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Seit 2014 lebt, arbeitet, organisiert und kämpft das kleine Kollektiv AngryWorkers in Greenford, London – einem wichtigen Knotenpunkt in der aktuellen Ökonomie der Großstadt. Von hier aus versorgen die zumeist prekär beschäftigten Arbeiter*innen der Fabriken und Logistikzentren des Stadtteils einen großen Teil der Metropole mit Lebensmitteln und anderen Waren. Genau hier haben sich die AngryWorkers in Zeitarbeit und schlecht bezahlte Jobs begeben, in Logistik- und Warenlager, Fabriken für Fertigessen und 3D-Drucker, aber auch in Gewerkschaften und Freundschaften. Sie haben eine Zeitung herausgegeben, den ein oder anderen Streik angezettelt und ein Solidaritätsnetzwerk aufgebaut, das bei Ärger mit Bossen oder Vermieter*innen direkte Hilfe leistet. Und am Feierabend haben sie dann ihre Erfahrungen mit dieser revolutionären Organisierung niedergeschrieben. Class Power! enthält dichte Schilderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort und erzählt von den Versuchen politischer Organisierung. Darüber hinaus besticht es durch die kluge und scharfe Auseinandersetzung mit politischen und ökonomischen Hintergründen und aktuellen Themen wie migrantisierter Arbeit, Automatisierung oder Reproduktionsarbeit. Das Buch ist alles andere als eine ›akademische‹ Arbeiteruntersuchung. Basierend auf mehreren Jahren direkter Erfahrung und Intervention haben die Autor*innen aus ihren Erlebnissen, Beobachtungen und Schlussfolgerungen Vorschläge für eine neue, revolutionäre Klassenpolitik entwickelt, die auf Zusammenarbeit und Kreativität im Alltag setzt. Für all jene, die auf der Suche nach neuen Wegen in eine befreite Gesellschaft sind, ist die Lektüre ein Gewinn.
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Seitenzahl: 826
Veröffentlichungsjahr: 2022
AngryWorkers
Class Power!
Über Produktion und Aufstand
Aus dem Englischen übersetzt von Gabriel Kuhn
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
AngryWorkers:
Class Power! Über Produktion und Aufstand
1. Auflage, März 2022
eBook UNRAST Verlag, September 2022
ISBN 978-3-95405-129-8
Titel der Originalausgabe:
Class Power on Zero-Hours
© AngryWorkers 2020
https://www.angryworkers.org/
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter
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Umschlag: UNRAST Verlag, Münster
Satz: UNRAST Verlag, Münst
Für Peter.Du warst immer an unserer Seite, als Genosse und Freund.
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung
Organisierung
Kapitel 1: West-London
Kapitel 2: Das Solidaritätsnetzwerk und lokale Kampagnen
Kapitel 3: Ein Überstundenstreik bei Waitrose und ein Bummelstreik bei Sainsbury’s
Kapitel 4: Die Zeitung
Kapitel 5: Klasse, Familie und Frauen – am Arbeitsplatz und darüber hinaus
Kapitel 6: Syndikalismus 2.0 und die IWW-Organisierungskampagne
Arbeiteruntersuchung 1
Kapitel 7: Lebensmittel im Kapitalismus
Kapitel 8: Arbeit und Widerstand in der Lebensmittelfabrik Bakkavor
Arbeiteruntersuchung 2
Kapitel 9: Lebensmitteldistribution im Kapitalismus
Kapitel 10: Arbeit und Arbeitskampf bei Tesco
Arbeiteruntersuchung 3
Kapitel 11: 3D-Drucker-Fabrik
Revolutionäre Strategie
Kapitel 12: Bestandsaufnahme und Kritik am demokratischen Sozialismus
Kapitel 13: Die Macht der Klasse und ihre ungleiche Entwicklung
Kapitel 14: Die Bedingungen einer revolutionären Transformation in Großbritannien
Kapitel 15: Organisierung und fortgeschrittene Kämpfe
Appendix
Eine Arbeitergeschichte West-Londons
Anmerkungen
In der Übersetzung wurde selektiv gegendert. Einerseits soll das Maskulinum nicht als universell vorausgesetzt werden, andererseits können sich zu viele Gender-Sternchen auf die Lesbarkeit auswirken. Insofern wurden unbestimmte Gruppen (z.B. Arbeiter*innen oder Genoss*innen) mit Gender-Sternchen geschrieben, Funktionsträger wie Beamte oder Unternehmer sowie Berufsgruppen ohne. Eine genaue Grenzziehung ist schwierig.
Dank an alle, die mir bei Fachbegriffen aus der Arbeits- und Gewerkschaftswelt halfen, im Besonderen Torsten Bewernitz, Redakteur bei express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit.
Die Übersetzung wurde vor der Veröffentlichung vom Verlag überarbeitet und mit erklärenden Fußnoten versehen.
Kurz nach der Fertigstellung dieses Buchs senkte sich der erste Corona-Lockdown aufs Land. Während der ersten Wochen verfolgten wir das soziale Geschehen durch das Zerrglas der sozialen Medien, eingekuschelt in die Glaswolle der neuen sozialen Isolation. In »Class Power on Zero-Hours« beschreiben wir unsere Erfahrungen während sechs Jahren politischer Versuche in Nahrungsmittelfabriken und Logistikzentren im Westen Londons und heben die zentrale Rolle von Arbeiter*innen in den Industrien, die wesentlich für eine gesellschaftliche Umwälzung sein werden, hervor. Vor Corona fühlten wir uns, der jahrelangen (Wühl-)Arbeit in unseren Teilen der Stadt zum Trotz, als ultralinke Außenseiter, nun machten wir es uns auf Stapeln unseres frisch gedruckten, aber ungelesenen Buchs bequem und konnten in den Nachrichten verfolgen, wie die breite Öffentlichkeit sich unsere Fragen stellte: Wie kommen Nahrungsmittel in die Supermarktregale, und warum sind diese jetzt leer? Wer leistet eigentlich ›wesentliche Arbeit‹ und warum sind die Bedingungen dieser Arbeit so schlecht? Dies war zugleich frustrierend und aufregend.
In diesem Sinne war der Lockdown ein weiterer Schub gesellschaftlicher Bewusstseinserweiterung. Nach der Finanzkrise 2008 war es zum ersten Mal möglich, auf breiter Basis mit Kolleg*innen über die Schwächen eines ›Systems‹ zu reden, welches sie in den vorangegangenen Jahren in erster Linie als ›natürlichen Prozess der Globalisierung‹ erfahren hatten. Mit dem Brexit mussten sich viele Arbeitskolleg*innen mit der Frage konfrontieren, welche Konsumartikel und Lebensmittel eigentlich in Großbritannien produziert und welche importiert werden. Wie schon nach der Krise des Geldsystems und der Handelsbeziehungen, vertiefte und erweiterte sich die Perspektive auch mit der Corona-Krise und die zentralen Fragen der Arbeit selbst gerieten nun in den Blick: Wer arbeitet was, wie und warum?
Kolleg*innen der Supermarktkette Tesco, die ihr im Verlauf dieses Buches besser kennenlernen werdet, fragten sich mehr als je zuvor, warum sie ihre Gesundheit für die Belieferung von Millionärs-Apartments oder Finanzbüros aufs Spiel setzen sollten – während ihnen die Versorgung von Kindergärten oder Altersheimen umso wichtiger erschien. Kolleg*innen bei Bakkavor, einem Komplex von Nahrungsmittelfabriken, der einen zentralen Ort unserer Erfahrungen bildete, betraten während der ersten Wochen des Lockdowns die Bühne der landesweiten Medien. Eine Kollegin hatte den Manager der Fertigessenfabrik während einer Rede in der Kantine gefilmt, in der er den versammelten Arbeiter*innen mit Entlassung drohte, falls sie in den kommenden Wochen virusbedingt zu Hause bleiben sollten. Dies sorgte für den üblichen Ein-Tages-Skandal in der bürgerliche Presse – Skandale, die es erlauben, die Situation schnell wieder zu vergessen. Die Gegend rund um die Fabrik, die in den letzten Jahren unser politisches Zuhause geworden war, führte wenig später die nationalen Charts der Coronafallzahlen an. Die überwiegend dort wohnenden und arbeitenden migrantischen und weiblichen Arbeitskräfte sind mit einer schlechten Gesundheitsversorgung, überbelegten Wohnungen und dichtgedrängten Fließbändern konfrontiert und erhalten kein Krankengeld – eine fatale Kombination.
Aber wir haben dieses Buch nicht geschrieben, um über das Schicksal der Arbeiter*innen zu jammern. Auch noch während der ersten Coronawelle versuchten wir zu verstehen, inwiefern wir als Arbeiter*innen selbst die Bedingungen auf der Arbeit bestimmen. Wir befragten Dutzende Kolleg*innen in verschiedenen Branchen darüber, wie sich das Machtverhältnis zwischen Arbeiter*innen und Management verändert hat. Londoner U-Bahnfahrer erzählten, wie sie kürzere Schichten gegen den Willen der Geschäftsleitung durchsetzten. Hebammen berichteten, wie sie landesweit Internetforen nutzten, um Entscheidungen darüber zu treffen, welche Hausbesuche noch getätigt werden sollten und welche nicht. Wir unterstützten Pizza-Hut-Arbeiter im Kampf um ihren Lohn, nachdem ihr Boss sie ohne Anmeldung bei der staatlichen Coronahilfe entlassen hatte. Während dieser Auseinandersetzung entstanden kurze, aber interessante Verbindungen zu lokalen Nachbarschaftshilfen, die sich in der ersten Coronawelle zusammengefunden hatten. Dies bestätigte in kleinem Rahmen die Bedeutung des Zusammenspiels von Solidaritätsnetzwerken und Arbeiterkollektiven in Betrieben, auf das wir in diesem Buch eingehen.
