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Als Laura ihr Auslandssemester in Neapel beginnt, ahnt sie nicht, dass der Unistress und die Routine ihres Alltags sie auch dort einholen werden. Die sonnendurchfluteten Straßen Italiens konfrontieren sie nicht nur mit der Schönheit der Sorglosigkeit, sondern auch mit den Schatten ihrer eigenen Erwartungen und Ängste. Zwischen neuen Freundschaften, einer intensiven Fernbeziehung und den Herausforderungen eines Lebens fern der Heimat wird sie immer wieder auf die zentrale Frage gestoßen: Wo endet viel und beginnt zu viel?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Titelseite
Cover
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
Die Straße hoch und dann die nächste Ecke rechts. Ich blicke auf mein Handydisplay mit der Kartenapp, auf dem ich durch die strahlende Sonne fast nichts erkennen kann. Mit gerunzelter Stirn will ich schon fast dieses Wetter verfluchen, bis mir einfällt, dass dies einer der Gründe ist, warum ich unbedingt hier herwollte. Heute vor ungefähr einem halben Jahr beschloss ich mein Leben in Deutschland für kurze Zeit zu pausieren, eine Auszeit zu nehmen.
„Das ist eine gute Idee. Wir wollen Sie ja schließlich nicht schon mit einem Burnout aus dem Studium entlassen - haha“, riet mir die Studienberaterin damals, bereit, mir die Packung Taschentücher mit dem aufgedruckten Unilogo zu reichen. Was für eine Ironie, dachte ich noch.
Ich schüttle meinen Kopf, um den Gedanken an diese Zeit daraus zu verbannen. Gerade bei dem Versuch dabei, mich wieder auf den Weg zu meinem Apartment zu konzentrieren, hebe ich meinen Kopf, sehe allerdings nur noch schwarz. Ich höre ein klirrendes Handy, das Reißen von Papier und das Rascheln meiner Umhängetasche, während ich falle. Da mein Rucksack fast halb so groß ist wie ich, reißt mich seine Last nach hinten. Er federt den Großteil des Sturzes ab, weshalb ich nicht anders kann, als ein prustendes Lachen von mir zu geben. Ich schaue mich um, aber die Straße hier ist nicht sehr belebt, sodass anscheinend niemand dabei zugesehen hat, als die deutsche Touri-Studentin wie ein Brett nach hinten abgekippt ist. Was wäre das für ein großartiges Meme geworden, denke ich mir. Doch in diesem Moment streckt die Wand, gegen die ich so eben gelaufen war, mir eine Hand entgegen. Ich bin wohl doch nicht allein.
„Just like a turtle“, kommentiert mein Gegenüber in britischem Akzent die Situation. Ich richte meinen Blick nun nach oben, kann aber durch die Helligkeit der Mittagssonne nur die Umrisse meines Beobachters ausmachen. Und obwohl ich meinen Sturz gerade noch unter witzig verbucht hatte, komme ich nicht umhin meine Stirn wieder in Falten zu legen.
„Ah“, redet der Fremde unverblümt weiter, „die Deutschen verstehen mal wieder keinen Spaß. Nimm es nicht so schwer.“
Ich versuche mich wieder aufzurichten.
„Woher...?“
„Ihr nehmt euch zu wichtig“, unterbricht er mich, „außerdem seid ihr überall.“
Mit rollenden Augen schaue ich an mir herunter. Dabei bleibt mein Blick an der Tasche hängen, auf der mit leuchtenden Farben ‚Kein Glitzer für Nazis‘ geschrieben steht.
„Ach und es liegt nicht zufällig daran, dass du lesen kannst?“, entgegne ich. Grinsend sieht der junge Mann von seiner zerrissenen Stadtkarte auf. Er ist groß, höchstens zwei Jahre älter als ich und trägt sehr dunkle Kleidung, was sich bei diesen Temperaturen spätestens jetzt zur Mittagszeit rächen wird.
„Erwischt. Na gut, zur Wiedergutmachung kannst du mir jetzt bestimmt, mithilfe deines Handys, den Weg zum Grand Hotel zeigen.“ In einer fließenden Bewegung schaut er auf sein Handgelenk, auf dem ich eine sehr teure Uhr zu erkennen glaube, „Ich bin schon spät dran.“
„Wiedergutmachung?“, ist alles, was ich mit hochgezogenen Augenbrauen von mir gebe. Wieder lächelt er belustigt.
„Du bist wohl nicht sehr gesprächig. Okay, bevor wir unseren ersten Streit haben und das wie bei der Frage mit dem Küken und dem Ei endet, es tut mir leid. Es tut mir leid in dich reingerannt zu sein, während ich versucht habe mich in dieser gottverdammten Altstadt zurechtzufinden.“
„Und das ganz analog“, bemerke ich trocken.
„Danke“, nun genervt, zupft er an seiner beschädigten Karte herum, „ich finde den Schuppen schon. Mach‘s gut Turtle!“ Mit diesen Worten geht er eiligen Schrittes weiter und lässt mich verdutzt zurück.
Was war das bitte? Wer war das bitte? Hat der Typ Nerven. Erst rennt er in mich hinein, entschuldigt sich nicht mal und besitzt dann noch die Dreistigkeit mir diesen Spitznahmen zu verpassen. Erster Streit, an Selbstüberzeugung fehlt es ihm sicherlich nicht. Aber mit dem Kopf in einer Stadtkarte durch die Straßen von Neapel laufen... auf dem Weg zu irgendeinem ach so wichtigen Termin im Grand Hotel. Na Mensch, hätte er mal das Geld für die Uhr in ein Handy investiert.
Apropos, wo habe ich meins hineingesteckt? Ich drehe mich auf dem Fußweg einmal um die eigene Achse. Mein Handy liegt neben einem geparkten Auto. Ich hebe es auf und drücke auf die Seitentaste. Ein zersplittertes Display leuchtet mir entgegen.
Was für ein Start Laura. Es ist der erste Tag meines Neuanfangs und ich gehe wortwörtlich bereits zu Boden. Ich wusste, die erste Zeit würde mir schwerfallen. Die räumliche Trennung von Henry, meinem Freund mit dem ich seit zwei Jahren zusammen bin, von meiner Familie. Fast tausend Kilometer Luftlinie sind es, die Alpen dazwischen. Der Gedanke macht mich schon fast wieder traurig. Ich mache mir eine gedankliche Notiz meinen Eltern später eine Nachricht zu schreiben. Wie ich sie kenne, sitzen sie gerade bei einem Kaffee im Wohnzimmer, die Handys neben sich, voller Anspannung, wartend auf ein Lebenszeichen von mir. Einige andere Personen in meinem Alter fänden das vielleicht befremdlich oder überflüssig. Mag sein, aber ich bin froh über die enge Verbindung zwischen den beiden und mir. Sie sind mein Sicherheitsnetz, zusammen mit Henry, ohne dass ich das letzte halbe Jahr nicht überstanden hätte.
Wieder überkommt mich ein Anflug von Traurigkeit, doch ich besinne mich wieder eines Besseren. ‚Augen nach vorne‘, ermahne ich mich. Dieser Vorfall heute wird meinen ersten Tag in Neapel sicherlich nicht überschatten. Klar mein Handydisplay ist kaputt und ja, ich war noch nie länger als zwei Wochen allein im Ausland, aber das wird schon.
Meine Sprachreise nach Malta sah anfänglich auch nicht sehr vielversprechend aus, doch im Verlauf änderte sich das. Die Unterkunft war düster und muffig, das Essen hat mir nicht angestanden und Anschluss zu den anderen Teilnehmern habe ich auch nicht gefunden. Schließlich habe ich dann aber doch noch einige neue Leute kennengelernt, mit denen ich teilweise bis heute, neun Jahre später, in Kontakt stehe.
Am Ende war es alles eine Frage der Perspektive und darum geht es mir in diesem Semester. Genau wie damals wird der Anfang hier auch seine Schwierigkeiten mit sich bringen und wenn ich darauf eingestellt bin, bin ich dem Schicksal vielleicht schon einen Schritt voraus.
Ich schaue mich um und versuche mich erneut zu orientieren. Von wo bin ich noch mal gekommen? Ich erkenne die Vespa, die am Straßenrand abgeparkt ist und die ich im Vorbeigehen vorhin schon bewundert habe. Die Straße also weiter hoch und dann rechts. Zum Glück habe ich mir auf der Anfahrt den Weg zu meinem Apartment gefühlt tausendmal angesehen. Das Letzte, was ich möchte, ist so zu enden wie Mr. Busy und dem nächstbesten Passanten über die Füße zu stolpern. Ich nehme die nächste Biegung und folge der Straße immer geradeaus, bis ich irgendwann die Tür aus der Annonce meiner Wohnung wiedererkenne. Sie ist hoch und smaragdgrün gestrichen, gekrönt wird sie von oberhalb von einem halbrunden, vergitterten Fenster.
Ich krame in meiner Tasche, in die ich zwischen all den Reisesnacks und Ladekabeln den Schlüssel reingeworfen hatte. Nachdem ich vor Verzweiflung fast schon so weit bin, den Beutel auf offener Straße zu entleeren, halb panisch, dass ich ihn bei meinem Sturz verloren haben könnte, bekomme ich ihn doch noch zu greifen.
