Engadiner Teufel - Philipp Gurt - E-Book

Engadiner Teufel E-Book

Philipp Gurt

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Beschreibung

Golden leuchten die Lärchen, tiefblau glitzern die Seen im herbstlichen Oberengadin. Doch als die Nacht hereinbricht, wird Corina Costa, Alpinpolizistin und Bergbäuerin, auf ihrem kleinen Hof oberhalb von Pontresina alarmiert. Maxima, eine Berliner TikTok-Ikone, die mit ihrer Schwester wild am Piz Lagrev campierte, ist vor laufender Kamera entführt worden. Die halbe Welt hat live zugesehen. Als Corina und ihre Kollegen in der Dunkelheit den Bergwald absuchen, stoßen sie auf ein verlassenes Zelt. Daneben liegen die grausam zugerichteten Leichen zweier unbekannter Frauen. Wer sind die Opfer, und wer ist der Täter? Alles deutet auf einen Angriff durch einen Braunbären hin. Doch Corina weiß es besser. Diese Tat kann nur vom gefährlichsten Raubtier auf dem Planeten begangen worden sein. Von einem Menschen! Die Zeit drängt – Wo sind Maxima und ihre Schwester?

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Philipp Gurt

Engadiner Teufel

Ein Fall für Corina Costa

Kriminalroman

Dörlemann

Inhalt

Motto

Prolog

1

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4

5

6

7

8

9

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Über Philipp Gurt

 

 

»Holdes Bitten, mild Verlangen, wie es süß zum Herzen spricht! Durch die Nacht, die mich umfangen, blickt zu mir der Töne Licht!«

 

Aus »Abendständchen« von Clemens Brentano

Prolog

Der dichte Schneefall hatte Julias hellbraune Locken längst weiß geschmückt. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, die blauen Augen hellwach. Wie eine dem Tod geweihte Prinzessin sah sie aus, einem Tod, dem sie verzweifelt zu entfliehen versuchte.

»Neeein!«, schrie sie keuchend auf und hetzte weiter barfuß den Berghang hoch. Sie verschwendete keine Zeit mit einem Blick zurück, denn sie wusste auch so, dass ihr Verfolger ihr schon wieder näher kam. Wie er das schaffte, war rätselhaft und beängstigend und raubte ihr weiter Kraft und beinahe den letzten Hoffnungsschimmer.

Ausgerechnet in diesem Jahr war der Winter früher übers Oberengadin hereingebrochen, sodass in dieser Nacht die goldenen Lärchen mit weißen Häuptern im kniehohen Schnee standen. Wie stumme Betrachter blickten sie regungslos auf die Tragödie, die sich zu ihren Füßen abspielte. Die Natur kannte nun mal weder Gut noch Böse, nur das Überleben und das Sterben. Den Bäumen war es daher einerlei, ob unter ihnen das heimische Rudel Wölfe ein verletztes Tier hetzte oder eine junge Frau mit letzter Kraft versuchte, ihrem Entführer zu entkommen.

In der nächtlichen Stille ruhten im Hochtal die Engadiner Seen schwarz glänzend in der Kälte, noch waren sie nicht gefroren. Die Dörflein an ihren Ufern schliefen schon, und das gleißende Licht des vergangenen Bergsommers war längst entschwunden. Dafür kräuselte nun der Rauch aus einigen der Kamine und würzte die Winterluft in den Dörfern, deren Häuser sich wie steinerne Herdentiere schützend um den Kirchturm scharten.

Vor wenigen Minuten war der gedämpfte Klang einer Glocke von irgendwoher unheilverkündend an Julias Ohr gedrungen, als läutete er ihr Ende ein. Drei bedrohliche Schläge waren es gewesen, und auf jeden der Schläge war diese Stille gefolgt, als wäre jeder Schlag schon der letzte gewesen. So ähnlich fühlte sich die Jagd auf sie bisher an: Zwei Mal schon hatte ihr Verfolger sie beinahe erwischt und ihre Hoffnung fast zerstört, doch beide Male war sie ihm im letzten Moment wieder entkommen. Sie fürchtete sich nun vor ihrem dritten und vielleicht letzten Glockenschlag und mehr noch vor der drohenden Totenstille danach!

Doch die junge Berlinerin dachte im Traum nicht ans Aufgeben und flüchtete, vom puren Überlebenswillen getrieben, weiter durch das Schneegestöber.

Vor ungefähr einer halben Stunde war ihr weiter unten an der Landstraße, die dem rechten Ufer des Silsersees Richtung Maloja folgte, die Flucht aus einem grauen Transporter gelungen. Ihr Entführer hatte eine, wie es ihr schien, dringende Pinkelpause einlegen müssen. Sie hatte gehört, wie er sich direkt neben dem Fahrzeug lautstark erleichterte, als wäre seine Blase kurz vor dem Platzen gewesen. Als er danach von außen mit der flachen Hand an die Karosserie geschlagen hatte, der Laderaum des Fahrzeuges war fensterlos, hatte sie keine Antwort gegeben, sich leblos gestellt. Er polterte erneut, rief, dass sie gefälligst antworten solle, ehe er unwillig die Schiebetür aufzog und seinen Kopf ins Innere des Wagens streckte. Ein Schwall kalter Luft strömte in den beheizten Innenraum.