Der Lockdown hatte uns anfänglich gelähmt, wie viele unserer Kolleg*innen auch. Wir hatten viele Diskussionen mit Genoss*innen in anderen Ländern, aber es waren erst die Angriffe auf Löhne und Arbeitsbedingungen infolge der ›Fire and re-hire‹-Welle, die uns aus der Winterstarre holten und uns wieder aktiv werden ließen. Es zeigte sich, dass es sinnvoll gewesen war, sich sowohl an einem bestimmten Ort der Arbeiterklasse praktisch zu verwurzeln, als auch die politischen und strategischen Diskussionen und Untersuchungen weiterzuführen.
Im Frühling 2020 verkündeten British Airways und der Flughafen Heathrow im Westen Londons, dass Tausende von Arbeiter*innen entlassen und zu schlechteren Bedingungen wieder eingestellt werden würden. Die Gewerkschaft UNITE hatte diesem Angriff nur eine theatralisch-patriotische Kampagne entgegenzusetzen, in der sie sich bei den Politiker*innen beschwerte, dass British Airways »Britannien verraten« hätte. Am Flughafen selbst machte UNITE ihrem Namen alle Schande, indem zum Beispiel Verträge unterschrieben wurden, die einem (älteren) Teil der Belegschaft Vorteile zusicherten, während die Masse der Arbeiter*innen außen vor blieb. Wir hatten dank unserer Arbeit der letzten sechs Jahre Arbeiter*innen und Genoss*innen am Flughafen Heathrow kennengelernt, was uns half, in den sich anschließenden schwachen Streik zu intervenieren. Wir kannten Arbeiter*innen, die in der Cargo-Abteilung des Flughafens während des Lockdowns Überstunden schoben, um Masken und andere Corona-Artikel aus chinesischen Frachtmaschinen zu entladen. Die Gewerkschaft hätte diese Situation des Booms im Frachtbetrieb ausnutzen können, um die strukturelle Schwäche der Streiks im Passagierverkehr zu kompensieren – aber sie entschied sich dafür, einen separaten und kaum besseren Abschluss für die Cargo-Arbeiter*innen zu unterzeichnen. Nicht nur aufgrund des Lockdowns war es schwierig, während des kurzen Streiks eine alternative oder zumindest gewerkschafts- und abteilungsübergreifende Vernetzung aufzubauen.
Unser Verwurzeltsein und unsere Kontakte in Heathrow erlaubten uns, hinter die offiziellen Presseerklärungen der Gewerkschaften zu schauen. British Airways und Heathrow waren nur der erste Stein in einer Dominokette von Konflikten um Löhne und Arbeitsplätze. Als Kollektiv versuchten wir zu verstehen, ob die aktuelle gesellschaftliche und globale Situation diesen defensiven Kämpfen vielleicht eine neue Qualität oder zumindest das Potenzial für Radikalisierung geben würde. Wir hatten folgende Fragen an die neuen Kämpfe:
Welche Spannung entsteht, wenn Unternehmer in einigen Branchen versuchen, die Krise für Angriffe auf unsere Arbeitsbedingungen zu nutzen, während es gleichzeitig einen akuten Arbeitskräftemangel in vielen Branchen gibt, den die herrschende Klasse aus politischen und mit dem Brexit verbundenen Gründen nicht einfach durch Massenmigration ausgleichen kann?
Können kämpfende Arbeiter*innen ihre Erfahrungen der ansatzweisen Autonomie während der ersten Wochen des Lockdowns, in denen sie selbst für ›Gesundheitsschutz‹ bei der Arbeit sorgen mussten, für sich nutzen?
Wie verhalten sich diese Erfahrungen zu den Versuchen der Gewerkschaften, die Streiks zu kontrollieren und die Arbeiter*innen zu bevormunden?
Wie lassen sich Massenentlassungen und schlechtere Bedingungen in der aktuellen Situation durchsetzen, wenn die herrschende Klasse doch gerade den staatlichen Geldbeutel für Krisenmaßnahmen geöffnet und die ›Marktkräfte‹ und den Schuldenfetisch außen vor gelassen hat?
Warum bleiben die Kämpfe defensiv angesichts der aktuellen öffentlichen Diskussion, der zufolge ›essenzielle Arbeit‹ innerhalb der Gesellschaft nicht nur ungleich verteilt, sondern auch relativ marginal ist, während die meisten Leute sinnlosen Tätigkeiten nachgehen?
Lassen sich Arbeiter*innen weiter mit der Alternative ›Arbeitslosigkeit oder schlecht bezahlte Maloche‹ abspeisen, wenn wir doch am Ende einer Dekade der ›Automatisierungsdebatte‹ stehen, die der Menschheit und ihrer neu erschaffenen künstlichen Intelligenz eine rosige Zukunft versprach?
Lassen wir uns weiterhin so einfach erpressen, wenn doch Tausende von Arbeiter*innen während des ›nationalen Urlaubs‹ des Lockdowns gesehen haben, dass die Welt nicht gleich untergeht, wenn nicht alle Leute arbeiten gehen?
Wächst angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit sowohl der Unternehmensleitungen als auch der politischen Klasse, die gesellschaftliche (Re-)Produktion zu organisieren – was sich aktuell sowohl im mangelnden Pandemieschutz oder in den Versorgungskrisen, ins Stocken geratenden globalen Lieferketten und, nicht zuletzt, den dramatischen Folgen des Klimawandels ausdrückt – das Selbstvertrauen von Arbeiter*innen?
Das ist das politische Spannungsfeld, in das wir die aktuellen Auseinandersetzungen einordneten, hier ging es um viel mehr als nur um die Verteidigung der ›armen Arbeiter*innen‹. Hinzu kam der globale Rahmen, da Arbeiter*innen in Großbritannien sehen und vergleichen konnten, wie Arbeiter*innen in anderen Ländern mit den Angriffen umgingen, so zum Beispiel während der Schließungsdrohungen des Industriebetriebs GKN. Während die Gewerkschaften im Vereinigten Königreich um den Standorterhalt bettelten, hielten GKN-Arbeiter*innen in Italien ständig Versammlungen in ihren Betrieben ab und verbündeten sich mit anderen Arbeiter*innen. In Italien war es dadurch eher möglich, Fabrikschließungen als allgemeines Problem unserer Klasse zu diskutieren, während es in England um den Erhalt einer »qualifizierten Belegschaft« und »britischer Qualität« ging. Wir hatten die Hoffnung, dass eine entschiedene Gruppe von Arbeiter*innen durch offensivere Kampfformen die Defensive in eine Offensive hätte drehen und zum Fokus und Magnet eines organischen kommunistischen Kampfprogramms hätte werden können: Wir akzeptieren keine Entlassungen und Lohnkürzungen! Wir arbeiten alle und arbeiten weniger! Wir machen nur, was uns gesellschaftlich sinnvoll erscheint! Wir nehmen uns, was wir brauchen, und unterstützen andere Arbeiter*innen, die das Gleiche tun!
So etwas passiert nicht infolge großer Reden, sondern durch die tägliche und wenig glamouröse Suche von Arbeiter*innen nach effektiven Kampfformen (ein Prozess, zu dem sie gezwungen sind) bei gleichzeitiger Diskussion der sich verschärfenden gesellschaftlichen Krise. Revolutionär können wir nur sein, wenn wir beide Prozesse genau verfolgen. Die Linke ist dabei wenig hilfreich. In Großbritannien hatte sie sich kaum vom Schock des Führungswechsels in der Labour Party erholt (Jeremy Corbyn, Hoffnungsträger des linken Pateiflügels, wurde im Januar 2020 als Parteivorsitzender abgewählt), als sie der neue Staatsinterventionismus der Tories während der Corona-Krise sprachlos machte. Sie folgte der offiziellen Gewerkschaftslinie in den defensiven Kämpfen und konnte daher wenig zum Lernprozess innerhalb der Klasse beitragen. Es gab keinerlei strategische Diskussion darüber, welche radikalen Tendenzen in den Kämpfen und in ihrem Wechselverhältnis zur sozialen Krise schlummern könnten. Es fehlte der Linken sowohl an einer gesellschaftlichen Verankerung im Alltag und damit auch an Verbindungen zu Arbeiter*innen als auch an einer Strategie.
Es existiert zugegebenermaßen eine große Kluft zwischen unseren täglichen Organisierungsversuchen und den aktuellen Abwehrkämpfen einerseits und andererseits den Szenarien des Aufstands und der selbstbestimmten Produktion, die wir im abschließenden Kapitel des Buchs entwerfen. Das Kapitel ist ein Versuch, über die Revolution als eine pragmatische Maßnahme der Klasse zu diskutieren, nicht in erster Linie in Beziehung zu 1917, 1936 oder 1968, sondern vor dem Hintergrund der aktuellen Klassenzusammensetzung. Seit Erscheinen von »Class Power on Zero-Hours« haben sich die drei wesentlichen Klassensegmente, die Trägerinnen einer solchen Transformation sein könnten, stärker hervorgetan, und mit ihnen auch die Spaltungslinien zwischen ihnen. Wir beobachteten dies vor allem am Beispiel der USA, wo sich Massenproteste und Riots gegen Polizeigewalt nach dem Mord an George Floyd, kleinere industrielle Streikwellen während des Lockdowns und des sogenannten ›Streikoktobers‹ 2021 sowie Unruhen unter den sogenannten Tech- oder Wissensarbeiter*innen bei Google, Amazon und anderen Unternehmen in kurzer Folge ablösten.
