Clarissa - Der Auftrag (Band 1) - Doreen Köhler - E-Book

Clarissa - Der Auftrag (Band 1) E-Book

Doreen Köhler

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Beschreibung

Clarissas Leben ist alles andere als leicht. Ihre Mutter wurde grausam ermordet, in der Schule wird sie gemobbt und dann erfährt sie auch noch, dass ihr Vater gekidnappt wurde. Um ihren Vater wieder zu sehen, muss sie das Vertrauen des attraktiven Cody Arrington gewinnen und ihn dem mysteriösen Entführer ausliefern. Für die schüchterne Clarissa ist es alles andere als einfach überhaupt erst ein Gespräch mit dem gut aussehenden Jungen zu beginnen, der sie zudem auch noch bei jedem Versuch eiskalt abblitzen lässt. Doch um das Leben ihres Vaters zu retten, darf sie nicht aufgeben. Außerdem ist nun auch ihre Neugier geweckt, denn Cody hat ein Geheimnis, das er um jeden Preis zu schützen versucht … »Clarissa – Der Auftrag« ist der Romantasy-Debütauftakt einer spannenden Dämonenwolf-Trilogie der Fantasyautorin Doreen Köhler Für Romantasyleserinnen und -leser ab 14 Jahren, die Werwolfgeschichten mit Romantik lieben

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Doreen Köhler

 

Clarissa

Der Auftrag

Sommernächte

 

Es ist Nacht, stillschweigend sitze ich an unserem alten Ort.

Die Dunkelheit umhüllt mich mit unheimlichen Schatten.

Der Park ist nicht mehr was er einst war, all die Wärme, sie ist fort.

Ich vermisse dich, die Nächte hier und alles was wir waren und hatten.

 

Mein trauriger Blick fällt in den Fluss, der vor mir fließt.

Für einen kurzen Augenblick spiegelt sich unser Spiegelbild.

Ich sehe uns wie früher, wie dein Körper meine Taille umschließt.

Für einen kurzen Moment spüre ich deine Wärme, die mich umhüllt.

 

Es dauert nicht lange, da holt mich die Realität wieder ein.

Mit jeder weiteren wegblinzelnden Träne, verblasst dein Bild mehr.

Nun bist du ganz verschwunden und ich sitze hier wieder allein.

Die Kälte kommt zurück, verdammt, ich vermisse dich so sehr.

 

Die Stunden vergehen, bald schon bricht der Morgen ein.

Doch ich will noch nicht gehen, vielleicht kommst du ja noch.

Verzweifelt schüttle ich den Kopf, ich weiß, das wird nicht so sein.

Trotzdem hoffe ich so sehr, du spürst die Verbundenheit irgendwann doch.

 

Dir ist es egal, wann werde ich es mir endlich eingestehen?

Denn hätte es dir etwas bedeutet, dann wärst du jetzt bei mir.

Mein Herz schreit, die Sehnsucht kreischt,

denn ich kann dich nirgends sehen.

Wie kann es sein, dass es mir so viel mehr bedeutet hat als dir?

 

Für dich war das mit uns nur ein kleiner Zeitvertreib, ein amüsantes Spiel.

Somit, herzlichen Glückwunsch, du hast mehr als nur das Spiel gewonnen.

Ich war eine von vielen, nichts Besonderes, einfach nur ein weiteres Ziel.

Du hast nicht nur den Sieg,

sondern auch mein Herz und Vertrauen mitgenommen.

Das Leben geht immer weiter.

Wenn es dir zu schnell geht und du nicht mehr hinterher kommst,

mache eine kurze Pause, um dann mit ganzer Kraft

Anlauf zu nehmen und aufzuholen.

 

Doreen Köhler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Auch wenn langsam die Abenddämmerung heranbrach und es immer kühler wurde, verspürte ich noch keine Anzeichen von Müdigkeit.

Wie so oft, nervte ich meine Mutter solange damit, mit mir noch ein bisschen Verstecken zu spielen, bis sie mein Gebettel nicht mehr ertrug und nachgab.

Unsere kleine Hütte, in der wir lebten, lag mitten in einem großen Wald. Deswegen wurde das Versteckspielen auch nie langweilig.

»Aber nur eine Runde, Lissa.« Meine Mutter lachte und lief los, um sich ein Versteck zu suchen.

Mit verschränkten Armen lehnte ich meinen Kopf an einen dicken Baumstamm und schloss die Augen.

Langsam und laut fing ich an zu zählen, wobei ich versuchte, ihren Schritten zu lauschen. Bei der Zahl Sieben ertönte jedoch ein entsetzliches, ohrenbetäubendes Kreischen, das die Vögel aus den Bäumen aufscheuchte und mich erschrocken einen Satz zur Seite machen ließ. Und dann erschollen markerschütternde Schreie. Das war unverkennbar die Stimme meiner Mutter gewesen.

»Mama?« Mit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem schaute ich mich um. »Mama?«, schrie ich jetzt. »Wo bist du? Mama?« Meine Stimme wurde immer lauter und hektischer, wobei sie noch längst nicht den Geräuschpegel meiner Mutter erreicht hatte.

Bei jedem Schritt, dem ich mich ihren angsterfüllten Schreien näherte, mutierten meine Beine immer mehr zu Wackelpudding. »Mama?«, kreischte ich wieder und wieder und immer wieder. Es schien fast so, als schrien wir um die Wette. Doch irgendwann gewann ich das ungewollte Duell. Ihre Stimme verstummte. Meine nicht. Ich brüllte immer noch den ganzen Wald zusammen. Und dann … brach auch meine Stimme ab.

Erstarrt blieb ich vor unserer Hütte stehen. Eine breite Blutspur lief entlang des schäbigen Holzes, bis um die Ecke. Auf zittrigen Beinen ging ich ihr nach, und blieb im nächsten Moment erneut abrupt stehen.

Meine Mutter lag regungslos in einer immer größer werdenden Blutlache. Eine Bestie, eine wie man sie sonst nur aus Märchen kannte, schlug ihre scharfen Zähne in den Hals meiner Mutter.

Auf den ersten Blick ähnelte das Ungeheuer einem Werwolf mit Flügeln, dessen Fell so schwarz wie die tiefste Nacht war. Die Flügel, die aus seinem kräftigen Rücken ragten, hatten Ähnlichkeit mit denen einer Fledermaus. Nur waren sie an die Größe des Monsters angepasst und daher riesig. Am unheimlichsten waren jedoch seine Augen. Sie waren komplett weiß. Und auch wenn sie im ersten Augenblick leer wirkten, lag darin doch ein Ausdruck von Hass und Gier. Aus seinem bedrohlichen Maul tropfte außerdem ekelerregender, blutiger Speichel auf den Boden.

Mein Herz setzte aus. Ich taumelte leicht nach hinten, sodass ich mich an einem Holzbrett der Hütte festhalten musste, um nicht nach hinten zu stolpern. Ich wollte wieder schreien, wollte weg, aber der Blick des Ungeheuers hielt mich gefangen. Ich konnte mich nicht bewegen. Meine Beine waren erneut wie festgenagelt und ich starr vor Angst.

Der Augenkontakt, den ich mit dem Biest hatte, dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Ich war von diesem Anblick auf eine kranke Art so gefesselt, dass ich jegliches Zeitgefühl verlor und mir mit einem Mal ganz schwindelig wurde. Es fühlte sich an, als würde jemand die Erdkugel als Basketball benutzen.

Bevor ich mich bewegen konnte, löste sich das unheimliche Wesen von meiner Mutter und machte ein paar Schritte rückwärts. Den Blick wandte es dabei nicht von mir ab. Ich zuckte zusammen, als sich die Kreatur abrupt umdrehte und sich in den Wald davon machte.

Mein Gehirn brauchte Zeit, um den Befehl weiterzugeben, aber dann schrie ich.

 

Das Geräusch eines schrillenden Weckers schreckte mich auf. Schweißgebadet fuhr ich unter der viel zu warmen Bettdecke auf und mir wurde klar, wo ich war.

Genervt drückte ich mir mein Kissen aufs Gesicht und holte nach dem Wecker aus. Mit einem Krachen fiel er vom Nachttisch und gab endlich die gewünschte Ruhe. Ich machte die Augen wieder zu und suchte nach einer bequemeren Position, doch ehe ich sie fand, stand mein Vater schon im Zimmer. Natürlich wollte er nachschauen, ob ich auch wirklich aufgestanden war.

Erbarmungslos zog er das Kissen von meinem Gesicht, ging zum Fenster und schob die Vorhänge zur Seite.

»Noch fünf Minuten, Papa«, flehte ich schon wieder im Halbschlaf und hielt mir die Hand vors Gesicht, weil die Sonne mich blendete.

»Das sagst du jeden Tag, Clarissa«, antwortete mein Vater gleichgültig und zog mir einfach die Decke weg.

»Schlafverderber«, brummte ich und rollte mich auf der Matratze zusammen, um die morgendliche Kühle nicht so an mich heranzulassen. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Und wenn ich dann noch an die Schule dachte, braute sich ein unangenehmes Gefühl in meinem Magen zusammen, das einzig und allein mein Bett hätte mindern können. Allerdings ließ mein Vater das nicht zu.