Das Fahrzeug schaukelte unter dem Gewicht des Mannes, während er zustieg. Als er Julia mit der Fußspitze anstieß, keuchte sie: »Mir geht’s schlecht, ich brauche Wasser …«

»Verdammt, was ist denn mit der los?«, fluchte er mit Blick auf die unter ihm Liegende. Er beschloss, ihr schnell etwas zum Trinken aus der Fahrerkabine zu holen, denn er hatte schließlich noch etwas mit der jungen Frau vor, und dazu brauchte er sie quicklebendig und im Moment noch in einem Stück. Er zog die Schiebetür nur teilweise hinter sich zu, ließ sich von Julias gekonntem Schauspiel blenden – dass sie bereits im dritten Jahr an der Schauspielschule Berlin studierte, zahlte sich nun aus –, sodass sie in dem Moment aus dem Transporter entwischen konnte, als er auf der anderen Seite rumpelnd in die Fahrerkabine einstieg.

Julia war verstört, als sie in die Nacht flüchtete, und nicht nur wegen des Grauens, das sie ereilt hatte – Schnee?!

Die 26-Jährige rannte sofort entgegen der Fahrtrichtung des Transporters davon. Auf der Straße vor ihr lag eine dicke Schneedecke, der dichte Schneefall raubte ihr die Sicht. Sie war barfuß, trug aber immerhin noch ihre Jeans und ihr Shirt. Noch spürte sie die Kälte nicht.

»Bleib sofort stehen, du hinterhältiges Luder!«, schrie ihr Entführer voller Zorn, als er ihre Flucht bemerkte, und nahm sofort die Verfolgung auf.

Doch Julia war nicht nur eine gute Schauspielerin, sie war auch eine hervorragende Läuferin, und so musste er nach ein paar hundert Metern einsehen, dass es keinen Zweck hatte und er so nur wichtige Zeit verlor. Diesmal hatte er sein Opfer zwar nicht unterschätzt, und dennoch war sie ihm entwischt!

Er eilte zum alten Transporter zurück, startete den unverwüstlichen Dieselmotor, die Scheinwerfer glommen auf und fingen in ihren gelben Lichtkegeln das hektische Schneetreiben ein.

Drei Anläufe musste er nehmen, ehe ihm das Wenden gelang, denn die Räder drehten durch, sobald er in seiner Hektik zu viel Gas gab. Die Geräusche des Wagens wurden vom Schnee gedämpft.

Julia hatte keinen Schimmer, wo sie sich befand. Sie rannte weiter durch die bergige Winterlandschaft und erkannte links von sich neben der Straße eine Natursteinmauer, über der sich ein mit Holzstämmen errichteter Wall erhob. Im Schneetreiben blickte sie über die andere Straßenseite hinweg auf den See, der sich hinter der Leitplanke schwarz abhob. Die Sicht reichte aber nicht weiter als 20 Meter. Bei diesem Schneesturm war es unmöglich, ein Licht oder gar eine Ortschaft in der Ferne auszumachen, erkannte sie panisch.

Sie konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, geschweige denn wissen, dass sie exakt in Richtung des Dörfleins Sils im Engadin blickte, das schräg rechts vor ihr, vom Schneetreiben und der Nacht verschluckt, auf der anderen Seeseite ruhte. Und Julia wusste auch nicht, welcher Tod dort auf sie wartete, falls sie ihrem Peiniger nicht würde entkommen können. Ebenso wenig konnte sie wissen, dass ihr Entführer sich zuvor im dichten Schneetreiben verfahren hatte, bereits Richtung Maloja unterwegs gewesen war, das einige Kilometer weiter am Ende des Silsersees lag. Nur deswegen hatte er überhaupt eine Pause einlegen müssen. Doch Julia war aus dem Transporter entkommen, nur das zählte im Moment, und sie hatte Hoffnung.

Am Ende einer weiteren Böschungsmauer verließ sie die Straße und schlug sich kämpferisch die steile Bergseite hoch, hinein in den Lärchenwald, als sie gedämpften Motorenlärm hörte.

Der Mann fuhr nicht nur wegen der prekären Straßenverhältnisse langsam; Julia wusste, dass er versuchen würde, ihren Spuren im Schnee zu folgen, die ihren Fluchtweg zwangsläufig verrieten. Sie musste ihren Vorsprung daher rasch ausbauen, damit der heftige Schneefall ihre Spuren noch rechtzeitig bedecken konnte.

Minuten später hörte Julia nur noch ihren rhythmischen Atem, während sie zeitweise auf allen vieren weiter den Berg hochhetzte. Immer wieder rutschte sie aus, musste sich erneut aufraffen. Doch plötzlich vernahm sie leise das Zuschlagen einer Autotür. Wahrscheinlich hatte er ihre Spuren am Wegrand gefunden. Es hörte sich weit von ihr entfernt an, er würde ihre Spur also bestimmt bald verlieren, so hoffte sie zumindest, denn Wind war aufgekommen.

