Clarissa - Traue niemandem (Band 3) - Doreen Köhler - E-Book

Clarissa - Traue niemandem (Band 3) E-Book

Doreen Köhler

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Beschreibung

Clarissa ist endlich am Ziel. Sie bekommt die Möglichkeit, ihren Vater zu befreien. Wird es ihr gelingen oder ist es schon zu spät? Als dann auch noch ein folgenschwerer Angriff auf die Takais verübt wird, ist Codys Vater gezwungen, als Stammesoberhaupt abzudanken. Allerdings scheint der neue Anführer eigene Ziele zu verfolgen. Um ihm zuvor zu kommen und vielleicht auch den Dämonenwolf-Fluch zu brechen, müssen Clarissa und Cody den legendären Sonnenkelch finden. Auf einer geheimnisvollen Insel, auf der er versteckt sein soll, kommt es zu einer Begegnung, mit der die beiden nicht gerechnet haben … »Clarissa – Traue niemandem« ist das spannende Finale der Romantasy-Dämonenwolf-Trilogie der Fantasyautorin Doreen Köhler

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Seitenzahl: 435

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Doreen Köhler

 

Clarissa

Traue niemandem

 

Impressum

 

Ebook-Konvertierung und Titelbildgestaltung

© T. C., Tomfloor Verlag

Cover: lizensiertes Bildmaterial

Adobe Stock und Shutterstock

 

ISBN 9783964640376 (epub)

ISBN 9783964640383 (mobi)

 

ISBN der gedruckten Ausgabe 9783964640369

 

Tomfloor Verlag

Thomas Funk

Alex-Gugler-Straße 5

83666 Waakirchen

https://tomfloor-verlag.com

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist

urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung,

Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der

Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de

abrufbar.

 

 

 

Nimm mich mit

 

Folgst du mir, wenn ich dich leite,

durch die Nacht zum Morgengrauen?

Leg deine Zweifel beiseite

und fang an mir zu vertrauen.

 

Lass mich an deinen Geheimnissen teilhaben.

Bei mir sind sie gut aufbewahrt.

Ich helfe dir, die Lasten zu tragen,

und kämpfe mich mit dir durch die Gegenwart.

 

Warum verrätst du mir dein Geheimnis nicht?

Hör auf mit der ganzen Herumrederei.

Nun rück endlich mit der Wahrheit ans Licht.

Keine Scheu, denn ich bin auch nicht fehlerfrei.

 

Lass uns gegen die Intrigen angehen,

statt eine zu sein.

Hör auf dich von mir wegzudrehen

Und weihe mich mit in die Wahrheit ein.

Kapitel 1

 

Auch wenn das Zuhause der Takais unter der Erde in einer Höhle lag, hörte man von draußen trotzdem die plätschernden Regentropfen, und erst recht das donnernde Gewitter, das mit hellzuckenden Blitzen durch die Bäume tobte.

»Müsstest du vor Aufregung nicht eigentlich durch das ganze Zimmer springen?«, fragte Cody und lachte unsicher.

Wir lagen in seinem Bett und redeten über unser riskantes Vorhaben, dass wir für heute Nacht geplant hatten. Er lag auf dem Rücken und ich auf der Seite, meinen Kopf an seinen Brustkorb geschmiegt.

»Schon … aber ich habe auch Angst, verstehst du? Wer weiß, ob … ob mein Vater überhaupt noch am Leben ist.« Der letzte Teil des Satzes ging in meinem jämmerlichen Wimmern fast unter.

Nachdem wir herausgefunden hatten, dass Codys Vater eigentlich schuld daran war, dass Darko und Marie Lamin hinter Cody her waren, weil der Dämonenwolf in ihm den kleinen Sohn der Lamins getötet hatte und wir auch die Verbindung von Jessica und ihrer Mutter Nina zu Darko aufgedeckt hatten, hatte sich einiges geändert. Mandy, wie Jessica tatsächlich hieß, war Darkos Tochter. Ihre Mutter Carla hatte sich unter falschem Namen als Nina mit ihr bei den Takais versteckt. Beide hatten große Angst, dass auch die anderen Takais herausfanden wer sie waren, und sie aus dem Stamm ausschließen würden. Bisher wussten nur Atostros, Abbygail, Cody und ich darüber Bescheid, und wenn es nach mir ging, würde das auch erstmal so bleiben. Jessica würde zwar nie meine beste Freundin werden, aber jetzt wo ich ihr Geheimnis kannte, konnte ich ihr leichter verzeihen. Das verwunderte mich. Wie war es möglich, dass ich Jessica nun mehr vertraute, nachdem ich erfahren habe, dass sie die Tochter von Darko war? Ich bezweifelte, dass es daran lag, dass ich Maries Nichte war und wir so nun gezwungener Maßen eine Verbindung hatten. Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass sie mein neuer Hoffnungsschimmer war.

Nach langem Hin und Her konnte sie ein Treffen mit ihrem Vater arrangieren, der sie aufgespürt hatte, nachdem Marie Lamin Direktorin im Läresson-Internat geworden war. Er hatte sie ständig mit Telefonaten genervt, doch Jessica wollte eigentlich kein Kontakt mehr mit ihm, was ich auch gut nachvollziehen konnte. Schließlich war er nicht nur der Entführer meines Vaters, sondern auch ein geisteskranker Psychopath. Deswegen tat mir Jessica wirklich leid, dass wir sie dazu gedrängt hatten, ein Treffen mit ihm auszumachen. Doch um meinen Vater zu retten, wäre ich sogar über Leichen gegangen.

»Hey«, meinte Cody, während er mir eine Träne von der Wange wischte. »Egal, was heute Nacht auch passieren wird, du bist nicht allein.«

Auch wenn ich ihm mehr als nur vertraute und sich das Gefühl seiner streichelnden Hand auf meinem Rücken angenehm anfühlte, verjagte es noch lange nicht das ungute Gefühl aus meinem Bauch.

»Danke … aber, was wenn uns Darko und Marie wieder einen Schritt voraus sind? Ich meine, können sie sich nicht denken, dass wir beide dabei sind und meinen Vater retten wollen? Schließlich sind sie nicht dumm. Wird Darko nicht Verdacht schöpfen, dass seine Tochter so plötzlich doch Interesse zeigt, sich mit ihm zu versöhnen?«

»Vielleicht erwarten sie uns wirklich, aber wir sind stärker!« Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Außerdem haben wir alles gut durchdacht. Fassen sie dich an, verletzt du sie mit dem Taschenmesser, das ich dir heute gegeben hab. Den Rest erledigen dann wir.«

Ich atmete tief ein und aus. Danach schloss ich die Augen.

 

Als ich aufwachte, hörte ich ein lautes Brummen, das ich dem Motor eines Autos zuordnete.

Als ich dann meine Augen öffnete, erkannte ich, dass ich recht hatte. Ich lag auf der Rückbank eines Autos und mein Kopf lag auf Codys Beinen.

Gähnend richtete ich mich auf und versuchte noch halb verschlafen, die Situation zu erfassen.

»Ich wollte dich vorhin nicht wecken«, meinte er zu mir, als ich ihn müde anblinzelte. »Deswegen hab ich dich auf den Rücksitz gelegt.«

Als ich Jessica auf dem Beifahrersitz erblickte, schaute ich in den Innenspiegel, um den Fahrer zu sehen. Zwei dunkle Augen funkelten mich zusammengekniffen an. Ah, eine Fahrerin, denn es waren unverkennbar Abbygails.

»Abbygail?«, fragte ich.

»Sie musste uns fahren«, erklärte Jessica, die sich zu mir umgedreht hatte. »Ich kann kein Auto fahren und Cody wollte sich um dich kümmern.«

Ich nickte, als ich plötzlich durch die Windschutzscheibe geblendet wurde. Ein Auto mit Fernlicht kam uns entgegen gerast und blendete so stark, dass ich kurz die Augen schloss. Als ich meine Augen wieder aufschlug, war das Licht noch intensiver und das Auto gefährlich nah. Es fuhr mit vollem Karacho auf unserem Fahrbahnstreifen auf uns zu und machte keine Anstalt, ihn zu verlassen.