»Morgenmuffel«, gab er lachend zurück und warf meine Bettdecke auf den Stuhl.

Seufzend gab ich auf, setzte mich aufrecht hin und rutschte zur Bettkante, die dabei ein unangenehmes Knarzen von sich gab.

»Hast ja gewonnen«, murmelte ich noch immer schläfrig, während ich meine Füße auf den kalten Fußboden stellte.

»Geht doch.«

Während mein Vater mit einem zufriedenen Grinsen aus meinem Zimmer verschwand, musste ich erneut an meinen schrecklichen und immer wiederkehrenden Traum denken.

Obwohl es nun schon fünf Jahre her war, sah ich es immer noch genau vor mir, meine Mutter, das Blut, das Monster.

Damals war ich zwölf Jahre alt gewesen, und bis heute glaubte mir, bis auf meinen Vater, niemand, was ich damals erlebt hatte. Ich verzog das Gesicht, als ich mich an das Gespräch mit den Polizisten erinnerte. Sie hatten gemeint, ich hätte zu viele Märchen gelesen und sich sogar darüber lustig gemacht.

Schön wär's, wenn es eine Erzählung von Rotkäppchen gewesen wäre. Schließlich sah der Wolf in dem Märchen tausendmal harmloser als der aus, den ich gesehen hatte.

Nachdem ich ein Jahr später immer noch dabeigeblieben war, dass das alles wirklich geschehen war, hatte die Sozialarbeiterin vom Jugendamt dafür gesorgt, dass ich in eine Psychiatrie für Kinder und Jugendliche geschickt worden war. Eine Nachbarin hatte es einmal als Besserungsanstalt bezeichnet.

Ich verzog das Gesicht. Besser war dadurch aber rein gar nichts geworden!

Im Gegenteil, es waren schreckliche drei Jahre gewesen, die ich hatte dortbleiben müssen. Jeden Tag der gleiche Ablauf: Aufstehen, Frühstücken, Unterricht, Mittagessen, Therapie, Abendessen. Ich war eingesperrt gewesen und hatte meinen Vater entsetzlich vermisst, den ich nur jedes zweite Wochenende hatte sehen dürfen.

Auch er hatte unter unserer Trennung gelitten. Er hatte seine Frau verloren, seine Tochter war für verrückt erklärt worden und niemand hatte ihm bei all seinen Problemen beigestanden. Plötzlich hatten unsere Bekannten und Verwandten eine neue Nummer gehabt oder aber waren für ihn aus anderen Gründen nicht mehr zu erreichen gewesen.

Natürlich war auch in unserem Dorf meine Version des Unfalls, wie man den Tod meiner Mutter offiziell bezeichnet hatte, herumgegangen wie ein Lauffeuer. Auch hier waren wir wie Ausgestoßene behandelt worden und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

Ich glaubte inzwischen, dass die Leute sich nicht aus Bosheit so verhielten, sondern vielmehr aus Angst. Sie glaubten lieber einer schönen Lüge, als einer grausamen und furchteinflößenden Wahrheit ins Gesicht zu blicken.

Mit knapp sechzehn war ich dann endlich klug genug gewesen, zu behaupten, dass ich damals gelogen und mir die ganze Geschichte nur ausgedacht hatte, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Allerdings hatte mich meine Psychologin nach dieser Aussage trotzdem nochmals zu einer endlosen Zahl von Therapiesitzungen gezwungen. Doch dann, nach einem weiteren halben Jahr, durfte ich endlich zurück nach Hause, zu meinem Vater.

Und jetzt saß ich hier und dachte über mein beschissenes Leben nach, obwohl ich mich eigentlich schleunigst für die Schule fertig machen musste.

Seufzend stand ich auf und ging zu meinem Kleiderschrank. Das Erste was mir in die Hand fiel, war ein dunkelblaues T-Shirt, an das ein weißer Rock angenäht war. Das Outfit hatte ich in der Psychiatrie immer tragen müssen. Keine Ahnung, wieso ich es immer noch aufbewahrte. Eigentlich trug es nur schlechte Erinnerungen in sich.

Ich legte es zurück und entschied mich für ein einfaches weißes T-Shirt und eine dunkle Jeans.

Danach wusch ich mich, kämmte mir meine langen, kastanienbraunen Haare und trottete die Treppe hinunter in die Küche.

Mein Vater saß schon angezogen, mit einer Tasse Kaffee und der Zeitung vor sich und einem Marmeladenbrötchen in der Hand, am gedeckten Frühstückstisch.

»Guten Morgen.« Ich gähnte, streckte mich und ließ mich dann auf einem kleinen wackligen Stuhl ihm gegenüber nieder. Ich wählte ein Körnerbrötchen und schnitt es auf. Nachdem ich sorgfältig Butter darauf geschmiert hatte, klatschte ich eine ganze Scheibe Gouda hinterher und klappte es zusammen.

Ich war froh, dass mein Vater endlich gelernt hatte, Wurst und Käsescheiben nicht in eine gemeinsame Box, sondern in getrennte zu legen. Als Vegetarierin war Käse mit Wurstgeschmack nämlich nicht sehr appetitlich.

»Dein Schulbrot ist schon fertig«, schmatzte mein Vater und legte seine angebissene Brötchenhälfte auf den Teller, um einen Schluck Kaffee zu trinken.

»Danke«, sagte ich und kicherte über seine Essmanieren.

Die Marmelade, die er sich auf sein Brötchen geschmiert hatte, klebte an seinen Mundwinkeln und seiner Nasenspitze.

»Papa«, sagte ich lachend, »deine Nase und dein Mund … du siehst so aus, als könntest du nicht essen.«

Er schielte auf seine Nase, was noch komischer aussah, strich mit dem Zeigefinger einmal darüber und leckte sich den Rest von den Lippen.

»Schon möglich, aber daran erkenne ich immer wieder, dass du unverkennbar meine Tochter bist.« Er grinste noch breiter als ich, während er mir mit seinem Finger ein bisschen Butter von der Wange wischte.

Mein Vater war alles für mich. Ein Leben ohne ihn konnte und wollte ich mir einfach nicht vorstellen. Ich kannte keinen Menschen auf der Welt, der mehr Humor hatte als er und das trotz allem, was er an schlimmen Dingen erlebt hatte.

Doch obwohl er so unbekümmert wirkte, wusste ich, dass ihn der tragische Verlust meiner Mutter noch immer belastete. Ebenso wie die Ausgrenzung durch die Leute in Fahrendsberg.

Obwohl Mamas Tod nun schon fünf Jahre her war, sah ich ihn gerade in letzter Zeit oft am Tisch sitzen und durch ein altes Familienalbum blättern. Er glaubte wohl, ich würde schon schlafen und nicht sehen, wie er dann weinte.

Als ich aufgegessen hatte, packte ich mein Schulbrot ein und gab meinem Vater einen Kuss auf die Wange.

»Bis später, Lissa«, rief er mir hinterher, als ich die Haustür hinter mir schloss.

Da wir etwas abgelegen wohnten, dauerte mein Schulweg zu Fuß fast eine halbe Stunde. Ich ging ihn eigentlich ganz gern, aber auch nur, wenn es nicht regnete und ich von der Schule kam und nicht hingehen musste. Und da ich mich viel lieber in der Natur, als in der Stadt aufhielt, fand ich es herrlich, dass unser kleines Häuschen mitten im Wald stand. Okay, vielleicht nicht ganz mitten drin, aber auf jeden Fall um einiges von der Hauptstraße entfernt.

Wie immer, wenn ich auf dem Weg zur Schule war, fragte ich mich, was ich an diesem Ort überhaupt sollte. Eigentlich ging ich nur hin, um einen guten Abschluss zu schaffen, weil ich meinen Vater stolz machen wollte. Ich persönlich war der festen Meinung, keinen Abschluss zu brauchen. Mein Entschluss Malerin zu werden und damit in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten, stand ohnehin fest. Das war mein Traumberuf und ein anderer kam für mich nicht in Frage.

Ich hatte keine Lust darauf, so wie viele andere Menschen auch, meine wertvolle Zeit mit stumpfsinniger Arbeit in einer Fabrik oder einem öden Büro zu verschwenden. Die Vorstellung, jeden Tag bis zu acht oder noch mehr Stunden immer das Gleiche zu machen, fand ich abschreckend. Mein Ziel war es darum, mein Hobby zum Beruf zu machen und wie meine Mutter später mein eigener Chef zu sein. Sie hatte sich ihre Zeiten selbst einteilen können und gutes Geld mit ihrer Kunst verdient, denn sie war recht bekannt gewesen. Manche Leute waren sogar aus anderen Städten und dem Ausland angereist, nur um ihre Bilder bei Versteigerungen für einen hohen Preis zu erwerben. Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis sich ihr Tod auch in diesen Kreisen herumgesprochen hatte und auch die Geschichte, die ich darüber erzählt hatte. Wäre mir damals bewusst gewesen, dass ich mit meiner Aussage alles und jeden gegen uns aufhetzen würde, hätte ich lieber geschwiegen. In dem Alter hatte ich es aber nun einmal nicht besser gewusst und nicht verstanden, dass meine Geschichte nicht nur die Bilder meiner Mutter im Preis gedrückt hatte.

