Clarissa - Schöne Lügen (Band 2) - Doreen Köhler - E-Book

Clarissa - Schöne Lügen (Band 2) E-Book

Doreen Köhler

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Beschreibung

Auch wenn Clarissa bei Cody und den Takais eine zweite Familie gefunden hat, sehnt sie sich nach ihrem Vater und macht sich große Sorgen, denn Herr Sommer befindet sich noch immer in der Gewalt der Lamins. Um sich ihm nahe zu fühlen, besucht sie mit Cody ihr Elternhaus. Dort macht sie eine unglaubliche Entdeckung über Marie Lamin. Clarissa und Cody verfolgen diese heiße Spur und lüften weitere Geheimnisse – Jessica ist nicht die, die sie vorgibt zu sein. Doch nicht nur sie verschweigt etwas, denn dass die Lamins es ausgerechnet auf Cody abgesehen haben, ist die Schuld seines eigenen Vaters … »Clarissa – Schöne Lügen« ist die spannende Fortsetzung der Romantasy-Dämonenwolf-Trilogie der Fantasyautorin Doreen Köhler.

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Doreen Köhler

 

Clarissa

Schöne Lügen

Schöne Lügen

 

Erzähl mir schöne Lügen,

denn die Wahrheit tut weh.

Vergiss nicht ein Happy End einzufügen,

damit ich das ganze »Wofür und Warum« versteh.

 

Versprich mir den Frieden,

nach dem ich mich so sehr sehne.

Der Hass muss endlich vertrieben,

bevor er auch erfriert meine letzte Vene.

 

Gesteh mir deine 7 Sünden,

Und ich beichte dir meine 8.

Lass uns gegen den Rest der Welt verbünden,

denn die Intrigen sind bereits entfacht.

 

Spiel mir das Lied vom Glück,

lass es uns vor uns hin summen.

Wir spulen es immer und immer wieder zurück.

Solange, bis es hat für immer ausgeklungen.

 

 

Kapitel 1

 

»Krass, wie schnell die Sommerferien immer zu Ende gehen«, bedauerte Cody mit einem leichten Stöhnen.

Bevor der Schulstress nächste Woche wieder losgehen würde, verbrachten wir jede einzelne Sekunde zusammen. Wir waren, wie an fast jedem sonnigen Tag an unserem geheimen Ort. Auch wenn es hier nichts weiter als einen kleinen Teich, einen alten, dicken Baum und eine große Blumenwiese gab, war es unser Lieblingsplatz. Es war nicht nur der schöne Anblick, der uns hier immer magisch herzog, sondern auch die Stille. Da dieser Ort inmitten des verbotenen Waldes versteckt und von dichten Büschen umgeben war, wusste niemand davon, außer uns beiden. Und das sollte auch so bleiben.

Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, freute ich mich irgendwie ein bisschen auf die Schule. Zwar nicht auf den endlos langweiligen Unterricht, aber auf Josh, Isabelle und ganz besonders auf Laura. Wir vier hatten in der letzten Zeit eher weniger Kontakt gehabt, denn die ganzen Ferien über wohnte ich mit in Codys Stamm.

Ich war unendlich dankbar, dass die Takais mir bei der Suche nach meinem Vater halfen, wenn auch bisher erfolglos. Darko hielt ihn immer noch als Geisel, was mich von Tag zu Tag verzweifelter werden ließ. Ich machte mir wahnsinnige Sorgen um ihn. Und ich fühlte mich mies, wenn ich daran dachte, dass sich die Takais hier im Wald einquartiert hatten, um Schutz vor Darko zu haben und mir dennoch bei der Suche nach ihm halfen.

Sie gaben sich wirklich Mühe und taten alles, damit es mir gut ging. Sie gaben mir das Gefühl zur Familie zu gehören. Zumindest die meisten von ihnen. Jessica und Abbygail konnten mich noch immer nicht leiden und das, obwohl ich ihnen nie etwas getan hatte. Mittlerweile stand ich aber darüber.

Ich versuchte ihnen einfach so gut es ging, aus dem Weg zu gehen, was aber manchmal gar nicht so einfach war, wenn man mit ihnen unter einem Dach, beziehungsweise in einer Erdhöhle wohnte. Na ja, zumindest mit Jessica. Abbygail hatte ja noch immer in Molbergen, meinem alten Heimatdorf ihre eigene Wohnung und ging auf das Luisen-Gymnasium, anstatt mit uns hier auf das Läresson Internat.

Etwas sehnsüchtig dachte ich an mein Zimmer dort und das leckere Essen. Nicht, dass das Essen hier bei den Takais eklig war, aber sie lebten ein wenig wie im Mittelalter. Deshalb gab es fast immer etwas, was man in einem Topf kochen konnte. Meistens Suppen, Eintöpfe oder etwas mit Fleisch, was für Vegetarier wie mich, nicht so einfach war. Nur mit dem Milchreis konnte ich mich richtig gut anfreunden.

 

Nachdem die Sonne schon fast untergegangen war, und die ersten Sterne am Himmel erschienen, sah Cody auf seine Armbanduhr. »Wollen wir so langsam wieder zurück?« Er stand auf.

»Na gut«, stöhnte ich und erhob mich ebenfalls.

Es wurde immer dunkler und Hunger bekam ich allmählich auch.

Auch wenn es ganz gut war, dass unser Ort von dichten Büschen umgeben war, weil er deswegen nicht so schnell entdeckt werden konnte, war es immer eine Quälerei durch das fast undurchdringliche Gestrüpp hindurch zu gelangen. Ohne sich einen Kratzer einzufangen, kam man hier nur schlecht wieder heraus. Doch als wir es geschafft hatten, gingen Cody und ich Hand in Hand zurück zu der unterirdischen Wohnhöhle der Takais. Auf den Weg dahin wurde es stockduster, aber der Schein des Mondes wies uns den Weg.

Die Sterne hatten sich am wolkenlosen Himmel verdreifacht, als wir nach einigen Minuten am Vorplatz ankamen, an dem sich der verborgene Eingang befand. Verblüfft betrachtete ich die Äste der Bäume, an denen Lampions hingen, die von brennenden Kerzen sanft erleuchtet wurden. Auch unzählige farbenfrohe Girlanden waren um die Baumstämme gewickelt. Außerdem hatte jemand um den ganzen Platz herum Fackeln aufgestellt, die nicht nur toll aussahen, sondern auch eine angenehme Wärme verbreiteten. Doch am meisten überraschten mich die Takais, die sich in zwei parallelen Reihen aufgestellt hatten.

Atostros, Codys Vater und gleichzeitig Stammesführer, den ich Atos nennen durfte, stand ganz am Ende in der Mitte der beiden Reihen. Vor ihm ein großer Baumstumpf, der ihm bis zum Bauchnabel ging, und auf dem ein dickes aufgeschlagenes Buch lag.

Alle Augen waren auf Cody und mich gerichtet, als hätten sie auf uns gewartet.

Aus den Augenwinkeln schielte ich zu Cody hinüber, der bis über beide Ohren grinste. Anscheinend wusste er, was gleich passieren würde. Ich hingegen hatte keinen blassen Schimmer, aber eine Vermutung. So festlich wie das hier alles geschmückt war, das würde doch wohl keine …

»Das wird hier aber keine Hochzeit, oder?«, fragte ich geschockt, aber so leise, damit nur Cody es hören konnte.

Amüsiert und zum Glück nicht beleidigt schüttelte mein Freund den Kopf.

»Keine Panik, das ist bloß ein kleines Überraschungsfest für dich. Es bedeutet, dass der Stamm offiziell dazu bereit ist, dich bei uns aufzunehmen.«

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Irgendwann wollte ich Cody zwar auf jeden Fall heiraten, aber mit siebzehn fand ich es zu früh. Im nächsten Moment fand ich meine Vermutung sogar ziemlich bescheuert und schämte mich für die Frage. Doch dann wurde ich richtig aufgeregt, als ich begriff, was er da gerade gesagt hatte. Ich sollte wirklich ein Mitglied der Takais werden?