Da Abbygail sich wegen der extremen Blendung die Hand vor die Augen hielt, war ich nicht sicher, ob sie es bemerkte. Ich versuchte noch, sie zu warnen, doch da war es schon zu spät. Der Aufprall brachte unseren Wagen ins Schleudern und wir flogen mit mehreren Umdrehungen über die Fahrbahn. Die Windschutzscheibe zerbrach, woraufhin die Scheiben im Auto herumflogen. Ich bekam zu spüren, wie sie über meine Haut kratzten und schmerzende Schrammen hinterließen. Dazu kam das Geschrei der anderen hinzu, das meine Ohren durchbohrte. Auch mein Mund war auf und ich versuchte nach Leibeskräften zu schreien, aber es kam kein Ton heraus.

Dann wurden die Schreie und das Knallen und Scheppern leiser und die Bewegungen des Wagens langsamer, bis wir schließlich komplett stillstanden.

Völlig benommen öffnete ich die Augen. Ich war nicht mehr im Auto, sondern mitten auf der Fahrbahn. Alles schmerzte. Ich hatte nicht mal Kraft, mich vom Boden abzustützen, aber wenigstens konnte ich den Kopf bewegen. Mein Blick fiel auf die hintere Beifahrertür, die weit offen stand. Ich musste rausgeschleudert worden sein, aber anscheinend war ich bewusstlos gewesen, denn ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.

Vorsichtig stützte ich mich mit meinen verletzten Händen auf dem Asphalt ab und sammelte mich erst mal auf den Knien. Ich fuhr mir mit meinen zitternden Fingern über die Wangen und wischte die Tränen weg. Als ich jedoch meine Hände ansah, erkannte ich, dass es keine Tränen waren, die mir da runterliefen, sondern Blut.

Ich schreckte auf und stolperte auf wackelnden Beinen vorwärts zum Wagen, um mich dann darauf abzustützen. Ich wollte nicht gucken. Die Angst überfiel mich und hielt mich davon ab, einen Blick in den Wagen zu riskieren. Doch meine Hoffnung drängte mich. Vielleicht lebten ja noch alle und sie brauchten nur Hilfe.

»Cody?«, krächzte ich. Ich senkte meinen Kopf und schaute durch die Lücken, wo einst die Fenster gewesen waren. Der Rücksitz war leer, während Jessica und Abbygail leblos auf den vorderen Sitzen lagen. Sie waren tot. Gar keine Frage. Wer in so einer verrenkten Position lag und mit so viel Blut besudelt war, konnte nur tot sein.

Erschrocken fuhr ich zurück, stolperte aber über meine eigenen unkoordinierten Füße und landete auf meinem Hintern. Meine Kehle war so zugepresst, dass ich keinen Ton herausbrachte. Nur ein jämmerliches Krächzen nach Luft, was durch die Gegend schallte.

Von dem anderen Wagen war nichts zu sehen. Eigentlich müsste er hier irgendwo im Feld liegen, aber das tat er nicht.

»Clarissa!« hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Sie klang ernst.

Mit letzter Kraft rollte ich mich auf die andere Seite, um dann halbwegs erleichtert aufatmen zu können. Es war Cody. Unversehrt stand er vor mir, mitten auf der Straße.

»Du lebst«, wisperte ich erleichtert.

»Du aber nicht mehr lange«, antwortete er kalt.

Entsetzt sah ich ihn an. »Was?«

Ein schiefes Grinsen erschien auf seinen Lippen. Doch dann bleckte er seine Zähne, die langsam eine spitze Gestalt annahmen. Riesengroße Vampirflügel erhoben sich hinter seinem Rücken und deckten das Laternenlicht ab. Während er dabei war sich in einen Dämonenwolf zu verwandeln, lachte er so hämisch, was gar nicht zu ihm passte.

Ich war wie gelähmt und wusste, dass ich ihm sowieso nicht entkommen würde. Also legte ich meinen Kopf in meine Arme und erwartete, was kommen musste …

 

Das nächste, was ich wahrnahm, war aber kein Schmerz.

Ich sah zwar nichts, doch ich spürte es. Es war ein angenehmes Gefühl. Eine unsichtbare Kraft umschloss mich und wärmte mich. Sie heilte meine Wunden. Es fühlte sich so gut an, dass ich mich nicht bewegen wollte, aus Angst, es würde aufhören. Fühlte sich so das Sterben an?

Kaum, dass ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, verschwand das wunderbare Gefühl wieder. Stattdessen durchbohrte etwas meinen Körper, was mir unbeschreibliche Schmerzen zuführte. Und dann spürte ich auf einmal wieder nichts. Es herrschte Stille. In mir und um mich herum.

Plötzlich prallte ein heller Lichtstrahl auf meine Augen, weshalb ich sie nur schwer öffnen konnte. Aber als es mir gelang, schaute ich direkt in das grelle Licht einer Lampe. Ich wollte meine Augen mit der Hand abdecken, doch es gelang mir nicht. Ein Gurt verhinderte die Bewegung.

Als ich bemerkte, dass ich auf einem Labortisch lag und meine Gliedmaßen von Gurten gefesselt waren, bekam ich Panik. Neben mir lag eine Kiste mit Sägen, Messern und allen möglichen Instrumenten, die man so brauchte, um jemanden zu … sezieren.

»Nein«, schrie ich.

War das eine Nachmache von Saw? Würde gleich auch ein Fernseher angehen, wo diese Puppe erscheinen und mir meine Aufgabe erklären würde, die meine einzige Überlebenschance wäre?

»Hallo Lissa«, hörte ich jemanden plötzlich vom Fußende sagen.

Ich hob meinen Kopf ein wenig und sah in zwei finstere Augen, die mich scharf musterten. Als er seinen Mundschutz runterzog, waren seine Mundwinkel zu einem schelmischen Grinsen verzogen.

Darko!

»Keine Sorge«, meinte er lachend. »Ich werde mit dir nur das machen, womit dein Vater schon durch ist.«

Je näher er kam umso mehr sträubte ich mich, zerrte an den Gurten, schrie nach Leibeskräften und versuchte mich loszumachen. Vergebens …

Er nahm eine Kettensäge aus der Kiste und zog seinen Mundschutz wieder bis zur Nase, was ihn aber nicht vom Lachen abhielt.

»Nein«, schrie ich wieder. Doch es hatte keinen Sinn. Ich konnte machen was ich wollte. Es würde nichts nützen. Ich würde nicht entkommen. Es war hoffnungslos.

Er ließ die Kettensäge laufen und kam mit den furchteinflößenden Sägeblättern immer näher an meinen Bauch.

Kapitel 2

 

»Lissa.«

Ich zuckte zusammen, jammerte und wehrte mich immer noch.

»Lissa«, hörte ich wieder jemanden meinen Namen sagen, und es war nicht Darkos Stimme

Ich öffnete die Augen. Ein kleines Licht brannte, und ich erkannte, dass ich mich in Codys Zimmer befand und mich immer noch wie eine Verrückte aufführte. Also versuchte ich mich zu beruhigen und meine Atmung zu normalisieren.

Cody hielt meine Handgelenke noch immer fest in seinen Händen und lockerte den Griff nun. »Alles gut?«, fragte er besorgt, woraufhin ich nickte.

»Nur ein Albtraum«, erklärte ich und zwang mich zu einem Lächeln.

Bevor er antworten oder mich ausfragen konnte, klopfte es. Die Tür ging leise auf und Jessica spähte vorsichtig herein.

»Seid ihr fertig?«, flüsterte sie.

Wir nickten beide gleichzeitig. Schnell standen wir vom Bett auf, schlüpften in unsere Schuhe und nahmen unsere Jacken, während Jessica draußen aufpasste. Danach schlichen wir drei uns zur Leiter und kletterten aus der Höhle. Behutsam drückte ich die Luke wieder nach unten.