In dieser Abfolge sehen wir die drei wesentlichen Elemente des revolutionären Prozesses: die massenhafte proletarische Gewalt gegen die Staatsgewalt und die Sprengung des privaten Rahmens durch das Zusammenkommen auf Straßen und Plätzen; die kollektive produktive Macht der Arbeiter*innen als kooperierende Klasse; das widerständige Produzentenwissen auf dem entwickeltsten Stand der Produktivkräfte. Diese Dreiteilung spiegelt sich auch auf globaler Ebene als geografische Spannung wider. Schon Mike Davis schrieb, dass sich revolutionäre Initiativen heutzutage auf drei Orte konzentrieren müssen, die als Symbole einer bestimmten Klassenzusammensetzung gelten können: die Fabriken Shenzens, die IT-Büros des Silicon Valleys und die proletarischen Viertel von Lagos.
Wir sehen aber auch, wie diese wesentlichen Elemente gesellschaftlich voneinander getrennt sind, und wie die Linke oft dazu beiträgt, diese Trennungen zu reproduzieren. Die Frage der Polizeigewalt in erster Linie als eine Frage des Rassismus zu diskutieren und die ›schwarze Community‹ in den USA nicht als eine komplexe, durch Klassenlinien gespaltene gesellschaftliche Gruppe, sondern als stilisierte Opfer zu verstehen, reproduziert nur die tatsächliche Ghettoisierung eines bedeutenden Teils des schwarzen Proletariats in den USA. Die Frage der Streiks als eine gewerkschaftliche zu behandeln und nicht als produktive Gewaltform und kollektive Selbstfindung der Klasse, trägt dazu bei, die Kämpfe auf Betriebe und Branchen zu begrenzen. Eine Linke, die Gesellschaft in erster Linie als Anhäufung von mehr oder weniger privilegierten Minderheiten begreift, aber relativ blind ist gegenüber einer der historisch tiefsten Spaltungen innerhalb der Klasse, nämlich der Spaltung in Hand- und Kopfarbeit, kann wenig dazu beitragen, die Isolierung und den paternalistischen Humanismus der Wissensarbeiter*innen zu überwinden. Wir haben kritische Tech-Arbeiter*innen gesehen, die gegen die militaristischen oder umweltzerstörerischen Resultate ihrer Arbeit protestieren. Wir haben Mediziner*innen zugehört, die gegen die desaströse Corona-Politik ihrer Regierung wettern. Was wir aber brauchen, ist ein direkter Austausch zwischen marginalisierten Proletarier*innen, Massenarbeiter*innen und Wissensarbeiter*innen, die als Teil einer Klassenbewegung ihre Aufgabe der gesellschaftlichen Transformation erkennen und dabei materielle Spaltungen und Wissenshierarchien innerhalb der Klasse überwinden. Ohne ein solches Projekt der Übernahme der Produktionsmittel und der gesellschaftlichen Macht gibt es keinen Grund, warum sich Proletarier*innen unterschiedlichster Herkunft positiv aufeinader beziehen sollten. Hier fehlt uns eine kommunistische Organisation im ursprünglichen Sinne. Kein Parteiprojekt, das versucht die Klasse formal oder durch wohlmeinende Forderungen zu vereinen, sondern eine Organisation, die innerhalb der existierenden Kämpfe die vereinheitlichenden und sprengenden Tendenzen sucht. Eine Organisation sowohl der direkten ökonomischen und politischen Selbstverteidigung als auch der kritischen proletarischen Wissenschaft.
Eine solche Organisation entsteht nicht durch programmatischen Wiedererkennungswert. Wir wissen ehrlich gesagt nicht, wie eine solche Organisation entsteht. Vor sechs Jahren wussten wir nur, dass wir außerhalb des bestehenden Rahmens der Linken und des revolutionären Milieus graben müssen. In diesem Buch geht es daher in erster Linie um Experimente und Versuche: Was können wir als kleine Gruppe innerhalb der aktuellen Klassenlage tun, um Selbstorganisierung zu unterstützen und innerhalb der täglichen Auseinandersetzung über die Notwendigkeit des Kommunismus zu diskutieren? Ihr werdet keine Blaupausen für erfolgreiches ›Organizing‹ finden, aber jede Menge Erfahrungen. Schreibt uns und lasst uns wissen, ob ihr etwas damit anfangen könnt.
Für den Kommunismus und in Gedenken an Dan Georgakas – Genosse und Autor von »Detroit: I do mind dying«.
AngryWorkers, November 2021
Im Januar 2014 entschieden wir uns, in ein Arbeiterviertel West-Londons zu ziehen. Wir hatten das dringende Bedürfnis, aus der kosmopolitischen Blase auszubrechen und unsere Politik im Alltagsleben der Arbeiterklasse zu verankern. Die Behauptung, dass die Arbeiterklasse nur sich selbst befreien kann, darf nicht nur ein Lippenbekenntnis sein. Im Laufe der nächsten sechs Jahre wuchs unser Kollektiv. Wir arbeiteten in einem Dutzend verschiedener Warenlager und Fabriken. Wir organisierten Bummelstreiks, suchten mit unserem Solidaritätsnetzwerk die Büros von Bossen und Mietherren auf und verzweifelten als gewerkschaftliche Vertrauenspersonen an der gewerkschaftlichen Bürokratie. Wir schrieben über Erfolge und Misserfolge in unserer Zeitung WorkersWildWest. Diese verteilten wir in den frühen Morgenstunden vor den Toren der Warenlager und Fabriken, 2.000 Stück pro Ausgabe. Wir versuchten, die Macht der Klasse zu stärken und die erste Zelle einer revolutionären Organisation aufzubauen. Dieses Buch dokumentiert unsere Erfahrungen. Es soll anderen dabei helfen, Ähnliches zu tun. Es ist ein Aufruf für eine unabhängige Organisierung der Arbeiterklasse.
Als wir nach West-London zogen, hatten wir keine ›Karrieren‹, die wir aufgeben mussten. Einige von uns arbeiteten bereits in schlechtbezahlten Jobs. Andere hingen in Berlin herum und wussten nicht, was sie als nächstes tun sollten. Eine von uns hatte zehn Jahre lang in NGOs gearbeitet. Sie hatte das Gefühl, dass das gesamte System korrupt war. Zu versuchen, Regierungspolitik zu ändern, schien sinnlos. Insofern war es keine große Sache, in eine Gegend mit großen und strategisch wichtigen Arbeitsplätzen zu ziehen. Es war kein Ausstieg, eher ein Ankommen. Wir kannten viele Leute, die sich in Büros langweilten oder einsam ihre Dissertationen schrieben. Andere versuchten, die Karriereleiter hochzuklettern, und holten sich stattdessen einen Burnout. FOMO, die fear of missing out, war für uns kein Problem.
Wir waren stets eine kleine Gruppe. Wir konnten wenig mehr tun, als ein Beispiel setzen. Hoffen, dass Menschen von unseren Aktivitäten Wind bekommen und sich uns anschließen. Dass das nicht einfach werden würde, wussten wir. Niemand in der Linken Londons hatte jemals von Greenford, dem Viertel, in das wir zogen, gehört. Greenford gilt als kulturelle Einöde, irgendwo in der Zone 4 des Londoner U-Bahn-Systems gelegen. Nach ein paar Erkundungstouren wurde uns klar, dass der Ort genau richtig für uns war. Auf den ersten Blick ist er vollkommen unscheinbar. Menschen gehen einfach ihrem Alltag nach. Doch Greenford ist auch einer jener Orte, die Medien über die ›Flut polnischer Einwanderer‹ oder das ›Joch der Null-Stunden-Verträge‹[1] fabulieren lassen. Greenford steht für geringes Einkommenswachstum bei hoher Beschäftigungsrate, für migrantische Arbeitskräfte in ungelernten Jobs, für Verarmung infolge der Finanzkrise von 2008, für die immer größere Bedeutung des Logistiksektors, für Automatisierung und Roboter, die Menschen ihre Jobs wegnehmen. Viele kluge Linke geben ihren Senf zu diesen Themen ab. Aber wissen sie überhaupt, wovon sie sprechen? Wir dachten, wir könnten das am ehesten beurteilen, wenn wir uns dort niederlassen.
Wenn du die U-Bahn-Station in Greenford verlässt, ist das Erste, was du siehst, der polnische Lebensmittelladen auf der anderen Straßenseite. Daneben liegen ein Frisör, ein Immobilienmaklerbüro und ein Hähnchen-Imbiss. Wenn du nach links gehst, unter der Eisenbahnbrücke durch und vorbei am Railway Pub, kommst du zu einer Bushaltestelle, an der sich Arbeiter*innen mit Warnkleidungsjacken drängen. 50 Meter von der Bushaltestelle entfernt beginnt das Industriegebiet mit den Logistikparks. Dort finden sich Verteilerzentren der Supermarktketten Tesco und Sainsbury’s, ein riesiges Depot der Royal Mail und eine Fabrik, in der Gemüse aus der ganzen Welt verpackt wird. Zwischen den von vielen Menschen geteilten Wohnhäusern gibt es überall Warenlager.