»U-und was heißt das genau?«, flüsterte ich gespannt.

»Wirst du gleich sehen.«

Cody führte mich zum Beginn der beiden Reihen. Dort ließ er meine Hand los und stupste mich ein wenig von hinten an. Das bedeutete wohl, dass ich ohne ihn durch die Lücke weiter hindurch gehen sollte. Cody hingegen lief zum Ende der rechten Reihe und stellte sich ebenfalls dort auf. Er blinzelte mir aufmunternd zu, was ich mit einem unsicheren Mundwinkelzucken erwiderte.

Nun waren alle Augen allein auf mich gerichtet. Das verunsicherte mich noch mehr. Atos stand mindestens zehn Meter weit von mir weg. Lächelnd winkte er mich zu sich.

Mit leicht zitternden Beinen ging ich durch die Lücke zwischen den Stammesleuten, zu ihm hindurch. Eigentlich mochte ich es ja überhaupt nicht im Mittelpunkt zu stehen, doch in dem Fall war das irgendwie anders. Mit jedem Blick und jedem Lächeln, die ich von allen nacheinander auffing, fühlte ich mich geborgener und immer sicherer. Ich lächelte dankbar zurück. Auch Abbygails ausdruckslose und Jessicas finstere Miene konnten meinen sonst so sensiblen Gefühlen heute nichts anhaben. Im Gegenteil, als ich nun ganz vorne vor dem Häuptling stand, strahlte ich.

»Guten Abend, Clarissa«, begrüßte er mich freundlich.

»Guten Abend, Atos«, grüßte ich mit etwas schüchterner Stimme zurück.

»Wir haben eine ganz besondere Überraschung für dich. Du bist ja nun bereits einige Zeit bei uns …«

Ich nickte zufrieden.

»… und in dieser Zeit bist du uns ganz schön ans Herz gewachsen«, fuhr er fort, »deshalb haben wir beschlossen, dich in unser Rudel aufzunehmen und dich als neues Familienmitglied zu betrachten. Auch wenn du nicht unter diesem schrecklichen Fluch stehst und kein Dämonenwolf bist, worüber du sehr glücklich sein kannst, hast du unser Geheimnis bewahrt und zu uns gestanden.« Seine Miene war bei diesen Worten ernst geworden und er machte eine kurze Pause. Doch dann lächelte er erneut, als er sagte: »Endlich war Darko doch mal zu etwas nütze. Ohne seine Besessenheit uns zu jagen, hätten wir dich nämlich niemals kennengelernt.«

Ich fühlte wie sich eine kleine Träne in meinen Augenwinkel verirrte.

»Außerdem ist mein Sohn nicht mehr so ein Miesepeter seitdem du da bist. Es gab seither keinen Tag mehr, an dem er nicht gelächelt hat. Du hast aus ihm einen fröhlicheren Menschen gemacht.«

Hinter mir hörte ich Gelächter, und als ich mich umdrehte, sah ich wie Cody grinsend seinen Kopf schüttelte.

»Bevor du kamst, hätte ich das nicht für möglich gehalten«, flüsterte mir Atos zu, sodass nur ich es verstand. Danach sprach er wieder so laut, dass es alle hören konnten. »Auf jeden Fall haben wir abgestimmt und die große Mehrheit war dafür, dass wir dir die Ehre erweisen, dich zu einer Takai zu machen. Die Einzige, die noch einwilligen musst, bist du. Und deshalb frage ich dich nun, Clarissa Sommer, willst du unserem Stamm, den Takais, beitreten?«

»Ja, ich will«, antwortete ich ohne zu zögern.

Er nickte lächelnd. »Alles was du jetzt noch machen musst ist, dich hier in dieses Buch einzutragen.«

Ich beugte mich über das aufgeschlagene Buch und schrieb meinen vollständigen Namen unter das aktuelle Jahr und unter den letzten dort aufgeführten Namen Lukas. Das fühlte sich etwas seltsam an, denn ich erinnerte mich an unsere Klassenfahrt, bei der zwei meiner Klassenkameraden ums Leben gekommen waren. Lukas, der ebenfalls von dem Fluch betroffen war, war damals noch nicht Teil des Stammes gewesen. Er hatte sich in dieser Nacht allein und unkontrolliert in seine Dämonenwolfsgestalt verwandelt. Bedauerlicherweise war er Jens begegnet, der im Wald mit uns auf der Suche nach Cody und Jessica gewesen war, der das nicht überlebt hatte.

Als ich vom Buch aufsah, stand Cody plötzlich neben Atos und schenkte mir sein schönstes Lächeln.

»Wir haben auch noch ein Geschenk für dich«, meinte Atos.

Ich bemerkte die kleine silberne Kette, die neben dem Buch gelegen hatte erst, als Atos sie nahm und seinem Sohn reichte. Sie hatte einen Anhänger in Form einer kleinen roten Glasflasche, die gerade mal halb so groß wie mein kleiner Finger war. Um den Korkendeckel war ein schwarzes Band geschnürt.

»Halte sie in Ehren, denn sie ist von nun an dein persönlicher Glücksbringer. Sie ist nicht nur hübsch anzusehen, sondern hat auch einen magischen Nutzen. Die Flüssigkeit, die du in der Flasche siehst, kannst du im Notfall auf eine blutende Wunde geben. Sie dämpft den Blutgeruch so sehr, dass es verhindert, dass wir uns in Dämonenwölfe verwandeln. Allerdings musst du schnell handeln, damit es wirkt«, mahnte er.

Cody legte mir die Kette um den Hals und gab mir einen Kuss auf die Wange.

»Jetzt bist du eine wahrhaftige Takai«, rief Atos und breitete seine Arme aus.

Hinter mir fingen alle an zu klatschen und zu jubeln. Plötzlich ertönte zu meiner großen Überraschung aus einem Lautsprecher auch noch Musik. Musik, die so gar nicht zu Leuten passte, die sonst fast wie im Mittelalter lebten. Natürlich war die Partymusik nicht so laut, dass sie Aufmerksamkeit erregen würde, aber es schien trotzdem allen Spaß zu machen. Einige begannen sogar schon zu tanzen.

Cody hielt mir seine Hand hin und hob eine Augenbraue. »Darf ich bitten?«

Ich reichte ihm meine Hand, machte einen leichten Knicks und grinste ihn dabei verliebt an. »Nur auf eigene Gefahr.«

Ich sah noch wie Atos mir zu lächelte, als mich Cody auch schon zu den Tanzenden zog. Schon bei den einfachsten Schritten versagte ich.

»Lass dich einfach führen«, hauchte Cody mir verführerisch ins Ohr und zwinkerte mir charmant zu.

Also vertraute ich ihm. Auch die darauffolgenden Schritte sahen bei mir zwar nicht gerade elegant aus, aber nach einigen Stolperern hatte ich es endlich raus.

»Geht doch«, lobte mich Cody lächelnd. »Jetzt hast du es raus!«

»Deshalb sollte ich mich also hübsch machen, obwohl wir nur zu unserem See wollten.« Ich musste grinsen.

»Bist du doch immer!«, schmeichelte er mir.

Er gab mir einen innigen Kuss auf den Mund. Danach sahen wir uns tief in die Augen und tanzten weiter.

Ich schwebte auf Wolke Sieben. Wenn nicht, noch höher. Gab es einen romantischeren Moment, als mit dem Menschen, den man über alles liebte, im Mondschein zu tanzen?

Schade, dass es mein Vater nicht sehen konnte. Ich freute mich jetzt schon darauf ihm alles zu erzählen, wenn wir ihn endlich von Darko befreiten. Hoffentlich sobald wie möglich … Aber war es überhaupt möglich?