Im Wald war es stockduster und verdächtig still. Man hörte nicht einmal die Grillen zirpen. Nur unsere Atemzüge, die sich mit dem Geräusch unserer Schritte abwechselten, während wir zum Auto liefen. Wir hatten den Wagen extra weiter weg geparkt, damit niemand von den Takais uns hörte und überraschte. Den fünfzehn minütigen Fußweg über sagte keiner von uns ein Wort. Jeder war in seine eigenen Gedanken vertieft. Die Anspannung war greifbar.

Als wir an dem Parkplatz ankamen, wo Cody Brandons Auto geparkt hatte, das er sich »ausgeliehen« hatte, erwartete uns eine Überraschung. Codys Schwester hockte auf der Motorhaube.

»Abbygail?«, fragte ich mit zitternder Stimme. Es war vorhin nur ein Traum gewesen, aber ich bekam Angst, dass es sich zu einem Déjà-vu entwickeln könnte. Dann wäre es eine Mischung aus Saw und Final Destination.

Notiz an mich selbst: Keine Horrorfilme mehr!

»Ich freu mich auch euch zu sehen«, sagte sie und erhob sich. »Aber heben wir uns die Freude doch lieber für nachher auf.«

»Was machst du hier, Abby?« Cody, der eigentlich vorgehabt hatte zu fahren, funkelte seine Schwester böse an.

»Du hast noch keinen Führerschein, schon vergessen, Bruderherz? Also muss euch ja irgendjemand fahren«, meinte sie schulterzuckend.

»Aber woher weißt du was wir vorhaben?« Er warf Jessica einen bösen Blick zu, die jedoch den Kopf schüttelte und die Hände hob.

»Reg dich ab, Cody und seid nächstes Mal einfach ein bisschen vorsichtiger, wenn ihr was plant. Ich hab das schon auf 'ne Meile gewittert. Was ist jetzt? Fahren wir?«

Widerwillig warf Cody ihr den Autoschlüssel zu, den sie geschickt auffing. Stumm machte Jessica die Beifahrertür auf und nahm Platz, während Cody und ich uns nach hinten setzten.

»Was hast du deinem Vater eigentlich gesagt, warum du ihn jetzt auf einmal doch treffen willst?«, fragte Abbygail Jessica, als wir schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt hatten.

Die warf Codys Schwester erst einmal einen bösen Blick zu, bevor sie sagte: »Nenn ihn nicht meinen Vater. Sag einfach Darko.«

Abbygail verdrehte die Augen. »Dann halt Darko. Also, was hast du Darko gesagt?«

Jessica zögerte kurz. »Ich hab gesagt, dass meine Mutter mir immer den Kontakt zu ihm verboten hätte«, antwortete sie mit bebender Stimme, »aber da ich jetzt ja achtzehn geworden bin und selber über mich bestimmen kann …«

»Okay, verstanden«, unterbrach Abbygail, »aber was hast du gesagt, warum du dich nachts mit ihm treffen willst?«

»Die Uhrzeit hat sogar er vorgeschlagen.«

Codys Schwester warf Jessica einen kurzen, aber sehr kritischen Blick zu, bevor sie wieder auf die Straße sah.

Doch ihr Blick hatte gereicht, dass Jessica sich unwohl fühlte und am liebsten im Sitz versunken wäre.

»Er meinte, dass er sehr weit abseits in einer stillgelegten Fabrik wohnt und keiner wissen darf, dass das Gebäude bewohnt ist«, meinte sie leise.

»Klingt merkwürdig, wenn ihr mich fragt.« Sie sah Cody und mich durch den Rückspiegel an. »Wieso haben die sich ausgerechnet eine verlassene Fabrik ausgesucht?«

Cody und mir hatte Jessica das alles schon erzählt, aber ich konnte Abbygails Misstrauen nachvollziehen. Uns erging es nach ihrer Geschichte nicht anders.

»Er ist Dämonenwolfjäger, hat Lissas Vater als Geisel und ist zudem noch Wissenschaftler. Jemand, der kranke Experimente durchführt, will ja wohl kaum von jemandem entdeckt werden. Also ist doch wohl klar, dass er nicht in einem beliebigen Haus mit Nachbarschaft wohnt, oder nicht?«, meinte Cody.

Ich befürchtete, dass er mit dieser Erkenntnis mehr seine eigenen Bedenken, als die seiner Schwester, wegzufegen versuchte.

Seine Schwester nickte mit zusammengepressten Lippen. »Wow, Bruderherz. Jetzt musst du nur noch normale Fragen von rhetorischen Fragen unterscheiden können und du bist ein Genie«, meinte sie ironisch.

Bevor es zwischen den beiden wieder eskalierte, stieß ich Cody an und warf ihm einen warnenden Blick zu. Es half. Er klappte den Mund wieder zu und drückte stattdessen meine Hand.

Die restliche Autofahrt verbrachte Cody statt mit Streiten, damit seine Schwester in unseren Plan einzuweihen, während ihr Jessica den Weg beschrieb.

Ich klinkte mich aus ihrer Unterhaltung aus, versank in meine Gedanken und bereitete mich auf das vor, was uns bevorstand – die Rettung meines Vaters. Hoffentlich ging nichts schief und unser Plan funktionierte. Bei dem Gedanken, meinen Vater gleich vielleicht wieder in die Arme zu schließen, kamen mir die Tränen. Still liefen sie mir die Wange runter.

Cody war der Einzige, der das bemerkte und streichelte meine Hand, die er hielt. Dabei schenkte er mir ein ermutigendes Lächeln, das ich dankbar erwiderte. Ich war so unendlich froh, ihn zu haben. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich schon längst aufgegeben.

Plötzlich war es so weit. Abbygail hielt an.

»Hier wären wir«, sagte sie, klang aber alles andere als cool. Sie sah Jessica an. »Den nächsten Schritt musst du jetzt allein machen. Weiterfahren kann ich nicht. Sonst sehen sie uns vielleicht.«

Doch Jessica schüttelte überraschend den Kopf. »Ich kann das nicht«, jammerte sie und brach in Tränen aus. »Ich hasse diesen Mann!«

Irgendwie bekam ich sogar ein schlechtes Gewissen. Auch wenn sie es von sich aus angeboten hatte, uns zu ihrem Vater zu führen, war mir nicht ganz wohl dabei, denn ich konnte mir vorstellen, was für ein Kampf gerade in ihr tobte.

Doch dann dachte ich wieder an meinen Vater.

»Bitte, Jessica«, flehte ich. »Das ist unsere einzige Chance.« Auch ich musste mit den Tränen kämpfen. »Du hast von deinen Eltern nur deine Mutter und genauso ist das bei mir. Ich habe nur noch meinen Vater und ich brauche ihn, genauso sehr wie er mich. Bitte!«

Sie drehte sich zu mir um und sah mich an. In ihren Augen glitzerten noch immer Tränen, aber schließlich nickte sie. Sie verstand mich und ich war ihr unendlich dankbar.

»Beeilt euch«, sagte sie und stieg aus dem Wagen.

Bevor sie loslief, atmete sie noch einmal tief ein.

»Viel Glück«. riefen wir ihr flüsternd zu.

Danach drehte sich Abbygail zu uns um. »Ihr wisst was ihr zu tun habt?«

Cody und ich nickten.

»Du weißt es hoffentlich auch?«, gab Cody die Frage zurück, woraufhin auch sie nickte.

Also stiegen wir ebenfalls aus. So leise wie möglich schlossen wir die Autotüren und machten uns zu Fuß weiter auf den Weg. Wir folgten noch ein gutes Stück der Straße, ehe wir querfeldein liefen und uns dem Fabrikgelände von der Rückseite näherten. Und als ich dann das riesige Gebäude sah, wurde meine Hoffnung meinen Vater da drin zu finden, immer kleiner. Es war bestimmt fünf Mal so groß, wie ich es mir vorgestellt hatte und sah schäbig und verlassen aus. Und unheimlich, so wie es sich vor dem finsteren Nachthimmel abhob. Unwillkürlich stellten sich mir die Nackenhaare auf. Nein, es sah mehr als nur unheimlich aus.

»Wahnsinn«, staunten auch die Arringtongeschwister.

»Wie sollen wir meinen Vater da drin jemals finden?«, fragte ich panisch.