Greenford ist klein genug, um schnell zur Arbeit zu kommen, aber groß genug, um nicht sofort auf schwarzen Listen zu landen, wenn du als ›Unruhestifter‹ bei der Arbeit auffällst. Zum Industriegebiet Park Royal, einem der größten Europas, und zum Flughafen Heathrow, dem wahrscheinlich größten Arbeitsplatz Londons, kommst du leicht mit dem Bus. (In Park Royal arbeitete eine von uns lange in einer Lebensmittelfabrik.) Greenford ist beschaulich und gleichzeitig gut vernetzt. Hier läuft der ›Westliche Korridor‹ vorbei, der zwischen zwei Hauptverkehrsadern Londons liegt. Entlang des Korridors haben sich zahlreiche Unternehmen angesiedelt, die auf nationale und internationale Transportverbindungen angewiesen sind. 60 Prozent des Essens, das in London konsumiert wird, wird in dieser Gegend verarbeitet, verpackt und vertrieben. Hier wird einer der Hauptwidersprüche des Kapitalismus deutlich: Die Arbeiter*innen haben ein enormes kollektives Potenzial (sie können direkten Einfluss auf die Lebensmittelversorgung Londons nehmen), ihre individuelle Lage ist jedoch ausgesprochen schwach. Sie müssen ihren Lebensunterhalt in dem ›feindlichen Umfeld‹, dem hostile environment, verdienen, das die frühere Premierministerin Theresa May ›illegalen Einwanderer*innen‹ wünschte. Um für ein entsprechendes Umfeld zu sorgen, wurden Sozialleistungen gekürzt und Proteste gegen die immer schlechteren Arbeitsbedingungen und den modernen Niedriglohnsektor unterbunden. Als Revolutionäre müssen wir Selbstorganisation in den Teilen der Arbeiterklasse fördern, die von der Linken vernachlässigt oder gar ignoriert werden.
Wir packten also unsere Sachen und zogen ans andere Ende der Stadt. Wir geben es zu: Es war ein Kulturschock. Wir kamen aus Wohnsiedlungen mit bunten Lebensmittelmärkten und landeten zwischen Reihenhäusern und Golfplätzen. In einem Einfamilienhaus, in dem noch mehrere andere Mieter*innen lebten, mieteten wir für 450 Pfund ein Zimmer. Die Annonce für das Zimmer hatten wir im Fenster eines Zeitungshändlers entdeckt. Wir bezahlten unsere Kaution und zogen ein.
Arbeit zu finden war kein Problem. Du musst dich nur bei einer der zahlreichen lokalen Leiharbeitsfirmen registrieren lassen. Bereits einen Tag später schicken sie dich irgendwohin. Ein Lebenslauf war schnell zusammengestellt. Die Empfehlungsschreiben verfassten wir selbst, sie wurden sowieso nicht kontrolliert. Anfangs waren wir nur zu zweit, aber im Laufe der Jahre bekamen wir Gesellschaft aus Hackney und Essex ebenso wie aus Polen, Spanien, Slowenien, Australien, Indien und Frankreich.
Wir arbeiteten in einer Menge verschiedener Jobs. Einer von uns landete in einem Warenlager des Textilhandelsunternehmens Jack Wills. Beim Anblick der 100-Pfund-Handtaschen, die in Plastik gewickelt auf irgendwelchen Regalen Staub ansammelten, kam er immer wieder in Versuchung. Viele von uns mussten mit aus Karton zusammengebastelten Trolleys herumlaufen, um Waren zu kommissionieren und retournierte Waren zurückzulegen, immer unter dem Druck, unsere Quote zu erfüllen. Meist war es sauheiß und das Arbeitstempo wurde von den Scannern an unseren Handgelenken kontrolliert. Wir arbeiteten unter ständiger Aufsicht, zum Beispiel durch hagere Frauen aus Polen mit Nazi-Mentalität. Drei von uns arbeiteten im Verteilerzentrum für Kühlwaren von Sainsbury’s, einer in einem Lager für Gartenmöbel. Eine andere stahl sechs Monate lang Warenmuster aus dem Lager für Kosmetikprodukte von Neal’s Yard – die Arbeiter*innen dort wurden mieser behandelt als die Pflanzen, aus denen man die Kosmetikprodukte fertigte. Einer von uns transportierte Getränke für Waitrose-Supermärkte in einem kleinen Elektrowagen, ein anderer arbeitete in einem Montagewerk für 3D-Drucker (was aufschlussreich war angesichts des Geredes von ›befreiender Technologie‹). Einer von uns versuchte sich kurz (und ohne bezahlt zu werden) in einer Lebensmittelfabrik von Charlie Bigham’s, eine andere in einer Fabrik mit Akkordlohn, wo frittierte indische Snacks und Samosas gefertigt wurden. Eine fuhr einen Gabelstapler und aß sich in der Kantine von Alpha LSG, einem Airline-Caterer, satt. Wir servierten Geschäftsleuten ihr Essen im Premier Inn Hotel. Wir reinigten Straßen und sammelten Müll für Amey, ein Privatunternehmen, dem das Bezirksamt von Ealing diese Aufgaben übertragen hatte. Das meiste unseres Blutes, unseres Schweißes und unserer Tränen vergossen wir jedoch in zwei Jobs: als Auslieferungsfahrer für den Supermarkt-Giganten Tesco und als Gabelstaplerfahrerin in einer Lebensmittelfabrik von Bakkavor, einem Unternehmen, das alle großen Supermarktketten Großbritanniens mit Hummus und Fertiggerichten versorgt. Die Berichte von diesen Arbeitsplätzen und unseren dortigen Organisierungsversuchen (Kapitel 7–10) machen den größten Teil dieses Buches aus.
In den letzten Jahren wurde viel über die Bedingungen an modernen Arbeitsplätzen berichtet. Denken wir an den Journalisten, der ›undercover‹ bei Amazon arbeitete, oder an sensationsheischende Schlagzeilen wie jene über eine Arbeiterin bei Sports Direct: »Sie brachte ihr Kind auf dem Klo zur Welt, weil sie Angst hatte, ihre Schicht zu verpassen«. Allen gemein ist, dass Arbeiter*innen hier als Opfer dargestellt werden. Sie sind unterdrückt und niemand setzt sich für sie ein. Fast immer geht es dabei um migrantische Arbeitskräfte, denen (zumindest indirekt) die Schuld an den schlechter werdenden Arbeitsbedingungen zugeschrieben wird, da sie Sachen mit sich machen lassen, die ›britische‹ Arbeiter*innen nicht akzeptieren würden. Die Arbeiter*innen selbst kommen dabei so gut wie nie zu Wort. Umso lauter empören sich Linksliberale über Arbeitsbedingungen, die, wie sie meinen, einem Charles-Dickens-Roman entstammen könnten. Gewerkschaften kommen in den Berichten selten vor. Wenn doch, dann als Retter in der Not: Organisationen, die die Interessen der Arbeiterklasse verteidigen, weil die Arbeiter*innen das nicht selbst tun können. Was Arbeiter*innen machen, dass sie sich eigenständig organisieren, darüber erfahren wir nichts. Widerstand scheint abseits der Gewerkschaft unmöglich. Unseren Erfahrungen gemäß sind die Gewerkschaften jedoch primär damit beschäftigt, den Unternehmen bei der Kontrolle der Arbeiterklasse beizustehen.
All das unterscheidet sich fundamental von unseren Absichten. Dieses Buch sammelt keine journalistischen Eindrücke. Es geht nicht darum, nach ein bisschen eigener Erfahrung über den ›Horror‹ des Niedriglohnsektors zu berichten. Uns geht es um den Klassenkampf. Das bedeutet nicht, anderen Arbeiter*innen zu sagen, was sie tun sollen. Wir alle brauchen Zeit, um das, was um uns herum geschieht, zu verstehen. Wir alle lernen voneinander. Doch dort, wo es möglich ist, schrecken wir nicht davor zurück, andere Arbeiter*innen zu unterstützen. So stärken wir das Selbstverständnis, das Selbstbewusstsein und die kollektive Tatkraft der Klasse. Dieses Buch dokumentiert unsere diesbezüglichen Anstrengungen. Unser Ziel ist eine revolutionäre Organisation, die durch die Klasse und in der Klasse agiert, nicht an ihrer Stelle. Das Programm einer solchen Organisation kann nicht am Reißbrett entworfen werden.
Wir richten die Scheinwerfer auf das, was Arbeiter*innen selbst tun bzw. auf das, was wir zu tun versuchten, gemeinsam mit unseren Kolleg*innen. Wir berichten über das, was funktionierte, genauso wie über das, was nicht funktionierte. Wir reflektieren über die möglichen Gründe. Nur wenn unsere Politik auf Erfahrungen dieser Art beruht, ist sie für Menschen in Arbeitervierteln relevant. Wer dort nur an Türen klopft, sobald eine Wahl ansteht, wird niemals die Macht der Klasse – die in ihr selbst ruht – stärken.