 

Nach einer Weile hörten wir auf, weil sich alle Takais in einem Kreis versammelt hatten und zu klatschen begannen.

Aus Neugier stellten wir uns dazu, um auch einen Blick auf das Geschehen in der Mitte erhaschen zu können, wo Brandon und Justus ein Breakdance Tanzduell veranstalteten. Auch Cody und ich ließen uns von der spannenden Stimmung mitreißen und klatschten im Takt mit den Anderen mit.

Nachdem Brandon das Tanzduell eindeutig für sich entschieden hatte, fluchte Justus leise vor sich hin und deutete an, mit seiner Hand auf den Boden zu schlagen. Er ergab sich und beinahe gleichzeitig erklang ein lauter Gong.

Atostros rief uns alle an den großen, hübsch dekorierten Tisch, der sich unter den vielen köstlich aussehenden Speisen beinahe bog.

Erst jetzt bemerkte ich, was für einen großen Hunger ich hatte. Kein Wunder, meine letzte Mahlzeit war auch schon mehrere Stunden her.

Hungrig setzte ich mich auf einen der selbst gemachten Holzstühle. Bei den Takais war so gut wie alles selbst hergestellt geworden. Jeder Erwachsene im Stamm hatte eine besondere Aufgabe. Ginna war zum Beispiel die Ärztin, auch wenn im Stamm eher das Wort Heilerin für sie benutzt wurde. Die Takais bevorzugten nicht nur die altmodische Art und Weise zu leben, sondern auch Begriffe aus längst vergangenen Zeiten.

»Was willst du trinken?«, fragte mich Cody.

Ich überlegte und entschied mich für Erdbeersaft.

Vorsichtig balancierte er den vollen Krug und füllte gerade mein Glas, als Jessica ganz dicht hinter ihm vorbeiging. Dabei stieß sie ihn scheinbar aus Versehen an.

Ein großer Klecks Erdbeersaft landete auf meinem neuen, blauen Kleid, das ich heute zum ersten Mal anhatte.

»Das tut mir aber leid«, behauptete Jessica, aber es war ihr anzusehen, dass sie das keineswegs bedauerte.

»Spinnst du?«, schimpfte Cody.

»Jessica. Was fällt dir ein?«, mischte sich nun auch ihre Mutter Nina ein, die das Ganze ebenfalls beobachtet hatte. »Entschuldige dich sofort bei Clarissa!«

»Das war doch keine Absicht, Mom«, murrte Jessica und versuchte den alten Trick mit der Schmolllippe, der bei ihrer Mutter aber nicht zog.

Nina hob mahnend die Augenbrauen, doch anstatt sich zu entschuldigen, verschwand Jessica ohne ein Wort im Wald.

»Jessica« rief ihre Mutter ihr nach und wollte aufstehen. »Wo willst du hin?«

»Lass sie«, meinte Atostros mit weicher Stimme und legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Sie ist alt genug.«

Ich kümmerte mich gar nicht, um das Theater mit Jessica, sondern schnappte mir lieber meine Serviette. Genervt befeuchtete ich sie mit Wasser aus einem der anderen Glaskrüge und rubbelte an dem Fleck an meinem Kleid herum. Vergebens.

»Vielleicht kann man das rauswaschen?«, murmelte Cody bedrückt.

Ich schüttelte den Kopf. »Glaub nicht, aber ist nicht so tragisch. Es war eh nicht mein Lieblingskleid«, log ich. Es war mein Lieblingskleid!

Wahrscheinlich lag es aber auch daran, dass es mein einziges Kleid war. Ich war nämlich eher eine Hosenträgerin. Doch ich wollte Jessica nicht noch schlechter dastehen lassen.

Kapitel 2

 

In der Abenddämmerung, bei leichtem Wind, spielten meine Mutter und ich Verstecken. Sie lief los und ich zählte. Bei sieben ertönte jedoch ein verstörendes, ohrenbetäubendes Kreischen, das die Vögel aus den Bäumen aufscheuchte.

Entsetzt riss ich die Augen auf und dann erschollen markerschütternde Schreie. Das war unverkennbar die Stimme meiner Mutter.

»Mama?«, schrie ich verängstigt und rannte los.

Erst wurde ihr Geschrei immer lauter, dann leiser, bis es schließlich ganz aufhörte. Mir rutschte mein Herz in die Hose, als ich plötzlich eine lange Blutspur entdeckte, die hinters Haus führte. Mit zitternden Beinen folgte ich ihr und erstarrte. Ein riesiges Monster, ein Dämonenwolf, hatte seine spitzen Zähne in den Hals meiner Mutter gerammt.

Ich wollte weglaufen, konnte mich aber nicht rühren. Irgendetwas hielt mich davon ab.

Als das Ungeheuer mit dem Blutaussaugen fertig war, starrte es mich mit seinen leeren, komplett weißen Augen an, bevor es im Wald verschwand.

Mit meiner ganzen Kraft kreischte ich nach meinem Vater …

»Papa!«, schrie ich, »Papa!«, bevor ich schweißgebadet unter der feuchtwarmen Bettdecke aufschreckte.

Schon wieder dieser Albtraum!

Mittlerweile verfolgte er mich schon fünf Jahre. Mit zwölf war es passiert, und bis vor kurzem hätte ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen vorstellen können, dass ich einmal mit Dämonenwölfen zusammenleben, geschweige denn, sie sogar als meine Familie bezeichnen würde. Aber da hatte ich ja auch Cody noch nicht gekannt und gewusst, dass es ein Fluch war, unter dem die Takais standen.

Obwohl mein Herz noch immer wie wild raste, versuchte ich, wieder einzuschlafen. Nachdem ich mich jedoch eine gefühlte Ewigkeit herumgewälzt hatte, setzte ich mich wieder auf. Ich war viel zu aufgedreht, außerdem war mein Mund so trocken wie die Sahara. Ich hatte einen unbeschreiblichen Durst.

So leise wie möglich schlüpfte ich in meine Schuhe und hoffte dabei, dass ich Maleila, mit der ich mir ein Zimmer teilte, nicht weckte.

Mit einem ganz leisen Knarren machte ich die Tür auf und schlich auf wackeligen Beinen durch den dunklen Gang Richtung Küche. Auch nach knappen zwei Monaten war es immer noch eigenartig für mich, dass die Takais unter der Erde, in einer riesigen Höhle wohnten. Und damit meinte ich wirklich riesig. Für ganze 21 Stammesbewohner, mich eingeschlossen, brauchte man ja auch viel Platz. Cody hatte mir mal erzählt, dass sie noch aus dem zweiten Weltkrieg übrig geblieben war. Damals hatten sie Juden als Versteck genutzt.

Man kam nur durch eine Leiter, die zu einer Luke nach oben führte, nach draußen. Genau an dieser Leiter tastete ich mich gerade vorbei. Leider war ich nicht so schlau gewesen, mir eine Taschenlampe mitzunehmen.

»Au!«

Ich stieß mit dem Fuß gegen ein Hindernis, von dem ich nicht erkennen konnte was es war. Wenigstens konnte ich mein Gleichgewicht gerade noch so halten. Doch dafür brannte mein großer Zeh nun wie Feuer.

Nach weiteren Stolperern fand ich endlich die Tür zur Küche und knipste erleichtert die Lampe an. Gähnend öffnete ich den Schrank und holte mir ein Glas heraus. Nachdem ich es mit Wasser gefüllt hatte, trank ich es auf Ex aus, schüttete noch mehr nach und setzte mich an den schönen Küchentisch aus Eichenholz.

Ich blieb eine Weile dort sitzen und betrachtete die Bilder, die an der Wand hingen. Ein Foto fiel mir besonders ins Auge, eine Schwarz-weiß-Aufnahme. Ein kleiner dunkelhaariger Junge stand zwischen seinen Eltern, die sich lächelnd im Arm hielten. Daneben ein kleines Mädchen, das stolz in die Kamera strahlte. Die vier sahen aus wie eine Bilderbuchfamilie.