»Das kriegen wir hin, Lissa. Und wenn wir jeden einzelnen Raum auseinandernehmen müssen.«

»Ey Leute, euch ist aber schon klar, dass Darko damit rechnet, dass Jessica hier nicht alleine aufkreuzt. Wahrscheinlich wollte er sie sogar nur hier haben, damit sie uns zu ihm lockt. Er kann sich garantiert denken, dass wir jetzt gerade genau hier stehen.«

Cody nickte nur. Doch ich hätte mich vor lauter Übelkeit beinahe übergeben. Das Gefühl in meinem Magen wurde immer unerträglicher.

Abbygail zog ihr Handy aus der Tasche, denn Jessica hatte bestimmt schon den Eingang des Fabrikgebäudes auf der anderen Seite erreicht. Sie machte den Lautsprecher an, damit wir alle mithören konnten. Am anderen Ende war Jessica. Sie hatte ihr Handy natürlich auf stumm geschaltet, sodass wir alles mitbekamen, sie aber nicht versehentlich verrieten.

Wir hörten wie sie von ihrem Vater und meiner Tante begrüßt wurde. Unsicher grüßte sie zurück. Da es so raschelte, vermutete ich, dass sie sich umarmten.

»Schön, dass du uns endlich doch mal besuchen kommst«, sagte Darko freundlich.

Doch in mir löste allein schon seine Stimme einen Brechreiz aus. Unbewusst ballten sich meine Hände zu Fäusten.

Nach einigen weiteren gespielt freudigen Begrüßungssätzen, setzten sie sich ins Wohnzimmer. Jessica wurden Kaffee und Kekse angeboten.

»Wohnt hier eigentlich noch jemand?«, fragte Jessica neugierig.

»Sozusagen«, meinte Marie, ging aber nicht weiter darauf ein.

»Ein paar Helfer«, erklärte Darko jedoch.

»Helfer wofür?«

»Du stellst ganz schön viele Fragen«, stellte Marie in einem gespielt freundlichen Ton fest.

Als nächstes hörte man Geschirrgeklapper. Anscheinend hatte Jessica einen Schluck genommen und ihre Tasse auf einen Untersetzer gestellt. Hoffentlich war der nicht vergiftet. Zuzutrauen war den beiden schließlich alles.

Auch wenn ich nur die Akustik wahrnahm, war es eine komische Atmosphäre. Mein Gefühl versicherte mir, dass Darko und Marie Bescheid wussten. Und Jessika wusste, dass sie es wussten.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Jessica und schluckte hörbar.

Sogar durch den Hörer konnte ich wahrnehmen, dass ihre Kehle wie zugeschnürt war.

»Ach, was«, ließ sich Darko vernehmen und lachte. »Du hast ein Recht darauf. Ich mein, es ist ja schon ziemlich ungewöhnlich sich mit seinem Vater zu treffen, den man seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hat.«

Jessica schluckte wieder, sagte aber nichts. Ich vermutete, dass sie panische Angst hatte, was für mich vollkommen nachvollziehbar war. Ich fand es sowieso überraschend, dass sie das machte. So wie es aussah, war ihr der Stamm mehr als wichtig. Ich hoffte nur, dass sie da auch heil rauskam.

»Bist du denn auch allein hier?«, fragte Marie. Das Misstrauen in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Klar«, meinte Jessica schnell, was etwas zu schnell in meinen Ohren war. Und es klang panisch. »Also, ich meine, ja, bin ich.«

Das klang schon etwas ehrlicher. Aber Lügen gehörte ja eh zu Jessicas Stärken.

»Ich mein ja nur«, forschte Marie weiter. »In der Schule hattest du ziemlich viel Kontakt mit Cody. Ihr saht sehr vertraut miteinander aus. So wirkte es damals zumindest auf mich, als ich noch Direktorin war.«

Wieder ertönte dieses gepresste Schlucken von Jessica aus Abbygails Handy. »Da läuft aber …«

Weiter kam sie nicht, da Darko sie unterbrach. »Ich weiß, aber weißt du auch, was Cody für ein Monster ist?«

Es herrschte Stille. Eine Stille, die mir ewig vorkam und unerträglich war. Bis Jessica endlich antwortete.

»Was meinst du?«, fragte sie unschuldig.

»Komm mit«, meinte er. An den Schritten im Hintergrund hörte man, dass er näher zu ihr kam.

»W-wohin?«

»Ich will dir unser Zuhause zeigen und all deine Fragen beantworten.«

Man merkte ihr Zögern, als auch sie aufstand. Sagen konnte sie nichts mehr. Das hörte man an ihrem schweren Atem.

Auch wenn Jessica oft fies zu mir gewesen war, setzte mein Herzschlag bei der Vorstellung aus, wie sie alleine mit wahnsinnigen Geiselnehmern durch eine Fabrik geführt wurde. Ich malte mir im Schnelldurchlauf die schlimmsten Szenen aus. Wenigstens beruhigte mich der Gedanke, dass sie nur für Blut sorgen musste, um quasi unbesiegbar zu werden.

»Darf ich vorher noch auf Toilette?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Aber natürlich«, meinte Darko in diesem ekelhaft schelmischen Ton.

Nach dieser Sekunde gab es keine Zweifel mehr. Er wusste, dass wir hier waren und er erwartete Cody und mich. Er ahnte, wie unser Plan aussah und er war auf alles vorbereitet. Er würde uns in die Falle locken.

Jessica ließ ihre Tasche mit dem Handy mit Absicht bei Darko und Marie stehen, damit Abbygail, Cody und ich sie belauschen konnten. Ihre Schritte wurden immer leiser, bis sie schließlich ganz verstummten. Danach hörte man ein hektisches Rauschen. Wühlten sie etwa in ihrer Tasche?

Plötzlich hörte das Rascheln auf und es entstand für einen kurzen Moment Stille. Die gleiche unerträgliche Stille wie gerade.

Plötzlich hörte man Darkos schelmisches Lachen aus dem Hörer. Es war so deutlich, dass das nur eins bedeutete. Als nächstes hörte man Atemgeräusche und dann klar und deutlich seine Stimme.

»Denkt ihr ernsthaft, wir wären so dumm? Natürlich haben wir mit euch gerechnet.«

Wir drei sahen uns erschrocken an. Cody nahm Abbygail das Handy aus der Hand und drückte die Stummtaste weg. »Was willst du?«, fragte er scharf.

»Das ist ganz einfach, ich will nur ein bisschen … spielen.«

Das letzte Wort sprach er so fies aus, dass mir das Blut in den Adern gefror.

»Jessica muss euch auch nicht extra ein Fenster auflassen. Ich lade euch ganz offiziell ein. Seht ihr, ich öffne die Tür, den Hintereingang. Da seid ihr doch, nicht wahr?«

Abbygail sah vorsichtig um die Ecke und hob den Daumen. Darko öffnete uns tatsächlich.

»Aber ich warne euch, ihr könnt nur verlieren!« Danach folgte wieder sein widerliches Lachen, in das meine Tante miteinstimmte.

Es verstummte so schnell wie es gekommen war, als eine Tür aufging und sich Jessicas Schritte näherten.

»Hier ist deine Tasche, Liebling«, sagte er und gab seiner Tochter offenbar ihre kleine Handtasche mit dem Handy darin.

Cody legte auf und gab seiner Schwester das Handy zurück.

»Wir müssen trotzdem rein«, sagte er. »Allein um Jessica zu retten.«

Wir nickten zustimmend.

»Gehen wir«, befahl Abbygail angriffslustig.

Kapitel 3

 

Mir wurde nun richtig übel, nachdem Abbygail gerade bestimmt hatte, den Kampf auf uns zu nehmen und direkt in Darkos und Maries Falle zu tappen. Doch auch ich hatte trotz meiner großen Angst nicht die Absicht das Vorhaben abzubrechen.

Ich hätte sogar mein eigenes Leben geopfert, um meinen Vater dort lebendig rauszubekommen. Das war ich ihm mehr als nur schuldig. Fast zwei Jahre war er nun schon in Darkos und Maries Gewalt.