Mit betont gedehnten Worten schrie er durch das Schneetreiben zu ihr hoch: »Ich komme dich jetzt holen!«

Seine tiefe, außerordentlich kraftvolle Stimme war beängstigend, ließ Julia für einen Moment erstarren, auch wenn die Stimme irgendwo weit weg aus dem weißen Nichts zu kommen schien. Sie musste weiter.

Julias Angst spornte sie an, sie wollte nicht nachlassen, denn die Sicht wurde stetig schlechter, zeitweise waren die dunklen Baumstämme um sie herum kaum noch zu erkennen. Der böige Wind würde die Spuren hinter ihr bald vollständig verweht haben. Sie war sich sicher, dass der Schneefall ihr Leben retten würde. Doch dem war nicht so.

Sie hetzte durch den kniehohen Schnee, doch wohin sie sich auch wandte, ihr Verfolger blieb ihr dicht auf den Fersen. Zweimal entkam sie ihm nur ganz knapp.

Um kurz nach 3 Uhr keimte zaghaft die Hoffnung in Julia auf, ihren Verfolger definitiv abgeschüttelt zu haben. Sie verharrte deshalb einen Augenblick, musste zu Atem kommen. Dabei war in den Atempausen nichts anderes zu hören als der Schnee, der nun nicht mehr in weichen Flocken fiel, sondern wütend körnig auf sie niederprasselte.

Sie wähnte sich in Sicherheit.

Erst jetzt merkte Julia, dass ihre Füße mittlerweile ganz taub waren. Sie musste dringend wieder hinunter zur Straße, denn jede Straße musste doch irgendwann zu einer Behausung führen, dessen war sie sich sicher. Vielleicht war ja sogar der Winterdienst mittlerweile unterwegs, auch wenn das orange Blinken und der Lärm der schweren Motoren nicht bis zu ihr durchdringen könnten.

Sie rieb mit ihren kalten Fingern ihre tauben Füße und schlug danach eine andere Richtung ein, schräg hinunter zur Straße, sonst wäre bald der Schnee alleine ihr Verderben gewesen. Außerdem würde ihr Verfolger sie wahrscheinlich hier oben suchen. Vielleicht würde sie sich irgendwo am Straßenrand verstecken können, bis ein Wagen vorbeikam, hoffte sie. Oder vielleicht fand sie ja unterwegs eine Hütte. So oder so, sie musste sich möglichst rasch irgendwo aufwärmen. Außerdem hatten die Glockenschläge, die sie soeben gehört hatte, nicht nur die Angst um ihr Ende eingeläutet, sondern auch verkündet, dass irgendwo in der Nähe ein Dorf sein musste.

Doch nur Minuten später musste sie dann erneut feststellen, dass ihr Verfolger sich wieder wie ein Bluthund an ihre Fersen heftete.

»Wie macht er das bloß?«, hörte sie sich bestürzt fragen. Er konnte ihren Spuren unmöglich gefolgt sein, denn diesmal hörte sie ihn von rechts unterhalb drohend zu ihr hoch rufen:

»Alles läuft nach meinem Plan, den ich für dich bereithalte. Hörst du, Julia? Alles läuft nach Plan, denn ich weiß nicht nur, wer du bist, ich weiß auch, wo du bist!«

Wegen des dichten Schneefalls sah sie ihn nicht, aber es hörte sich plötzlich überraschend nah an, wie er sich durch den Schneesturm zu ihr hochkämpfte. Äste brachen dabei, als hätte er die Kraft eines Wildtieres.

Julia erstarrte, den Blick nach unten ins weiße Nichts gerichtet, in ihrem Kopf herrschte eine Blockade.

Plötzlich schälte sich seine dunkle Gestalt aus dem Weiß. Der große Mann trug einen Fellmantel und einen breitkrempigen Hut, der sein Gesicht verdeckte.

Wieso ich?, fragte sich Julia verzweifelt und konnte sich noch immer nicht vom Anblick lösen. Und warum hat er mich hierher verschleppt, in diese mir fremde Bergwelt? Was habe ich ihm getan, oder spinn ich total? Oder stecke ich in einem Albtraum fest?!

Das Letzte, woran sie sich vor alledem noch erinnern konnte, war, dass sie in Berlin auf dem Alexanderplatz am Mittag einen Vegi-Burger gegessen und dazu ein leckeres Bier getrunken hatte, beides hatte sie zuvor an einem Verkaufsstand vor dem Zugang zur U-Bahn gekauft. Ausnahmsweise hatte sich die Hauptstadt an diesem Herbsttag frei von Nebel gezeigt, es war sonnig und so warm gewesen, dass sie ihre Jacke um die Taille gebunden hatte. Danach war aber auch schon Filmriss. Und nun? Hier? Was war passiert? Wie war sie in diese grauenhafte Situation geraten?

Seit Julia vor ein paar Stunden, wobei sie ihrem Zeitgefühl noch nicht wirklich trauen konnte, im Transporter zu sich gekommen war, hatte sie sich dies immer wieder gefragt.