Beim Betreten des Foyers leuchtet mir als erstes das geflieste Mosaik auf dem Boden entgegen. Das Licht fällt vom Oberfenster der Tür, aufgrund des davor befindlichen, schön geschwungenen Fenstergitters, unregelmäßig darauf. Das dahinterliegende Treppenhaus liegt dagegen im Dunklen. Ich suche den Fahrstuhl, der mich in den dritten Stock bringen soll. Als ich ihn hinter einer Nische links neben der Treppe dann entdecke, verfliegt meine Euphorie über den Fund schnell, als die Türen sich dazu entschließen nicht zu öffnen. Ich akzeptiere mein heutiges Schicksal und beginne die Treppen hinaufzusteigen.
Was hat das Universum heute gegen mich? Laut schnaufend komme ich endlich an der Tür mit der Apartmentnummer sieben an. Cardio war noch nie meine Stärke. Werde ich der erste Ankömmling sein? Neben mir sind noch drei weitere Mitbewohnerinnen angekündigt, die für das kommende halbe Jahr ebenfalls ein Zimmer in dem Apartment angemietet haben. Nervös stecke ich den Schlüssel in das Schloss und schließe die Wohnungstür auf. Abgeschlossen, ich bin allein.
Ich schlage die Augen auf, es ist dunkel um mich herum. Während ich mich von meinem Tiefschlaf wehmütig verabschiede, drehe ich mich zum Fenster, um zu sehen, dass es noch nicht mal dämmert. Es muss mitten in der Nacht sein. Warum bin ich also wach? Ein lautes Klirren ertönt aus dem Flur. Ah ja. Ich traue mich kaum auf die Uhr zu schauen, aber nach dem mein Einzugs-Marathon auch seine Zeit gedauert hat, kann ich noch nicht lange geschlafen haben.
Als ich in der Wohnung angekommen bin und meine Sachen in den langen Flur ablegen konnte, bin ich auf Erkundungstour gegangen. Die kleine Küche wurde erst renoviert und ist auf den ersten Blick gut ausgestattet. Klar kann sie nicht mit meiner daheim mithalten, kein Mensch auf der Welt besitzt so viele Küchengeräte wie ich. Außer vielleicht meine Mutter. Das Bad mit Sitzbadewanne dagegen ist schon etwas in die Jahre gekommen. Innerlich fragte ich mich bereits, ob einmal ordentlich Schruppen da ausreichen wird. Abgesehen davon erschließt sich mir nicht, wer im Sitzen baden und so das Gefühl von tatsächlicher Erholung aufkommen lassen kann. Mit der Toilette war ich zufrieden. An sie habe ich wenige Ansprüche, bis auf ihre Spülung, die funktionieren sollte. Die Zimmer sehen am Ende alle ähnlich aus. Die Ausstattung stammt aus einem bekannten, skandinavischen Möbelhaus. Sie sind hell und neutral gestaltet, jeweils mit einem Bett, Schreibtisch, Stuhl und Schrank ausgestattet. Mehr benötige ich auch nicht, dachte ich mir.
Weil ich anscheinend der erste Ankömmling war, habe ich beschlossen mich in dem Zimmer mit Balkon einzurichten. Das hieß Gepäck rein, auspacken und, in meinem speziellen Fall, Falten ausbügeln. Für mich gibt es fast nichts Schlimmeres, als lumpig in der Öffentlichkeit beziehungsweise in Gesellschaft aufzutreten. Ein kleiner Spleen, den ich mir leiste. Zu meiner Zufriedenheit fand ich das dazu benötigte Equipment, zusammen mit weiteren Reinigungsmitteln, in einer Nische auf dem Gang vor dem Bad.
Mit einem Blick auf Maps wurde der nächstgelegene Lebensmittelladen ausfindig gemacht, um das Abendessen sicherzustellen und für das Frühstück vorzusorgen. Freudig stellte ich fest, dass mein Grundnahrungsmittel nicht nur sprichwörtlich, sondern tatsächlich auch das Grundnahrungsmittel der Italiener ist. Die Nudelregale des Supermarktes erstreckten sich über zwei Gänge und ließen keine Wünsche an Form und Größe dieses kohlehydrathaltigen Geschenkes der Menschheit offen.
Reichlich beladen, zurück im Appartement traf ich immer noch niemanden an. Mit meinem Lieblingspodcast im Ohr wurden dann Nudeln gekocht und mit Pesto verfeinert. Während dem Essen merkte ich bereits, wie mich die Müdigkeit langsam einnahm. Doch bevor sie mir die Augen zuzog, begab ich mich ins Bad. Denn entsprechend jedem Klischee benötige ich als Frau dafür meine Zeit. Ich kann mich einer Routine, die gefühlt tagtäglich von der Kosmetikindustrie weiterentwickelt und optimiert wird, gar nicht mehr entziehen. Man will sich und seiner Haut ja etwas Gutes tun, sie am besten gar nicht altern lassen und deshalb gern einen Taler mehr für die Produkte in die Hand nehmen. Und all diese Attribute werden uns dann ungefiltert über Social Media vermittelt. Schöne moderne Welt. Für die Männer gibt es dagegen das Universalprodukt – sieben in eins. Also falle ich mit doppelt gereinigtem und bestmöglich hydriertem Gesicht ins Bett, um den Effekt an dem gegeben falls ungewaschenem Kissenbezug verpuffen zu lassen. Zum Glück habe ich meinen eigenen Satinbezug mitgebracht, in den ich mich schnell eingekuschelt hatte.
Doch bevor der Sleeptimer für den Podcast eingestellt und das Licht ausgemacht wird, folgt ein Ritual, zu dem ich mich mit Henry vor meiner Abreise verabredet habe. Also klappte ich meinen Laptop auf dem Bett auf und ließ es bei Henry in Deutschland klingeln.
Ein ungewohntes Gefühl, unsere Wohnung durch das Display so zu sehen. So weit weg von ihm entfernt zu sein ist ein neues, unangenehmes Gefühl. Seit wir beide zusammengekommen sind, haben wir so gut wie jeden Tag gemeinsam verbracht oder uns gesehen. Ungewöhnlich dabei ist, dass es zwischen uns nie zu Streit oder anderen negativen Gefühlsausbrüchen gekommen ist. Wenn ich da in mein unmittelbares Umfeld schaue, ist das eine Seltenheit.
Henry sah ebenfalls deutlich geknickt aus. Ich versuchte mir meine Einsamkeit nicht alt zu sehr ansehen zu lassen. Man muss positiv auf das, was einem bevorsteht, schauen. Und das ist in diesem Fall der baldige Besuch von Henry. Also zeigte ich ihm über die Kamera mein Zimmer und gebe ihm eine Room-Tour. Wir lachten gemeinsam über das Bad, in dessen Badewanne ich dann im Trockenen Probe gesessen habe. Mit dem Learning-Effekt, dass Henry leider auf keinen Fall noch mit in diese Wanne passt. Zurück in meinem Bett erzählte mir Henry noch von dem Alltag mit seinem neuen Mitbewohner. Fred, ein gemeinsamer Freund, der mit uns zwei Jahre in einer WG wohnte, ist dieses Semester ebenfalls im Ausland. Henry könnte die Wohnung nicht allein stemmen, weswegen vor meiner Abreise jemand neues bei uns eingezogen ist, Flynn der Elektrotechnik-Student. Computer, Herr der Ringe und gutes Essen sind seine Welt. Dinge, mit der sich Henry, laut eigener Aussage, anfreunden kann. Besser ist es, denn ab jetzt werden sie zu zweit auskommen müssen.
Von seiner Stimme geleitet, ich weiß nicht mehr ab welchem Zeitpunkt, sank ich in den Schlaf.
Nun, geweckt durch einen vermeintlichen Einbrecher, steige ich murrend aus dem klapprigen Bett. Der soll mich kennen lernen. Wenn es um meinen Schlaf geht, verstehe ich keinen Spaß. Also trotte ich in Richtung der Geräusche, die nun immer lauter werden. Angekommen auf Höhe der Küche halte ich inne, um herauszuhören wer oder was die Ursache dieses Lärms ist. Ich höre zwei Stimmen, die sich für mich unverständlich miteinander unterhalten. Eine dieser Stimmen ordne ich einer weiblichen Person zu, eine weitere einer männlichen. Nach einer Weile verschwimmen beide zu einem Stöhnen ineinander. Als ein zart schmatzendes Geräusch hinzukommt, bin ich plötzlich so entsetzt, dass ich mich im nächsten Moment im Türrahmen der Küche wiederfinde. Jetzt schauen mir zwei erschrockene Augenpaare entgegen. Eng aneinander gedrungen stehen zwei Menschen an der Küchentheke. Ein Mann steht mit dem Rücken zu mir und hat seinen Kopf in einem, wie ich vermute sehr unangenehmen Winkel zu mir gedreht, während eine junge Frau, die in einem ähnlichen Alter wie ich sein wird, ihre Beine um seine Taille geschlungen hat. Sie begibt sich als erste aus der Schockstarre. Anschließend säuselt sie ihrem Begleiter etwas ins Ohr. Ihr Anhang löst sich nun langsam von ihr. Im Vorbeigehen haucht er mir mit kratziger Stimme „Buona notte“ zu und verschwindet in einem der Zimmer, die von dem Flur abgehen.