Auch meine Mitschüler wussten über das monströse Wolfswesen leider besser Bescheid, als mir lieb war. Seit ich aus der Psychiatrie entlassen worden war und wieder hier zur Schule ging, war ich für alle immer noch die Verrückte, die an Werwölfe glaubte. Dabei habe ich das Tier nie als Werwolf bezeichnet. Es war irgendetwas anderes … Etwas Schlimmeres.

Wenn meine Mitschüler nicht gerade damit beschäftigt waren, sich fiese Streiche für mich auszudenken, ignorierten sie mich oder lästerten. Sie gaben mir auf jeden Fall immer das Gefühl nichts wert zu sein und nannten mich Psycho.

 

Darum betrat ich auch an diesem Morgen den Klassenraum mit einem mulmigen Gefühl und setzte mich stumm an meinen Platz.

Meine ehemals beste Freundin Emma saß neben mir. Sie war eigentlich ganz okay. Immerhin sprach sie ab und zu noch mit mir. Allerdings nur, wenn es niemand mitbekam.

Ich sah mich um. Antonia und Lara, die größten Zicken aus unserer Klasse thronten auf der Fensterbank und waren mal wieder total aufgestylt. Sie lachten laut, sodass auch ja jeder mitbekam, wie toll sie waren. Ich verzog das Gesicht, mir wäre es viel lieber gewesen, wenn man mir überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Thomas schrieb wie immer die Hausaufgaben von Tamara, der Streberin, ab. Sie stand total auf ihn. Thomas wusste das und nutzte es gnadenlos aus. Jeden Tag schrieb er bei ihr ab. Egal, ob bei den Hausaufgaben oder Arbeiten, und sie ließ es immer zu. Ich fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis Tamara es endlich checkte, dass Thomas sie nur ausnutzte. Hinter ihrem Rücken machte er sich sogar mit seinen Kumpels über sie und ihre viel zu große Streberbrille lustig.

Und dann sah ich zu Pascal und Fynn, die hinten in der Ecke hockten und ihr Plakat für Biologie fertigmachten.

Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken, als mir die Biopräsentation wieder einfiel. Jedes Mal, wenn ich irgendetwas vor der Klasse vortragen musste, gab es nur miese Kommentare, und fieses Gelächter und das würde auch heute wieder so sein. Meine Hände wurden ganz schwitzig, wenn ich nur daran dachte.

Ich wusste nicht, warum Frau Steinmeyer gerade meiner Gruppe das Thema Wölfe gegeben hatte. War es tatsächlich einfach nur Zufall, wie sie behauptete?

Allerdings konnte ich mir auch gut vorstellen, dass sie das mit voller Absicht getan hatte, um mir eins auszuwischen. Sie mochte mich aus irgendeinem Grund nicht. Genauso wenig, wie ich sie.

Mit Sicherheit hielt sie mich genauso verrückt, wie es alle anderen taten. Nie hatte jemand Mitleid gezeigt, obwohl ich mit eigenen Augen hatte zusehen müssen, wie meine Mutter umgebracht worden war. Ich hatte es auch nie von jemandem verlangt, aber von allen nur verspottet zu werden, tat weh. Ich hatte mir immer nur einfach eine einzige Freundin gewünscht, mit der ich über die ganze Sache reden konnte. Eine, die mir glaubte und die einfach zu mir stand und mich verteidigte, da ich es selbst nicht konnte.

Abbygail, meine Biopartnerin, hörte über Kopfhörer Musik, wobei ihr Bein, das sie über das andere geschlagen hatte, zum für mich unhörbaren Takt mitwippte. Im Gegensatz zum Rest der Klasse war sie eigentlich in Ordnung. Sie machte immer ihr eigenes Ding und beachtete kaum jemanden. Sie war schon etwas älter und hatte eine Klasse wiederholen müssen, obwohl sie ganz bestimmt nicht dumm war. Auf jeden Fall hatte sie ihren ganz eigenen Kopf und manchmal wünschte ich mir, genauso viel Selbstbewusstsein wie sie zu haben.

Ich versuchte mich möglichst unsichtbar zu machen, als ich aufstand und zu ihr ging.

Sie wirkte nicht erfreut, als sie ihren Kopfhörer in den Nacken schob, weil ich ihr auf die Schulter getippt hatte.

»Hast du das Plakat mit?«, fragte ich leise und versuchte, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

Sie nickte kurz und setzte dann den Kopfhörer wieder auf.

Abbygail war die Einzige aus der Klasse, der ich es nicht übel nahm, wenn sie nicht mit mir redete. Das tat sie bei jedem. Es war einfach ihre Art. Sie war eben einfach lieber für sich.

Ich zuckte zusammen, als sich Abbygail plötzlich abrupt umdrehte und ihr Arm direkt vor meinem Gesicht in der Luft stehen blieb. Sie hatte eine Papierkugel abgefangen, die offenbar für meinen Kopf bestimmt gewesen war. Sie warf sie mit voller Wucht zurück.

»Behalt dein Gehirn bei dir«, zischte sie Antonia zu, die den Papierball mit ihren Armen abwehrte.

Bevor ich Zeit hatte, mich über ihre blitzschnelle Reaktion zu wundern oder mich für ihre Hilfe zu bedanken, betrat unsere Biolehrerin Frau Steinmeyer das Klassenzimmer. Ihre strenge Stimme hallte sofort durch den Raum. »Clarissa, setz dich bitte.«

Schnell huschte nicht nur ich auf meinen Platz.

Als sie ihre Aktentasche neben das Pult stellte, standen wir auf, um sie zu begrüßen. Danach breitete sie einen gelben Ordner vor sich aus und blätterte darin herum.

»Heute stellen die Gruppen Fledermäuse, Erdmännchen und Wölfe ihr Plakat vor«, erklärte sie bestimmt.

Verdammt, jetzt ging das Theater los.

Während meine Mitschüler der anderen beiden Gruppen gelassen ihre Präsentationen vortrugen, bebte ich am ganzen Körper und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Ich überlegte mir schon mal Kontersprüche für alle möglichen Beleidigungen, die gleich folgen könnten. Aussprechen würde ich sie zwar eh nicht, aber es beruhigte mich einfach, dass sie in meinem Kopf waren.

»Sehr schön.« Frau Steinmeyer nickte zufrieden, als die zweite Gruppe fertig war.

Sie sah wieder in den gelben Ordner vor sich und tippte mit ihrem Zeigefinger auf das Blatt. »Als nächstes kommt die Gruppe Wölfe von Abbygail, Cem und Clarissa.«

Lieber würde ich sechs Stunden Physik haben, als mir gleich das Gelächter der anderen anhören zu müssen. Seit der Psychiatrie, hatte ich extrem wenig Selbstbewusstsein. Um genau zu sein, so gut wie gar keins.

Mutig, zumindest galt das für mich schon als mutig, stellte ich mich trotzdem vor die Tafel, die Hände in den Jackentaschen versteckt und meinen Blick konzentriert nach unten gerichtet, so, als würde da ein Zehn-Euroschein liegen, den ich gern aufgehoben hätte.

Cem, der größte Klugscheißer, den die Welt je gesehen hatte, stand lässig neben mir und hielt das Plakat vor seinen breiten Körper. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Antonia und Lara, die mal wieder blöd kicherten, auf mich zeigten. Mir wurde heiß und ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, bevor wir überhaupt angefangen hatten.

So unauffällig wie möglich, fuhr ich mir mit der Hand über meine feuchte Stirn. Während Cem und Abbygail ihren Teil vortrugen, stellte ich mir die ganze Zeit vor, wie ich von einem Bein auf das andere hüpfte, so hibbelig war ich.

Als nun ich an der Reihe war, meinen Teil der Präsentation vorzulesen, schaute Abbygail mich erwartungsvoll an. Mich traf es wie ein Blitz, als ich bemerkte, dass ich meine Karteikarten zu Hause auf den Schreibtisch vergessen hatte.

Improvisiere!

»Ähm, also …«, fing ich an zu stottern. Doch bevor ich einen richtigen Satz hervorbrachte, musste ich schon den ersten Spruch über mich ergehen lassen.

»Komm schon, Clarissa, du wirst ja wohl irgendwas über Wölfe wissen. Schließlich kennst du sie doch persönlich.«

Wie auf Kommando prustete die ganze Klasse los, während es mich wie ein Schlag ins Gesicht traf. Kevin war zwar für seine blöden Sprüche bekannt, aber musste er so langsam nicht mal wissen, dass andere Menschen auch Gefühle hatten?

Ich verdoppelte die sechs Stunden Physik auf zwölf und bemerkte, wie Abbygail Kevin einen finsteren Blick zuwarf. Nervös nahm ich meine Hände aus den Jackentaschen, tat so, als hätte ich den Spruch überhört und zeigte auf ein Bild, auf dem ein Rudel Wölfe zusehen war. Darunter stand ein kleiner Text.

Hoffnungslos versuchte ich noch einmal zu improvisieren. »Also … Wölfe sind Rudeltiere und jagen deshalb immer zusammen.« Super, wie originell.

»Du hattest aber immer nur von einem Wolf gesprochen«, hörte ich es von vorn. Der Spruch kam diesmal von Thomas und wieder lachten alle.

Allmählich reichte es mir.