Als sie zu sich gekommen war und ihre Gefangenschaft registriert hatte, war sie in Panik geraten. Sie hatte keinen blassen Schimmer, weshalb sie in einem fahrenden Kleintransporter auf einer stinkenden Matte lag. Sie musste zuvor mit etwas betäubt worden sein, alles hatte sich noch in ihrem Kopf gedreht, ehe sie langsam klarer denken konnte.

Als sie aus Verwirrung und Verzweiflung angefangen hatte, gegen die Karosserie zu hämmern, hatte sie über einen kleinen Lautsprecher den Mann sagen hören: »Sei still, Julia, oder ich versenke dich mitsamt dem alten Bus in einem der Seen hier. Willst du wirklich jämmerlich da hinten ersaufen? Du würdest aber immerhin bestimmt eine sehr schöne Wasserleiche abgeben!«

Sie hatte unter Schock gestanden, geglaubt, dass sie träumte, denn genau das hier war doch der Stoff, aus dem Albträume gewoben sind: erst der belebte, sonnige Alexanderplatz im geschäftigen Berlin, das Essen am Stand – dann, nur einen Lidschlag später, Gefangenschaft, Dunkelheit und die pure Verzweiflung!

Julia hatte auf ihrer Flucht soeben alles versucht, um dem Mann im Schneesturm zu entkommen, doch ohne Schuhe und mit den tauben Füßen schien es ihr bald unmöglich. Und ihre Kräfte ließen im Gegensatz zu den seinen nach, und nun war er da!

Es waren nicht nur sein lautes Keuchen und sein Anblick, die ihn verrieten, sondern auch sein Geruch. Der Mann roch säuerlich dumpf. Vielleicht war es auch bloß sein Mantel aus Fell, von dem sie Geruchsfetzen in die Nase kriegte.

Noch immer starrte sie gebannt vor Angst auf seine sich nähernde Gestalt. Zwischen zwei Böen, die ihr kurz die Sicht nahmen, hob er sich wieder dunkel ab, Schritt für Schritt stieg er zu ihr hoch … Schritt für Schritt, als hätte er es nicht mehr eilig …

Sie fühlte sich am Ende, und doch bäumte sie sich nochmals auf und flüchtete wenige Meter hoch, als sie erneut ausrutschte und daraufhin kraftlos und entmutigt liegen blieb. Erst schluchzte Julia verzweifelt, doch als er sie beinahe erreicht hatte, drehte sie sich auf den Rücken, um ihn mit Fußtritten von sich fernzuhalten, auch wenn das nur der berühmte Griff nach dem Strohhalm war.

Sie schrie: »Bitte, bitte, warum tun Sie mir das an? Warum?«, und zappelte weiter auf dem Rücken liegend wie ein Käfer in der heißen Bratpfanne.

Der Mann blieb vor ihr stehen. Groß und sehr kräftig wirkte er. Er sah aus wie ein Waldmensch mit dem schwarzen zottigen Bart und dem langen Haar und seiner Jacke aus Fell. Auf seinem breitkrempigen Lederhut und den breiten Schultern lag Schnee. Der säuerliche Geruch umschloss alles. Seine Lungenflügel mussten zudem riesig sein, denn sie sah, wie sein keuchender Atem sich in großen Schüben wölkte.

»Du bist schnell, und du bist klug. Das muss man dir zweifellos lassen.« Er nickte anerkennend und blickte sie dabei an, als müsste er seine Trophäe erst genauer begutachten. Dann lächelte er. Dieses Lächeln wirkte verwirrend freundlich, ja fast warmherzig auf Julia. Auch seine Stimme veränderte sich zeitgleich, als er sagte: »Du fragst dich doch bestimmt, wie ich dich hier oben so leicht wiedergefunden habe?«

Sie blickte ihn regungslos an. Schneeflocken zierten ihre zarten Wimpern.

»Greif mal in deine rechte Hosentasche.« Er machte eine einladende Handgeste.

Sie verstand nicht.

»Greif jetzt in die rechte Hosentasche deiner Jeans!« Seine Stimme trug für einen Moment wieder diese Kälte.

Sie gehorchte. Mit klammen Fingern beförderte sie ein kleines Gerät hervor, nur halb so groß wie ein Feuerzeug. Ein Lämpchen blinkte daran grün im Sekundentakt.

»Das ist mein ganz persönliches Helferlein. Und das hat wie alles, wirklich alles auf der Welt, eine oder, besser gesagt, seine ganz persönliche Geschichte, denn schon einmal ist mir eine wie du beinahe entwischt. Weißt du, ich suche mir immer die schwierigen Fälle aus. Die Letzte verlor ich, weil ich ihr aus der Ferne in den Kopf schießen musste. Ein Jammer, denn sie war jung und kräftig, hätte noch viel ausgehalten.«

Er zog ein Gerät aus seiner Manteltasche, das nur aus einem Display und drei Knöpfen bestand. »Ich habe dir doch zugerufen, dass ich dich holen komme.« Er lächelte. »Du hättest dieses Ding bloß irgendwo in den Schnee werfen müssen, und du wärst mir in diesem Sauwetter schon längst entkommen.«