„Danke, dass ihr eure Show nicht in mein Zimmer verlagert“, höre ich mich sagen, ohne zu wissen, ob das Mädchen in der Küche mich überhaupt versteht.
„Du hast für die Privatshow nicht bezahlt, aber ich kann Eros gern fragen, ob er etwas gegen weitere Teilnehmer hätte“, gibt sie belustigt von sich, während sie von der Theke heruntersteigt.
„Alle meine Träume würden sich erfüllen, mein Leben hätte endlich einen Sinn. Oh bitte, tuh das nicht!“, antwortete ich, zugegeben etwas zu schnippisch.
„Ist ja gut, nimm den Stock aus deinem Arsch. Wir gehen jetzt ganz brav in mein Zimmer und werden dich nicht weiter belästigen.“
„Heute? Oder generell um die Uhrzeit?“
„Das hängt von Eros’ Performance ab“, erwidert sie, während das Zimmer durchquert und zufrieden in sich hineinlacht, „Morgen wird er schon früh weg sein, keine Angst Prinzessin. Nun entschuldige mich, denn auch wenn ich unser kleines Pläuschchen hier so sehr genieße, möchte ich ihn nicht alt zu lange warten lassen.“
„Solang er beim Gehen nicht alt zu laut macht, wünsche ich euch viel Spaß.“
„Danke. Meiner Erfahrung nach wird er keinen Piep von sich geben, da sind sie alle gleich. Gute Nacht, liebe...?“
„Laura. Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Cora, es ist mir ein inneres Blumenpflücken“, flüstert sie mir mit in Ironie getränkter Süßholzraspel-Stimme entgegen, bevor sie die Klinke ihrer Zimmertür herunterdrückt.
Schnaufend trete ich endlich den Rückweg in mein Zimmer an. Das war ja eine tolle erste Begegnung mit einer meiner Mitbewohnerinnen, wenn es denn überhaupt eine von ihnen war.
Wie war sie denn drauf? Macht hier mitten in der Nacht so einen Lärm, wegen irgendeinem wahllosen One-Night-Stand und kommt mir dann noch so pampig daher. Naja, viel besser gelaunt war ich nun auch nicht, aber ich möchte sie nicht erleben, wenn sie aus ihrem Tiefschlaf gerissen wird. Vielleicht kann ich mich dahingehend noch einmal revanchieren. Allerdings, und das ist glasklar, nicht mit den gleichen Mitteln.
Ein kurzes intimes Zusammentreffen für eine Nacht kann für mich nie ein Äquivalent für eine innige, langfristige und emotionale Verbindung zwischen zwei Menschen darstellen. Ohne diese Verbindung ist Sex so beliebig. Ein fremder Mensch kennt nicht meine Bedürfnisse, meine Vorlieben. Da kann man sich von mir aus vorher absprechen, wie man will, es gibt mir einfach nichts.
Derartige Erfahrungen habe ich trotzdem gemacht, das gebe ich ja zu. Teilweise unfreiwillig, weil die Typen sich zu einer festen Beziehung nicht im Stande fühlten und ich als hoffnungslose Romantikerin aber der Meinung war, sie alle verändern zu können. Der Herzschmerz machte deswegen trotzdem nicht Halt vor mir. Seit zwei Jahren gibt es zum Glück Henry. Bei ihm weiß ich, dass er mir niemals wehtun würde. Von meinen Freundinnen hat er deswegen unter anderem den Beinamen laufende „Green-Flag“ bekommen.
Meine Aufregung über das erste Zusammentreffen mit dieser Cora lässt langsam nach. Dank meines Lieblingspodcasts über einen berühmten britischen Zauberlehrling, fällt mir das Einschlafen glücklicherweise immer so leicht, dass ich am Morgen diese Begegnung sicherlich nur noch als bösen Traum in Erinnerung haben werde.
Mein Wecker klingelt, wie fast jedes Mal, mit diesem liebsamen, alarmierend lauten, dröhnenden Ton. Ich bin noch nicht bereit für diesen Tag. Warum bin ich noch so müde? Da war etwas in der Nacht. Stimmt ja, das nächtliche Zusammentreffen mit Cora. Beim ersten Treffen hatte ich nicht erwartet gleich so viel von ihr zu sehen. Deshalb beschließe ich die Bilder aus meinem Kopf zu verbannen und den Kopf freizubekommen. Ich schnappe mir meine Laufschuhe. So kann ich zugleich auch noch die Umgebung meiner Unterkunft erkunden.
Ich habe mich riesig gefreut, als ich die Zusage für das Appartement mitten in Centro Storico bekommen habe. Zwischen den engen Gassen und kunstvoll verzierten Kirchen, darunter die Kathedrale von Neapel, finden sich die Kreuzgänge der Basilika Santa Chiara, wo ich mir auf jeden Fall die bunten Majolika-Fliesen ansehen möchte. Laut meiner Internetrecherche ist das Viertel durch seine vielen Bars, Konzertbühnen und regionalen Speiselokalen, den Trattorien, vor allem bei Studierenden, sehr beliebt - der optimale Ort für mich.
Nach einem Blick auf Maps, beschließe ich während des Laufens einfach meinem Bauchgefühl zu folgen. Ich stecke meinen Schlüssel zusammen mit den Kopfhörern in meinen Laufgürtel, gehe die Treppe hinunter, mache einige Ausfallschritte, um meine Waden kurz zu dehnen, und trete auf den Bürgersteig.
Nach fünfzehn Minuten erreiche ich das Hafengelände. In einiger Entfernung vor mir erstreckt sich eine Festungsanlage, deren Namen ich noch nicht kenne. Von der Promenade aus erkenne ich einige Kanonenöffnungen. Da mir das Joggen schnell zu langweilig wird, beschließe ich die Öffnungen in dem Mauerwerk zu zählen. Als ich bei Nummer sechs angekommen bin, höre ich durch meine AirPods plötzlich quietschende Reifen, ganz in meiner Nähe.
Ich springe zur Seite und mein Puls schießt in die Höhe. Ein silberner Mercedes kommt keine zehnten Centimeter vor mir zum Stehen. Er hat so stark abgedunkelte Fenster, dass ich nicht mal sehen kann welcher Sonntagsfahrer hinter dem Steuer sitzt. Ich schlage mit der flachen Hand auf die Motorhaube, bereit den Fahrer anzupöbeln, als die Tür des Wagens aufgeht. Es ist der Typ, der bei meiner Ankunft in mich hineingerannt ist, Mr. Busy. Er hat seine Strategie offenbar leicht abgewandelt und entsprechend aufgerüstet. Langsam, ja fast in Zeitlupe, schiebt er seine breiten Schultern durch die Tür und schaut mir verblüfft entgegen. Er trägt eine Sonnenbrille, bei der ich mir unsicher bin, ob sie nicht vollständig lichtundurchlässig ist.
„Turtle, wir müssen aufhören uns so zu begegnen“, gibt er lächelnd von sich.
„Ach was du nicht sagst. Bist du blind? Was soll der Scheiß? Das ist hier eine Fußgängerpassage, die nicht für reiche Arschlöcher gilt? Das du es mit diesem fahrlässigen Verhalten nicht auf irgendwelche Titelseiten geschafft hast, wundert mich. Vor dir muss man die Menschheit warnen!“ Meine Atemfrequenz ist immer noch zu hoch, weshalb ich kurz innehalte. Die Pause nutzt der unbekannte Widersacher wiederum aus und setzt zum Kontern an. Woher nimmt er nur diese Dreistigkeit?
„Nein das ist wahr, auf den Titelseiten sieht man mich meist verschwitzt im Trikot, oberkörperfrei versteht sich, weil die Monis dieser Welt sonst nichts zu sehen hätten. Es war nicht meine Absicht, dich fast über den Haufen zu fahren. Dein Outfit steht dir überaus gut, Kleines. Das du joggen gehst ehrt dich, wobei du es am aller wenigsten nötig hättest.“
„Wie bitte, was zum...?“, erst jetzt fällt mir auf, was für ein Schock ich ihm versetzt haben muss. Sein kantiges Gesicht ist aschfahl. Sein Brustkorb hebt und senkt sich mindestens genau so schnell wie der meine und seine dunklen Augen starren mich weit aufgerissen an. Ich möchte diesen Tag nicht auch noch mit einem Streit beginnen, wo ich den gestrigen Abend so beendet habe. Also beschließe ich gnädig zu sein, auch wenn er es vielleicht anders verdient hätte, „es ist mir ja nichts passiert. Ich muss auch aufpassen, wo ich hinlaufe.“
„Und es sieht so aus, als ob dich dein Weg direkt in meine Arme führt. Kann ich dich heut Abend zur Wiedergutmachung zu einem Essen einladen? Der Koch in unserem Hotel soll für seine Meeresfrüchte stadtbekannt sein“, dabei deutet er mit dem Kopf schräg hinter sich. Und da war es, mit großen Flaggen gekennzeichnet, das Grand Hotel Vesuvio. Das mir das im Vorbeilaufen nicht aufgefallen ist... Weil ich ihm anscheinend etwas zu lang geschaltet habe, fängt er wieder an zu reden.