Was wir tun, ist weniger hip als eine Party junger Corbynistas. Es ist alles andere als ein Honigschlecken: Du stehst in aller Herrgottsfrüh auf und die Arbeit ist monoton. Doch du musst nie so tun, als würdest du deinen Job lieben. Und es ist ein echtes Vergnügen, Menschen kennenzulernen, denen viele Linke nur in Zeitungsartikeln oder Büchern begegnen. (Was sie leider selten davon abhält, in ihrem Namen zu sprechen.)
Dieses Buch erscheint in einer Zeit, in der viele britische Linke ihre Wunden lecken. Sie weinen der Gelegenheit nach, mithilfe der Labour Party ein ›sozialistisches‹ Programm umzusetzen. Viele fordern Selbstreflexion und eine ›Rückkehr zur Arbeiterklasse‹. In Wirklichkeit kehrt man zur üblichen Nabelschau zurück und diskutiert in erster Linie darüber, wer die Labour Party führen soll. Es ist faszinierend, wie sehr Wahlen selbst die radikale Linke in Atem halten. Das Brexit-Referendum hat der parlamentarischen Demokratie offenbar neues Leben eingehaucht.
Das größte Hindernis für eine Politik, die weiter als bis zur nächsten Wahl vorausschaut, scheint der Glaube zu sein, dass es keine Alternative gibt. Strategisches Denken (›Wo wollen wir hin und wie kann uns das gelingen?‹) ist aus der politischen Debatte verschwunden. Es ist relativ einfach, sich darauf zu einigen, dass wir eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung haben wollen, dass wir unseren Planeten retten müssen und dass Freiheit mehr bedeuten muss, als alle vier Jahre einen Stimmzettel abzugeben. Und doch scheinen wir uns von diesen Zielen immer weiter zu entfernen, anstatt ihnen näherzukommen. Wenn wir einen Beleg dafür brauchen, reicht es, die Nachrichten einzuschalten. Diese berichten über jeden Quatsch, den Premierminister Boris Johnson von sich gibt, oder über die internen Streitigkeiten der Labour Party – von den massiven Aufständen in Chile, dem Sudan, dem Irak oder selbst in Frankreich hören wir kaum etwas. Auch die britische Linke gibt sich ganz der Innenpolitik hin, die zudem vom Alltagsleben der Arbeiterklasse abgekoppelt ist. Als AngryWorkers sind wir an den globalen Entwicklungen und Bewegungen unserer Klasse genauso interessiert wie an den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse vor Ort. Dieses Buch reflektiert die Spannungen, die sich daraus ergeben.
Wir sind nur eine kleine Gruppe. Diejenigen, die Kategorien mögen, können uns als ›Linkskommunisten‹ einordnen. Das mag wenigen etwas sagen, und es ist nicht wirklich wichtig, außer um auszudrücken, dass unserem Verständnis nach revolutionäre Politik auf der Selbstorganisation der Arbeiterklasse beruht. Dies ist unser Ausgangspunkt. Wenn sich die Gesellschaft wirklich verändern soll, dann muss die Veränderung von der Eigeninitiative der Arbeiter*innen her kommen. Der Staat ist keine neutrale Kraft, die wir nach unserem Willen formen können, indem wir die richtige Partei wählen. Staaten waren immer dazu da, zwischen den Klassen zu vermitteln und die Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Diese Rolle werden sie stets behalten (mehr dazu in Kapitel 12). Die Geschichte hat uns gezeigt, dass alle Regierungen ihre eigenen Interessen verfolgen, selbst wenn sie mit anderen Ansprüchen antreten. Das gilt von Allende in Chile und Chavez in Venezuela bis zu Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien. Gegen den globalen Kapitalismus ist mit guten Absichten, aber einem letzten Endes nationalistisch geprägten ›Sozialismus‹ nicht anzukommen.
Die Klassenpolitik, die wir verfolgen, ist eine andere. Eine, die in das tägliche Leben der Arbeiterklasse eingebettet ist. Das mag einfach klingen, doch müssen wir einsehen, dass viele Linke keine wirkliche Beziehung zur Arbeiterklasse haben. Arbeiter*innen werden schlicht bedauert. Sie werden als Opfer der Deindustrialisierung betrachtet (Brexit-Befürworter*innen), als Roboter (Lagerarbeiter bei Amazon mit ihren High-Tech-Geräten), als Sklaven (schlecht bezahlte Arbeitskräfte an modernen Arbeitsplätzen) oder als Sozialfälle (von Sozialkürzungen Betroffene und Obdachlose). Wie lässt sich Opfern, Robotern, Sklaven und Sozialfällen politische Kraft zuschreiben? Ein Verständnis der Arbeiterklasse, das ihr jede Eigeninitiative abspricht, verunmöglicht es, ihr revolutionäres Potenzial zu wecken. Die herrschende Klasse reibt sich dabei die Hände.
Wir leugnen nicht, dass sich die Lebensbedingungen vieler Menschen in den letzten Jahren verschlechtert haben. Aber die Opfererzählung beruht auf einer oberflächlichen Analyse. Wir müssen in die Tiefe gehen, zurück zu den Grundlagen. Wir müssen kollektiv, also gemeinsam mit unseren Kolleg*innen, unsere Macht als Klasse entdecken. Wir müssen die Oberfläche durchbrechen und gemeinsam mit unseren Kolleg*innen herausfinden, wie wir die Bosse herausfordern können. Wo liegt unsere Macht? Der erste Schritt ist eine Untersuchung der objektiven Bedingungen: Wie ist die Produktion organisiert? Auf welche Weisen arbeiten wir zusammen? Liegt die gesamte Macht in der Hand des Managements? Oder liegt die Macht in unserer Hand? Ist unsere Zusammenarbeit auf den Arbeitsplatz beschränkt oder geht sie darüber hinaus? Macht die Digitalisierung uns zu Marionetten zentraler Kontrolle? Innerhalb dieser objektiven Bedingungen lassen sich die subjektiven analysieren, das heißt, die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um Widerstand zu leisten.
Jede Arbeiteruntersuchung beginnt am Arbeitsplatz, aber sie darf sich nicht auf diesen beschränken. Wir müssen die globalen Veränderungen der Klasse verstehen. Die Arbeiterklasse ist weder statisch noch homogen. Arbeiter*in zu sein, ist keine Identität. Arbeiter*innen werden nicht von weißen Bergmännern mit Schutzhelm symbolisiert. Mit den Veränderungen in der gesellschaftlichen Produktion verändern sich auch die Zentren des Kapitalismus und die wichtigsten Wirtschaftszweige. Wir können das in West-London sehen, wo einst Bergmänner aus Wales in der Bauindustrie landeten, die dann durch eine Leichtindustrie ersetzt wurde, in deren Fabriken großteils Menschen aus Südasien arbeiteten. Mit den Wirtschaftszweigen ändert sich die Zusammensetzung der Klasse. Wir haben es mit spezifischen Zusammensetzungen der Klasse zu tun, die spezifischen historischen Zyklen und Stufen kapitalistischer Entwicklung entsprechen.
Luftbild des Industriegebiets Park Royal, eines der größten Industriegebiete Europas.
Veränderungen im Produktionsprozess verändern auch die Ziele, für die Arbeiter*innen kämpfen, und wie sie das tun. In den 1980er-Jahren etwa wurden große Produktionseinheiten in kleinere aufgeteilt und die Industrieproduktion über einen größeren geografischen Raum verteilt. Heute bringen jedoch neue Produktionsformen Arbeiter*innen wieder in größerer Zahl an ein- und demselben Arbeitsplatz zusammen.
Die Verlagerung der Produktion auf mehrere Standorte war eine politische Antwort auf die Macht, die Arbeiter*innen in den 1960er- und 70er-Jahren gewonnen hatten. Es wird gefährlich, wenn viele Arbeiter*innen zusammenkommen. Sie sprechen miteinander, vergleichen ihre Bedingungen, beginnen, kollektive Forderungen zu stellen, fragen sich, wozu sie die Bosse überhaupt brauchen. Das war der Grund, warum man damals die Keimzellen des Widerstands zerschlagen musste, selbst wenn es den Produktionsprozess komplizierter machte. Doch der Logistiksektor wurde immer bedeutender, um die langen Lieferketten zu organisieren. In den dafür notwendigen Warenlagern sammelten sich nun wieder große Mengen von Arbeiter*innen. Es bildete sich eine neue Form kollektiver Arbeitermacht, was hier in Europa zu Streiks und Protestaktionen in vielen Warenlagern führte.
Der ›Westliche Korridor‹.
Daher sucht das Kapital nach neuen Techniken, um Arbeiter*innen zu trennen – oder völlig zu isolieren. Wir müssen diese Techniken identifizieren, um kreative Lösungen zu finden, sie zu sabotieren. Auch das muss Teil einer Arbeiteruntersuchung sein, weshalb wir stets einen Abschnitt den größeren Zusammenhängen widmen: Wir betrachten den gesamten Produktionsprozess, vom Aufbau einer Industrie und den globalen Lieferketten bis zur Realität am Arbeitsplatz und den Beziehungen unter den Kolleg*innen.