»Bitte, Sie müssen das doch nicht tun, was immer Sie auch mit mir vorhaben. Bitte, ich bin doch noch so jung, und ich habe Ihnen doch nichts getan …«

»Ich weiß. 26 bist du, das ist noch kein Alter. Und nein, ich muss das nicht tun. Aber weißt du was, Julia? Ich will es tun!« Er lachte leise und fragte dunkel: »Warum sagen die meisten immer nur dasselbe?«

»Hören Sie, ich will doch bloß leben. Wie Sie, wie jeder, und ich habe Angst, große Angst!«

Er nickte. »Ich fühle doch deine Angst und sehe dabei in deine wilden, schönen Augen. Sie sind doch der Spiegel der Seele.« Dann schwieg er einen Moment, ehe er beinahe beiläufig anfügte: »Eines kann ich dir aber versprechen. Du wirst leben, Julia!« Er nickte. »Ja, du wirst leben! Aber glaub mir, viel, wirklich viel länger, als du es dir jetzt auch nur zu wünschen erhoffst!«

Er packte sie mit aller Gewalt und drückte ihr Gesicht in den Schnee, bis ihre gedämpften Schreie in ein leises Wimmern übergingen. Dann drehte er sie wieder auf den Rücken. »Also sei still und bewege dich ab jetzt nicht mehr.«

Er schnürte ihre Füße mit einem dicken Strick zusammen und zog sie wie ein erlegtes Wild durch den Schnee hinunter zum Transporter, wo er sie nur Minuten später wieder auf die Matte legte, und das klitschnass, wie sie nun war. Die Schiebetür schloss sich, leise nahm der Transporter wieder Fahrt auf und verschwand auf der schneebedeckten Landstraße, diesmal in die richtige Richtung – nach Sils im Engadin. Ein Schneepflug hatte sie soeben gekreuzt. Sein oranges Blinken erhellte die Nacht, doch Julia sah es nicht. Die Flocken fielen nun wieder samtweich wie Daunenfedern, die Heizung im Laderaum rauschte leise, während Julia wie betäubt vor Angst dalag und dem Schnurren des Motors zuhörte.

 

Als sie wachdämmerte, ihr Bewusstsein hatte sich zu ihrem Schutz auf eine tiefere Ebene zurückgezogen, lag sie an den Hand- und Fußgelenken gefesselt in einem fensterlosen Raum auf einer Liege. Die Decke über ihr sah aus wie die eines Kellergewölbes, mit zahlreichen Rohren, und es war warm wie in einem Heizungsraum. In irgendeinem der Rohre tickte es.

»Allegra und ein herzliches Willkommen, meine Liebe, im exklusiven Grandhotel Waldhaus in Sils im wunderschönen Engadin«, begrüßte sie ihr Peiniger, der noch immer seinen Mantel trug und auch seinen Hut. Neben ihm stand eine glatzköpfige Frau mit einem dicken Lippenpiercing. Sie war ganz in Camouflage gekleidet. Die Füße der schätzungsweise 50-Jährigen steckten in schweren Springerstiefeln. Sie verkündete in Berliner Schnauze: »Dein Aufenthalt und somit auch dein Leiden beginnt jetzt!« Sie deutete auf einen kleinen Tisch, auf dem verschiedenste Utensilien lagen. »Doch zuerst muss ich dich etwas präparieren. Fangen wir am besten gleich an.«

Sie strich Julia sanft das braune Haar aus dem Gesicht und blickte sie von oben herab an. »Alles hat ein Ende, mein schönes Kind, doch dein Albtraum nicht.« Sie zog langsam eine Spritze auf, während Julia einen gellenden, lang gezogenen Schrei ausstieß.

1

Das Licht im Saal ging an, und begeisterter Beifall brach aus, als Zorac das Buch schloss, aus dem er soeben diesen Prolog vorgelesen hatte. Er legte das Buch auf den Tisch und erhob sich.

Er, der unumstößliche Star der deutschsprachigen Thriller- und Kriminalliteraturszene, blickte mit seinen blaugrünen Augen und mit beinahe regungsloser Miene auf die 99 auserlesenen Gäste, die sich im Grandhotel Waldhaus in Sils für seine Lesung eingefunden hatten. Der 40-Jährige war wie immer auffallend stilvoll gekleidet. An seinem Handgelenk hing eine Rolex der Extraklasse und zeugte von seinem finanziellen Erfolg.

Es war Freitag, der 25. Oktober, und seine Lesung bildete den Auftakt des dreitägigen Krimifestivals, das am Sonntagnachmittag den krönenden Abschluss der Saison dieses besonderen Grandhotels markieren sollte.