„Du hast einen Boyfriend, der zuhause auf dich wartet und überlegst jetzt, wie du mir galant beibringst, dass ich mir ein Date mit dir abschminken kann. Keine Angst Turtle, dass ist das letzte woran ich gedacht hatte.“
„Ich hatte gerade überlegt, ob das Hotel auch auf der Dachterrasse serviert, aber jetzt wo du es ansprichst. Wie würde es deine bessere Hälfte denn finden, wenn du wildfremde Frauen zum Abendessen ausführst?“
„Das ist das nichts, worüber sie sich Gedanken machen wird. Die ist gerade in Paris und lässt sich von irgendeinem Franzosen in unserer Wohnung flachlegen. So hat es sich zumindest angehört, als unser Nachbar mich vorhin aufgebracht angerufen hat, um mich zu bitten es etwas ruhiger anzugehen. Fuck und deshalb wollte ich raus aus der Stadt und habe komplett blauäugig den Wagen hier reingelenkt. Shit, es tut mir so leid, Turtle.“
„Das waren sehr viele Informationen. Also erst mal, solltest du in diesem Zustand nicht selbst Auto fahren und bevor du wütend die italienische Küste hoch und runter rast, könntest du deine Freundin auch einfach zur Rede stellen. So würde ich es zumindest machen. Mein Name ist übrigens Laura und auch wenn mein Freund mir jegliche Freiheiten lässt, passt es mir heut Abend nicht so gut. Ich muss jetzt auch langsam weiter, kenne aber sonst noch niemand in der Stadt. Bist du noch etwas länger hier?“
Zum ersten Mal an diesem Morgen, scheint mein Gegenüber den Versuch eines Lachens zu unternehmen. Denn es sieht weniger freudig als gequält aus. Anscheinend bemerkt er dies ebenfalls und blickt runter auf den gepflasterten Weg unter uns. Er seufzt leise, bevor er das Gespräch wieder aufnimmt und etwas entspannter wirkt. Dann redet er ruhig weiter.
„Nach unserem zweiten Zusammentreffen und da du mich auch nicht zu kennen scheinst, ist es an der Zeit mich vorzustehen. Ich bin Caleb. Ich bin hier noch zwei Wochen, da findet man sicher einen freien Abend für dich, Kleines. Gib mir einfach deine Nummer und ich melde mich bei dir.“
„Okay du musst das mit diesem Gehabe um deine Persönlichkeit aber bitte einstellen oder soll ich mich jetzt schlecht fühlen, nur weil ich nicht jede Veranstaltung mit rotem Teppich mitverfolge?“
„Nein Laura, wenn überhaupt macht es dich noch interessanter.“
Mit funkelten Augen tritt er nun von der Autotür weg, auf mich zu. Erst jetzt fällt mir seine gesamte Körpergröße richtig auf. Ich muss meinen Kopf etwas in den Nacken legen.
„Dann gib mal dein Handy her“, über AirDrop sende ich ihm meine Kontaktkarte.
„Also bis dann liebe Laura. Wie viele Kilometer musst du noch?“
„Ich bin schon wieder komplett kalt, viel wird heute nicht mehr. Ich muss mich von meiner Nahtoderfahrung auch erst mal erholen“, gebe ich mit einem kurzen Zwinkern zurück.
„Oh Kleines, du bist weit davon entfernt kalt zu sein, mir fallen da so viele andere Attribute ein, die besser zu dir passen würden.“
Die Art und Weise wie er das sagt, mit welcher Selbstverständlichkeit, verunsichert mich und als ob er dies bemerkt hat, spricht Caleb weiter.
„Ich werd mich mal vom Acker machen und dich nicht noch mehr in die Enge treiben, Laura. Du wirst von mir hören und bis dahin werde ich meine Scheiße regeln. Es soll ja auch ein schöner Abend werden mit uns zweien.“
Ich lasse ihm das letzte Wort. Was die Kommunikation miteinander angeht, haben wir offenbar andere Ansichten, weswegen eine Diskussion darüber auf offener Straße zu nichts führen wird. Ich mache mir eine mentale Notiz mit ihm noch mal darüber zu reden. Denn ich gehe davon aus, dass ähnliche Situationen wieder entstehen werden, falls dieser Abend tatsächlich zu Stande kommen sollte. Hier und jetzt strecke ich ihm meine Hand zum Abschied entgegen und trete den Rückweg an.
Auf dem Heimweg denke ich daran, wie verrückt das Leben manchmal spielen kann. Dass ich Caleb wieder vor die Füße, beziehungsweise vor die Räder, laufen musste. Wie Henry wohl darauf reagieren wird?
Wir beide haben uns, da gestern mein Anreisetag und deshalb mit mir nicht mehr viel anzufangen war, zu einem Online-Dinnerdate verabredet. Jeder kocht bei sich zuhause ein vorgegebenes Menü und so können wir gemeinsam das Gleiche essen, nur in gut tausend Kilometer Entfernung zwischen uns.
Er wird sicher nicht hellauf begeistert sein, aber auch verstehen, dass ich hier bin um neue Leute kennen zu lernen, auch Typen. Er ist einfach nicht der eifersüchtige Typ. Dass zwischen Frauen und Männern auch platonische Freundschaften existieren können, weiß er nur zu gut. Die Freundesgruppe aus seinem Sportclub in Chemnitz, seiner Heimatstadt, sind schon seit Jahren eng befreundet. Anhängsel, so wie ich, bleiben dann an Wettkampfwochenenden zuhause und am Ende sitzt die gesamte Sportlergemeinschaft nackt im Badezuber. Das fällt dann wohl unter den Begriff ‘Vorbereitung’. Wir beide wissen deshalb im Vorhinein, dass wir uns aufeinander verlassen können. So viel Vertrauen wie in ihn habe ich in kaum eine andere Person. Fast tut es mir für Caleb leid, nicht auch so ein Verhältnis mit seiner Freundin zu haben. Doch darauf habe ich keinen Einfluss.
Heute steht mir erst mal eine weitere Begegnung mit Mitbewohnerin Cora bevor. Darauf habe ich Einfluss und unser Verhältnis bedarf einigen Verbesserungen. Ich halte mich eigentlich für eine umgängliche Mitbewohnerin und das will ich ihr auch beweisen, indem ich den nächsten Bäcker ansteuere und uns Gebäck für das Frühstück hole.
Mein Friedensangebot hatte nur mäßig Erfolg. Cora war noch sehr angefressen oder verkatert, genau auseinanderhalten konnte ich das dann nicht. Sie wirkte jedoch auch nicht sehr beeindruckt von meiner Geste. Ein mürrisches ‘Morgen’ hatte sie mir entgegengehaucht und ist anschließend in ihrem Zimmer, mit einer Tasse Kaffee und einer Schachtel Zigaretten in der Hand, verschwunden. Danach habe ich sie den ganzen Tag nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Das ließ mir genug Zeit meine restlichen Kurse zu koordinieren und mir die zugehörigen Materialien schon mal anzuschauen. Am Abend rief mich Henry über FaceTime an. Es wurde Risotto mit Pilzen und Grana Padano gekocht. Dafür habe ich vorher extra noch einen Weißwein organisiert.
Er erzählte mir von den neusten Vorkommnissen in der WG, während ich ihm von meiner vorerst einzigen Mitbewohnerin erzählt habe. Als wir zu der Situation heute Morgen kamen, musste ich nochmal bis zu dem ersten Zusammentreffen mit Caleb bei meiner Ankunft ausholen. Henry war von der spontanen Namensgebung durch Caleb mir gegenüber nicht gerade erfreut.