Wenn es sein musste, war ich auch bereit dazu, die ganzen Sommerferien, jeden Tag, vierundzwanzig Stunden lang Physik zu haben. Alles wäre mir lieber, als hier vor der ganzen Klasse zu stehen, mir solche Scheißsprüche anzuhören und gegen meine Tränen anzukämpfen.

Hilfe suchend blickte ich zu Frau Steinmeyer, die mehrmals Ruhe brüllte und komisch herumfuchtelte, worüber die Klasse aber nur noch mehr lachte.

Wäre ich nicht so deprimiert gewesen, hätte ich wahrscheinlich selbst über unsere Lehrerin gelacht, aber so sah ich nur mit tränenverschwommenem Blick zu Abbygail und Cem hinüber. Abbygail runzelte mit ernster Miene die Stirn. Cem jedoch, grinste breit über beide Ohren.

»Wahrscheinlich hat deine Mutter sich selbst umgebracht, weil sie auch so ein Psycho war wie du«, grölte Antonia lachend.

Bis auf Abbygail und Frau Steinmeyer lachte die ganze Klasse mit. Sogar meine damals beste Freundin Emma konnte sich das Kichern nicht verkneifen.

Das gab mir den Rest. Ohne zu zögern ging ich zu meinem Platz und griff nach meiner Tasche. Beim Verlassen des Klassenraumes streckte ich meinen Mittelfinger in die Höhe.

»Clarissa Sommer, komm sofort zurück! Ansonsten rufe ich deinen Vater an«, hörte ich Frau Steinmeyer mit schriller Stimme hinter mir herrufen.

Sollte sie doch.

Kapitel 2

 

Schniefend stand ich vor unserem Haus und starrte auf meine Armbanduhr. Es war gerade mal kurz nach zehn.

Punkt elf verließ mein Vater immer erst das Haus und fuhr mit dem Fahrrad zu seiner Arbeit bei einem Schuster. Ein Auto konnten wir uns nicht mehr leisten, denn nach dem Tod meiner Mutter waren unsere finanziellen Mittel ziemlich geschrumpft. Das merkte man leider auch an unserem Haus, das mit jedem Jahr schäbiger wirkte. Geld für Reparaturen blieb uns nun mal nicht.

Davor hatte mein Vater in einem Reisebüro gearbeitet. Dort war ihm aber schon vor Längerem gekündigt worden. Mein Vater hatte behauptet, er hätte einige Fehler bei den Buchungen gemacht, als ich ihn nach dem Grund für die Kündigung gefragt hatte. Doch ich wusste, dass er mich anschwindelte. Da er, dank meiner verrückten Geschichte, auch nicht den besten Ruf im Dorf hatte, waren die Kunden lieber woanders hingegangen, um ihre Reisen zu buchen, als sich von dem Mann mit der irren Tochter beraten zu lassen. Dem Inhaber des Geschäfts war schließlich keine Wahl geblieben. Zum Glück hatte mein Vater dann die Stelle bei dem Schuster gefunden, wo er im Hinterzimmer die Schuhe reparierte und niemand ihn bemerkte. Wirklich Freude machte ihm seine Arbeit nicht, doch etwas anderes fand er nicht. Mein Vater litt unter dem Spott des Dorfes noch mehr als ich, und ich bewunderte ihn dafür, dass er mir trotzdem immer den glücklichen Vater vorspielte.

Leise schlich ich mich hinters Haus und setzte mich dort auf einen großen Stein. Mein Vater durfte auf keinen Fall wissen, dass ich die Schule schwänzte. Im schlimmsten und wahrscheinlichsten Fall würde er mich wieder dorthin zurückbringen. Das wollte ich um jeden Preis verhindern, da er sonst nämlich erfahren würde, dass ich gemobbt wurde. Dadurch würde er sich nur noch mehr Sorgen machen, und die konnte er nicht gebrauchen, denn davon hatte er selbst mehr als genug.

Ich öffnete meine halb zerfledderte Schultasche, die mehr als einmal durch den Klassenraum geflogen war, und holte ein Buch heraus. Ich hatte es mir aus der Stadtbibliothek ausgeliehen, auch wenn man diese Minibücherei eigentlich nicht wirklich als Stadtbibliothek bezeichnen konnte. Schließlich war Fahrendsberg nicht unbedingt eine Großstadt.

Beim Lesen verging die Zeit wie im Flug. Das Buch war so spannend, dass ich die restlichen Kapitel in weniger als einer Stunde verschlang. Als ich damit durch war, zeigte die Uhr viertel nach elf. Ich würde mir heute auf jeden Fall noch den zweiten Teil holen. Es war gar nicht unbedingt die Geschichte, die mich so fesselte, sondern mehr die Autorin, die die gleiche Einstellung wie ich, zum Thema Liebe hatte. Sonst mochte ich eine Träumerin sein, aber was die Liebe anging war ich ganz klar Realistin. Mit der Liebe, egal wie toll sie auch sein mochte, war es irgendwann sowieso wieder vorbei. Sie kam und ging. Und wenn sie ging, hatte man nur lästigen Liebeskummer, war depressiv und heulte sich die Augen aus dem Kopf. Nein, danke. Darauf konnte ich verzichten. Ich wollte nie eine Beziehung, schließlich hatte ich schon genug Mist am Hals, mit dem ich mich herumschlagen musste. Da war Liebeskummer echt das Letzte, was ich gebrauchen konnte.

Ich kramte meinen Schlüssel zwischen den ganzen Schulbüchern hervor und schloss leise die Tür auf.

»Hallo?«, rief ich, um sicher zu gehen, dass mein Vater auch wirklich zur Arbeit gefahren war. »Jemand da?«

Nachdem ich keine Antwort erhielt, atmete ich erleichtert auf.

Ich nahm Weidenkuss erneut aus der Tasche und legte das Buch vorsichtig auf den Küchentisch. Den zweiten Teil würde ich mir dann später holen. Erst einmal musste ich etwas essen und dann hatte ich vor, an meinem Bild weiter zu malen.

 

Nach drei Stunden ließ ich erschöpft den Bleistift fallen. Vom ganzen Zeichnen und Radieren hatte ich Kopfschmerzen bekommen. Außerdem wollte ich ja noch in die Bibliothek, die heute auch nicht mehr allzu lange geöffnet hatte.

Ich holte mein Fahrrad aus dem Schuppen, von dem ich betete, dass es unterwegs nicht in seine Einzelteile zerfiel. Es war schon sehr alt und es fehlten eigentlich so gut wie alle Teile, die ein sicheres Fahrrad ausmachten, wie Klingel, Licht und eine gute Bremse. All diese Teile glänzten durch Abwesenheit.

Vorsichtig prüfte ich den wackeligen, zerfetzten Sattel. Es schien zu gehen, also trat ich in die Pedale und ächzend setzte sich der Drahtesel in Bewegung. So wie ich herumeierte sah das bestimmt alles andere als elegant aus, denn es war verdammt schwierig, geradeaus zu lenken, da die Wurzeln und Steine auf dem Waldweg, den Lenker hin und her schlingern ließen.

Als ich endlich den asphaltierten Weg erreichte, kam ich viel schneller voran und hatte den Lenker im Griff. Während ich kräftig in die Pedale trat, bemerkte ich, dass ich mal wieder joggen gehen sollte. Früher war ich jeden zweiten Tag laufen gewesen, doch seit einem halben Jahr fehlte mir einfach die Motivation dazu.

Völlig verschwitzt und ziemlich erschöpft, stellte ich mein Fahrrad in den Fahrradständer und betrat die Bibliothek. Ich liebte diesen Geruch von alten Büchern, der mir beim Eintreten in die Nase kroch. Zudem fand ich die Atmosphäre zwischen all den Büchern einfach angenehm. Nach meinem Zuhause war das hier mein Lieblingsort.

Zuerst setzte ich mich an einen der Computer, um zu schauen, in welchem Regal sich das Buch befand.

Als ich den Titel eintippen wollte, hörte ich plötzlich Stimmen hinter mir, die mir sehr bekannt vorkamen. Ich drehte ich mich um und entdeckte Tamara und Thomas, die ebenfalls vor einem der Computer saßen.

Auch das noch.

Wahrscheinlich machte Tamara mal wieder seine Hausaufgaben. Doch sie schienen mich glücklicherweise nicht zu bemerken, denn sie waren total damit beschäftigt über irgendetwas auf dem Bildschirm zu kichern.

Erleichtert drehte ich mich wieder nach vorn. Als mir der Ort für mein Wunschbuch angezeigt wurde, stand ich auf und schlenderte zu dem entsprechenden Bücherregal. Es dauerte nicht lang, bis ich es fand. Ich ging zurück zu meinem Platz. Als ich die geöffnete Seite am Computer schloss und das Hintergrundbild erschien, schrie ich auf und fuhr zurück.

Ein animierter zähnefletschender Wolf blickte mich aus seinen rot funkelnden Augen böse an und Wolfsgeheul ertönte aus dem Lautsprecher, das ziemlich nachgemacht klang. Trotzdem erschrak ich noch mehr, weil dieses Geheul einfach ohrenbetäubend war.

Die Bibliothekarin fixierte mich warnend, während ich hastig auf den Ausschaltknopf drückte.