Ich nahm das Foto von der Wand und drehte es um. Hinten stand etwas, aber um es entziffern zu können, musste ich es ganz nah an meine Augen halten.

Cody, Abbygail, Atostros und Lydia.

Codys Vater war ohne seinen langen weißen Bart nur schwer zu erkennen. Außerdem hatte ich ihn noch nie so breit grinsen gesehen wie auf diesem Foto.

Ich nahm mein Glas und trank einen weiteren großen Schluck. Den spuckte ich jedoch fast vor Schreck aus, als ich eine warme Hand auf meiner linken Schulter spürte. Als ich mich umdrehte, sah ich direkt in Atostros' graue Augen, die mich freundlich musterten.

»Ich wollte dich nicht erschrecken«, entschuldigte er sich.

Sofort beruhigte sich mein Puls wieder. Er sah vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig aus mit seinem langen Bart und seinen altmodischen Gewändern, aber wenn man ihn erstmal richtig kannte, schüchterte einen sein Äußeres nicht mehr ein. Dazu hatte er einfach eine viel zu sanfte und beruhigende Ausstrahlung.

»Kein Problem«, meinte ich und lächelte zurück.

»Sie war so wunderschön«, schwärmte Atostros traurig und deutete auf seine Frau.

Es stimmte. Ihre auffälligen schwarzen Locken schmeichelten ihrem schmalen Gesicht auf dem Foto. Außerdem erinnerten mich ihre haselnussbraunen Augen an Cody. Sie wirkte fast ein bisschen wie Schneewittchen.

»Cody hat mir erzählt, dass sie bei einer Geschäftsreise ums Leben gekommen ist«, murmelte ich unsicher und hoffte, dass ich Atostros damit nicht zu nahe trat.

Er seufzte. »Ja, es war ein schwerer Verlust, ist es noch immer und wird es immer sein. Lydia war einfach eine wundervolle Frau. Der Traum eines jeden Mannes.« Er löste den Blick von der Fotografie und sah wieder mich an. »Du hättest dich bestimmt gut mit ihr verstanden.«

Wenn sie so nett gewesen war, wie sie auf dem Foto aussah, dann auf jeden Fall.

»Aber na ja, was geschehen ist, ist geschehen«, meinte er auf einmal in einem ganz anderen Ton, als gerade noch.

Er nahm mir das Bild aus der Hand, um es wieder an die Wand zu hängen. Ich wusste, dass er es nicht so meinte. Er benutzte diese kühle Maske nur, um damit den Wirbelsturm von Gefühlen von sich fern zu halten, der garantiert in ihm tobte. Es war so klar, von wem Cody das hatte. Daher überraschte mich auch sein so unbeteiligt klingendes »Gute Nacht« nicht, das er mir zum Abschied wünschte, nachdem er sich eine Flasche Saft aus dem Regal genommen hatte.

»Schlaf gut« rief ich ihm leise nach.

Schnell trank ich den letzten Schluck aus, stellte das Glas in die Spüle und machte mich auf den Rückweg ins Bett. Dieses Mal konnte ich ohne weitere Probleme einschlafen.

 

Am nächsten Morgen war ich dafür kaum aufzuwecken.

»Aufstehen Lissa!«, ertönte Monicas liebliches, aber ziemlich energisches Stimmchen. Die Fünfjährige stupste mit ihren zärtlichen Fingern auf meine Stirn.

Ein Glück, dass sie noch an den Fingernägeln kaute, denn mit den stumpf geknabberten Nägeln war es nur halb so unangenehm. Nicht auszudenken, wenn sie so spitze Krallen wie Jessica gehabt hätte.

Ich tat so, als würde ich immer noch schlafen. Doch meine kleine Monica war ehrgeizig genug, um mich weiter zu quälen. Da ich mir irgendwann eingestehen musste, dass sie tausendmal hartnäckiger war als ich, gab ich schließlich auf. Ich öffnete mein linkes Auge einen Spalt breit und beobachtete, wie sie mit ihrem niedlichen Zahnlückengrinsen erneut ihren Arm nach mir ausstreckte.

»Wach endlich auf!«

Diesmal bohrte sie ihren kleinen Zeigefinger in meinen Oberarm. Anscheinend hatte sie noch nicht bemerkt, dass ich mich nur schlafend stellte. Das musste ich ausnutzen. Ich öffnete die Augen und griff blitzschnell nach ihr.

»Jetzt hab ich dich!«, brüllte ich scherzend.

Ich zog sie aufs Bett und begann sie gnadenlos durchzukitzeln. Sie lachte und schrie gleichzeitig.

Als wir beide von der Toberei erschöpft waren, zog ich Monica an mich und breitete die Bettdecke über uns aus. Ihre braunen Locken kitzelten mir ein wenig in der Nase, als sie sich an mich kuschelte. Sie lachte, als ich niesen musste.

»Gesundheit!«

»Danke, meine Süße.«

»Weißt duuuu, was heute iiist?« Sie hatte sich aufgerichtet und sah mich mit einem gespannten Ausdruck an.

»Hmm, lass mich mal überlegen. Mittwoch?«

»Ja, und was ist an diesem Mittwoch?«

Sie strahlte mich an und normalerweise wäre ich ganz entzückt davon gewesen, wie sie dabei ihre paar kleinen weißen Milchmäusezähnchen entblößte. Doch ich wusste leider nur zu genau, was heute für ein Tag heute war, und in welche Richtung sich unser Gespräch gleich entwickeln würde.

»Hmmm, ich weiß nicht, vielleicht Waschtag?«, versuchte ich auszuweichen, obwohl ich wusste, dass es nichts brachte.

»Iiiih!«, rief Monica und schüttelte angewidert den Kopf. »Nein, heut ist Vollmond!«

Vollmond. »Ach jaaa, stimmt.« Ich versuchte mir ein Lächeln abzuringen. Für mich war es immer der schlimmste Tag im Monat. Oder besser gesagt, die schlimmste Nacht. Es war die Nacht, in der sich alle Takais außer Monica und mir in Dämonenwölfe verwandelten. Die Nacht, in der sie sich in einem unterirdischen Verließ nicht weit entfernt von dem Wohnhöhlensystem einschließen würden, damit durch sie kein Mensch sterben musste.

Die Dämonen in den Takais, die in jeder Vollmondnacht über die Körper und Handlungen der Verfluchten herrschten, gierten nach allem was Menschlich war. Tiere oder andere Verfluchte ließen sie in Ruhe. Nur, wenn die Stammesmitglieder Menschenblut tranken, konnten sie sich wieder in ihre eigene menschliche Gestalt zurückverwandeln.

Das Blut, dass die Takais in den Vollmondnächten in ihrem Verließ zu sich nahmen, stammte von Blutkonserven. Auch wenn Atostros es aus irgendwelchen nicht ganz so legalen Quellen bezog, es schützte die Menschen vor den Dämonenwölfen, bis zum nächsten Vollmond. Dann begann wieder alles von vorn. Es war wie in einem schlechten Horrorfilm. Und das schlimmste daran war, dass niemand wusste, wie und ob der Fluch jemals gebrochen werden konnte. Fluch war eigentlich nicht ganz korrekt, denn die Dämonenwolfsgene waren durch ein Kind vererbt worden, das aus der Verbindung eines Vampirs und eines Werwolfs vor vielen Jahrhunderten entstanden war. Die Takais bevorzugten jedoch den Begriff Fluch, weil es für sie bedeutete, dass es Hoffnung gab, den Bann irgendwann zu brechen.

»Ja, ist das nicht toll? Dann sind wir heute wieder alleine zu Hause« rief Monica jubelnd und umarmte mich, woraufhin ich mit ihr lachen musste.

»Gehen die anderen denn wieder in ihre besondere Höhle, um zu träumen?«, fragte ich sie, als wir uns wieder beruhigt hatten.