„Was ist denn das für ein Dude? Erst in dich hineinrennen und anschließend sich so anmaßend dir gegenüber verhalten?“
„Ja, ich verstehe es auch nicht. Aber meinen ersten Tag wollte ich mir davon trotzdem nicht vermiesen lassen. Für mich ist es wie ein Neuanfang hier. Ich war einfach nur froh, dass nicht mehr passiert ist und dass er auch gleich weitermusste. Du hast ja auch noch nicht gehört, wie mein heutiger Morgen abgelaufen ist.“
„Nein, was war denn?“
„Ich wollte mich von der frischen Luft aufwecken lassen und habe die Laufschuhe ausgepackt.“
„Ah, und dabei deine Umgebung schon mal ein bisschen erkunden - gute Idee.“
„Genau, dass dachte ich auch. Also bin ich losgejoggt. Bis zum Hafen war es nicht alt zu lang und dort angekommen, habe ich die alten Anlagen bestaunt, bis mir auf der Promenade ein Mercedes vor die Füße gefahren ist.“
„Du willst mir nicht erzählen, dass dieser Typ wieder...“
„Er hat es ja nicht mit Absicht gemacht. Er war ziemlich durch den Wind.“
„Das ist wohl sein Ding, kopflos durch die Stadt zu hetzen.“
„Ich habe ihm auch erst die Birne einschlagen wollen, oder Zumindest die Frontlichter. Aber erinnerst du dich noch an den Unfall, in den wir letztes Jahr verwickelt waren? In so einer Situation stehst du auch als Fahrer unter Schock. Er hat sich glaubhaft entschuldigt und ich wollte ihn nicht noch mehr stressen.“
„Wie nachsichtig von dir.“
„Und er hat mich zur Wiedergutmachung zum Essen einladen wollen.“
„Worauf du was geantwortet hast?“
„Naja erst mal das ich heut Abend keine Zeit habe. Aber im gleichen Moment habe ich daran gedacht, dass ich ja auch noch niemanden von hier richtig kenne. Er hat von Problemen mit seiner Freundin gesprochen und er weiß von dir. Hase, wäre das wirklich so schlimm, wenn ich sein Angebot annehme?“
„Wenn es das ist, was du möchtest, werde ich dir da nichts verbieten. Pass bitte trotzdem auf dich auf, dieser Typ…“
„Caleb heißt er.“
„… Caleb also, kann sonst was von dir wollen.“
„Ich weiß mich dagegen zu wehren Hase, keine Angst ich bin schon groß“, gab ich mit einem leichten Schmunzeln zurück.
„Ist er auch ein Erasmusstudent?“
„So genau kann ich dir das nicht beantworten. Er meinte er bleibt noch zwei Wochen hier in der Stadt. Vielleicht macht er Urlaub.“
„Klingt nach einem sehr stressigen Urlaub, wenn du mich fragst.“
„Ja, da ist was dran. Na, dann weiß ich es auch nicht.“
„Ist auch nicht so wichtig. Was hältst du von Nachtisch?“
„Da musst du doch nicht zweimal fragen.“
„Das ist mein Mädchen. Schau mal in deinen Rucksack, in der Innentasche, mit dem Reisverschluss.“
Mit etwas Argwohn stehe ich von meinem Schreibtischstuhl auf. Aus der Tasche ziehe ich eine kleine Tüte und ein Foto. Auf der Packung stand ‘Seelenwärmer’. Darunter ist eine große Tasse mit Schokopudding abgebildet. Auf dem Bild blickt mir ein nackter Henry vor einem Spiegel entgegen. Er hat Rasierschaum im Gesicht und setzt gerade die Klinge an, in der anderen Hand hält er das Handy. Mir gefällt, wie spitzbübisch er dabei aussieht. Er wusste ganz genau, wofür er das Foto schießt und was er da tat. Es entsprach nicht gerade seinem Wesen, weswegen ich mich umso mehr über den Schnappschuss freue. Henry glaubt mir immer nicht, wenn ich ihm erkläre, wie gut er aussieht. In diesen Momenten wirkt er schüchtern, verneint meine Aussage etwas kleinlaut und sagt so etwas wie: „Meine hübsche Freundin, du bist so lieb zu mir.“
Zurück an meinem neuen Schreibtisch wedle ich mit meinen beiden Fundstücken vor der Kamera umher.
„Da weiß man ja gar nicht welches von beiden das Dessert ist.“
„Wie du möchtest mein Hase, vielleicht auch beides, die Reihenfolge wäre dir überlassen.“
„Ich freue mich sehr über die Überraschung, Hase. Hast du auch so eine Tasse bei dir zuhause? Was hältst du davon, wenn sie jeder bei sich zubereitet, wir uns gleich wieder hier treffen und zusammen einen Film schauen?“
„Was schwebt dir da vor?“
„Harry Potter, Herr der Ringe oder wir schauen Friends weiter?“
„In der Reinfolge.“
Die Suche nach einem Kaffee in Italien ist keine schwere. Vielmehr habe ich gerade Probleme damit mich zu entscheiden. Ich laufe in meinem Viertel zwischen den engen Gassen, die mit unzähligen zerbeulten Autos bestückt sind, umher. Vorbei an vielen kleinen Geschäften, in denen sich italienische Spezialitäten bis unter die Decke stapeln, an Marktständen, in denen Obst und Gemüse in Stiegen ordentlich sortiert sind und an Modegeschäften, die große italienische Marken in ihren Schaufenstern präsentieren.
Nach dem nächtlichen Gespräch mit Henry habe ich meine Freizeit damit verbracht, mich weiter auf die Veranstaltungen an der Uni ab nächster Woche vorzubereiten. Dazu musste ich mich unter anderem im Büro für internationale Studenten auf dem Campus anmelden. Glücklicherweise konnte ich auf ein Fahrrad, welches uns zusätzlich zu dem Appartement zur Verfügung gestellt wird, zurückgreifen und auf direktem Wege, in nur einer viertel Stunde, dort sein. Danach habe ich mich noch in der Bibliothek angemeldet und mich vor Ort auf einige Kurse vorbereitet. Auf dem Rückweg habe ich dann gleich noch einen sehr nah gelegenen Supermarkt entdeckt, bei dem ich mich für die nächsten Tage mit Lebensmitteln eingedeckt habe.
Meine liebe Mitbewohnerin ist noch immer nicht gut auf mich zu sprechen. Das oder sie ist von Natur aus kein sehr gesprächiger Mensch. In den letzten Tagen kam sie kaum aus ihrem Zimmer heraus. Heute morgen sind wir uns dann aber zufällig in der Küche begegnet. Nach meinem freundlich gemeinten „Guten Morgen“, vernahm ich aus ihrer Richtung nur ein kleinlautes Murren. Es sind die kleinen Dinge, wie man so schön sagt.
Die Idee war nun so simpel wie clever, ich erkunde weiter die Gegend und finde dabei einen Ort, an dem ich endlich mein Buch weiterlesen kann. Ich lese viel zu selten. Es macht mir viel Spaß, doch die Ruhe und Disziplin zu haben, sich doch nicht vor den Fernseher oder das Handy zu setzen, fällt mir oft noch recht schwer.
Deshalb entziehe ich mich diesen Verführungen jetzt gezielt, genieße das Wetter und halte die Nase in die Sonne. Neapel ist bildhaft schön. Dabei meine ich nicht nur die Stadt an sich, die Menschen, die hier wohnen, ebenfalls. An mir laufen sehr gut gekleidete Frauen und Männer in eleganten Anzügen und Hemden vorbei. Sie tragen große, farbenfrohe Sonnenbrillen, kombiniert mit der passenden Designerhandtasche. Einige von ihnen sitzen bereits bei einer Weinschorle an einem Tisch auf dem Bürgersteig. Die Außenbereiche der Restaurants müssen sich, zusammen mit den Passanten, den sowieso schon viel zu kleinen Gehweg teilen. Mir entgegenkommenden Personen weiche ich immer wieder auf die Straße aus. Man sieht mir an, dass ich keine Anwohnerin bin, geschweige denn Italienerin. Eleganz und Modegeschmack – Tugenden, die mir bis jetzt nur durch Zara und Co vermittelt werden sollten. Wenn ich mich hier so umschaue, gibt es noch einiges zu lernen.
Als ich in die nächste Gasse einbiege, fällt mein Blick auf ein Schaufenster, welches feines Gebäck und Torten, die ohne Zweifel von einem professionellen Konditor gefertigt wurden, in der Auslage präsentiert. Mirror Glaze Torten habe ich davor nur im Fernsehen oder auf Social Media gesehen. Ich wäge ab, ob es in diesem Geschäft auch einen Kaffee gibt.
Ich sehe Stehtische, zusammen mit einigen Barhockern, davorstehen. Neben dem Eingang befinden sich mit roten Kordeln bestückte Pfeiler, die den Außenbereich des Kaffees abstecken. Auf der Straße ist es ruhig und doch kann ich von draußen einige Personen in dem Verkaufsraum des Ladens ausmachen. Wenn Einheimische auch hier einkaufen, habe ich meinen Zufluchtsort offenbar gefunden.
Innerhalb des Geschäfts kommt mir der wohlige Geruch von Kaffee entgegen. Ich sehe einen deckenhohen, verspiegelten Wandschrank, in dem unzählige Tassen jeglicher Größe und Form lagern. Über den Tresen ragt eine riesige Espressomaschine. So eine Maschine habe ich noch nie gesehen, sie besitzt einen transparenten Korpus, welcher mithilfe von LED-Lichtern durchleuchtet wird. Erst als ich an die Theke trete, fallen mir die Tischvitrinen auf. Darin befinden sich kleine Törtchen und Pralinen, verschiedene Kekse und Gebäck.
„Cosa sarà per te, mia cara?”
„Ciao! Un cappuccino por favore“, bitte ich, in der wahrscheinlich schlechtesten Aussprache, die Barista.
„Allora, si chiama ‘per favore’, mia cara. “, antwortet sie mir. Was mich aufgrund der starken Betonung des Wortes ‘per‘ schlussfolgern lässt, dass sie mich auf den richtigen Wortlaut hinweisen will. Ich lächle ihr entgegen, während sie beginnt die Milch aufzuschäumen.