Besser hätte der imposante Bau mit seiner Geschichte nicht liegen können. Das Hotel thronte auf einem Felsen in der legendären Naturkulisse des Oberengadins. Direkt vor seiner Tür erstreckte sich das der Natur überlassene Fextal im Süden, während sich im Westen Maloja und der Silsersee und im Osten der Silvaplanersee befanden. An den nahen Hängen des Piz Grevasalvas und des Piz Lagrev lebten Steinböcke und Gämsen, und man konnte dort sogar die urtümlichen Bartgeier kreisen sehen. Die 140 Zimmer und Suiten des Grandhotels waren zu Zoracs Erstaunen ganz unterschiedlich, aber alle ebenso reizvoll wie die Aussicht. Gemeinsam mit seiner Agentin Swetlana Gudic hatte er sich nach ihrer Ankunft bei einer kleinen Führung davon überzeugen dürfen. Dieser Ort, eingebettet in die majestätische Berglandschaft und das malerische Dörflein Sils, das zwischen den zwei Seen eine Atmosphäre der Ruhe ausstrahlte, war Balsam für seine Seele. Normalerweise trat er nur in den großen Städten auf, in Hallen, denen mit viel Technik Leben eingehaucht werden musste, wenn seine Abertausende Fans zu seinen Lesungen strömten.

Doch er war nicht nur wegen der Magie im Hochtal hergekommen, die das Engadin versprühen sollte, so zumindest hatte man es ihm angepriesen; sein Aufenthalt hatte verschiedene Gründe, banale und einen aus seiner Sicht sehr nachvollziehbaren.

Die Medien im deutschsprachigen Europa rissen sich bereits seit Tagen um diese außergewöhnliche Veranstaltung. Ein Tech-Milliardär, so hieß es hinter nur halb vorgehaltener Hand, finanzierte dieses Krimifestival, an dessen Abschlussveranstaltung am Sonntag ein ganz besonderer Preis vergeben werden sollte. Diese Auszeichnung war mit einer Viertelmillion Euro dotiert. Alle anderen teilnehmenden Schriftsteller würden hingegen leer ausgehen, nicht einmal ein Honorar für ihre Lesungen erhalten, so waren die Regeln des Spiels, und als solches sah Zorac den ganzen Anlass auch an, obwohl er sich über den Ausgang sicher war. Diese ungewöhnlichen Spielregeln hielten jedoch keine Autoren von der Teilnahme ab, im Gegenteil, denn neben der unglaublichen Summe gab es auch eine außergewöhnliche Trophäe zu gewinnen: ein mit echtem Blut gefertigter Fingerabdruck, der im Schaft einer Faustfeuerwaffe aus Plexiglas integriert war und der eigens zu diesem Zweck einem Serienmörder abgenommen worden war, einem, der in einem russischen Gefängnis saß. Die Waffe wiederum thronte auf einem halben Meter hohen Gesteinsbrocken, der mit riesigen Bergkristallen der Extraklasse übersäht war. Dieses Objekt allein war bereits mehrere Zehntausend Franken wert.

Von den gegen 100 Anmeldungen wurden gerade mal zehn Schriftsteller von der Jury ausgewählt, um im Grandhotel zu lesen. Von diesen handverlesenen Teilnehmern hofften aber bloß zwei ernsthaft darauf, mit ihrem Buch gegen Zorac bestehen zu können. Die anderen waren alle nur dabei, um sich im Glanz dieses Anlasses sonnen zu können. Dafür ausgewählt worden zu sein, fühlte sich für sie schon wie ein Gewinn an.

Zorac hingegen war der Einzige, der im Vorfeld des Anlasses persönlich eingeladen worden war, denn er war nun mal schlichtweg die Nummer eins. Noch dazu war er sehr attraktiv und damit das schöne Gesicht der Branche schlechthin. Er, der dunkelhaarige Wiener, der in Berlin lebte und allein seines Aussehens wegen schon mehrfach als schreibender James Bond betitelt wurde, war unumstößlich der Star der Szene. So war es auch nicht verwunderlich, dass sich an diesem Eröffnungsabend überdurchschnittlich viele Frauen unter den Gästen befanden, die sich beim Signieren um ihn scharten, als bekämen sie mit seiner Unterschrift ins Buch auch gleich ein Verjüngungsserum oder, noch besser, eine Nacht mit ihm geschenkt.

Zorac behielt auch an diesem Abend hinter dem Jugendstilschreibtisch stets seine aufrechte Haltung bei. Er war froh, dass die geladenen Gäste nicht in sein Innerstes sehen konnten. Stilvoll gekleidet mit sportlich eleganter Hose und ebenso geschnittenem Jackett, beides in Silbergrau, und einem weißen Hemd mit breitem aufgeschlagenen Kragen fand er auch nach dieser Lesung für jeden und vor allem für jede scheinbar immer die richtigen Worte. Auch seine Schuhe waren immer passend ausgewählt. Rund 50 Paar hatte er in seiner Villa in Berlin-Schöneberg im begehbaren Schrank, in dem außerdem so viele Anzüge hingen, als gäbe es gleich mehrere von ihm.

Sein warmes Lächeln verzückte beim Signieren die Damenwelt im Raum und ließ die Männer als bloße Statisten zurück. Zorac wurde gemocht, manchmal gar verehrt, aber von sehr wenigen auch gehasst. Die Neider zählte er nicht zu Letzteren.