Hinter mir hörte ich Gelächter. Mit bösem Blick drehte ich mich um und sah Thomas und Tamara, die sich vor Lachen nicht mehr halten konnten. Unter dem Tisch von ihnen erkannte ich, dass Thomas dieser Blödmann seine Handykamera auf mich gerichtet hatte.

»Wie witzig«, fauchte ich.

»Finden wir auch«, prustete Tamara.

»Ihr seid echt das Letzte.«

Aber meine Worte schienen die beiden gar nicht zu interessieren. Sie hörten mich vor Lachen wahrscheinlich nicht einmal.

Voller Wut nahm ich meine Tasche und das Buch und ging damit zum Schalter, gab das alte ab und lieh mir das neue aus. Frustriert stampfte ich aus der Bücherei, stieg auf mein Fahrrad und fuhr nach Hause.

Kapitel 3

 

Um meinen Ärger aus der Bücherei zu vergessen, setzte ich mich zu Hause ins Wohnzimmer an den Esstisch und zeichnete weiter an meinem Bild. Mit ruhiger Hand strich ich mit dem Bleistift von einem Punkt zum nächsten. Ich benutzte immer Punkte, die ich zuerst setzte, so konnte ich die Proportionen besser einschätzen. Beispielsweise war das beim Zeichnen der Augen praktisch.

Nach knapp zwei Stunden saß ich immer noch an dem Bild. Ich war gerade dabei, die Striche mit meiner Daumenkuppe zu verwischen. So wirkte das Bild gleich viel harmonischer und hatte mehr Tiefe.

Nachdem ich den letzten Bleistiftstrich vollendet hatte, streckte ich mich. Mein ganzer Rücken knackte und sogar mein Nacken machte Geräusche. Ich fühlte mich wie das Skelett von Dornröschen, das nach hundert Jahren auferstanden war. Skelett deswegen, weil ich mich so ausgehungert fühlte. Langsam trottete ich zum Kühlschrank und öffnete ihn, als plötzlich ein Briefumschlag herausfiel. Als ich mich nach dem Kuvert bückte, protestierte mein Rücken mit einem weiteren Knacken. Verblüfft richtete ich mich wieder auf. Für Clarissa, war da in einer ziemlich unordentlichen Handschrift draufgekrakelt. Im Umschlag ertastete ich eine Art Scheibe. Eine CD oder DVD?

Neugierig öffnete ich den seltsamen Brief. Ich hatte mich nicht geirrt. Als ich die glänzende Scheibe behutsam zwischen meinem Zeigefinger und Mittelfinger geklemmt, herauszog, fiel ein kleiner Zettel heraus. Ich bückte mich erneut und faltete ihn gespannt auseinander.

 

Sieh mich an. Allein!

 

Allmählich wurde es mir ein bisschen unheimlich. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache.

Wer legte denn eine DVD in unseren Kühlschrank?

Ich sah auf die Uhr. Zwanzig nach fünf. Eigentlich müsste mein Vater schon seit einer halben Stunde wieder da sein. Würde ich es noch schaffen, die DVD anzusehen, bevor er kam?

Mit der Scheibe in meinen aufgeregt zitternden Händen, lief ich ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Ich stellte den Player auf DVD und legte die Scheibe in das geöffnete Laufwerk. Danach drückte ich mit der Fernbedienung auf Play und es erschien ein kleiner Kreis in der Mitte, der sich drehte. Darunter stand Load. Auch wenn das Laden nur ein paar Sekunden dauerte, kam es mir wie eine halbe Ewigkeit vor.

Als der Kreis verschwand, war alles schwarz. Hätte ich nicht ein heftiges Schnaufen gehört, hätte ich geglaubt, der Fernseher hätte sich von selbst wieder ausgeschaltet.

»Was wollt ihr von mir?«, ertönte plötzlich eine bekannte Stimme aus dem Lautsprecher.

Mir lief es eiskalt den Rücken runter und mein Herz blieb stehen. Die Stimme gehörte meinem Vater!

Erst jetzt, nachdem schon gefühlte Minuten vergangen waren, tauchte etwas auf dem Bildschirm auf. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen, in der Hoffnung besser sehen zu können und nach einigen weiteren Sekunden erkannte ich Gitterstäbe. Die Kamera schwenkte weiter nach rechts und man sah einen Stuhl, an dem ein kleiner, pummeliger Mann angekettet war. Leider war sein Gesicht komplett verschwommen. Ein kurzer Blitz flammte auf und das Bild wurde endlich scharf. Der Mann in Ketten war tatsächlich mein Vater. Er versuchte vergeblich sich zu befreien, in dem er mit dem Stuhl hin und her wippte. Dabei machten die Ketten ein unerträglich klirrendes Geräusch, das mir in den Ohren weh tat. Allerdings konnte ich nicht nach der Fernbedienung greifen, um den Ton leiser zu stellen, denn ich war vor Angst erstarrt.

Für einen kurzen Moment wurde der Fernseher wieder schwarz. Danach sah man einen Mann, der auf einem kleinen Hocker, in einem ebenfalls dunklen Raum saß und schelmisch in die Kamera grinste. Er trug einen schwarzen Umhang mit einer Kapuze, unter der ein wenig von seinem schwarzen Haar hervorlugte und seine giftgrünen Augen stachen auffällig aus seinem vampirbleichen Gesicht hervor.

Ich war mir nicht sicher, ob der Mann Kontaktlinsen trug und seine Augen deswegen im Kameralicht so strahlten oder ob er mit dem grellen Farbton geboren worden war. Aber eigentlich war es auch egal, denn jetzt begann der unheimliche Mann zu sprechen.

»Hallo Clarissa.«

Er sprach meinen Namen mit übertriebener Betonung aus. Sein fieses Grinsen behielt er dabei. Auch bei den nächsten Sätzen gingen seine Mundwinkel nicht ein Stückchen nach unten.

»Ich weiß, dass das alles für dich jetzt erst einmal sehr erschreckend sein mag, also will ich dich auch nicht auf die Folter spannen.«

Nein, natürlich nicht.

»Ich habe deinen Vater als Geisel genommen.«

Ich zitterte am ganzen Körper. Tränen stiegen in mir auf, aber ich versuchte sie zurückzuhalten, denn sonst würde ich nicht hören können, was der Kerl als nächstes sagen würde.

»Aber du kannst dafür sorgen, dass er bald wieder zu dir zurückkehrt. Alles was du tun musst, ist einen gewissen Cody Arrington dazu zu bringen, sich in dich zu verlieben. Du musst sein Vertrauen gewinnen, und wenn du das geschafft hast, lockst du ihn zu mir und kriegst dafür deinen Vater. Fairer Tausch, nicht wahr?«

Nein, war es nicht! Außerdem machte mich sein widerliches Grinsen wahnsinnig.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Am liebsten hätte ich mit meiner geballten Faust in den Fernseher geschlagen. Doch die Wut verwandelte sich gleich im nächsten Moment in Verzweiflung und ein Schwächegefühl überkam mich. Wie konnte er das meinem Vater nur antun?

»Doch es gibt ein paar Bedingungen. Du musst morgen früh um Punkt sieben mit deinen gepackten Koffern vor der Eisdiele an der Donaustraße stehen, denn du wirst ab morgen auf das Läresson Internat gehen. Mit der Anmeldung ist bereits alles geklärt. Einzelheiten erfährst du morgen früh. Und du musst den Mund über das alles halten. Wenn du irgendjemanden dieses kleine Filmchen zeigst, davon erzählst oder gar zur Polizei gehst, schwöre ich dir, dass du deinen Vater nicht mehr lebend wiedersehen wirst. Nur damit das klar ist!« Bei dem Satz mit der Polizei, hatte er sein Grinsen gegen eine ernste Miene ausgetauscht.

Der Bildschirm wurde schwarz, bis noch einmal kurz mein Vater eingeblendet wurde. Er blutete. Das Blut lief ihm von seiner Schläfe aus über die ganze rechte Wange, bis zum Hals, wo die Spur dann in seinem dreckigen T-Shirt endete.

»Noch irgendwelche letzten Worte?«, erkundigte sich diesmal eine spöttisch klingende Frauenstimme.

»Lissa«, keuchte mein Vater völlig außer Atem, »mach dir um … um mich keine … Sorgen. Alarmiere die Polizei und …«

Hier brach der Film ab und auf dem Fernseher erschien wieder das Menü. Der Pfeil zeigte auf Enter. Ich warf die Fernbedienung, die ich immer noch in der Hand hielt, auf das andere Ende des Sofas und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

Es hatte sich so viel Wut und Verzweiflung in mir aufgestaut, die einfach nur raus wollten, doch mir fehlte die Kraft in den Beinen, um aufzustehen. Alles was ich jetzt noch konnte war heulen. Und das tat ich.

Ich wischte mir die letzten Tränen aus meinem Gesicht und atmete tief aus. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Insgeheim hoffte ich, dass aus irgendeiner Ecke doch noch ein Kamerateam rausspringen und reingelegt rufen würde. Doch das passierte nicht. Nach weiteren zwanzig Minuten, in denen ich vor mich hinstarrend auf dem Sofa hockte, gab ich es auf, auf Erlösung zu warten.

