‹Blauen Kugel› einen Granatenrausch geschoben und verzapft, dass es nur noch Formsache sei. Eine Liste mit den Zeitdaten, wie die Rationierung schrittweise aufgehoben werde, liege sogar druckreif vor. Hat geprahlt, dass er eine sogar in der Hand gehalten hätte. Der offizielle Entscheid aus Bern stehe nächstens bevor. Mir soll’s mehr als recht sein. Diese ewige Rechnerei, was man für wie viele Märkli bekommt, und die ganze Tageseinteilerei, obwohl Geld vorhanden wäre, das mag keiner mehr. Aber jetzt zurück zum Fall. Der alte Hassler, ist der das einzige Familienmitglied der jungen Hasslerin?»

«Ja, leider. Die Mutter ist vor vier Jahren an Tuberkulose gestorben. Die genauen Umstände kenne ich zwar nicht. Glaub aber, in Davos, beim Kuren.»

«Warum in Herrgottsnamen ist denn die Junge beim Alten geblieben? Sie hätte ja ins Marienheim für arbeitende und stellensuchende Mädchen gehen können.» Caminada nahm einen Schluck vom kräftigen Roten und wischte sich den Schnauz ab, der schon lange einen anständigen Schnitt vertragen hätte.

«Weisst ja selber, wie das ist. Wie ein Fluch kommen die einen Weibsbilder nicht von zu Hause los, auch wenn sie regelmässig wie streunende Hunde verprügelt werden. Und nicht jedes Fräulein will in so ein Heim. Da trägst du einen Stempel am Grind. Doch vor fünf Wochen, als wir um kurz nach Mitternacht von einem Anwohner im Wärmestübli auf dem Kornplatz alarmiert worden waren und den Alten noch in jener Nacht in die Irrenanstalt gekarrt hatten, da hat die Flurina die Vormundschaftsbehörde um Unterstützung für eine eigene Wohnung oder ein Zimmer mit Familienanschluss ersucht. Natürlich ohne den Alten zu informieren. Sollte alles im Hintergrund eingefädelt werden, sie ist ja volljährig. Steht alles in den Akten. Und du weisst bestimmt, wie schwierig es für eine Einzelperson ist, eine Wohnung in Chur zu finden und auch noch den Zuschlag zu bekommen.»

Caminada nickte und genehmigte sich einen Schluck Roten, während der Wachtmeister eine weitere Gabel voll Rösti in den Mund schob.