Die Takais wussten nicht, ob Monica ebenfalls unter dem Bann stand. Erst, wenn die Kleine ihr zehntes Lebensjahr vollendete, würden wir es erfahren. Doch bis dahin verschwieg man ihr, was es mit den Dämonenwölfen auf sich hatte. Die Takais fanden es zu brutal, einem Kind davon zu erzählen. Also hatte man ihr gesagt, dass es sich um ein Ritual handelte, an dem sie erst teilnehmen konnte, wenn sie alt genug war. Monica glaubte, dass der ganze Stamm in Vollmondnächten kurz vor Mitternacht zu einer geheimen Höhle aufbrach, um dort zu träumen.

»Ja, wie immer.«

Man konnte ihr ansehen, dass die Stimmung bei ihr kippte, denn sie zog einen Schmollmund. »Lissaaaa?« Sie griff nach einer meiner Haarsträhnen und spielte damit.

»Ja?«

»Wann darf ich denn mal mit zum Träumen?«

Diese Frage war wie ein Messerstich ins Herz. Was sollte ich darauf antworten?

Ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln. »Das musst du Atostros fragen, Moni«, wich ich aus. Doch insgeheim dachte ich etwas anderes: Hoffentlich nie!

 

»Bis nachher«, verabschiedete sich Cody von mir und küsste mich.

»Ciao«, sagte ich und drückte ihn heftig. Es fiel mir nicht gerade leicht, ihn jetzt gehen zu lassen, mit dem Wissen, dass er sich schon bald in ein blutrünstiges Ungeheuer verwanden würde.

Fast alle Takais waren bereits Abmarsch bereit und hatten sich draußen am Ausstieg versammelt. Die kühle Nachtluft flog nach innen in die Höhle, weshalb ich leichte Gänsehaut bekam.

Widerstrebend löste ich mich von Cody, als Monicas Mutter nun als Letzte an die Treppe kam.

»Schläft Moni schon?«, fragte ich Ginna.

Die Heilerin nickte mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Im Gegensatz zu ihrer bezaubernden Tochter war sie ein richtiger Besen.

»Ich schau später mal nach ihr.«

»Wie du meinst«, brummte sie nur unfreundlich.

»Mach ich gerne«, rief ich ihr nach, während ich zu sah, wie sie die Treppe hochstieg.

Nun war Cody an der Reihe.

»Pass auf dich auf!«, murmelte ich.

Er nickte ernst, drückte noch ein letztes Mal meine Hand und kletterte hinter Ginna nach oben.

»Bis später«, rief ich nach oben zu den Takais.

Codys Gesicht erschien noch einmal oben am Ausgang, um die Luke zu schließen.

Ich liebe dich, formte ich mit meinen Lippen.

Er lächelte schwach, bevor die Klappe endgültig zufiel.

Nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, ging ich in die Küche, nahm mir ein Glas Wasser und einen quietschroten Apfel und ging ins Gemeinschaftswohnzimmer. Ich stellte das Glas auf den Tisch und ließ mich auf die Couch fallen. Um die Uhrzeit lief meine Lieblingsserie Shadow Blood. Auch wenn sie ein bisschen gruselig war und ich mich immer halb verängstigt unter der Decke versteckte, konnte ich einfach nicht darauf verzichten. Ich liebte diese Serie so. Vor allem aber machte sie der Gedanke noch gruseliger, dass es nachts war und ich sie mitten in einem eigentlich verbotenen Wald in einer Höhle schaute.

Doch gerade das hatte auch seine Nachteile. Es nervte tierisch, wenn der Empfang mal wieder abbrach, was hier unten leider keine Seltenheit war. Aber im Großen und Ganzen war es eigentlich in Ordnung. Der Empfang in meinem früheren Zuhause bei meinem Vater war sogar noch schlechter gewesen und das, obwohl wir in einem Haus und keiner Höhle gewohnt hatten.

Gähnend schaltete ich auf den richtigen Kanal um und machte es mir gemütlich. Ich beanspruchte das gesamte Sofa dafür und legte meinen Kopf auf meine zusammengefalteten Hände. In Gedanken sang ich die Titelmusik mit. Auch wenn ich sie lächerlich fand, war ich dennoch immer froh sie zu hören.

Schade, dass Cody nicht hier war. Es war auch seine Lieblingsserie. Sonst schauten wir sie zusammen. Wir kuschelten uns dann immer eng aneinander, und oft kam dann auch noch Moni dazu. Sie schlich sich aus dem Bett, obwohl sie es nicht durfte. Wenigstens schlief sie dieses Mal schon. Da wir aber nicht so sein wollten, ließen wir sie. Ich war auch mit Horrorfilmen aufgewachsen. Mein Vater hatte mich immer mit gucken lassen. Seine Erziehungsmethode war schon immer anders als die, der anderen Väter gewesen. Er war viel lockerer drauf. Aus Fehlern lernt man, war sein Motto. Er hatte mich zwar immer vorgewarnt, mich jedoch nie von etwas abgehalten. Ich sollte meine Grenzen selbst herausfinden und das hatte ich, ohne einen Schaden davon zu bekommen. Die ganz brutalen Filme, in denen alle drei Minuten Blut spritzte, durfte ich mir aber trotzdem nicht ansehen.

»Lauf, Maddy! Renn weg!«, ertönte es plötzlich laut aus dem Fernseher, weshalb ich leicht zusammenzuckte. Ich war mal wieder total in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass die Titelmusik schon zu Ende war und die Serie bereits begonnen hatte.

Ich biss in den Apfel und trank gleich danach einen großen Schluck Wasser hinterher. Mit meinem Fingernagel stocherte ich in meinen Zähnen rum. Ein kleines Stück Apfelschale hatte sich darin verfangen. Als ich es endlich lose gemacht hatte, schluckte ich es runter und biss erneut in den Apfel, der aus eigener Ernte kam. Er schmeckte etwas säuerlich, aber trotzdem lecker.

Doch auf einmal wurden meine Augen schwer und immer schwerer, bis ich sie nicht mehr offen halten konnte.

 

Irgendwann wurde ich durch ein leises Klirren aus dem Schlaf geweckt.

Der angebissene Apfel lag auf dem Boden und mein halb leeres Glas Wasser stand auf dem Wohnzimmertisch. Shadow Blood lief noch immer in voller Lautstärke. Die Uhr, die über dem Fernseher hing, zeigte, dass es kurz vor Mitternacht war, also hatte ich nicht lange geschlafen.

Mit zitternden Fingern nahm ich die Fernbedienung und drückte auf das Minuszeichen, um erst mal die dröhnende Lautstärke zu reduzieren. Wieder klirrte es von irgendwoher. Anscheinend war Monica wach geworden.

Ich stand auf und ging in ihr Zimmer, um nachzusehen. Doch zu meiner Überraschung lag sie friedlich in ihre Decke eingekuschelt und schnarchte leise.

Hatte sie mich etwa erschrecken wollen und stellte sich jetzt nur schlafend?

Doch in diesem Moment klirrte es wieder. Hastig, aber auch leise, um die Kleine nicht zu wecken, schloss ich die Tür und folgte mit pulsierendem Herzen dem Geräusch. Es war aus der Küche gekommen und hatte sich angehört, als wäre etwas auf die kalten Steinfliesen gefallen.

Als ich aber vor der Küchentür stand, zögerte ich. Die Tür war leicht angelehnt, sodass ich durch den Spalt nur einen kleinen Teil des Inneren sehen konnte, aber nicht das, was die Geräusche verursachte. Oder den, der sie verursachte? Aber wer konnte das sein? Die Takais waren doch alle in ihrem Verließ, das sich erst bei Anbruch des Morgens automatisch wieder öffnen würde, wenn sie alle genug Blut getrunken hatten.

Ich legte meine zitternde Hand auf die Klinke und vergrößerte den Spalt.