Das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse beruht auf zwei Voraussetzungen: dem Zusammenkommen von vielen Arbeiter*innen an einem Ort (was wir einen ›Konzentrationsprozess‹ nennen) und ihrer täglichen Zusammenarbeit. An unseren Arbeitsplätzen verstehen wir, dass wir selbst es sind, die diese Welt produzieren, und dass wir die notwendige politische und ökonomische Stärke zur Machtergreifung entwickeln können, wenn wir die Kämpfe an verschiedenen Arbeitsplätzen miteinander verbinden. Die grundlegende Frage ist: Wie wird aus unserer täglichen Zusammenarbeit eine Waffe gegen das System? Wie kann das Wissen, das wir uns an unseren Arbeitsplätzen aneignen, zur Basis dafür werden, uns selbst zu organisieren und unsere eigenen Ziele zu verfolgen, anstatt die des Kapitals?
Entsprechende Vorschläge müssen auf den Bedingungen beruhen, unter denen wir arbeiten, nicht auf abgehobenen und abstrakten Begriffen wie ›Prekariat‹ und ›Multitude‹. Es ist nett, Visionen einer klassenlosen Gesellschaft zu pflegen, aber wenn wir nicht einmal bestimmen können, wann wir aufs Klo gehen, geschweige denn, wie unsere Arbeit organisiert ist, dann bleiben diese Visionen wenig mehr als Hirngespinste, die mit unserem Alltag nichts zu tun haben. Gemeinsam mit unseren Kolleg*innen müssen wir herausfinden, wie wir auf der Basis der uns zur Verfügung stehenden Mittel Druck auf die Bosse ausüben können. Welche Schritte sind dafür notwendig? Worin liegt unsere Stärke? Wie werden wir zu einer kritischen Masse?
Unsere Arbeiteruntersuchungen sollen ein Schritt in diese Richtung sein. Sie berichten auch von unseren Erfahrungen als gewerkschaftliche Vertrauenspersonen[2]. Eine von uns wurde Mitglied in der GMB (Abkürzung von General, Municipal, Boilermakers’ and Allied Trade Union). Die GMB ist mit rund 630.000 Mitgliedern eine der größten Gewerkschaften Großbritanniens und organisiert Arbeiter*innen in fast allen Industrien. Ein anderer von uns trat der USDAW bei (Union of Shop, Distributive and Allied Workers). Die USDAW hat rund 450.000 Mitglieder, von denen die meisten im Handelssektor (im weitesten Sinne) tätig sind. Obwohl wir uns der Grenzen institutionalisierter Gewerkschaftsstrukturen bewusst waren, hofften wir, dass sie gewisse Möglichkeiten für Arbeiterselbstorganisation eröffnen würden. Wir verbreiteten Information, organisierten Arbeitertreffen und riefen zu Dienst nach Vorschrift und Streiks auf. Es bestätigte sich, dass die institutionalisierten Gewerkschaften Basisinitiativen ersticken. Selbst wenn sich kleine Handlungsspielräume auftun, wird der Gewerkschaftsapparat eher früher als später dafür sorgen, diese wieder zu schließen.
Lasst uns ausführlicher darüber sprechen, worum es uns bei der Organisierung geht. Unsere Vorstellung lokaler Organisierung beinhaltet vier verschiedene Aspekte. Die Bedeutung des Arbeitsplatzes haben wir bereits erwähnt. Unsere Rolle als Produzenten ist wesentlich für den Aufbau einer anderen Gesellschaft. Aber Menschen haben auch außerhalb ihrer Arbeit zu kämpfen: mit Vermietern, Visum-Vermittlern, dem Arbeitsamt und dem Wohlfahrtsregime. Deshalb gründeten wir ein Solidaritätsnetzwerk, das Dutzende lokale Arbeiter*innen in entsprechenden Kämpfen unterstützte. Das gegenwärtige Gesellschaftssystem individualisiert uns und schafft eine Ellenbogengesellschaft. Mit dem Solidaritätsnetzwerk wollten wir deutlich machen, dass wir uns selbst, als Arbeiter*innen, gegenseitig unterstützen können. Es bedarf dazu keiner sogenannter Experten. Die gegenseitige Unterstützung ist ein politischer Akt. Ein Solidaritätsnetzwerk hilft uns, den Puls der Klasse zu fühlen, mehr über die Lebensbedingungen unser Kolleg*innen zu lernen und Freund*innen zu gewinnen.
Charismatische Figuren der Mittelschicht, religiös oder politisch, sind seit jeher in der Lage, marginalisierte Teile der Arbeiterklasse gegen die organisierte Arbeiterschaft zu mobilisieren. Sie tun das, indem sie Menschen, die sich ausgestoßen fühlen, eine materielle wie ideologische Gemeinschaft anbieten. Die Faschisten taten das, die Muslimbruderschaft tut das und die Mafia tut das auch. Wir müssen einen Keil zwischen diese Leute und die marginalisierten Teile der Arbeiterklasse treiben. Auch dazu dient ein Solidaritätsnetzwerk und die Förderung gegenseitiger Hilfe, Solidarität und direkter Aktion. Und nicht zuletzt kann ein Solidaritätsnetzwerk dazu dienen, die Aktionen von einer kleineren Gruppe von Arbeiter*innen an größeren Arbeitsplätzen zu unterstützen.
Wir gaben auch eine Zeitung heraus, WorkersWildWest. Von jeder Ausgabe verteilten wir 2.000 Exemplare vor Fabriken und Warenlagern, am Flughafen Heathrow, vor Arbeitsämtern und in Industriegebieten. Eine Arbeiterzeitung ist notwendig, um die Erfahrungen, die wir am Arbeitsplatz oder in einem Solidaritätsnetzwerk machen, zu teilen und über sie zu reflektieren. Das Verteilen der Zeitung brachte uns auch in Kontakt mit anderen Arbeiter*innen. Wir konnten Verbindungen knüpfen, die sich mithilfe anonymer Texte auf einem Blog nicht knüpfen lassen. In der Zeitung informierten wir über Arbeitskämpfe auf der ganzen Welt. WorkersWildWest war jedoch mehr als einfach nur ein Spiegel der Klasse. Die Zeitung gab uns die Möglichkeit, gesellschaftliche Fragen zu diskutieren und unsere Positionen darzulegen, etwa wenn es um den Nationalismus geht und warum dieser die Arbeiterklasse nicht befreien kann. Wir schrieben über die Geschichte der Arbeiterklasse und formulierten Ideen über ihre Zukunft und die notwendige Gesellschaftsveränderung. Zeitungen und andere Mittel der Selbstbildung sind Werkzeuge, um langfristig die Trennung zwischen ›geistiger‹ und ›körperlicher‹ Arbeit aufzuheben. Die Zeitung half auch unserer eigenen Organisierung, da sie praktische Routinen erforderte und uns zwang, unsere Ideen klar und deutlich zu formulieren.
›Organisierung‹ ist kein Label, kein Parteiname, kein heiliger Gral. Organisierung bedeutet, zusammenzukommen und gemeinsam zu denken und zu handeln. Organisierung ermöglicht einen unabhängigen, kollektiven Lernprozess und wirkt individuellem Karrierismus entgegen. Organisierung war nötig, um am Arbeitsplatz aktiv zu sein, das Solidaritätsnetzwerk zusammenzuhalten und unsere Zeitung herauszugeben. Nur wenn wir organisiert sind, können wir kollektiv über unsere Aktionen reflektieren und unsere Erfahrungen an Arbeiter*innen an anderen Orten weitergeben. Wenn wir organisiert sind, übernehmen wir auch Verantwortung: die Verantwortung, aus der globalen Zusammenarbeit von Arbeiter*innen, die heute von Unternehmen und Märkten gesteuert wird, eine Waffe im internationalen Klassenkampf zu machen. Die Form, wie wir uns organisieren, muss praktische Bedeutung für die Klasse haben. Sie muss uns mit einem Kompass ausstatten, der uns zeigt, wohin wir uns bewegen. Das ist notwendig, um als Klasse unabhängig vom parlamentarischen und staatlichen System zu agieren, um die Produktionsmittel zu übernehmen und zu verteidigen.
Wir wollten ein kleines Beispiel für eine Organisierung dieser Art liefern. Wir wollten die Verantwortung für den Ort übernehmen, an dem wir uns befanden. Das bedeutete zum Beispiel, die Amazon-Warenlager in unserer Gegend zu besuchen und über die Kämpfe der Amazon-Arbeiter*innen in Polen zu berichten. Es bedeutete, in lokalen Gemeindezentren Filmabende über Arbeiterproteste in Warenlagern in Italien abzuhalten. Es bedeutete, in unserer Zeitung die Reflexionen französischer Genoss*innen über die Gelbwesten abzudrucken. Es bedeutete, während eines Deliveroo-Streiks eine Aktion vor einem Restaurant in unserem Viertel durchzuführen, um die Aktionen in der Innenstadt zu unterstützen.
Reklametafeln für Leiharbeitsfirmen in Greenford.
Wir hofften, dass sich zwischen den verschiedenen Aspekten unserer Organisierung eine fruchtbare Dynamik entwickeln würde, die qualitative Sprünge zulässt. Über das Solidaritätsnetzwerk trafen wir beispielsweise LKW-Fahrer aus dem Punjab. Sie waren in einem kleinen Unternehmen angestellt, wo sie von einem Boss ihrer ›Community‹ ausgebeutet wurden. Dem Unternehmen kam keine besondere strategische Bedeutung zu, doch wir halfen ihnen, und im Gegenzug halfen sie uns in einer Organisierungskampagne, die wir mit der Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) bei einem lokalen Sandwich-Fabrikanten durchführten. Dort gab es viele Arbeitskräfte aus dem Punjab und die LKW-Fahrer konnten sich mit ihnen in ihrer Muttersprache unterhalten, was das Vertrauen zwischen uns stärkte.