Auch wenn Jessica uns ein Fenster aufgemacht hatte, entschieden wir uns trotzdem für die Hintertür. Vorsichtig drückte Abbygail dagegen, sodass sich der Spalt vergrößerte und wir hindurch konnten. Sie sah uns beide noch einmal abwechselnd an, bevor sie als erste den Mut fasste und hinein ging. Wir folgten ihr in eine riesige Halle, die komplett leer war. Zu beiden Seiten führten Treppen nach oben.

»Also ihr Geschmack was Möbel angeht, lässt echt zu wünschen übrig«, witzelte Abbygail sparsam.

»Pscht«, zischte Cody. »Wir müssen leise sein.«

Seine Schwester verdrehte genervt die Augen. »Reg dich ab. Sie wissen eh, dass wir hier sind. Wozu dann noch tarnen?«

»Sie müssen aber nicht unbedingt erfahren, dass wir tatsächlich diese Tür benutzt haben und wo wir uns gerade befinden«, meckerte er und zeigte keinerlei Verständnis für den Leichtsinn seiner Schwester.

»Da hat er recht«, versuchte auch ich ihr klar zu machen und trat einen Schritt vor. »Die Fabrik ist so groß. Wir können uns bestimmt irgendwie verstecken.«

Sie sah uns beide böse an, bevor sie uns einfach stehen ließ, Sie ging auf die linke Treppe zu und wollte hochgehen. Doch wieder bremste Cody sie, indem er sie am Handgelenk packte.

»Ist das dein Ernst? Wenn du eine Szene aus einem Horrorfilm nachspielen und dich aufteilen willst, dann geh zum Casting. Das hier ist die Realität und die solltest du ernst nehmen, Abbygail. Wir müssen zusammenbleiben.«

»Lass mich los!«, fauchte sie und riss sich aus Codys Griff los.

»Verdammt, Abbygail!«, zischte er. An der Schärfe in seiner Stimme erkannte ich, wie sehr er das Bedürfnis verspürte, seine Schwester anzuschreien. Erneut griff er nach ihrem Arm und hielt sie zurück.

Sie funkelte ihn an. »Wieso bringen wir diese Idioten nicht einfach zur Strecke?«

»Erst mal holen wir Lissas Vater und dann sehen wir weiter, klar?«

Sie sah ihn immer noch böse an, willigte dann aber ein. »Ist ja gut«, brummte sie und hörte auf, gegen seinen Griff anzukämpfen.

Cody sah ihr tief in die Augen, dann ließ er sie los und wir nahmen alle die linke Treppe. Sie brachte uns in einen sehr langen Flur, von dem pro Seite mindestens fünfzehn Türen abgingen.

»Krass«, staunte Abbygail und öffnete die Tür des ersten Raumes. Er war wie die Halle, vollkommen leer. Auch der gegenüberliegende.

»Da haben wir ja noch einige Räume vor uns.« Cody seufzte und folgte seiner Schwester, die schon bei Tür Nummer drei war.

Mein Herz pochte bei dem Gedanken, meinen Vater in einem dieser Räume zu finden. Doch die Angst ließ meine Füße nur schwer voranschreiten. Angst davor, er könnte vielleicht gar nicht mehr …

Nein, hastig verbot ich mir diesen Gedanken. Er lebte noch. Mit Sicherheit.

Wir nahmen uns den nächsten Raum vor, dann den gegenüber und so weiter, aber kein Hinweis auf meinen Vater, nur leere Räume. Also kehrten wir zur großen Halle zurück und nahmen die rechte Treppe. Sie führte uns zu einem großen Tor, dass wir problemlos öffnen konnten. Wir gelangten in eine weitere Halle, die ebenfalls leer war.

Ich fragte mich ernsthaft was Darko gemeint hatte, als er vorhin sagte, er wollte seiner Tochter gerne die Fabrik zeigen. Hier gab es doch nichts.

Wortlos durchquerten wir die Halle und öffneten die Tür am anderen Ende. Der Raum dahinter war dunkel. So dunkel, dass man seine Hand nicht vor Augen sehen konnte.

Ich holte mein Handy raus, um die Taschenlampe an zu machen. Cody und Abbygail machten das Gleiche. Erst jetzt erkannten wir, dass es kein Raum, sondern wieder ein langer Korridor war. Wenn nicht sogar länger, als der den wir schon durchsucht hatten. Diesmal aber ohne Türen.

»Ich mag diese Fabrik nicht«, teilte ich den anderen mit. »Irgendwas stimmt hier nicht.«

»Wem sagst du das?« Cody lachte unsicher.

Als wir am Ende des Korridors angelangt waren, standen wir vor einem Fahrstuhl. Die Tür stand offen. An der Tastatur im Inneren gab es zwei Knöpfe an denen die unschönen Hinweise »Gefängniszellen« und »Folterbereich« angebracht waren.

»Wir nehmen den Folterbereich«, bestimmte Abbygail und wollte den Fahrstuhl betreten.

»Nichts da!« Cody hielt sie zurück. »Die Wahrscheinlichkeit, dass Lissas Vater in einer Gefängniszelle sitzt, ist viel größer. Aber die Frage ist, steigen wir überhaupt in das Ding. Was, wenn das eine Falle ist?«

Bei dem Satz wurden meine Beine ganz schwach, weshalb ich mich an der Wand abstützen musste. War ich bereit? Wir waren da, wo wir immer sein wollten: In Darkos Quartier. Und jetzt verließ mich meine Kraft?

Abbygail hatte sich inzwischen aus Codys Griff befreit. »Scheiß auf Falle«, entschied sie und betrat den Fahrstuhl.

»Komm da raus«, befahl Cody besorgt.

»Also doch aufteilen?«, fragte sie provozierend.

Cody seufzte und sah mich an.

»Lass uns auch einsteigen. Wir müssen meinen Vater finden.«

Er nickte und nahm meine Hand. Als wir neben seiner Schwester im Fahrstuhl standen, hob sie die Hand und ließ ihren Finger über den Knöpfen schweben.

»Jetzt ist nur noch die Frage, wo steigen wir aus?«

»Gefängniszellen«, sagten Cody und ich wie aus einem Mund.

Abbygail runzelte die Stirn. »Denkt doch mal nach. Sie wussten, dass wir kommen. Wäre es da nicht viel wahrscheinlicher, Lissas Vater zu foltern, als ihn bloß in einer Gefängniszelle einzusperren?«

Wir schauten sie beide empört an. So wenig Mitempfinden hätte ich nicht mal ihr zugetraut. Doch dann … »Vielleicht hat sie recht«, murmelte ich erschüttert.

Sie schauten mich beide an. Abbygail überrascht und Cody eher etwas irritiert.

Er stöhnte. »Vielleicht.«

»Geht doch«, meinte Abby zufrieden und drückte den entsprechenden Knopf.

Mit einem mulmigen Gefühl sah ich zu, wie sich die Türen vor uns schlossen.

Allerdings blieben sie nicht lange zu.

Verwirrt betrachtete ich das Schild, dass in dem Stockwerk hing, in dem der Fahrstuhl angehalten hatte. Wieso stand da »Gefängniszellen«, Abbygail hatte doch den anderen Knopf gedrückt?

Ich wollte sie gerade danach fragen, als ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen hörte. Mein Vater!

Ohne nachzudenken, sprang ich aus dem Fahrstuhl. »Papa«, rief ich und wollte zu ihm hin. In dem Moment war mir alles andere egal.

»Lissa, warte!« rief Cody panisch.

Ich drehte mich um, sah wie er schnell aus dem Fahrstuhl raus wollte, jedoch nicht konnte, weil sich die Türen schlossen.

»Bleib wo du bist!«, war das Letzte, was ich hören konnte, bevor der Fahrstuhl nach unten fuhr.

Geschockt starrte ich auf die geschlossene Fahrstuhltür. Cody und Abbygail waren weg und ich war in einer riesigen Fabrik, ganz allein bei Nacht. Alles was ich hatte, waren ein Taschenmesser und mein Handy. Ich zog es hervor, um Cody anzurufen, aber ich hatte kein Netz.