»Komm ruhig rein«, hörte ich eine vertraute Stimme von der anderen Seite sagen.

»Cody?«, fragte ich verwirrt und öffnete die Tür nun ganz.

Tatsächlich. Mein Freund stand am Tresen und schmierte sich ein Butterbrot.

»Was machst du denn hier?«

Er drehte seinen Kopf langsam zu mir und lächelte mich schief an. Eine Antwort kam jedoch nicht.

»Cody?«, versuchte ich es erneut und schluckte einmal heftig. Auf der Küchenuhr war es eine Minute vor Mitternacht.

Doch er wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Butterbrot zu.

»Cody«, rief ich jetzt fast panisch, »es ist gleich Mitternacht. Was machst du hier? W-warum bist du nicht bei den anderen?«

Er legte das Messer hin und senkte seinen Kopf über den Teller. Völlig regungslos blieb er in dieser Position stehen.

»Cody?«, fragte ich diesmal mit etwas sanfterer Stimme. »Ist alles okay?« Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu und legte meine Hand auf seine Schulter. Ich drehte ihn zu mir und zuckte zurück. Seine Augen waren so weiß wie Schnee, die Pupillen wie ausgelöscht. Und sein Blick traf mich voller Hass.

Die Uhr schlug Mitternacht

Das und Codys leerer Blick versetzten mich in eine Schockstarre. Mein Herz schlug so schnell, dass es unmöglich war, die Schläge zu zählen.

Cody krampfte mit einem Mal. Verbissen versuchte er sich gegen die Verwandlung zu wehren, die nun folgte. Es dauerte nicht lange, bis ihm die großen, schwarzen, zackigen Flügel aus dem Rücken wuchsen, sich sein Schädel verformte und spitze Zähne aus seinem riesigen Maul ragten. Sein warmer Atem traf und betäubte mich. Ich traute mich nicht mehr, auch nur eine Bewegung zu machen. Doch das Zittern konnte ich nicht abstellen, und die Tränen zurückhalten schon gar nicht.

»Bitte nicht«, hauchte ich verzweifelt.

Er setzte eine Pfote nach vorne, direkt auf mich zu. Ruckartig sprang ich nach hinten und verschloss so schnell ich konnte die Küchentür. Hinter der Tür ließ er ein einschüchterndes, kräftiges Brüllen aus seinem Rachen los. Seine scharfen Krallen machten ein unangenehmes Geräusch, während sie über den Boden schlitterten. Man konnte hören, wie er tobte und randalierte. Es klang, als würde Geschirr zerspringen und Töpfe auf den Boden gedonnert. Das Besteck wurde aus den Schubladen gerissen und dann zersplitterte Holz. Wahrscheinlich hatte der Dämonenwolf Stühle gegen die Wand geschmettert.

Ich stand immer noch wie eingefroren vor der Küchentür und konnte mich nicht bewegen. Ich wusste nicht warum, doch es war wie damals. Ein Wunder, dass ich es überhaupt aus der Küche geschafft hatte.

Mit einem Mal war alles ruhig. Zu ruhig. Man hörte nichts mehr, außer meinen immer noch schnellen Atem und meinem ängstlichen Schluchzen. Wäre mein Brustkorb offen gewesen, hätte sich mein Herz so laut wie eine Trommel angehört. Es stand kurz vor dem Zerplatzen.

Ich legte meine zittrige Hand auf die Klinke und lauschte mit dem rechten Ohr an der Tür. Stille.

Langsam und unsicher schaute ich durch das Schlüsselloch. Nichts. Nur eine völlig verwüstete Küche. Keine Spur von Cody, beziehungsweise dem Biest, in das er sich erst vor einigen Sekunden verwandelt hatte.

Es machte mir mehr Angst nicht zu wissen wo er war, als wenn er jetzt direkt vor mir gestanden hätte. Ich hob den Kopf kurz hoch und atmete tief ein. Danach riskierte ich einen erneuten Blick durch das Schlüsselloch. Er konnte doch nicht einfach weg sein. Und das war er auch nicht. Ich ließ einen lauten Schrei heraus, fuhr zurück und hielt mir dann ganz schnell den Mund zu. Ich hatte direkt in sein seelenloses, hasserfülltes Auge geblickt.

Mein Herz blieb stehen, aber bevor ich auch nur einen Muskel rühren konnte, flog plötzlich die Tür auf und schlug mit voller Wucht gegen mich. Ich flog nach hinten und prallte mit dem Rücken hart gegen die Wand. Doch ich hatte keine Zeit, dem Schmerz auch nur eine Sekunde Beachtung zu schenken, denn Cody, der immer noch in dieser finsteren Gestalt steckte, war nur noch wenige Schritte von mir entfernt. Seine weißen Augäpfel starrten gierig auf mich herab. Sie waren so strahlend weiß, dass sie mich schon fast blendeten. Mit seiner großen, schleimigen Zunge leckte er sich über sein riesiges Maul, und zeigte seine scheußlichen Zähne. Ganz besonders fielen aber die vorderen zu beiden Seiten auf, die ihm wie Vampirzähne aus dem Maul ragten.

Da ich mich nicht traute aufzustehen, krabbelte ich, ohne ihn aus den Augen zu lassen, schnell nach hinten. Es war nicht nur die Angst, er könnte etwas tun, was ich nicht kommen sah. Ich konnte meinen Blick nicht von seinen Augen abwenden. Irgendetwas fesselte mich an dieses weiße, leere Etwas. Ich war wie hypnotisiert.

Der Dämonenwolf machte einen Schritt nach vorne, dann noch einen und noch einen … bis er direkt vor mir stand, sich auf die Hinterbeine stellte und einmal laut brüllte. Als er sich auf mich stürzte, rollte ich mich zur Seite. Trotzdem erwischten mich seine Krallen noch am Oberschenkel. Sie hinterließen drei langgezogene Kratzer, aus denen sofort Blut hervorquoll.

Kapitel 3

 

»Lissa?«

»Nein«, jammerte ich und kauerte mich verzweifelt zusammen. »Lass mich«, schrie ich.

»Lissa!«, hörte ich wieder diese aufgeregte Stimme, die mir plötzlich sehr bekannt vorkam.

Noch völlig benommen öffnete ich meine Augen und nahm eine verschwommene Gestalt war. Ich blinzelte ein paar Mal und erkannte, dass es Cody war, der an mir herumrüttelte.

»Wach auf! Es ist alles gut!« Nun wurde seine Stimme lauter und das Gerüttel heftiger, wodurch ich endlich ganz wach wurde.

Nach einigen Sekunden kapierte ich dann, dass ich auf der Couch eingeschlafen war und Codys Angriff nur wieder einer meiner schrecklichen Albträume gewesen war. Allerdings hatte sich dieser viel echter angefühlt.

»Endlich!« Cody stöhnte erleichtert auf. »Du bist wach.« Ein sanftes Lächeln erschien auf seinem Gesicht und lächelnd half er mir, mich aufrecht hinzusetzen.

Mir war total schwindelig und ich schwitzte noch immer am ganzen Körper. Plötzlich spürte ich auch noch einen stechenden Schmerz an meinem Oberschenkel.

War das zu fassen? Meine Hose war zerrissen und es schauten drei dicke Kratzer hervor, an denen getrocknetes Blut klebte.

In Gedanken bedankte ich mich dafür, dass das Blut nicht mehr frisch war und somit keine Gefahr darstellte.

»Ist alles okay? Du bist so blass«, fragte Cody besorgt und legte einen Arm um meine Schulter.

Ich presste meine Lippen zusammen und nickte.

»Sicher?« Er musterte mich skeptisch. »Du zitterst am ganzen Körper.«

»Ja, ich hatte nur einen dieser Albträume. Halb so wild«, murmelte ich.