Mein Vater war irgendwo in den Händen von Entführern. Damit musste ich mich abfinden.

Nur, was sollte ich jetzt bloß machen?

Zur Polizei gehen, kam für mich gar nicht in Frage. Ich hatte ja gehört, was sonst passieren würde und das konnte ich auf keinen Fall riskieren. Mein Vater war nach dem Tod meiner Mutter der einzige Mensch auf der Welt, der immer für mich da war. Ich würde ihn auf keinen Fall im Stich lassen!

Immer noch benommen, stand ich auf und wankte ins Badezimmer. Erschrocken betrachtete ich mein Spiegelbild. Meine Haare standen mir zu Berge und aus meiner Unterlippe tropfte etwas Blut, weil ich so doll drauf gebissen hatte. Außerdem waren meine Augen verquollen und mein Mascara völlig verschmiert. Ich sah aus, als hätte ich eine ganze Woche lang nicht geduscht und unter einer Brücke geschlafen … und so fühlte ich mich auch.

Mit zitternden Händen lehnte ich mich auf das Waschbecken und blickte in meine hellblauen Augen, die die Tränen wegblinzelten. »Was mache ich jetzt nur?«, jammerte ich meinem zerzausten Spiegelbild vor, als würde ich von ihm einen hilfreichen Ratschlag bekommen.

Doch natürlich kam keine Antwort. Ich ballte meine Faust zusammen, blickte ein letztes Mal in den Spiegel und schlug ins Glas. Der Spiegel zersplitterte. Die Scherben klirrten, während sie auf den kalten Fliesenboden sprangen und sich überall verteilten. Meine Hand pochte, als ich sie zurückzog. Das Blut tropfte auf den Boden und erst jetzt nahm ich den Schmerz wahr, der sich aber irgendwie auch befreiend anfühlte.

Ich wickelte mir ein Handtuch um meine Hand und schleppte mich in den Flur. Ich wollte nur noch ins Bett und weiter heulen, doch als den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, ließ mich das schrille Klingeln des Telefons zusammenfahren. Ein kalter Schauder lief mir den Rücken runter, das konnte nur der Entführer sein.

Auf wackelnden Beinen schlich ich zum Telefon und sah nervös auf das Display. Unbekannt. Mit zittrigen Händen nahm ich den Hörer ab.

»Guten Abend, spreche ich mit Herrn Sommer?«

Erleichtert atmete ich aus, als ich Frau Steinmeyers unfreundliche Stimme erkannte.

»Nee, hier ist Clarissa.«

»Hallo Clarissa, würdest du mir mal bitte deinen Vater geben?«

Nervös biss ich mir auf meine verletzte Lippe. »Äh, der … also … er ist gerade nicht da.«

»Wann kommt er denn wieder?«, fragte sie ungeduldig.

»Keine Ahnung«, sagte ich leise und war wieder den Tränen nah.

Wie sehr wünschte ich mir, ich hätte auf diese Frage eine Antwort.

Frau Steinmeyer deutete meinen verzweifelten Tonfall offenbar anders, denn sie meinte: »Du brauchst keine Angst zu haben, Clarissa. Ich werde deinem Vater schon nichts Schlimmes erzählen. Hauptsächlich werde ich ihm von dem heutigen Vorfall berichten und ihn zu einem Gespräch in die Schule bitten, damit wir gemeinsam nach einer Lösung suchen können. Ich will dir ja nur helfen und …«

»Nein, danke. Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich komme nämlich sehr gut allein damit klar und jetzt hören Sie endlich auf so zu tun, als würde es sie interessieren wie es mir geht.«

Ich glaube sie war über meinen Wutausbruch genauso erstaunt wie ich. Es tat wirklich gut dieser Hexe mal die Meinung zu sagen, besonders, da ich sie die nächste Zeit eh nicht sehen musste.

»Also, Clarissa, ich bitte dich, komm zu dir und denk lieber nach, bevor du so einen Ton mir gegenüber …«

Ich legte auf.

Vor lauter Adrenalin senkte und hob sich mein Brustkorb heftig. So auszuflippen war eigentlich nicht meine Art. Wut und Trauer konnten einen ganz schön verändern.

Kapitel 4

 

Ich hatte eine noch grauenvollere Nacht hinter mir, als all die anderen, in denen mich mein Albtraum verfolgt hatte. Am nächsten Morgen hatte ich sogar noch weniger Lust und Energie, um aufzustehen als sonst, und das hieß schon was.

Was sich aber nicht geändert hatte war, dass mich das Weckergepiepse wahnsinnig machte. Genervt schlug ich mit meiner Hand nach der Uhr, um sie auszustellen. Doch anstatt sie zu treffen, warf ich nur ein paar Zeitschriften runter, die sich all die Monate auf meinem Nachttisch angesammelt hatten.

Ich zwang mich aufzustehen, hob die Magazine auf und stellte dann den verdammten Wecker aus.

Danach schleppte ich mich zu meinem Schrank.

Nachdem ich mich ganz in schwarz gekleidet hatte, ging ich ins Badezimmer. Ich wickelte das Handtuch von meiner Hand ab und schmiss es in die Wanne. Meine Hand schmerzte und war voller Kratzer, aber es war mir egal. Die seelischen Schmerzen waren schlimmer.

Müde putzte ich mir die Zähne. Danach nahm ich mir einen feuchten Waschlappen und schrubbte wild in meinem Gesicht herum, bis die verschmierte Wimperntusche von gestern ab war und schminkte mich neu, um die Tränenspuren zu verstecken.

Kurz nach sechs fiel mir ein, dass ich meinen Koffer ja noch gar nicht gepackt hatte. Ohne groß zu überlegen, warf ich einfach den Großteil meines Kleiderschranks und ein paar Pflegeprodukte aus dem Badezimmer, Bücher, meinen Zeichenblock und ein paar Erinnerungsstücke in einen Koffer und meinen großen Rucksack rein. Noch nie war ich so traurig und motivationslos beim Packen gewesen.

Als ich glaubte fertig zu sein, schleppte ich mein Gepäck nach unten und stellte alles an die Haustür. Bevor ich unser Haus verließ, ging ich noch ein letztes Mal durch jedes einzelne Zimmer. Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Ich wollte hier nicht weg.

Vielleicht war ich mit meinem alten Leben nicht wirklich zufrieden, aber das, was mich jetzt erwartete, hatte ich mir bestimmt nicht gewünscht.

Während ich von außen den Schlüssel in der Haustür umdrehte, konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten.

Doch egal, wie scheiße ich mich fühlte, mir blieb keine Wahl, ich musste meinen Vater retten.

Auf dem Weg zur Eisdiele kam mir der Gedanke, vielleicht doch die Polizei zu rufen, aber den schlug ich mir schnell wieder aus dem Kopf. Es war einfach zu riskant.

Und wieso hatte man sich ausgerechnet mich als Lockvogel ausgesucht? Wie sollte denn gerade ich, das so was von nicht selbstbewusste Mädchen, Vertrauen zu einem völlig fremden Jungen aufbauen und ihn dazu bringen, sich auch noch in mich zu verlieben? Was war dieser Cody überhaupt für ein Typ? Und was hatte dieser schräge Vampir mit ihm vor?

Es war wahrscheinlich besser, wenn ich sein Schicksal gar nicht erst kannte. Wahrscheinlich war dieser Cody sowieso wie der Rest aus meiner Klasse, gemein und rücksichtslos. Ich wollte ihn gar nicht richtig kennenlernen, ich musste nur so viel von ihm wissen, um meinen Auftrag zu erledigen, damit ich meinen Vater so schnell es ging, befreien konnte.

Je länger ich über diese ganze Geschichte nachdachte, umso merkwürdiger fand ich das alles. Wütend stieß ich mit der Fußspitze gegen einen Stein, der mitten im Weg lag. Er rollte in einen Gully. Als ich wieder aufblickte, stand ich direkt vor der Eisdiele. Es war kurz vor sieben. Meine Hände waren voller Schweiß, weshalb ich sie nervös an meiner Strickjacke abwischte.

Nach einigen endlos langen Minuten hielt ein schwarzer, großer Wagen vor mir.

Meine Hände wurden immer schwitziger und mein Herz pochte so schnell, dass es unmöglich war, meine Herzschläge zu zählen.

Der unheimliche Vampirmann aus dem Film stieg aus. Auch heute war sein Gesicht extrem bleich und er war ganz in schwarz gekleidet, aber statt des seltsamen Umhangs mit Kapuze, trug er einen dunklen Anzug und einen kurzen Mantel im gleichen Farbton. Er strich sich über seine schwarzen, ohnehin perfekt anliegenden Haare, die in der Morgensonne ölig glänzten, während er zu mir kam und die Beifahrertür des Wagens öffnete.

»Darf ich bitten?«, fragte er mit schleimig-freundlicher Stimme und grinste boshaft.

Du machst das für deinen Vater, redete ich mir ein und versuchte mich zu beruhigen. Trotzdem zögerte ich kurz, bevor ich einstieg.

Meinen Koffer und Rucksack verstaute der Fremde währenddessen im Kofferraum.