„Un cappuccino per favore“, hole ich zum zweiten Versuch aus. Sie nickt bestätigend und spricht weiter Italienisch. Zu meinem Bedauern übersteigt dieses Gespräch nun meinen derzeitigen Kenntnisstand, was sie aber nicht zu beunruhigen scheint. Während der Kaffee durchläuft, tritt sie an die Kasse und tippt etwas ein. Als der Betrag für den Cappuccino auf dem Display erscheint, verstehe ich was sie mir versucht hatte zu sagen. Ich zücke meine Karte und schaue sie fragend an.
„Ah, vuoi pagare con la carta. Sì naturalemente.”
„Con carta, sì“, danach piept es zweimal und der Bon wird ausgedruckt. Ich verabschiedete mich mit den Worten „Grazie mille“, und begebe mich zufrieden mit dem Kaffee in der Hand nach draußen.
Die Sonne steht hoch, ich öffne meine Handtasche, um nach meinem Buch und der Sonnenbrille zu suchen. Während ich den Kaffee und mein Buch genieße, bemerke ich, wie sich eine Person auf dem Platz neben mir setzt. Ich schaue hoch und sehe in großen Buchstaben den Titel 'Frankfurter Allgemeine'. Überrascht darüber, lehne ich mich etwas weiter nach hinten, um den Leser auszumachen. Hinter den Papierseiten mache ich eine Frau mit blonden Highlights aus. Ihre Haare schmiegen sich weich an das rundliche Gesicht mit der Stupsnase bis weit über die Schultern. Als ich meinen Blick weiter nach unten richte, fällt mir auf, dass ihre Beine den Tritt an dem Barhocker gar nicht erreichen und sie mit ihren Füßen leicht auf und ab wippt. Amüsiert darüber lächle ich in mich hinein. Etwas zu laut, denn kurz darauf blicken mir grünbraune Augen erwartungsvoll entgegen. Oh Mist, was mache ich nun? Schnell denke ich über eine Strategie nach. Ich schaue auf die Überschrift auf der ersten Seite.
„Schlechte Nachrichten lässt man sich freiwillig hier runter schicken?“, nun schaut die Fremde irritiert zwischen mir und dem Papier hin und her. Ich versuche die Verwirrung aufzuklären.
„‘Rechtspopulistische Parteien bekommen immer mehr Zustimmung in Deutschland‘ - sind es jetzt nicht mehr nur die ostdeutschen Bundesländer, denen das Wasser bis zum Hals steht?“, sie dreht das Titelblatt, was gerade eben noch zu mir gewandt war, „nachdem das deutsche Bildungssystem so stark kaputtgespart wurde und die Verantwortlichen nichts gegen den Nährboden dieser braunen Suppe tun, ist ein Rückgang wohl kaum erwartbar.“
„Einfache Antworten auf komplexe Probleme, wünschen wir uns das nicht alle?“, antwortet sie mir mit einem leichten Akzent, den sie jedoch zu verstecken versucht, weswegen ich ihn gerade nicht zuordnen kann.
„Ich kann nicht für alle sprechen, aber unser Gehirn ist glaube ich von Natur aus darauf ausgerichtet tagtäglich komplexe Zusammenhänge für unsere Wahrnehmung so zu vereinfachen, dass wir noch in der Lage sind, aktiv Entscheidungen zu treffen. Nicht das das bei mir unbedingt immer hilft.“
„Haha, ich weiß genau, was du meinst. Nein, ich studiere Journalismus hier an der ‘Università degli Studi Suor Orsola Benincasa‘, der Universität der Schwester Orsola Benincasa, zumindest für das kommende Semester. Wer im Seminar nicht mitreden kann, kann es auch gleich bleiben lassen.“
„Ach witzig. Ich bin auch für mein Erasmus-Semester hier. Tut mir leid um meine zynische Bemerkung. Ich studiere Lehramt und kann das manchmal nicht unterdrücken.“
„Und du willst also Abhilfe gegen diesen Faschismus leisten?“
„So die Idee. Bildung ist der Schlüssel zu allem und wenn das so weiter geht, stehen die Uhren in Deutschland bald wieder auf 1930. Ursprünglich wollte ich Schülern helfen. Gerade Mathematik ist ein Fach, vor dem viele Kinder große Ängste entwickeln. Zunehmend beunruhigt mich aber das - für wen ich sie löse. Wenn ich mich verbeamten wöllte, was das einzig Sinnvolle in meinem Alter wäre, bin ich Diener des Staates und ob ich das möchte... Naja das sind Sorgen von morgen was?“
„Bei diesen Prognosen kann ich das verstehen. Ich bin mir auch noch nicht sicher, ob für mich das Leben als Journalistin das Richtige ist und ich schätze, deswegen trinken wir beide jetzt hier in Neapel Kaffee und lassen uns von der Sonne die Nase kitzeln, habe ich Recht?“
„Ganz genau, zwei Suchende in Italien. Mein Name ist übrigens Laura. Wie heißt du?“
„Jane“
„Jane, wie die Schwester von Lizzy aus Stolz und Vorurteil? Das Buch lese ich gerade.
„Oh ja, darauf wurde ich schon oft angesprochen. Ich bin in London zur Schule gegangen. Mit sieben sind meine Eltern mit mir dahingezogen. Die Engländer sind verrückt, nicht nur nach ihrem Königshaus, sondern auch nach Jane Austin.“
„Die Autorin selbst heißt auch noch so. Ach du könntest einem fast leidtun. Aber wer seine Kindheit in London verbringen durfte, wie schlecht kann es dem schon gehen?“
„Naja wie man es sieht, Laura. Meine Eltern hatten nicht wirklich viel Zeit für mich. Solange meine Noten in Ordnung waren, wurde ich mir selbst überlassen. Damals hing ich viel in Jugendclubs ab, bin auf die schiefe Bahn geraten. Mit fünfzehn bin ich dann das erste Mal in einem Krankenhaus aufgewacht, ohne das ich den Ärzten oder meinen Eltern erklären konnte, was davor passiert ist. Danach hieß es Internat, dann Privatuni und seitdem bin ich bei mehr Therapeuten ein und aus gegangen, als ich an beiden Händen abzählen könnte. Dieses Ich habe ich hinter mir gelassen und seitdem das letztendlich auch meine Eltern mitbekommen haben, riet ihnen ein befreundeter Arzt mich etwas lockerer an der Leine zu führen. Da hieß es für mich Koffer packen und raus aus dem Regen, Richtung Sonne, ins Chaos, in eigene vier Wände, ohne elterliche Obhut.“
„Wow Jane, dagegen komme ich mir jetzt vor wie ein langweiliges, altes Weib aus der Provinz.“
„Glaub mir, ich hätte auf einen Großteil der Aufregung und Action auf meinem Weg hierher verzichten können. Aber wo wir gerade beim Thema sind, hast du diesen Samstag schon etwas vor? Ich veranstalte eine Hausparty und würde dich gern einladen. Je mehr Leute desto besser, also falls du bereits Leute aus der Stadt kennst, bring sie gerne mit. Einige Kommilitonen meiner Seminargruppe kommen auch, die wissen für gewöhnlich wie man feiert.“
„Davon bin ich nach unserer ersten Begegnung jetzt schon überzeugt. Ich komme gern. Ob ich noch jemanden mitbringe, weiß ich noch nicht. Meine Mitbewohner sind noch nicht alle hier und die die da ist... ich werde dir noch mal Bescheid geben.“
„So machen wir es. Hier ist meine Nummer. Melde dich gern, dann sende ich dir die Adresse.“
Gesagt, getan. Sie gab mir einen Zettel, schaute auf die Uhr und entschuldigte sich. Sie hatte wohl noch ein Meeting mit einer Arbeitsgruppe, in der sie eine Hausarbeit über Nachhaltigkeit in der Europäischen Union, in Form eines Leitartikels einer ausgewählten Zeitung, schreiben sollte. Ich blieb noch eine Weile in der Sonne sitzen, las mich zurück in Zeiten, wo die bloße Berührung nackter Haut, auch wenn nur derer der Hände, als Intimität verstanden wurde.
„Wilde Zeiten waren das“, kommentierte Henry, als ich ihm am Abend darüber erzähle.
„Ich bekomme langsam das Gefühl, dass du die alltäglichen Berührungen mit mir gar nicht zu schätzen weißt“
„Doch und wie ich sie schätze, gerade jetzt wo ich so auf Entzug bin. Und auch sonst, wir leben in wilder Ehe, zumindest in den Augen meiner Eltern.
„Naja das würde ich nicht so sagen, immerhin seid ihr nicht Mitglieder von diesem anderen Club.“
„Was für Mitglieder?“
„Na Katholiken.“
„Ach so, für mich ist der gedankliche Übergang noch immer nicht zu schaffen, dass du zwei so traditionsreiche und mächtige Institutionen mit einem Club vergleichst.“
„Das gönne ich mir in meinem Dasein als Ungläubige.“
„Mach das, solange du noch kannst“, antwortete er mir, geheimnisvoll und verschmitzt in die Kamera hineinlächelnd. Ich ließ ihn. Denn falls er irgendwann um meine Hand anhalten sollte... Nun bis dahin will ich mir im Klaren sein, ob ich konfessionslos bleiben möchte.