Dieselben Fahrer brachten uns später in Kontakt mit einem Fahrer bei Alpha LSG, einem der größten Airline-Caterer der Welt. Wir hatten dort bereits unsere Zeitung verteilt. Die Arbeiter*innen kannten uns, aber niemand hatte uns je kontaktiert. Jetzt konnten wir mit ihnen über ihre Probleme diskutieren. Mithilfe des Solidaritätsnetzwerks und der persönlichen Beziehungen, die sich daraus ergaben, hatten wir also unser Kontaktnetzwerk von einem kleinen, strategisch unbedeutenden Unternehmen zu einem multinationalen Konzern ausdehnen können.
Die Arbeiter*innen bei Alpha LSG nahmen von Kampfmaßnahmen Abstand, als sie verstanden, dass es für ihre Probleme keine einfachen Lösungen gab. Aber was wäre geschehen, wenn es zu einem Arbeitskampf gekommen wäre? Mit der Unterstützung einer Klassengewerkschaft hätten wir uns auf einen solchen einlassen können. Alpha LSG ist ein bedeutender Arbeitgeber. Die Leute, die in West-London für das Unternehmen arbeiten, stehen mit Tausenden von Menschen an anderen Orten in Verbindung. Viele dieser Menschen erfahren eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. Am Flughafen Heathrow sind die täglichen Routinen von Alpha LSG abhängig. Das gibt den Arbeiter*innen des Unternehmens eine große strategische Macht. Sie können einen der größten Flughäfen der Welt ins Chaos stürzen. Viele Arbeiter*innen in West-London würden mit ihnen sympathisieren, da sich auch ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern. Die Auswirkungen auf die lokale Arbeiterklasse wären also nicht zu unterschätzen. Mithilfe unserer Zeitung könnten wir die Perspektiven der Arbeiter*innen verbreiten, neue Verbindungen schaffen und praktische Solidarität initiieren.
Alles nur Wunschdenken? Nein. In diesem Fall kam es nicht so weit, aber wer weiß, was alles passieren kann, wenn du an einem Arbeitsplatz stärker verankert bist? Wir sind von unserem Organisierungsansatz überzeugt. Auf jeden Fall ist er besser als linke Treffen, wo fünf alte Herren und ein Hund Buenaventura Durruti diskutieren, oder Demonstrationen, auf denen eine Frontorganisation der trotzkistischen Socialist Workers Party ihre Schilder hochhält. Die Machthabenden scheren sich weder um das eine noch um das andere auch nur im Geringsten.
An den verschiedenen Aspekten der Organisierung (Arbeitsplatz, Solidaritätsnetzwerk, Zeitung, Aufbau einer Organisation) muss gleichzeitig gearbeitet werden, um etwas zu schaffen, das größer als die Summe seiner Teile ist. Das Solidaritätsnetzwerk kann es Leuten ermöglichen, am Arbeitsplatz aktiv zu werden. Konflikte am Arbeitsplatz können lokale politische Kampagnen stärken. Und diese können Menschen dazu motivieren, über den Tellerrand zu blicken und sich politisch zu organisieren.
Doch es ist nicht immer einfach, eine fruchtbare Dynamik zwischen den verschiedenen Aspekten der Organisierung zu schaffen. Arbeitsplatzgruppen und Solidaritätsaktionen können sehr erfolgreich sein, bleiben aber oft isoliert. Fundierte Analysen und programmatische Erklärungen bewegen sich oft im luftleeren Raum. Ohne praktische Verankerung können sie von der Klasse nicht getestet werden. Wir müssen die verschiedenen Aspekte der Organisierung als einen zusammenhängenden Organismus sehen, dessen Teile sich gegenseitig vervollständigen. Der Organismus lebt und atmet in der Klasse.
Es gibt Organisationen mit revolutionärem Anspruch, besonders im anarchosyndikalistischen Milieu, die alle Aspekte der Organisierung formal berücksichtigen. Das Problem ist, dass sie ihre eigene Organisation oft an die Stelle der Klasse setzen. Sie sind der Meinung, dass die Klasse durch die Organisation agieren muss. Wir sind der Meinung, dass die Organisation durch die Klasse agieren muss. Das bedeutet auch, dass die Organisation sich im Takt mit der Klasse verändert. Hier geht es nicht um dialektische Spielereien. Die unterschiedlichen Perspektiven, die wir skizzieren, haben praktische Konsequenzen. Wir besprechen diese ausführlich am Ende des Buches, im Kapitel zu revolutionärer Strategie.
Was wir in West-London taten, hatte nichts mit ›Organizing‹ zu tun, wie es in der Linken immer populärer wird.[3] Unser Ziel ist eine politische Organisierung der Klasse. Diese ist nicht mit einer formalen Organisation zu verwechseln, der Menschen sich anschließen können, um sich danach zurückzulehnen und nichts zu tun. Uns schwebt eine Organisierung vor, die aus vielen lokalen Kollektiven besteht. Kollektiven wie unserem, beruhend auf der Selbstorganisation der Klasse und Debatten über radikale gesellschaftliche Veränderung. Eine solche Organisierung würde es erlauben, die Erfahrungen lokaler Initiativen breit zu diskutieren, sie im Kontext globaler Klassenkämpfe zu deuten und gemeinsame politische Strategien zu entwickeln. Wir hoffen, dass dieses Buch einige von euch dazu inspirieren wird, gemeinsam Pläne zu schmieden und eigene Kollektive aufzubauen, dort, wo ihr wohnt und arbeitet. Wir werden das im letzten Teil des Buches konkretisieren, doch lasst uns schon jetzt sagen, dass man dafür keine großartigen Ressourcen braucht. Ihr braucht kein großes Budget, keine tolle Publikation und kein schickes Logo. Wenn euer ›politisches‹ Leben von eurem ›normalen‹ Leben nicht getrennt ist, tun sich jede Menge Möglichkeiten auf.
Dieses Buch ist für alle, die sich die Frage stellen: Was nun? Ob ihr an einem größeren Ort lebt oder an einem kleineren, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es in eurer Nähe Arbeitsplätze von strategischer Bedeutung gibt. Möglicherweise seid ihr euch dessen nicht bewusst. Ihr fahrt dort nur mit dem Bus vorbei, ohne zu wissen, was eigentlich vor sich geht. Warum geht ihr nicht mal hin, um es herauszufinden? Und wenn es wirklich keine strategisch bedeutenden Arbeitsplätze bei euch in der Nähe gibt, könnt ihr woanders hingehen. Ihr müsst dafür nicht unbedingt einen Scheißjob annehmen. Aber wenn ihr einen habt, warum macht ihr nicht eine Arbeiteruntersuchung? Wie ist die Arbeit organisiert? Wie sieht die Belegschaft aus? Was sind die größten Konflikte zwischen der Belegschaft und dem Management? Was sind eure Erfahrungen? Was sind die eurer Kolleg*innen? Wenn ihr mehrere seid, könnt ihr ein Solidaritätsnetzwerk aufbauen, eine Zeitung herausgeben und eure Aktivitäten dokumentieren. Wenn ihr all das im Detail diskutieren wollt, kontaktiert uns! Dieses Buch wird hoffentlich eine Anregung sein. Ihr könnt gerne zwischen den Kapiteln hin- und herspringen. Alles hängt von euren spezifischen Interessen ab.
Im ersten Kapitel sehen wir uns West-London etwas genauer an, vor allem seine jüngere Geschichte. Wir wollen, dass ihr ein Gefühl für die Gegend bekommt und über wichtige Arbeitskämpfe Bescheid wisst. Kapitel zwei handelt von den Erfahrungen, die wir in unserem Solidaritätsnetzwerk und in lokalen politischen Kampagnen machten. Kapitel drei handelt von einem Arbeitskampf in den Kühllagern von Waitrose und Sainsbury’s, an dem wir beteiligt waren. Kapitel vier handelt von unserer Zeitung, davon, wie wir sie verteilten, und von den Begegnungen, zu denen es dabei kam.
Kapitel fünf fokussiert auf das Familienleben der Arbeiterklasse. Es beinhaltet die Geschichten von Arbeiterinnen, die wir im Laufe der Jahre getroffen haben. Kapitel sechs fasst unsere Erfahrungen der Organisierungskampagne zusammen, die wir mit der Londoner Ortsgruppe der IWW machten. Dazu kommen allgemeine Gedanken zur Renaissance des Syndikalismus.
Ein improvisierter Trolley in einem modernen Warenlager.