»Wieder von deiner Mutter?«

»Nein. Ausnahmsweise mal nicht.« Aber das machte es nicht besser. Der Traum hatte sich so schrecklich real angefühlt. Ich drehte meinen Kopf zur Seite, als ich ein leises Kichern hörte.

Jessica war in das Gemeinschaftswohnzimmer gekommen und machte sich über mich lustig. Ihre Lieblingsbeschäftigung.

Anstatt sie fies anzustarren oder einen blöden Spruch rauszuhauen, ignorierte ich sie einfach. Ich hatte jetzt absolut keine Nerven für sie. Außerdem beobachtete ich Cody, der gerade meinen angebissenen Apfel vom Tisch nahm. Er betrachtete ihn misstrauisch und roch dann sogar an ihm. Angeekelt verzog er das Gesicht und hielt den Apfel mit ausgestrecktem Arm von sich weg.

»Traumpulver!«, zischte er, sprang auf und warf Jessica einen finsteren Blick zu, die daraufhin laut losprustete.

»Spinnst du? Du weißt wie gefährlich das sein kann!« Zornig schleuderte er den Apfel in ihre Richtung, den sie jedoch geschickt auffing.

»Keine Angst, es ist ja nichts passiert. Und außerdem«, zickte Jessica und warf den Apfel zurück zu Cody, »sollte sie eh mal aufhören, ständig meine Äpfel zu essen.«

»Erstens sind es nicht deine Äpfel und zweitens hätte was passieren können. Du hättest sie ernsthaft verletzen können!« Er donnerte den Apfel mit voller Wucht zurück.

Diesmal konnte Jessica ihn nur ganz knapp abfangen, ehe er sie am Kopf traf.

»Mein Gott. Sie kann ja nicht dran sterben«, konterte sie schnippisch und wieder sauste das Stück Obst zu Cody.

»Das wurde noch nicht bewiesen!«, pampte er zornig zurück und feuerte die Frucht mit voller Wucht auf Jessica ab.

Diesmal hätte er sie treffen müssen, doch leider konnte sie sich vorher noch ducken, sodass der Apfel gegen die Wand prallte, zermatschte und in Einzelteilen auf dem Boden landete und ein großer Fleck an der Wand zurückblieb.

Da ich keinen Plan davon hatte, worüber sich Cody und Jessica stritten, wusste ich nicht was ich sonst denken sollte, und mir schoss, schade um den Apfel, durch den Kopf.

Nachdem sich Jessica gewissenlos aus dem Staub gemacht hatte, und uns auch noch die Beseitigung der Apfel-Schweinerei überließ, fasste sich Cody mit seinen Händen an den Hinterkopf und machte einen verzweifelten und gleichzeitig wütenden Gesichtsausdruck.

»Traumpulver«, murmelte er. »Sie ist wirklich …«

»Traum- was?«

»Traumpulver«, wiederholte Cody und setzte sich wieder neben mich auf das Sofa. »Ein uraltes Rezept, das unsere Vorfahren vor mehr als hundert Jahren entdeckt haben. Seitdem ist es in unserem Besitz, darf aber eigentlich nicht verwendet werden.« Er biss sich verärgert auf die Lippe.

»Und was macht dieses Traumpulver?«

»Das Zeug lässt dich in weniger als einer Minute einschlafen und bringt dich dazu, von einer deiner größten Ängste zu träumen. Das Pulver gibt dir dabei das Gefühl, dass dieser Traum total real ist und du manchmal sogar noch am nächsten Tag der festen Überzeugung bist, dass alles wirklich passiert ist.«

»Krass«, nuschelte ich vor mich hin.

»Es kann auch ziemlich gefährlich werden, da man sich in der Zeit, in der man träumt, verletzen kann. Das was du im Traum spürst, wird Realität.«

Mir wurde eiskalt. Das erklärte die Kratzer an meinem Bein. Mein Rücken und mein Kopf schmerzten auch ziemlich. Das musste von dem Aufprall und der Tür kommen.

»Wenn ich das meinem Vater erzähle, kriegt sie richtig Ärger!«, zischte Cody aufgebracht.

»Warte!« Ich hielt ihn am Arm zurück, denn er wollte aufstehen. »Beruhige dich. Es ist ja nichts passiert.«

Auch wenn ich zugegebener Maßen ebenfalls sauer auf Jessica war, wollte ich nicht, dass er sie verpetzte. Das würde sie nur noch wütender machen. Außerdem hatte ich keine Lust, wieder als Leidtragende dazustehen. Ich wollte nicht wie ein kleines hilfloses, schwaches Kind wirken, das ständig geärgert wurde und nicht auf sich selbst aufpassen konnte. Schließlich war ich alt genug, meine Probleme selbst zu lösen.

»Nichts passiert?«, wiederholte er und sah mich entsetzt an.

Ich zuckte mit den Schultern und setzte meinen unschuldigen Blick ein.

»Du kennst sie. Wer weiß was sie als nächstes vorhat.«

Bevor ich mir eine Antwort darauf überlegen konnte, stand Codys Vater Atostros in der Türschwelle. Wie immer fragte ich mich, was er wohl gerade dachte, wenn er diesen Ausdruck hatte. Es wirkte so nichtssagend. Man konnte nicht erkennen, ob er traurig, wütend oder sonst was war. Und ob es vielleicht etwas von unserer Unterhaltung mitbekommen hatte.

Mit einem leichten Kopfschütteln schaute ich angespannt zu Cody herüber, in der Hoffnung, er würde nichts sagen.

Er kniff die Lippen zusammen und nickte dann aber kaum merklich.

»Clarissa«, wandte sich Atostros mir zu. »Könntest du morgen bitte Helens Arbeit übernehmen? Es geht ihr nicht gut und ich fürchte, sie wird es morgen unmöglich schaffen, die Wäsche zu waschen.«

»Klar. Kein Problem«, meinte ich verständnisvoll.

»Wäre das aber nicht unfair, wenn Lissa alles alleine machen müsste? Ich könnte ihr helfen …«, mischte sich Cody ein.

Misstrauisch sah ich ihn an. »Du willst dich doch nur vorm Holzhacken drücken.«

»Ich?«, antwortete er gespielt fassungslos. »Niemals.«

Doch als Atostros' ausdruckslose Miene einen leicht vorwurfsvollen Ausdruck annahm, erkannte Cody, dass er mit seiner Schauspielerei wohl eher wenig Erfolg haben würde.

»Ist ja schon gut.« Genervt verdrehte er die Augen.

»Wenn du allerdings schon früh anfängst, kannst du mir danach ja noch helfen«, schlug ich vor und musste dabei ein wenig kichern.

»Ähm«, fing er an, verstummte dann aber, weil ihm so schnell wohl keine Ausrede einfiel.

Doch bevor er sich eine ausgedacht hatte, antwortete sein Vater für ihn.

»Das ist doch mal eine gute Idee.« Atostros zwinkerte mir zu und man sah, wie seine Mundwinkel unter dem langen, grauen Vollbart ein wenig nach oben zuckten.

Ich konnte nicht anders und grinste Cody schadenfroh an. Der wiederum zwinkerte mir zu, worauf mein Herz einen Hüpfer machte.

 

Am Abend saßen Cody, Monica, Brandon, Zera, Justus und ich gemütlich bei flackernd romantischem Kerzenschein und heißem Kakao im Wohnzimmer an dem riesigen Esstisch.

Bei den Takais gab es viele Traditionen, und eine davon war der Donnerstagabend. Da versammelten sich diejenigen, die Lust auf Gesellschaftsspiele hatten.

Auch heute Abend würfelten wir aus, wer sich dieses Mal ein Spiel aussuchen durfte. Jeder bekam einen Würfel und musste insgesamt drei Mal würfeln. Danach wurde die Punktzahl zusammengerechnet und derjenige, der die höchste hatte, durfte entscheiden, was gespielt wurde. Wenn jedoch zwei Leute die gleiche Punktzahl hatten, gab es ein Stechen. So wie bei Justus und mir gerade.