Die ersten paar Minuten der Fahrt verliefen stumm. Ich hatte dem fremden Mann nichts zu sagen und beobachtete stattdessen seine Füße, die in schwarzen, blankgeputzten Schuhen steckten und abwechselnd das Gas- und Bremspedal und die Kupplung bearbeiteten.

Irgendwann unterbrach er die Stille dann.

»Hast du gar keine Fragen an mich? Zum Beispiel, wer ich bin?«

Ich sah auf und begegnete kurz seinen amüsiert funkelnden grünen Augen, ehe er seinen Blick wieder auf die Straße richtete. Nein, er schien keine Kontaktlinsen zu tragen. Ich hatte keine Ränder entdecken können.

»Schon, aber Sie würden mir doch sowieso keine Antwort darauf geben, oder?«, antwortete ich ihm.

»Da hast du vollkommen recht!« Er lachte. »Kluges Mädchen.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte und verdrehte deshalb nur die Augen. Außerdem kam ich mir ziemlich dumm dabei vor, ihn zu siezen. Allerdings wollte ich ihn auch nicht duzen. Wir waren schließlich keine Freunde.

»Was haben Sie eigentlich mit diesem Cody vor, sobald ich ihn Ihnen ausliefere?« Es fiel mir schwer zu sprechen. Mein Hals war trocken, meine Stimme rau und bei dem Wort ausliefern machte ich in Gedanken Gänsefüßchen.

Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal was getrunken?

»Das lass mal meine Sorge sein«, antwortete der Fremde grinsend. »Halt dich an Frau Lamin und an das, was ich dir gesagt habe. Spiel Arrington einfach vor, dass du in ihn verliebt wärst und schaff ihn zu mir. Mehr hat dich nicht zu interessieren. Und damit du mich auf dem Laufenden halten kannst, kriegst du das hier.« Er kramte ein altes Tastenhandy aus seiner Jackentasche und drückte es mir in die Hand. »Da rufe ich dich an, um zu hören wie es läuft.«

Widerwillig nickte ich und schob das Handy in meine Jackentasche. »Und wer ist Frau Lamin?«

»Die Schulleiterin vom Läresson Internat. Wir kennen uns gut und sie wird ein Auge auf dich haben.«

Dadurch hatte er eine der Fragen beantwortet, die ich mir heimlich gestellt hatte. Wie hätte er auch sonst mitten im Schuljahr einen Schulwechsel für mich hingekriegt, wenn nicht eine Direktorin ihre Finger mit im Spiel hatte.

Ich ballte meine Fäuste, am liebsten wäre ich ihm an den Kragen gegangen.

Reiß dich zusammen, Lissa.

Um mich abzulenken, sah ich aus dem Fenster. Wir überquerten unzählige Landstraßen, ehe wir eine Gegend erreichten, die mir bekannt vorkam: Dwergte.

Im Sommer kamen mein Vater und ich hier ab und zu zum Baden an den See, der ganz in der Nähe war. Wir fuhren sogar am See vorbei und dann auf die Hauptstraße. Tausende Erinnerungen schossen mir durch den Kopf. Erinnerungen an eine Zeit, in der ich noch so unbeschwert gelebt hatte.

Nach etwa einer Viertelstunde bog der Kerl von der Hauptstraße ab und wir fuhren eine Zeit lang über eine einsame Landstraße. Als wir dann das Ende der Straße erreicht hatten, hielt er vor einem großen grauen Gebäude an. Davor stand ein Schild mit der Aufschrift: Herzlich Willkommen im Läresson Internat.

Doch anstatt auf dem Parkplatz anzuhalten, fuhren wir weiter in einen Hinterhof. Dort wurden wir von einer Frau erwartet, die ich auf Mitte Vierzig schätzte.

Ohne sich um mich zu kümmern, stieg der Mann aus, holte meinen Koffer und den Rucksack aus dem Auto und trug alles zu der Frau. Nachdem er die Sachen abgestellt hatte, umarmte er sie und gab ihr einen Begrüßungskuss.

Das musste wohl die Schulleiterin sein, aber diese vertraute Begrüßung …

Auch wenn ich absolut kein Bock auf dieses Internat hatte, musste ich zugeben, dass es hier irgendwie gemütlich aussah. Überall im Hinterhof waren kleine Blumenbeete, die schön bunt und gepflegt aussahen. Der Hof wurde durch einen hohen Zaun begrenzt, auf dem sich ganz oben Stacheldraht befand. Dahinter lag ein Wald.

Weil ich mich neugierig umsah, bemerkte ich erst gar nicht, dass ich beobachtet wurde. Als der Mann mich zu sich und der Frau winkte, setzte mein Herz für einen Moment aus. Ich holte noch einmal tief Luft bevor ich ausstieg. Mit wackeligen Beinen, aber hocherhobenem Kopf, stolzierte ich zu ihnen.

Die Frau hielt mir die Hand hin und lächelte freundlich, obwohl es auf mich irgendwie unecht wirkte.

»Hallo Clarissa, willkommen an der Läresson. Mein Name ist Frau Lamin. Ich bin die Direktorin. Ich schätze mal, du hast schon von mir gehört?«

Ich nickte ihr stumm zu. Meine Hände behielt ich bei mir, anstatt sie ihr zu geben. Allerdings war ich höflich genug, ihr ins Gesicht zu blicken und seltsamerweise kam sie mir irgendwie vertraut vor. Ihre braungrünen Augen erinnerten mich an jemanden, ich wusste nur nicht an wen. Doch ihre grauen Locken, die ihr bis auf die Schultern fielen, passten nicht zu ihrem jugendlichen Gesicht.

»Ich werde dir gleich dein Zimmer zeigen, wo du dein Gepäck abstellen kannst und dann kannst du auch schon sofort in den Unterricht.«

Ihre Stimme war nun bedeutend kühler, doch das war mir egal. Passte eh viel besser zu ihr. Außerdem war ich stolz darauf, ihr nicht meine Hand gegeben zu haben. So glaubten die beiden vielleicht, dass ich nicht so hilflos war, wie ich mich fühlte.

»Sehr gesprächig ist die Kleine ja nicht«, wandte sie sich wieder an dem Mann, der nur die Schultern zuckte.

Die Frau atmete einmal tief ein, setzte erneut ihr falsches Lächeln auf und drehte sich wieder zu mir.

»Kommst du Clarissa? Der Unterricht hat schon seit zehn Minuten begonnen.«

Ich kopierte ihr unechtes Lächeln. »Sicher.«

Der Mann ohne Namen gab dieser Lamin wieder einen Kuss auf die Wange.

»Beeil dich, sonst sieht dich noch jemand«, flüsterte sie ihm zu und schob ihn von sich weg.

Ich hatte es trotzdem gehört und fragte mich, was so schlimm daran wäre, wenn jemand mitbekam, dass er sich hier herumtrieb. War er hier etwa schon bekannt, oder sogar auf der Flucht? Wundern würde es mich nicht.

Der Mann stieg ohne sich von mir zu verabschieden, ins Auto und fuhr davon. Frau Lamin öffnete eine Tür und machte eine auffordernde Handbewegung, und ich folgte ihr ins Innere des Gebäudes.

Ich staunte nicht schlecht, als wir die Eingangshalle betraten. Sie war riesig. Der helle Holzboden harmonierte mit der weißen Tapete, an der ein violettes Muster entlangführte. Die Gestaltung ähnelte eher einem Schloss als einer Schule und sah einfach prachtvoll aus. Hätte ich nicht diesen gruseligen Auftrag gehabt, würde ich mich hier vielleicht sogar wohl fühlen, kam es mir in den Sinn.

»Das ist das Forum. Du kannst dich hier in der Pause aufhalten, wenn es mal regnet«, teilte mir Frau Lamin mit.

Rechts und links vom Forum führten zwei große weiße Treppen ins obere Stockwerk.

»Die linke Treppe führt zu den Schlafzimmern der Jungs und die rechte zu denen der Mädchen. Übrigens, der Gang dahinten, zwischen den Treppen, führt zu den Klassenräumen, der Sporthalle und der Cafeteria.« Frau Lamin wandte sich der rechten ziemlich steil wirkenden Treppe zu. »In jedem Stock sind achtzig Zimmer.« Die Schulleiterin setzte ihre Führung fort, während ich mich mit dem schweren Koffer abmühte. Es war eine ganz schöne Herausforderung, den Koffer die lange Treppe hinaufzuschleppen und auch noch den Rucksack auf dem Rücken zu haben, ohne Hilfe, denn Frau Lamin stöckelte vor mir her, ohne mein Stöhnen zu beachten.

»Du hast Zimmer 316 im dritten Stock.«

»Wie viele Stockwerke gibt es denn?«, keuchte ich.

»Drei plus Erdgeschoss.«

»Gibt es keinen Fahrstuhl?« Ich blieb erschöpft stehen, um kurz Pause zu machen.

Frau Lamin setzte erneut ihr falsches Lächeln auf. »Siehst du etwa einen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Damit ist die Frage dann wohl beantwortet.«

Als wir endlich im dritten Stock angekommen waren, mussten wir durch einen langen Gang, der mit den vielen Türen wie ein Hotelflur aussah. Vor der Zimmernummer 316 holte Frau Lamin aus ihrer Rocktasche einen Schlüssel heraus und schloss die Tür auf.