Vielleicht war es sein Wiener Schmäh, der dazu führte, dass man ihm verzieh, dass in seinen Büchern exzessive Gewaltszenen und Sex viel wichtigen Raum einnahmen. Kritiker tobten, übertrafen sich mit Schimpftiraden, es sei zu viel, oder sie befanden, es sei sogar der Grund, gleich auch der einzige, warum seine Werke zu Hunderttausenden gekauft wurden. Sie sahen darin den banalen Geschmack des Durchschnittslesers bestätigt.

Jedes seiner Bücher landete scheinbar zwangsläufig, und das seit mehr als sechs Jahren, in Deutschland, Österreich und der Schweiz so sicher auf dem ersten Platz der Bestsellerlisten, wie die Lärchen im Herbst im Engadin goldgelb leuchteten. Auch Übersetzungen seiner Bücher, auf Französisch, Italienisch und Englisch, rangierten mittlerweile immer in den vorderen Rängen der ausländischen Bestsellerlisten. Somit war es kein Wunder, dass auch an diesem Abend die Kameras eifrig klickten, während die Gäste ein Selfie nach dem anderen mit ihm machten. Seine immer ganz in Schwarz gekleidete Agentin behielt derweil durch die Gläser ihrer dickwandigen schwarzen Hornbrille alles genau im Auge. Und während sie wie immer im Hintergrund stand, fiel ihr eine Frau auf. Es war die 24-jährige Sandrine Wellershoff von der Eventfirma Polarstern. Die Eventmanagerin und gleichsam Pressesprecherin dieses Anlasses suchte zweifellos die Nähe zu Zorac, und das ziemlich offensiv. Bei jedem Pressefoto und TV-Interview stand sie neben ihm, sehr nah, scheinbar vertraut mit ihm.

 

Nach der gelungenen Eröffnungsrede, der Lesung und den Lobreden der Organisatoren und der Hoteldirektorin verschwand Zorac, der mit bürgerlichem Namen Felix Horvath hieß, um Punkt 20 Uhr im großen Speisesaal. Er hatte einer weiteren Pflicht Folge zu leisten und speiste mit wichtigen und reichen Leuten aus Wirtschaft, Tourismus und Kultur. Er glänzte auch hier, denn er war ein charmanter und gut geübter Zuhörer, der stets Haltung bewies. Selbst sprach er eloquent über dies und das, ließ den Gesprächsfluss mal an-, mal abschwellen, legte interessante Gesprächspausen ein und sagte doch meist … nichts. Und vor allem ließ er sich auf keine heiklen Themen ein. Auch in dieser Runde war er erleichtert, dass er sein wahres Inneres verstecken konnte, im Wissen, dass das hier nicht mehr war als eine Show mit vielen Zuschauern, die doch ebenso Teil des Spektakels waren.

Der Platz rechts neben ihm gehörte dieser schwarzhaarigen Eventmanagerin Sandrine Wellershoff, die keinen Moment ausließ, um ihm ihr zweifellos attraktives Äußeres zu präsentieren. Dazu zog sie, seit er hier angekommen war, alle Register. In seinen Büchern hätte er sie glatt als modernes Schneewittchenflittchen beschrieben, das ein ungemein anziehendes Lächeln besaß, würde man es denn nicht hinterfragen und arglos auf sich wirken lassen. In ihrem Blick konnte er die Leiter regelrecht sehen, auf der sie im Leben hochzusteigen versuchte.

Mit am Tisch und ihm direkt gegenüber saß eine andere Frau: Martina Fontana. In den Augen der 45-jährigen, blonden Kunstmäzenin, die ihr Vermögen mit einer Investmentfirma im Kanton Zug zu Bergen angehäuft hatte, lag ein anderer Blick. Er mochte die kleinen Fältchen, die ihre Augen umspielten, auf Anhieb. Und er mochte sehr, dass sie kein Anhängsel von einem dieser stinkreichen Geldheinis war, das seinen Versorger hinterrücks nach Strich und Faden betrog und dennoch weiter am Tropf seines Reichtums hing. Von denen gab es an diesem Tisch nämlich mehr als genug. Diese Martina Fontana hingegen strahlte eine gereifte Persönlichkeit mit Charisma aus. Sie, dessen war sich Zorac sicher, war eine Frau, die etwas zu sagen und ebenso viel erreicht hatte. Doch genau vor so einer Frau musste er sich in Acht nehmen. Diese Fontana war bestimmt eine, die schnell hinter seine Fassade blicken konnte, und das, was sie dort sehen würde, das würde ihr nicht gefallen, denn es gefiel ja nicht mal ihm selbst.

Er kam sich bei dem Blickkontakt, den sie aufbauten, vor wie ein Esel, dem man eine Möhre an einen Stock vor den Kopf gebunden hatte, der dieser logischerweise erfolglos nachrannte, ja dabei sogar zu verhungern drohte, würde er sich nicht rechtzeitig davon lösen können. Zorac hatte längst beschlossen, kein Esel zu sein, doch er war zwangsweise für die einen zur Möhre geworden. Um sich dessen zu vergewissern, musste er nur nach rechts zu dieser Wellershoff blicken. Sie spielte ein gefährliches Spiel, denn wie alle hier am Tisch wusste auch sie nicht, wer er wirklich war.