»Bleib wo du bist«, kamen mir seine Worte in den Sinn, doch als ich die wimmernde schwache Stimme meines Vaters ein weiteres Mal vernahm, warf ich alle Vorsicht über Bord und rannte los. Ich folgte einem langen Gang, der in einen Vorraum mündete und dann stand ich vor einer verschlossenen eisernen Tür. Meine Augen füllten sich mit Tränen als ich durch das kleine Fenster meinen Vater in der Gefängniszelle sah, die sich an den Vorraum anschloss, liegen sah. Er lag zusammengekauert auf den nackten Steinboden. Seine Hand- und Fußgelenke hingen an Ketten, die in den Fußboden eingelassen waren.

»Papa«, schrie ich und hämmerte mit den Fäusten gegen die dicke Glasscheibe. »Hörst du mich?«

Doch er wälzte sich nur stöhnend hin und her und reagierte nicht auf meine Rufe und mein Gehämmer.

Ich versuchte es weiter, aber dann sprang die schwere Tür ganz plötzlich auf.

Kurz zögerte ich. Was war, wenn es wirklich eine Falle war? Meine Vernunft hielt mich noch eine Sekunde länger zurück, doch dann jagte mein Herz meine Füße zu ihm hin. Ich wollte mich neben ihn auf die Knie fallen lassen und ihn umarmen. Doch noch bevor ich überhaupt in seine Nähe kam, wurde ich durch eine Art Druckwelle mit voller Wucht zurückgeschleudert. Ich landete neben der Zellentür, zum Glück aber unverletzt. Sofort rappelte ich mich auf und ging wieder auf meinen Vater zu, diesmal jedoch ganz langsam.

Ich wollte zu ihm, aber ringsum ihn herum schien eine unsichtbare Kuppel zu sein. Wie eine Art unsichtbares Kraftfeld, das waberte, wenn ich es berührte oder dagegen schlug.

»Papa«, rief ich wieder, doch meine Stimme brach.

»Lissa«, jammerte er und hob den Kopf. »Ich liebe dich.« Doch sein Blick ging an mir vorbei.

Ich drehte mich, aber da war niemand.

»Hörst du mich?«, fragte ich schluchzend und hob hilflos die Hand. Als keine Antwort kam, machte ich ein paar Schritte nach rechts, ohne meinen Blick von ihm zu lösen. Doch sein Blick blieb an der gleichen Stelle. Er sah und hörte mich nicht.

Es war als bekäme ich einen Stich ins Herz versetzt. Schluchzend sank ich zu Boden. Das war einfach zu viel für mich. War das alles nur eine Illusion oder war mein Vater wirklich unter dieser Kuppel gefangen?

Ich zwang mich aufzustehen, holte das Messer aus der Jackentasche und stach wie eine Irre auf die unsichtbare Kuppel ein. Doch es war sinnlos. Sie waberte wieder nur, was das Bild meines Vaters verzerrte, bis ich aufgab und die Kuppel zur Ruhe kam.

Schluchzend schob ich das Messer zurück in die Tasche. Es schien alles so hoffnungslos. Nicht einmal Cody und Abbygail würden diese Kuppel mit ihren verstärkten Kräften aufbrechen können, da war ich mir sicher. Und diese Erkenntnis ließ mich verzweifeln.

»Armes kleines Ding«, trällerte es plötzlich durch den Raum.

Erschrocken sah ich mich um, aber da war niemand.

»Du hast deinen Vater anscheinend wirklich sehr vermisst«, hörte ich die Stimme wieder durch die Zelle schallen und mir wurde klar, wer da mit mir sprach – Marie, Darkos Frau alias meine Tante.

»Jetzt antworte doch«, trällerte sie fröhlich. »Du wolltest deinen Vater doch unbedingt wiedersehen und jetzt hast du ihn direkt vor deiner Nase.«

»Lass ihn frei«, befahl ich scharf. »Sofort!«

Erst blieb es still, aber dann hörte ich ein hämisches Kichern, und gleich darauf ein sirrendes Geräusch. Verblüfft sah ich zu, wie die rückwärtige Wand der Zelle zur Seite glitt und dahinter ein Raum mit Monitoren, Servern und anderen technischen Geräten sichtbar wurde. Marie Lamin stand hinter einem Pult.

Ich machte mich kampfbereit. Meine Kräfte waren plötzlich wieder da und ich war mehr als nur Feuer und Flamme. Wenn es sein musste, würde ich mich auch nicht zurückhalten, das Messer zu benutzen.

Mit einem bösen Lächeln griff meine Tante nach einer Fernbedienung, die auf einem Beistelltisch lag. Sie drückte auf einen Knopf und hielt den Sensor auf die Kuppel gerichtet. Daraufhin stoppte alles darin. Mein Vater verwandelte sich plötzlich in ein Standbild und dann verschwand er. Es war also doch nicht echt, sondern nur ein lächerliches Hologramm.

»Du bist wirklich zu einem wunderschönen Mädchen herangewachsen.« Sie holte etwas aus ihrer Tasche, streckte ihre Hand aus und hielt mir etwas hin.

Zögernd machte ich einen Schritt auf sie zu. Sie hielt ein Schmuckstück in ihrer Hand.

Die Brosche meiner Mutter.

»Woher hast du die?«, fragte ich weinerlich und hätte am liebsten danach gegriffen und sie an mich gerissen. So etwas Wertvolles hatte sie alles andere als verdient. Meine Mutter hatte sie schon seit ihrer Kindheit immer bei sich getragen und nur sehr selten abgelegt.

»Gib sie mir«, befahl ich, doch es klang alles andere als selbstsicher.

»Oh, bitte!« Sie lachte kurz auf. »Sieh mich doch mal mit anderen Augen.«

Ich wusste nicht so genau was sie meinte.

»Sieh mich an, Lissa. Ich bin deine Tante.« Sie kam einen Schritt auf mich zu.

Ich blieb sofort stehen.

Ein weiterer Schritt von ihr folgte.

»Denk doch mal an die alten Zeiten. An unsere alten Zeiten.« Ihr Lächeln war plötzlich verschwunden und einem traurigen Blick gewichen.

»Warum hast du uns damals verlassen?«, fragte ich vorwurfsvoll. »Ich hätte dich wirklich gebraucht!«

Und auf einmal sah ich sie tatsächlich mit anderen Augen. In diesem Moment war sie nicht mehr Marie Lamin, sondern Marie Sommer, meine Tante. Die Tante, die damals noch mein Vorbild gewesen war. Die Tante, die ich damals gebraucht hätte. Die Tante, die uns verlassen und die ich trotzdem geliebt hatte.

»Oh, Lissa, glaube mir«, meinte sie bedauernd. »Ich wünschte auch, es wäre anders gekommen. Doch ich war jung und naiv. Deine Mutter hat mich unter Druck gesetzt und ich musste mich damals entscheiden. Wenn ich den Kontakt zu euch nicht abgebrochen hätte, dann hätte ich mich von Darko trennen müssen. Aber ich hab ihn geliebt. Ich hatte keine Wahl.«

Fast hätte ich ihr die Trauer abkaufte. Aber eben nur fast.

»Du musst mir das glauben. Weißt du noch, als du dich zwischen Cody und deinem Vater entscheiden musstest?«

Ich presste die Lippen aufeinander. Und wie ich das noch wusste.

»Genauso war das damals bei mir. Verstehst du mich?« Auch sie war plötzlich den Tränen nah. Auf einmal verspürte ich ein seltsames Gefühl in meinem Magen. Sehnsucht. Sehnsucht nach meiner Tante.

»Warum hast du mir dann das Gleiche angetan?«, keifte ich, wobei ich versuchte sie nicht anzuschreien. Ich hasste sie. Doch irgendwo empfand ich auch noch Liebe für sie. Sie war immer noch meine Tante von früher. Irgendwo ganz tief in ihr drin. Was hatte sie nur zu dem Monster werden lassen, das da vor mir stand?

»Ich wollte dich damit nicht quälen, Lissa. Sogar im Gegenteil. Natürlich habe ich durch die ganzen Medien erfahren, was mit Elisa passiert war. Also wollte ich dir die Chance geben, dich an einem dieser Biester zu rächen. An so einem!« Sie zeigte mit ihrem Finger hinter mich. Ihre Miene war plötzlich wie versteinert, ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengt.