Jane steckt mich mit ihrer Lebhaftigkeit an. Die ganze restliche Woche fieberte ich auf diese Party am Wochenende hin. So viel Me-Time habe ich mir schon lange nicht mehr gegönnt und ich genoss sie in vollen Zügen. Das bedeutete - morgendliche Joggingrunden, ein neues Buch, aktuelle Podcasts, Beautymasken, vier allein in dieser Woche, und eine Romcom nach der anderen anschauen. Die Tage plätscherten nur so an mir vorbei.
Meiner Mitbewohnerin ging ich größtenteils aus dem Weg. Wir akzeptierten die Präsenz des jeweilig anderen, wenn wir uns in der Wohnung zufällig über den Weg liefen. Wohngemeinschaften können auch nur Zweckgemeinschaften sein. Das hier war so ein Fall. Doch die dritte Mitbewohnerin fehlt immer noch. Wer weiß, vielleicht ist sie ein Stück offener und wenigstens wir zwei können so etwas wie ein funktionierendes WG-Leben aufbauen. Gemeinsam kochen, Spieleabende oder gemeinsam eine Serie anschauen - alles Dinge, die mit meinen früheren Mitbewohnern alltäglich waren.
Hilft ja nichts, denke ich mir, heute steht Jane ihre Hausparty an und dafür gilt es sich vorzubereiten. Ich hatte sie gleich nach unserem gemeinsamen Kaffee kontaktiert und daher weiß ich, dass sie sich viele Gedanken und die Dekoration und das Thema der Party gemacht hat. ‚Die wilden 90er‘ lautet das Motto, was mir eine gute Ausrede verschafft mich in schrillen Farben und Sportkleidung auf die Straße zu begeben. Gleichzeitig finde ich mich in dem Spannungsfeld zwischen Bequemlichkeit und dem Bestreben, nicht wie ein obdachloser Hippie rumzulaufen, wieder. Als ich Jane schließlich um Rat gefragt habe, hat sie mein Outfit sofort abgenickt und direkt noch ein paar eigene Vorschläge zur Auswahl präsentiert. Ihr Outfit ist dezent, trifft aber das Motto im Kern sehr gut. An Stirn- und Handgelenksbändern fehlt es mir leider. Dieses Defizit versuche durch eine Cap, große Creolen und einige Armbänder wieder auszugleichen. Ich habe Jane geschrieben, dass sie gegen halb neun mit mir rechnen kann.
Davor will ich mir auf dem Weg noch eine Taschenpizza, eine Streetfood-Spezialität aus Neapel, kaufen. Diese Stadt ist ein Mekka für jeden, der italienische Spezialitäten liebt und offen ist für neue Ausführungen dieser Klassiker. Ich liebe die Italiener einfach dafür. In unserem Supermarkt um die Ecke halte ich an, um noch eine Flasche Aperol und Sekt zu kaufen. Ein Gastgeschenk ist das Mindeste, was ich Jane mitbringen kann, nachdem sie kurzum einen Fremden auf ihre Hausparty eingeladen hatte. Mit leeren Händen da aufzukreuzen, erscheint mir schlicht unhöflich.
Mein Handy vibriert. Als ich auf mein mittlerweile repariertes Display blicke, sehe ich eine Nachricht von einer unbekannten Nummer.
„Hallo Kleines, hast du heute Abend schon was vor?“
Es ist Caleb – ohne Zweifel. Ich tippe etwas zurück, zögere kurz, was ihn zu einer zweiten Nachricht verleitet haben muss.
„Nur nicht so schüchtern, Turtle.“
„Caleb, ich bin heute Abend schon verplant, sorry.“ Sein arrogant-selbstbewusstes Auftreten muss auch mal mit einer gewissen Kaltschnäuzigkeit runtergekühlt werden.
„Oh nein... du brichst mir das Herz. Gibt es keinen anderen Tag, an dem ich meine zerbrochenen Stücke wieder einsammeln kann?“ Ich schmunzle über seine Theatralik. Typisch.
„Gar nicht dramatisch oder so. Was hältst du von morgen? Da habe ich Zeit. Auf der Dachterrasse – gegen acht?“
„Es ist ein Date“, schreibt er. Ich lächle und stecke mein Handy weg. Er wird schon sehen, was er davon hat.
Auf den Straßen der Stadt herrscht noch reges Treiben. Die feucht-warme Luft umströmt mich und zieht bis unter meine Jeansjacke mit dem schwarzen K auf der Rückenseite. Den Aufdruck mit dem Wiedererkennungszeichen meiner Lieblingsband hat mir der Nikolaus beziehungsweise Henry letzten Dezember in die Schuhe gesteckt. Vielleicht wird ja der ein oder andere Song von ihnen heute Abend abgespielt. Bevor ich mir weiter darüber Gedanken machen kann, zeigt mir mein Handy an, dass ich meinen Zielort erreicht habe.
Nachdem mir die Haustür geöffnet wird, lasse ich mich von lauter Musik zu der Tür auf der obersten Etage, bei dem auf dem Klingelschild ‘Smith‘ steht, leiten. Sie wird mir geöffnet, noch bevor ich die Klingel drücken kann. Eine angeheiterte Jane steht vor mir.
„Da bist du ja endlich. Schön, dass du gekommen bist“, danach tritt sie einen Schritt zur Seite, um mich hereinzubitten.
„Heyy! Jane du siehst großartig aus! Deine Haare glitzern ja fast wie Diamanten. Wie hast du das hinbekommen?“
„Ach das ist so ein Haarspray, was mit heute beim Fertigmachen wieder in die Hände gefallen ist. Mal sehen, wie gut ich meine Idee morgen noch finde, wenn die ganze Wohnung auch so funkelt.“
„Haha, na ich halte es mit Glitzer so ähnlich wie mit Käse, es kann nie zu viel davon geben.“
„Das finde ich gut. Laura, du gefällst mir immer besser. So und jetzt bekommst du eine Tour durch die Wohnung. Ich stell dich allen vor.“
„Gerne.“
Wir laufen über den Flur und betreten einen großen Raum mit zwei Dachschrägen. Ich erblicke eine große Sitzecke, wo sich eine Gruppe an Partygästen angeregt unterhält. Daneben schließt sich eine Nische mit Küchenzeile an, bei der sich einige Frauen bunte Flüssigkeiten in ihre Gläser nachfüllen.
„Dieses Getränk hat eine interessante Farbe.“
„Haha, ja Laura. Möchtest du mal kosten? Ich wette unser Barkeeper hat mal wieder gezaubert.“
„Zauberhaft aber hochprozentig“, antwortet offenbar der besagte Barkeeper, welcher uns überhört haben muss.
„Sehr gut Tom. Dann nehmen wir beide ein Glas davon“, antwortet Jane und lächelt mir begeistert entgegen.
„Jane, du warst doch erst vor zehn Minuten hier.“
„Das mag sein Tom, aber Laura hier ist gerade angekommen. Du kannst doch nicht von mir erwarten, dass ich sie allein trinken lasse, oder? Noch fühle ich mich nicht verzaubert.“
„Nein nein, das will und kann ich nicht verantworten. Warte, ich packe mal den Elderstab aus.“
„Also Tom, was gibst du uns jetzt hier für eine teuflische Mischung?“, frage ich. Normalerweise trinke ich kaum Alkohol. Wenn ich mich diesem Nervengift hingebe, möchte ich ihn genießen. Naja, oder zumindest wissen, was ich zu mir nehme.
„Laura, liebe Laura, es tut mir leid. Ein Meister gibt seine Geheimrezepturen niemals preis.“
„Auf den Meister und seine Geheimrezeptur“, kichert Jane vor sich her, nimmt ihr Glas in die Hand und hält es erwartungsvoll etwas in die Höhe. Ich komme dieser stummen Aufforderung nach und stoße mit ihr an. Das bunte Blubberwasser rinnt meine Kehle hinunter und hinterlässt ein angenehmes, leichtes Kratzen.
„Auf Tom, den Zaubertrank-Meister“
„Auf Tom, den Zaubertrank-Meister“, rufen Jane und ein paar weitere Gäste mir entgegen. Der Raum beginnt im Chor zu lachen.
Die Party war für Jane und ihre WG ein voller Erfolg. Angesichts des bevorstehenden Semesters, was nächste Woche beginnt, wundert mich das nicht. Wenn ich mich so in ihrer Wohnung umschaue, dann werden Jane und ihre Mitbewohner einiges an Aufräumarbeiten zu tun haben. Ich erstelle mir eine gedankliche Notiz, ihnen morgen meine Hilfe anzubieten. Hoffentlich erinnere ich mich dann noch daran, denn zu dem einen Glas von Beginn haben sich noch einige dazugesellt.
Später habe ich mit ein paar anderen Leuten ein Dartspiel und damit auch meine Begeisterung für spitze Pfeile, mit denen ich auf eine Zielscheibe werfe, entdeckt. Musikalisch gestaltete sich der Abend relativ eintönig, spanischer Technopop. Dagegen bin ich mit Indie-Rock als Gegenvorschlag nicht angekommen. Genauso komme ich jetzt nicht gegen mein Übelkeitsgefühl an.