Er pustete sich eine lange, rote Haarsträhne aus dem Gesicht und strich sie sich anschließend hinters Ohr. Mit seinen hellbraunen Augen musterte er mich scharf. Er streckte seine, miteinander verhakten Finger nach vorne und ließ sie laut knacken.

»Bereit?«, fragte ich herausfordernd und zog meine rechte Augenbraue nach oben.

»Bereit.«

Vorher hauchte Justus jedoch noch in seine Hände und rieb sie dann aneinander. Er liebte es im Mittelpunkt zu stehen und war bekannt dafür, aus allem eine riesen Show zu machen. Aber dieses Mal spielte ich mit. Wir musterten uns mit scharfem Blick und schüttelten den Würfel in beiden Händen. Das erinnerte mich an so einen typischen Westernfilm, bei dem sich zwei Cowboys gegenüberstanden und bereits vor dem Schusswechsel versuchten, sich mit Blicken zu töten.

Brandon, der eindeutig Entertainerqualitäten besaß, spielte den Moderator. Er hatte sich weit über den Tisch gelehnt und zählte von zehn runter.

»…vier … drei … zwei … eins und readyyyy!«

Bei ready ließen wir beide unsere Würfel auf den Tisch rollen. Während Justus' Würfel schon wieder stoppte und eine Vier anzeigte, machte meiner noch ein paar zusätzliche Drehungen und erhöhte somit die Spannung.

»Und er dreht sich und dreht sich und dreht sich …«, moderierte Brandon weiter und klatschte anschließend in die Hände, als auch mein Würfel endlich stoppte und eine Fünf anzeigte.

Ich hatte gewonnen. Alle klatschten freudig in die Hände und ließen einen Jubelschrei los. Außer Justus natürlich, der verärgert mit der über seine knappe Niederlage mit der Faust verärgert auf die Tischkante schlug. Lachen musste er dann aber trotzdem. Doch das war nichts zu meinem Siegergrinsen. Auch wenn mir dieser Sieg eigentlich nicht viel bedeutete, strahlte ich dennoch bis über beide Ohren.

Brandon nahm mein Handgelenk und hielt meinen Arm nach oben. »Und gewonnen hat … Lissa!«, rief er in sein unsichtbares Mikrofon. »Tja, Justus, erst verlierst du das Tanzbattle gegen mich und jetzt auch noch beim Würfeln.« Gespielt enttäuscht schüttelte Brandon den Kopf. »Was wird nur aus dir?«

Kichernd stützte ich mich mit beiden Händen am Tisch ab und stand auf.

»Und jetzt erhebt sich unsere Gewinnerin und …«, moderierte Brandon weiter, musste dann aber aufhören, weil Justus seinen Kopf zwischen die Achseln genommen hatte und seine Haare durchwuschelte.

»Boah Junge, geh mal duschen«, keuchte Brandon würgend und tat so, als würde er fast ersticken.

Daraufhin ertönte ein stolzes Lachen aus Justus' Mund, das auch alle anderen zum Lachen brachte.

Trotz Justus' Versuchen Brandon zum Schweigen zu bringen, moderierte er munter weiter: »Lissa wurde aufgehalten, macht sich aber nun auf, um ins Lager zu gelangen. Es war nicht gerade ein leichter W- Ah … Hilfe.«

Er schüttelte Justus ab, der ihm den Mund zu halten wollte, und machte weiter. Jetzt kommentierte er sogar meinen Blick.

»Doch bevor sie zu ihrer mühsamen und gefahrenvollen Reise ins Lager aufbricht, wirft sie mir noch einen genervten Blick zu, muss jetzt aber doch über meine charmante Ausdrucksweise lachen. Jetzt wirft sie Cody einen Hilf-mir-der-ist-verrückt-Blick zu und … und … lacht noch mehr. Tatsächlich hat sie es geschafft, Cody in ihren Bann zu ziehen. Denn nun kann sich auch Cody nicht mehr halten und muss kopfschüttelnd grinsen. Doch richten wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf die reizende, beziehungsweise gereizte Clarissa. Sie macht große Augen und verlässt nun zielgerichtet den Raum, um ein hoffentlich grandioses Spiel aus dem Lager zu holen. Wie immer …«

Seine Stimme wurde leiser und als ich um die Ecke bog, hörte ich sie gar nicht mehr. Er war eindeutig verrückt, aber grinsen musste ich noch immer.

Im Lager angekommen, stand ich vor dem großen Schrank und überlegte, welches Spiel ich nehmen könnte. Eigentlich konnte man den kleinen Raum, in dem ich mich befand, gar nicht wirklich als Lager bezeichnen, denn hier gab es eigentlich nur Spiele und Bücher. Das richtige Lager befand sich ein paar Räume weiter. Minibibliothek wäre der passendere Name gewesen.

Letztendlich entschied ich mich ganz klassisch für Tabu. Es würde wieder witzig werden, zu sehen, wie Justus sich aufregte, wenn er etwas vormachen musste und es seine Gruppe mal wieder nicht erraten konnte. Das war schon häufiger so gewesen.

Nachdem ich das Spiel zwischen den ganzen anderen Sachen herausgekramt hatte, schloss ich die Schranktür wieder und machte mich auf den Weg zu den anderen, die wahrscheinlich schon sehnsüchtig auf mich und das Spiel warteten.

Ich zuckte schlagartig zusammen, als ich mit dem Spiel plötzlich gegen etwas stieß. Erschrocken blieb ich stehen und blickte auf.

Atostros stand vor mir, der sich anscheinend ebenso erschreckt hatte wie ich. Mit blassem Gesicht und großen Augen blickte er auf mich herab.

»Was machst du denn hier, Lissa?«

Auffällig schnell schloss er die Tür zu seinem Büro, aus dem er gerade gekommen war und drehte den Schlüssel im Schloss um. Danach steckte er sich ihn in seine Manteltasche.

»Ich wollte nur das Spiel hier holen«, erklärte ich ihm und hielt es als Beweis hoch.

»Ach so, na dann viel Spaß bei eurem Spiel. Ähm, wenn du mich jetzt entschuldigst«, er räusperte sich, »ich hab noch eine Menge zu tun.« Mit diesen Worten, drängte er sich an mir vorbei und lief den Gang hinunter in die entgegengesetzte Richtung davon.

Etwas ratlos sah ich ihm hinterher, dann fiel mein Blick auf die verschlossene Bürotür. Dass Atostros' Büro geheim war, war ja kein Geheimnis, aber dass er so abweisend war, ließ mich schon irgendwie stutzig werden.

Schulterzuckend setzte ich auch meinen Weg fort und versuchte nicht großartig darüber zu rätseln. Ich akzeptierte seine Privatsphäre ganz einfach und wollte mich auch nicht einmischen, um mir hinterher nicht noch unnötigen Ärger einzuhandeln.

Als ich mit dem Spiel zurück zum Tisch kam, erwarteten mich alle schon ungeduldig und gespannt. Monica sprang auf und kletterte auf meinen Schoß, nachdem ich mich hingesetzt hatte. Ich schlang meine Arme um sie, drückte sie ganz doll an mich und gab ihr einen kleinen Schmatzer auf die zarte Wange.

Die Reaktionen der anderen auf das Spiel waren hauptsächlich positiv. Eigentlich waren sogar alle damit zufrieden, bis auf Justus, der schon jetzt eine genervte Miene zog.

»Das hast du doch mit Absicht gemacht«, beschwerte er sich.

Ich grinste mitleidlos. »Selbst schuld, wenn du dich immer so schön aufregst.«

Kapitel 4

 

Mühsam rubbelte ich eine blaue Bluse am Waschbrett entlang und ging mit einer Wurzelbürste noch mal darüber. Ich verzweifelte daran, den Tomatenfleck am rechten Ärmel herauszubekommen.