Kapitel 4

 

Ich drehte mich um. Cody und Abbygail standen hinter mir und wirkten beide ziemlich abgehetzt.

»Trau ihr nicht, Lissa!«, rief Cody und wollte zu mir, wurde aber von seiner Schwester zurückgehalten.

»Du weißt«, fuhr Marie fort, »was sie deiner Mutter angetan haben?«

Ich war überfordert. Verzweifelt schaute ich zwischen Codys besorgter Miene und Maries hasserfüllten Augen hin und her. Ich wusste wozu seine zweite Gestalt fähig war, aber ich wusste auch, dass er nicht daran schuld war.

Also tat ich das, was mir als Richtig erschien. »Gib mir einfach meinen Vater und wir verschwinden wieder«, sagte ich.

Ihre Mundwinkel zuckten. »Ich hätte dich nie für so eine Verräterin gehalten, Clarissa. Wüsste deine Mutter, dass …«

»Wüsste sie was?«, schrie ich.

»Denkst du sie wäre stolz auf dich, wenn sie wüsste, dass du mit einem dieser Biester, die sie umgebracht haben, zusammen bist?«

Das war zu viel für mich. »Gib mir meinen Vater!«, schrie ich.

Marie lächelte, aber es war kein freundliches Lächeln. Sie warf mir die Brosche vor die Füße. »Behalt sie«, sagte sie abfällig.

Sofort bückte ich mich, hob sie auf und versteckte sie in meiner Hosentasche.

Offenbar war nun auch Abbygails Geduld am Ende. »Es reicht!«, fauchte sie und stürmte auf Marie zu. Nicht einmal ihr Bruder konnte sie noch aufhalten. »Dir Schlampe werd ich erstmal Sterben beibringen!«

Doch Marie blieb vollkommen ungerührt stehen und lächelte nur.

Kurz bevor Abbygail über sie herfallen konnte, kam überraschend ein Mann aus der Ecke gesprungen und drückte Codys Schwester einen Elektroschocker gegen den Brustkorb. Abbygail sank zitternd zu Boden. Dort machte sie noch ein paar Zuckungen, bevor sie regungslos liegen blieb.

Ich war wie gelähmt.

Nicht so Cody. »Abby!«, schrie er und lief zu seiner Schwester. Er hockte sich neben sie, aber dann gingen die Gefühle mit ihm durch. Er sprang auf und wollte sich auf meine Tante stürzen.

Doch auch darauf war sie gefasst. Blitzschnell zog sie ein Messer hinter ihrem Rücken hervor und fuhr mit der Klinge über den Arm des Mannes, der sie eben noch verteidigt hatte.

Geschockt starrte der auf seinen Arm, auf dem die Waffe einen tiefen Schnitt hinterlassen hatte, aus dem sofort Blut hervorquoll. »Du hinterlistiges Biest!«, beschimpfte er meine Tante, die triumphierend grinste. Offenbar wurde ihm nun klar, was gleich geschehen würde, denn er wollte wegrennen. Doch Marie streckte ihren Fuß aus, sodass er stolperte und hinfiel.

Und plötzlich erkannte ich den Mann wieder. Genau dieser Mann war es gewesen, der mich damals am Hubschrauber von meinem Vater ferngehalten hatte.

Jämmerlich kroch er nun auf allen Vieren und flehte meinen Freund, der gerade mit der Verwandlung kämpfte, um Gnade an.

»Lauf, Lissa!«, presste Cody panisch hervor, bevor ihm die riesigen Flügel aus dem Rücken wuchsen und er damit beinahe Marie umhaute.

Ich wollte. Alles in mir schrie nur danach zu gehen. Egal wohin. Hauptsache raus aus diesem Raum.

Ich wünschte mir in dem Moment nur, dass meine Beine mich verstehen und mich unterstützen würden. Doch sie bewegten sich kein Stück. Genauso wenig wie mein Atem und mein Herz. Ich steckte in der gleichen Schockstarre fest, wie damals beim Tod meiner Mutter. Nichts regte sich. Sogar meine Gedanken waren nicht abrufbar.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der Dämonenwolf vollkommen die Oberhand gewonnen hatte und sich ohne zu zögern über den Mann hermachte. Als das Blut nach oben spritzte, sackte ich zusammen und fiel auf die Knie.

Meine Tante war längst verschwunden und Abbygail lag noch immer regungslos da, als das Biest von seiner Beute abließ. Es drehte den Kopf in meine Richtung, bleckte die Zähne und starrte mich mit diesen leeren weißen Augen an, in denen kein Fünkchen Reue zu sehen war.

Auch wenn ich schon auf dem Boden zusammengesackt war, fühlte ich mich plötzlich so unglaublich schwer. Ich kämpfte damit, meine Augen aufzuhalten. Vergebens. Meine Augäpfel drehten sich nach oben und plötzlich sah ich nur noch schwarz.

 

Ich fühlte, wie jemand an meiner Schulter rüttelte.

»Lissa«, rief Cody panisch. »Sag was. Bitte!«, seine Stimme zitterte und als ich die Augen öffnete, sah ich seinen sorgenvollen Blick. Sein Gesicht wirkte blass und eingefallen.

»Cody«, hauchte ich, um ein Lebenszeichen von mir zu geben.

Beim Versuch aufzustehen, musste ich mich an seiner Schulter abstützen. Ich vermied den Blick auf die zerfetzte Leiche, aber schon der Geruch verursachte mir Übelkeit. Mir war so schwindelig, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, aber es wurde besser, als mich Cody in den Vorraum führte.

»Alles gut?«, fragte er besorgt.

Ich nickte, immer noch verstört.

Ein knirschendes Geräusch schreckte uns auf. Die Wand zum Technikraum begann sich zu schließen, wo Codys Schwester immer noch bewusstlos neben der Leiche lag. Cody rannte hin, nahm sie auf den Arm und trug sie in die Zelle. Dort kam sie wieder zu sich, als die Wand sich ganz geschlossen hatte.

»Geht es dir gut?«, fragte ihr Bruder ebenso besorgt wie er es bei mir eben noch gewesen war.

Sie nickte und fasste sich an ihren Brustkorb. »Wie man es nimmt. Was ist passiert?«

Cody half ihr auf und brachte sie mit knappen Worten auf Stand, während sie zu mir in den Vorraum kamen.

Ich konnte sehen, wie sehr sich Cody schämte. »Du kannst nichts dafür«, versuchte ich ihn zu trösten und legte die Hand auf seine Schulter.

»Gehen wir«, meinte er nur und wandte sich ab.

Doch bevor wir auch nur einen Schritt gemacht hatten, schob sich eine eiserne Tür vor den Ausgang zum Flur, die mir bisher bei dem Vorraum gar nicht aufgefallen war. Abbygail und Cody versuchten sie wieder aufzuschieben, aber sie rührte sich nicht. Auch nicht, als sie sich beide gleichzeitig dagegen warfen. Sie war aus so dickem Stahl, dass nicht mal ihre verstärkten Kräfte etwas nützten.

»Scheiße«, fluchte sie.

»Was machen wir jetzt?«, fragte ich panisch.

Es gab weit und breit keinen weiteren Ausweg. Wir saßen in der Falle.

Plötzlich hörte ich hinter mir ein leises Klirren und Stöhnen. Auch die Arringtongeschwister mussten es gehört haben, denn wir drehten uns alle gleichzeitig um.

Das Standbild meines Vaters war wieder zu sehen. Er stöhnte und rief immer wieder meinen Namen, was ich nicht ertragen konnte. In seinen Augen lagen Angst und Verzweiflung.

»Noch irgendwelche letzten Worte?«, fragte eine Stimme, die aus dem Hintergrund kam. Sie gehörte unverkennbar Darko.

»Warum tust du das?«, fragte mein Vater jammernd.