Ob es an Tom seinen Kreationen oder an der Befragungsrunde vor wenigen Minuten zu meinem aktuellen Studiengang und Zukunftsplänen angeht, weiß ich nicht. Manchem Menschen können anscheinend schwer abschätzen, wann sich ein Gespräch von einem lockeren Partygeplauder zu einer einseitigen Selbstbeweihräucherung entwickelt. Mein Gegenüber nahm meine schmallippigen Antworten kaum noch wahr, holte weiter über fallende Ansprüche an Lehrer, insbesondere Lehrer in Naturwissenschaftsfächern, aus. Anders könnte er sich kaum erklären, warum er trotz fehlender Anwesenheitsdisziplin und Lernmotivation jede Prüfung, meist auch sehr gut, besteht.
Das erinnerte mich wiederum an das noch ausstehenden Ende meiner letzten Prüfungsleistung in Mathe. Habe ich bestanden oder geht es für mich in den Drittversuch? Keine schöne Vorstellung. Deshalb oder vielleicht auch weil ich mir etwas Mut angetrunken habe, zücke ich mein Handy und melde mich bei unserem Prüfungsportal an. Die Gesichtserkennung gibt die Anmeldung frei. Zwei Fingerstriche weiter sehe ich es. Zweiter Versuch, Note fünf, Prüfungsstatus ‚nicht bestanden‘ stand da. Ich muss einige Male blinzeln. Sehe ich das richtig? Waren all meine Anstrengungen vergebens? Kann das wahr sein?
Ja, kann es, wenn man bedenkt, dass ich mit einer Blasenentzündung in der Prüfung saß. An dem Morgen vor der Prüfung war mir übel vor Aufregung. Den Umstand, dass ich sehr oft auf Toilette musste, erklärte ich mir ebenfalls dadurch. Ich war noch nie daran erkrankt, sonst hätte ich an diesem Morgen wahrscheinlich einen Arzt aufgesucht. Die eigentliche Frage, die ich mir stellen sollte, ist: Darf das sein? Darf das sein, damit ich hier munter und fröhlich so weitermache? Ich befinde mich im vierten Semester von insgesamt zehn. Vor mir liegen noch viele Prüfungen, auch in Mathe.
Wenn ich diese Prüfung nicht im nächsten Anlauf bestehe, werde ich keinem Schüler in diesem Fach je helfen können. Ich muss hier raus. Jetzt, hier, aus dieser Wohnung. Alle sind beschäftigt und feiern ausgelassen. Ich nehme meine Tasche und bahne mir einen Weg in Richtung Haustür. Jeder der mich in meiner derzeitigen Verfassung ansprechen würde, könnte mir meinen Schock ansehen. Ich halte also den Blick gesenkt und halte den Atem an, kämpfe gegen die sich anbahnende Flut an Tränen an. Den ersten Atemzug, den ich wieder bewusst wahrnehme, erfolgt erst, als mir die kühlere Luft der Nacht mir entgegenströmt. Ich weiß nicht mal wirklich, wie ich das Treppenhaus hinuntergestiegen bin. Ich atme tief ein und wieder aus, ein und wieder aus. Immer wieder.
Bilder von meinen Kommilitonen aus Dresden schießen mir in den Kopf. Werde ich nun endgültig den Anschluss an sie verlieren? Während des letzten halben Jahres habe ich mich ihnen gegenüber immer weiter verschlossen. Warum, das wusste ich bis gerade eben auch noch nicht. Ein Schmerz setzt ein. Kein Kribbeln, wie vorhin in der Augenpartie, sondern ein tiefgehender, drückender Schmerz, welcher den oberen Teil meines Torsos einnimmt.
Ich denke an meine ehemalige Nachhilfeschülerin. Wie sie neben mir sitzend, mich hoffnungsvoll ansah. Damals bat sie mich an ihre Schule zu kommen, um ihre Mathelehrerin zu werden. Dieser Moment verschlag mir die Sprache. Nicht nur hatte ich gerade erst mit dem Studium und der Nachhilfe angefangen, sondern war mir für einen Großteil dieser Zeit nicht mal sicher, ob meine Erklärungen und Übungen den Schülern überhaupt weiterhelfen. Sie erzählte mir, wie ihre gesamte Klasse bei ihrem Mathelehrer nichts versteht und auch auf Nachfragen nicht reagiert wird. Diese Ungerechtigkeit, nach sechs Jahren Lehrerausbildung es nicht zu schaffen dieses wissbegierige, junge Mädchen so an die Hand zu nehmen, dass sie den Satz von Pythagoras versteht, die verstehe ich nicht. Dann saß ich da und musste dem Mädchen erklären, dass das noch nicht geht... Dass ich noch ein ganzes Stück Weg vor mir habe, bis ich jeden Tag vor einer Klasse stehen darf.
Was mache ich jetzt? Was sind meine nächsten Schritte? Wann ist die nächste Nachprüfung? Wie viel Zeit habe ich noch? Alles Fragen, auf die ich eine Antwort brauche. Sofort. Immer noch mit Tränen in den Augen, laufe ich zügigen Schrittes nach Hause. Passanten, partywütige, junge Menschen ignoriere ich, halte meinen Blick immer noch gesenkt. Schon wieder habe ich es nicht geschafft. Was bin ich für ein Versager, der nichts auf die Reihe bekommt. Schnaufend erreiche ich unsere Haustür, sperre erst sie, dann die Wohnungstür auf. Da reißt mich ein Geräusch aus meinen Gedanken. Der Eingangsbereich ist dunkel, ist Cora schon da?
„Hallo, wer bist du denn?“ Ach du lieber Himmel, diese Stimme ist mir unbekannt. Sie kommt von einem Mann, der im Dunklen, im Flur meiner Wohnung steht und den ich soeben überrascht hatte. Ich bekomme Schnappatmungen und ziehe die Luft noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, geräuschvoll ein.
„Was soll das, wer sind sie und was wollen sie hier? We are students, nooo money for you here. “
„Hahaha.“ Mein Gegenüber beliebt zu scherzen?
„Oh, dass tut mir leid, aber es ist zu komisch gerade.“ Er lacht weiterhin vor sich her.
„Ach, tun sie sich keinen Zwang an, lachen sie nach Lust und Laune weiter fremder Mensch, während ich mir einen Gegenstand meiner Wahl zur Verteidigung suche. Einverstanden?“
„Hochh, es wird immer besser. Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Hi, mein Name ist Jessie. Ich nehme an, du bist eine meiner zwei Mitbewohnerinnen.“
„Jessie was machst du hier im Dunklen?“
„Sorry, ich bin gerade rein und habe den Lichtschalter nicht gefunden. Mein Akku ist alle und bevor ich weitersuchen konnte, bist du reingekommen.“
Ich knipste, daran erinnert, dass wir immer noch in der Dunkelheit standen, das Oberlicht an.
„Jessie wir haben schon nicht mehr mit dir gerechnet und ehrlich gesagt sind wir auch davon ausgegangen, dass wir eine Mädchen-WG bleiben werden.“
„Ja naja, ich bin für die meisten Menschen in meinem Leben eine Enttäuschung, da machste nix.“
„Nein so habe ich das nicht gemeint. Ich war nur überrascht und bin auch super unhöflich, wie mir gerade auffällt. Ich habe mich nicht mal vorgestellt und werfe dir hier einen Vorwurf nach dem anderen an den Kopf. Mein Name ist Laura. Schön dich kennenzulernen, Jessie.“
„Laura, was ein schöner Name. Und wer ist die Dritte im Bunde?“
„Das ist Cora. Ich weiß nicht, ob sie vielleicht in ihrem Zimmer ist oder...“
„Die Tür war abgeschlossen, also gehe ich davon aus, dass sie...“
Jessie beendet seinen Satz nicht, denn in diesem Moment klickte das Schloss und Cora steht in der Wohnungstür.
„Jessie, dass ist Cora. Cora... darf ich vorstellen, unser dritter Mitbewohner Jessie.“
Jessie und ich lachten kurz auf, während Cora einmal zwischen uns hin und her schaut und antwortet.
„Wie lange steht ihr schon hier im Flur? Wir haben Stühle wisst ihr?“
„Oh, das wusste ich nicht“, antwortet Jessie ironisch, während ich vor mich hin kichere. Als mich Cora mit ihrem Blick durchbohrt, versuche ich davon abzulassen und halte mir eine Hand vor den Mund. Als ob das etwas nützen würde.
„In der Küche, in der Tat. Da sind auch noch ein paar Bier kaltgestellt. Drei um genau zu sein“, erkläre ich.
In meiner weisen Voraussicht hatte ich für diesen Moment vorgesorgt. Henry hat mich darauf gebracht, als er gefragt hatte, wann die letzte Mitbewohnerin ankommen wird. Endlich komplett, so dachte ich, können wir uns bei einem kühlen Bier gemeinsam kennenlernen. Und der Plan scheint aufzugehen.
Ein einfaches „von mir aus“ von Cora reicht als Bestätigung aus. Gemeinsam begeben wir uns in Richtung Küche.