Zorac wollte überdies von nichts und niemandem abhängig sein, auch nicht von der Viertelmillion, die er mit großer Wahrscheinlichkeit am Sonntag einheimsen würde. Doch an diesem Abend ertappte er sich dabei, wie seine Blicke die dieser Martina Fontana immer wieder aufs Neue suchten und fanden. Ein dezentes Lächeln umspielte ihren Mund.

Nach einem weiteren Blick hob sie ihr Glas Rotwein für einen Toast: »Auf das Leben und all die Entscheidungen, wie immer wir diese auch fällen mögen, denn sie färben unser aller Leben.« Die Gläser erklangen, während er erneut ihren Blick suchte.

So eine verdammte Scheiße aber auch, dachte er dabei und schenkte ihr ein gequältes Lächeln. Er verfluchte alle Möhren dieser Welt! Er wollte nicht noch mal in diesen Abgrund fallen!

Von draußen drangen in diesem Moment gedämpfte Rufe in den gediegenen Speisesaal. Bereits seit gestern wurde vor dem Grandhotel gegen das Krimifestival demonstriert. Eine beachtliche Schar eigenartiger Zeitgenossen hatte sich dort versammelt. Die Polizei hatte die lautstarke Horde am Freitagmorgen des Geländes verwiesen, konnte ihr jedoch nicht verbieten, vor der Zufahrt ihre Parolen herumzuschreien und dabei Transparente zu schwenken, auf denen stand: »Verherrlichung von Mord ist Mord!«, »Schreibtischtäter sind Täter!« oder »Stoppt die Mordlust!«.

Zorac hörte es wie durch einen Schleier, und es war ihm egal. Niemand auf der Welt konnte jemals alle zufriedenstellen. Was ihm aber Sorge bereitete, ja regelrecht Angst einjagte, war das Auftauchen dieser Frau, die ihm gegenübersaß. Nein, das war falsch, er hatte Angst vor dem, was womöglich wieder mit ihm passieren würde!

2

Stunden zuvor

Es war Freitagabend geworden im Oberengadin. Die Handvoll Wolkenschleier am Himmel über dem Malojapass fingen das Abendrot ein, bevor das letzte Tageslicht im Silser- und Silvaplanersee ertrank.

Maxima Hesse checkte ihr Handy und das Stativ, auf dem es aufgestellt war, und sah sich nochmals die Probeaufnahme genau an, denn sobald es gänzlich dunkel wäre, sollte es losgehen. Ihr iPhone war das neuste Modell und im exklusiven Gold-Look gehalten, mit drei kleinen Brillanten um die Kameralinsen verteilt. Eine limitierte Auflage, die sie vor drei Monaten bei der Markteinführung des Standardmodells in Berlin in Empfang genommen hatte, als eine von ganz wenigen Auserwählten. Sie hatte es damals noch am selben Tag auf Instagram und TikTok ihren 4,5 Millionen Followern vorgestellt, und das mit nicht gerade wenig Hintergrundaufwand. Schon Wochen im Voraus hatte sie den Content minutiös bis ins letzte Detail geplant. Auch deshalb wurde es eine perfekte Inszenierung, die gekonnt genau nicht wie eine aussah. Maxima war 24 und seit vier Jahren auf Instagram und TikTok aktiv, und das äußerst erfolgreich. Was eher durch Zufall angefangen hatte, hatte sie mittlerweile überraschend reich gemacht.

Der Erfolg und Ruhm und damit auch der Geldsegen waren jedoch nicht über sie gekommen, als hätte jemand das goldene Füllhorn über ihr ausgeschüttet. Das Leben oder, besser gesagt, das Schicksal selbst hatte vor vier Jahren entscheidend Regie geführt und ihr damit den Aufstieg in solch ungeahnte Höhen überhaupt erst ermöglicht. Ihre Musik, Schwesterliebe, mehrere Tote, Einsamkeit, Verlust und Sehnsucht hatten an diesem Schicksalstag die entscheidenden Rollen gespielt – und das ausgerechnet an ihrem 20. Geburtstag!

Über vier Jahre waren seither vergangen, doch noch immer fand Maxima es nicht selbstverständlich, dass all die Hunderttausenden an ihren Social-Media-Kanälen wie an einer Nabelschnur hingen. Diese Community musste sie stets bei Laune halten, weiter dieses besondere Lebensgefühl vermitteln, an dem sie doch alle teilhaben wollten, denn darum ging es am Ende doch einzig und allein – die Leute wollten an ihrem Leben Anteil nehmen, ihre Musik hören, wie sie Gitarre spielte und sang. Doch das alleine hätte sie bestimmt nicht so erfolgreich gemacht.

Maxima sah die Welt der Influencerinnen durchaus kritisch, sie würde nie ihre körperlichen Reize ausspielen, nur um von notgeilen Männern ein paar Klicks zu ergattern. Diese Selbsterniedrigung fand sie billig und mitleiderregend in einem. Was erhofften sich diese Frauen, wenn sie in einer hauchdünnen Leggings vor der Kamera scheinheilig das Rad schlugen, als ginge es dabei um Sportlichkeit? Ein Körper ohne Geist, das waren solche Frauen in Maximas Augen.