»Stell dein Gepäck rein und komm dann wieder raus. Sachen einräumen kannst du später noch. Jetzt müssen wir in den Unterricht. Bis zu deinem Klassenraum werde ich dich noch begleiten.«

Gehorsam stellte ich meinen Koffer und Rucksack ins Zimmer und sah mich rasch um. Es war zwar nicht besonders groß, sah aber ganz gemütlich aus. Es war alles da. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Schrank. Durch eine Tür konnte ich sogar ein kleines Badezimmer mit einem Waschbecken und einer Toilette ausmachen.

Trotzdem hätte ich es lieber gegen mein schäbiges Schlafzimmer zu Hause eingetauscht.

»Die Duschen sind am Ende des Flures.«

Die Direktorin hielt mir den Schlüssel hin.

Nachdem ich abgeschlossen hatte, machten wir uns auf den Weg zu meinem Klassenraum.

»Du hast in der ersten Stunde Biologie bei Frau Rehmer. Sie weiß Bescheid, dass wir dich heute erwarten. Ach ja, und komm heute nach der sechsten Stunde ins Lehrerzimmer, damit du deine Schulbücher abholen kannst.«

Wieder sagte ich nichts, was sie glaube ich etwas wütend machte. Aber auch das war mir egal.

»So, da sind wir.« Sie blieb vor einer roten Tür stehen und als sie klopfte, rutschte mir mein Herz fast in die Hose.

»Herein«, ertönte es hinter der Tür.

Mein Körper fing an zu beben und ich schwitzte noch mehr, als gerade beim Kofferschleppen.

Frau Lamin öffnete die Tür und wir betraten das Klassenzimmer.

»Guten Morgen, Frau Lamin«, sangen die Schüler im Chor, während von ihr nur ein knappes und wenig freundliches Guten Morgen zurückkam.

»Ich habe euch jemanden mitgebracht.«

Alle Augen richteten sich auf mich und ich sah schnell zu Boden. Ich erwartete sofort Gelächter oder zumindest Getuschel, schließlich kannte ich es nicht anders, aber nichts dergleichen geschah.

Trotzdem blickte ich auch weiter nicht auf.

»Komm doch bitte zu mir«, hörte ich die Lehrerin sagen und wagte es, sie jetzt doch anzusehen. Sie winkte mich zu sich. Dabei lächelte sie und es wirkte ehrlich. Sie war vielleicht Anfang fünfzig, sah aber trotzdem hübsch und vor allem irgendwie gütig aus. Das Gegenteil von Frau Lamin.

Ihre langen roten Haare fielen ihr locker um die Schultern und sie musterte mich interessiert aus ihren blaugrauen Augen, während ich nervös zu ihr an die Tafel trat.

»Gut, ich verabschiede mich dann mal«, meinte Frau Lamin und verließ den Raum.

»Ich bin Frau Rehmer, deine Biologie- und Erdkundelehrerin«, stellte sich die Rothaarige vor und schüttelte mir sogar die Hand.

»Willst du dich vielleicht auch kurz der Klasse vorstellen?«

Nein, mit Sicherheit nicht!

Ich nickte und richtete meinen Blick tapfer auf die Schüler. Wer von den Jungs war wohl dieser Cody? Falls er überhaupt in meine Klasse ging.

Entschlossen holte ich tief Luft. »Ich heiße Clarissa Sommer und bin siebzehn Jahre alt.« Das war alles, was mir einfiel.

Fünfzehn neugierige Augenpaare musterten mich erwartungsvoll, was meinen Puls ziemlich in die Höhe schießen ließ.

»Schön Clarissa, und wo kommst du her und wieso bist du hier?«, half mir Frau Rehmer.

»Ich komme aus Fahrendsberg und bin hier, weil … äh, weil …« Unsicher starrte ich wieder den Fußboden an und ballte meine rechte Hand zur Faust. »Ich bin hier, weil mein Vater meinte, dass ich meine Noten aufbessern sollte«, log ich schließlich.

»Und was machst du so in deiner Freizeit?«

Das war leicht. »Ich zeichne gern.«

»Eine schöne Sache, aber nur solange du dafür nicht meinen Unterricht nutzt, so wie Cody das immer macht, nicht wahr, Cody?«, sagte sie in einem mahnenden, aber doch freundlichen Ton und sah dabei zu einem Jungen hinüber, der seinen Bleistift gerade in diesem Augenblick über einem Blatt Papier schweben ließ. Sein Tischnachbar, stupste ihn mit seinem Ellenbogen leicht in die Rippen. Als der seinen Blick hob, wirkte er ziemlich desinteressiert.

Währenddessen hoffte ich, dass niemand mitbekam, dass ich knallrot geworden war. Der Typ sah, um es in einem Wort zu beschreiben, göttlich aus. Seine kurzen, fast schwarzen Haare, umschmeichelten sein kantiges Gesicht, und seine wunderschönen dunkeln braunen Augen verursachten sofort ein heftiges Kribbeln in meinem Magen.

»Dann setz dich doch bitte dort hinten hin, Clarissa. Neben Laura.«

Frau Rehmer zeigte auf einen freien Stuhl neben einem etwas korpulenten Mädchen mit roten Locken, das eine große Nerdbrille trug.

So geräuschlos wie möglich, schlängelte ich mich zu dem Platz.

Gleich nachdem ich mich gesetzt hatte, verirrte sich mein Blick wieder zu diesem Cody. Er war ziemlich groß und seinem muskulösen Körperbau nach, musste er viel Sport treiben. Jedenfalls hatte er das typische Aussehen eines Mädchenschwarms, wie man es aus amerikanischen High-School-Filmen kannte. Nur noch heißer.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich es erst gar nicht schnallte, dass wir Augenkontakt hatten, vielleicht lag es daran, weil er keine Miene verzog.

Mit glühenden Wangen wandte ich mich hastig ab. Zur Ablenkung wollte ich meine Sachen herausholen, nur hatte ich gar keine dabei. Nicht mal eine Tasche. Seufzend wandte ich mich wieder nach vorn. Doch auch den Rest der Stunde, konnte ich nicht verhindern, dass ich den Jungen immer wieder ansehen musste. Und mit jedem weiteren Blick brannte sich immer mehr die bittere Erkenntnis in meinen Kopf, dass ich niemals eine Chance bei ihm haben würde.

Ich verwettete insgeheim sogar meinen Zeichenblock darauf, dass er schon eine Freundin hatte. Oder mehrere?

Kapitel 5

 

Nach der sechsten Stunde suchte ich verzweifelt das Lehrerzimmer, um meine Bücher abzuholen. Mit meinen Gedanken war ich allerdings immer noch ganz woanders. Sie wechselten ständig zwischen meinem Vater und Cody hin und her.

Es war ziemlich ungewohnt auf den Schulgängen nicht doof angeguckt oder Psycho genannt zu werden. Hätte in mir nicht so ein Gefühlschaos getobt und ich nicht diesen bekloppten Auftrag gehabt, hätte ich mir sogar gut vorstellen können, hier glücklich zu werden.

Ich traute mich sogar, jemanden nach dem Weg zu fragen, um nicht weiter sinnlos herumzuirren. Als mir ein blondes Mädchen entgegenkam, von der ich glaubte, sie ginge in meine Klasse, sprach ich sie an. »Ha-hallo, ich bin neu hier und suche das Lehrerzimmer«, stotterte ich.

»Ja und?«

»Könntest du mir vielleicht sagen, wo es ist?«

»Im Schulgebäude.«

Super. Vertraue nie wieder auf dein Gefühl, Lissa.

»Okay, aber wo genau?« Mein erwartungsvoller Blick ruhte auf ihrem genervt aussehenden von Schminke übermaltem Gesicht.

»Wo? Seh ich etwa aus wie google maps?«, zickte sie.

»Nein … ähm … schon gut, ich werde es schon finden.« Was für eine Bitch! Hätte ich sie mal lieber nicht gefragt. Und so eine ging auch noch in meine Klasse.

Hastig huschte ich an ihr vorbei. Ich suchte lieber allein weiter. Irgendwann würde ich das Büro schon finden.

Nachdem ich schon gefühlte zwanzig Kilometer durch die Schule gelaufen war, stand ich endlich vor einer Tür, auf der Lehrerzimmer stand. Als ich meine Hand schon auf der Klinke hatte, ging die Tür auf und Frau Rehmer stand vor mir.

»Ah, Clarissa, du bist bestimmt wegen deiner Bücher hier.«

Ich nickte.

»Schön, dann komm mal mit.«

Es war fast unmöglich, mit ihr Schritt zu halten, als sie das Lehrerzimmer mit dem langen Tisch und einer Teeküchenecke durchquerte. Für ihr Alter hatte sie nämlich ein ziemliches Tempo drauf.

Wir betraten den Raum, der hinter dem Lehrerzimmer lag, eine Art Lager. Aus einem der Regale nahm sie einen Stapel Bücher und übergab ihn mir. Auf dem obersten Buch, einem Geschichtsbuch, klebte ein Memozettel mit meinem Namen.

»Kannst du die alle tragen?« Sie sah mich besorgt an.

»Ja, wird schon gehen«, murmelte ich und biss die Zähne zusammen. Die zehn Bücher waren nämlich schwerer als ich mir eingestehen wollte.