Darko lachte. »Warum ich das tue?«, fragte er spöttisch. »Frag doch mal deine Tochter warum sie das tut.« Er tauchte hinter meinem Vater auf, wobei er mit einem Messer in seiner Hand spielte. »Sie hätte dich damals ganz leicht befreien können.«

Sofort bemerkte ich Darkos künstlichen Arm mit einer Art Roboterhand, die er sogar bewegen konnte. Es erinnerte mich sofort an die Nacht, in der Cody ihn dem Arm abgebissen und ihn fast umgebracht hatte. Leider nur fast!

Seine künstliche Hand war so beweglich, dass er meinen Vater ohne Schwierigkeiten packen und ihm das Messer an den Hals halten konnte. Als er mit der Klinge an seiner Kehle entlangfuhr, krampfte sich alles in mir zusammen. Am liebsten wäre ich auf Darko losgegangen und hätte ihm das Messer in die Rippen gestochen.

Plötzlich schaute er uns an. »Kommt zum Folterbereich!«, befahl er.

»Kommt ihr da nicht her?«, flüsterte ich Abbygail und Cody hektisch zu.

Cody schüttelte den Kopf. »Wir sind sofort wieder zu dir runtergefahren.«

Die Stahltür sprang mit einem Mal auf. Ohne zu zögern rannte ich darauf zu. »Warte«, rief Abbygail. »Das ist bestimmt eine Falle.«

»Das ist mir sowas von scheißegal.« Nichts und niemand konnte mich von meinem Vater jetzt noch fernhalten. Ich rannte zum Fahlstuhl, dicht gefolgt von Abbygail und Cody.

Bis die Türen zu gingen und der Fahrstuhl nach oben fuhr, verging eine gefühlte Ewigkeit. Als sich der Fahrstuhl dann endlich öffnete, stürmte ich heraus und folgte dem Gang. »Papa?«, schrie ich dabei immer wieder. Ich wollte einfach nur noch zu ihm, ihn in meine Arme schließen und spüren, dass sein Herz noch schlug.

Ich gelangte in einen Raum. Er war groß, etwa halb so groß wie die Halle, durch die wir das Gebäude betreten hatten. Aber in diesem Raum standen in jeder Ecke seltsame Maschinen, die mit unterschiedlich großen Skalpellen, Nadeln, Bohrern und anderen scharfen Gegenständen bestückt waren, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wenn ich nur daran dachte, dass mein Vater hier irgendwo war, schlug mein Puls gleich um das Fünffache heftiger. Ich rief erneut nach ihm. Diesmal bekam ich eine Antwort, die eigentlich nur ein leiser Ruf meines Namens war, der in einem Keuchen unterging. Wir folgten der Stimme und erreichten einen weiteren Raum. Ich stieß die Tür auf und eilte hinein.

Im ersten Moment wusste ich nicht wie mir geschah. Mein Vater lag wie in der Kuppel am Boden und war angekettet. Als er uns sah, versuchte er sich aufzusetzen. Ich wusste auch nicht, ob ich mich freuen sollte, dass er am Leben war oder eher heulen, weil er mehr einem Skelett glich, das von dünnen Hautstreifen umhüllt war.

Ich hatte sogar Angst ihn zu drücken, als ich mich auf ihn stürzte. Doch ich hatte so lange auf diesen Moment gewartet, dass ich mich einfach nicht zurückhalten konnte und meine Arme ganz eng um ihn schloss. »Endlich«, flüsterte ich weinend. Weinen war sogar zu untertrieben. Ich heulte wie verrückt. Mir liefen die Tränen wie ein Wasserfall runter und tropften auf sein zerfledertes, verdrecktes Hemd. Er stank nach Schweiß und Schmutz, doch das war mir egal.

»Oh, Lissa«, röchelte er erleichtert.

Als ich merkte, dass ich ihn fast zerdrückte, löste ich mich ein wenig und schaute ihn genauer an. Seine stumpfen Augen wirkten riesig in dem eingefallenen Totenschädelgesicht, an dem die Haut grau und faltig herabhing. Besorgt betrachtete ich seine blauen Lippen, die rau und rissig waren und die kahlen Stellen in seinen Haaren. Seine Arme und Beine waren nur noch Haut und Knochen und er war extrem gealtert und nur noch ein schwaches Abbild des Mannes, den ich mein Leben lang gekannt hatte.

»Mein kleines Mädchen«, sagte er mit Erleichterung und strich mir eine verklebte Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Finger zitterten.

»Ist das nicht rührend?«, ertönte es plötzlich hinter mir.

Darko!

Als ich meinen Vater erblickt hatte, hatte ich alles um mich herum vergessen. Bis jetzt.

Und wieder schloss sich die Tür, durch die wir gekommen waren.

»Nein«, schrie Abbygail wütend. »Das darf doch nicht wahr sein!« Wutentbrannt trat sie gegen den harten Stahl. »Dieser Arsch!«

Cody und ich sahen uns nervös an. Das bis gerade noch helle Licht im Raum erlosch fast, bis auf einen schwachen Lichtkegel.

Wir alle hielten den Atem an.

Plötzlich erleuchtete von oben ein greller Scheinwerfer, der erst direkt in die Mitte schien, dann aber zu einer Scheibe an der Wand schwenkte. Dahinter saß ein böse grinsender Darko.

Abbygail zögerte nicht, ging zu dem Fenster und schlug mit der Faust gegen das Glas. Doch statt klirrender Scherben, war nur ein dumpfes Plumm zu hören. Es war Panzerglas.

»So, jetzt reicht es mir aber gewaltig!«, fluchte sie. »Was willst du von uns? Meinetwegen kriegst du es, aber lass uns doch einfach aus dem Spiel.«

»Geht nicht«, meinte Darko immer noch grinsend. »Ihr seid schon mitten im Spiel drin.

Als er unsere verwirrten Gesichter sah, lachte er kurz auf. »Keine Sorge, es wird nicht weh tun. Zumindest nicht allen.«

»Wo ist Jessica?«, fragte Cody.

»Meine Assistentin ist hier«, verkündete er freudig, während Jessica neben ihn trat und genauso schelmisch grinste wie er.

Ich hatte das Gefühl, mir würden die Augen aus dem Kopf fallen. Das war alles inszeniert gewesen. Jessica hatte sich mit Marie und Darko abgesprochen und uns in diese Falle gelockt. Sie steckten tatsächlich unter einer Decke.

»Jessica«, murmelte Cody und man konnte ihm die Enttäuschung anhören.

»Tja, meine Freunde, bereit für das Spiel?«

»Haben wir eine andere Wahl?«, fragte ich spöttisch.

Darko tat so, als würde er überlegen. »Ähm …«, machte er und lachte dann. »Nö.«

Genervt verdrehte ich die Augen. Danach beugte ich mich zu meinem Vater. »Es wird alles gut«, versprach ich ihm und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Wie lauten die Regeln?«, verlangte Abbygail zu wissen.

Darkos vorfreudige Grinsen wurde immer breiter. »Es ist ganz simpel. Wie lange unser kleines Spiel dauert, hängt von euch ab. Den Ablauf habt ihr selbst zu bestimmen. Doch am Ende wird einer von euch hierbleiben. Bei mir.«

Der Scheinwerfer schwenkte auf die andere Seite der Wand.

»Seht ihr die Zelle?«

Da war eine Öffnung, die aber nicht besonders tief war, vielleicht einen Meter. Darüber war eine Art Tor mit Gitterstäben, das von einem Seil oben gehalten wurde.

»Im Inneren ist ein roter Knopf, den ihr betätigen müsst. Doch derjenige, der den Knopf drückt, wird gefangen. Sobald einer von euch ihn drückt, wird das Seil gekappt und das Tor fällt. Dann …«

»Und weshalb sollten wir verdammt noch mal diesen bescheuerten Knopf drücken?«, unterbrach ihn Abbygail aufgebracht.

»Er betätigt nicht nur das Zellentor, sondern auch die Ketten deines Vaters, Clarissa.« Er sah mich an und mir wurde richtig schlecht. »Seine Fesseln würden sich lösen.«

»Wow, wow, wow«, murmelte Abbygail gereizt. »Hab ich das richtig verstanden? Einer von uns muss sich opfern und den Knopf drücken, damit Clarissas Vater freikommt?«