Der zweite Block enthält Arbeiteruntersuchungen, die wir an drei Arbeitsplätzen durchführten: einer Lebensmittelfabrik von Bakkavor, einem Verteilerzentrum der Supermarkt-Kette Tesco (als Auslieferungsfahrer im Kundendienst) und einem Montagewerk für 3D-Drucker, in dem gleichzeitig Tintenpatronen neu aufgefüllt wurden. Kapitel sieben ist gewissermaßen eine Einführung in die kapitalistische Lebensmittelindustrie (›Vom Feld in die Fabrik‹). Wir verweisen auf die Zusammenhänge zwischen landwirtschaftlicher Revolution und Klassenkampf, beleuchten die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion und untersuchen die Rolle der Arbeiter*innen in den globalen Lebensmittellieferketten. Kapitel acht ist ein detaillierter Bericht über unsere Arbeit und Organisierungsversuche in der Bakkavor-Fabrik. Es stellt das Unternehmen dar (damit wir genau wissen, womit wir es zu tun haben), skizziert die Belegschaft, erklärt den Produktionsprozess, offenbart die größten Probleme, mit denen Arbeiter*innen in einem unterdrückerischen Fließband-Regime konfrontiert sind, macht die Hindernisse für den Aufbau von Arbeitermacht deutlich und beschreibt die Machenschaften der Gewerkschaft GMB (vor allem in Zusammenhang mit einer Lohnkampagne, die ein Pfund mehr pro Stunde für alle Arbeiter*innen verlangte).
Wir beginnen das neunte Kapitel damit, die Distribution von Lebensmitteln im Kapitalismus zu analysieren. Das soll einen nützlichen Rahmen schaffen, um uns dann auf unsere konkreten Erfahrungen im Tesco-Verteilerzentrum zu konzentrieren. Um diese zu verstehen (und gleichzeitig zu begreifen, wie es Tesco gelungen ist, das Unternehmen umzustrukturieren, ohne große Konflikte zu provozieren), müssen wir einige Arbeitskämpfe und die Rolle der Gewerkschaft USDAW ins Auge nehmen. Einer von uns arbeitete dort drei Jahre lang, in dem wahrscheinlich modernsten Bereich des Unternehmens, nämlich im Online-Shopping und Auslieferungsdienst. Wir gehen der Frage nach, ob diese Form der Arbeit nur ein vorübergehender Hype ist oder Teil einer grundlegenden Transformation des Lebensmittelvertriebs. Dabei sehen wir uns auch das Unternehmen Ocado an, das den Gipfel dieser Entwicklung verkörpert. Wir widmen uns auch der Frage der Automatisierung und der Neugestaltung kapitalistischer Unternehmen. Das Beispiel Ocados widerspricht der linken Annahme, dass Unternehmen, die stark von ihren Aktienkursen abhängig sind, von langfristigen Investitionen Abstand nehmen.
Subjektiv und sehr konkret wird es, wenn wir in Kapitel zehn über die Arbeitserfahrungen und Organisierungsversuche bei Tesco schreiben. Ihr werdet einiges über die täglichen Routinen erfahren, unsere Kolleg*innen und die Ängste der Bosse. Wir betrachten Formen informellen Widerstands und die Widersprüche, die sich ergeben, wenn man einen Auftrag als gewerkschaftliche Vertrauensperson annimmt. Es fließen Tränen bei Gewerkschaftsfunktionären. Und sogar Jeremy Corbyn taucht auf!
Kapitel elf handelt von unseren Erfahrungen im 3D-Drucker-Montagewerk eines lokalen Unternehmens, das auch Tintenpatronen neu auffüllt. Das Unternehmen entspricht dem Profil, das die Labour Party gerne gegen das Finanzkapital ins Spiel bringt: ein Start-up mit ökologischem Bewusstsein, das Waren für die Fantasiewelt des Luxuskommunismus produziert. Wenn ihr nach einer ernüchternden Analyse des Automatisierungshypes lechzt, dann ist dieses Kapitels ein Muss!
Die Kapitel zwölf bis fünfzehn, die das Buch abschließen, präsentieren unsere Gedanken über revolutionäre Strategie. Wir betrachten eine Trennung, die für gegenwärtige Protestbewegungen kennzeichnend ist: die Besetzung öffentlicher Plätze und Demonstrationen auf der einen Seite und Arbeitsplatzkämpfe auf der anderen. Wir werfen die Frage auf, wie eine Übernahme der Produktionsmittel aussehen kann, wenn diese quer über den Globus verteilt sind. Wir versuchen über Revolution nicht als mystischen Moment zu schreiben, sondern als Prozess, in dem die Arbeiterklasse die entscheidenden Aufgaben übernimmt. Am Ende gibt es konkrete Organisierungsvorschläge.
Wir schließen mit ein paar persönlichen Bemerkungen und einer kritischen Reflexion über unsere sechs Jahre in der West-Londoner Einöde.
Wir schrieben dieses Buch in sechs Monaten, während wir schlecht bezahlter und anstrengender Lohnarbeit nachgingen, das Solidaritätsnetzwerk betrieben und unsere Zeitung herausgaben. Wir wollen keine Medaille dafür haben, aber es ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Erstens ist es unsere Entschuldigung für den rohen Charakter des Buches. Und zweitens wollen wir deutlich machen, dass es keiner Akademiker*innen, Journalist*innen oder anderer ›geistiger‹ Arbeiter*innen bedarf, um etwas zu schreiben, das Substanz hat. Je mehr wir als kämpfende Arbeiter*innen zu kollektiven und internationalen Debatten beitragen, desto besser. Wir freuen uns darauf, von euch zu hören!
Mit solidarischen Grüßen,
eure (immer noch) wütenden Arbeiter*innen.
Wir wollen all den Genoss*innen danken, die uns eine Zeit lang in unserem Unterfangen (welches nicht gerade ein Sonntagsausflug war) begleitet haben: Magda, Krzysztof, Elena, Klemen, Jakub, Vincent, Victor, Achille, Jack, Tomasz, Noel, Stephen, Isaias, Alvaro, Harsharan, Lucy, Linda, Andrew, Joachim, Fred, Eve, Oli, Nelio, Darwinder, Gurdev, James, Allan und Camille. Herzlichen Dank auch an Rowan, Andy, Clarrie, Chandrika, Bärbel, Julian, Alice und Siôn für all eure Unterstützung!
Greenford, U-Bahn-Station: Menschen mit Ringen unter den Augen, die Trainingsanzüge von Sports Direct tragen. Jugendliche in Sicherheitsschuhen, die zusammen abhängen. Die Mülltonnen voll mit Energy-Drinks und Zigarettenstummeln. Hasch in der Luft. Mittagspause im Warenlager von Wincanton. Herumblödeln. Was kümmern einen Null-Stunden-Verträge und die Pickrate? Aufkleber der Warschauer Ultras an den Hausmauern. Dutzende handgeschriebene ›Zimmer zu vermieten‹-Zettel in den Schaufenstern der Geschäfte, die meisten auf Polnisch, Hindi und Tamil. ›Zimmer nur für Vegetarier‹ – wahrscheinlich Gujaratis. Erkerfenster hässlicher Reihenhäuser, die auf die North Circular Road hinunterstarren. Wir teilen uns jetzt ein Zimmer. Neben uns die Vermieterin, ihr Ehemann (der in Mumbai als Model arbeitete, bevor er nach England zog, um in Wembley Sofas zu verkaufen) und ihr schreiendes Baby. Oben die Rumänen – und ein Bulgare, den wir erst nach zwei Monaten entdecken, weil er nachts arbeitet. Die polnischen Jungs nebenan rauchen Gras, machen Boxtraining und schießen mit ihrer Armbrust. Sie helfen uns, Holz zu hacken. Barfuß. Sie haben eine Schlange als Haustier, was Härte demonstriert – gleichzeitig lieben sie Shakira. Ihre Vermieterin, die Frau, die den Mietvertrag der Polen unterschrieben hat, ist eine alleinstehende Mutter aus Katowice. Sie arbeitet als Busfahrerin am Busdepot in Acton. Sie sagt, dass die Stimmung mit dem Brexit-Referendum feindseliger geworden ist. Wir sind in einem Vorort Londons. Kaum jemand fährt jemals ins Zentrum. Die Leute arbeiten, trinken ein paar Dosen Bier, kochen Dal – und arbeiten weiter. Entladen, packen, alles Mögliche an irgendwelche anderen Orte in Babylon verschicken. Die meisten kommen aus dem Osten. Man schlägt die Zeit tot, wartet von Woche zu Woche auf den Lohn. Eine Erhöhung der Miete, eine Schwächung des Pfunds, und das war’s. Bis dahin müssen wir es miteinander aushalten. Wir lernen ein bisschen Somali von Abdi, bekommen ein paar billige Zigaretten von Pawel und scherzen während der Arbeitspause mit Jyoti in der Kantine, auf Plastikstühlen in einem Container mit Blechwänden.
Bevor wir 2014 in den Westen Londons zogen, lebten wir im Osten der Stadt, bedeutend näher am Zentrum. Wir waren aktiv in libertär-kommunistischen und sozialistisch-feministischen Gruppen. Es war okay, aber die Gruppen waren wie viele andere linke Gruppen. Kontakt mit ›der Arbeiterklasse‹ gab es höchstens sporadisch, zum Beispiel als Angestellte im öffentlichen Dienst wegen des Sparprogramms der Regierung in Streik traten oder während der Studierendenproteste. Die Linke in London zeichnet sich durch hohe Fluktuation aus und wird stark von Studierenden und sogenannten Freischaffenden dominiert. Wir kamen zu dem Schluss, dass es einer Klassenpolitik bedurfte, die stärker im Alltagsleben der Arbeiter*innen verankert ist. Nur so lassen sich Strategien entwickeln, die auf konkreten Erfahrungen am Arbeitsplatz und in Arbeitervierteln aufbauen.
Wir waren stark von der Streikwelle der migrantischen Lagerarbeiter in Italien inspiriert. Sie überwanden die Angst, die im Niedriglohnsektor vorherrscht, und nutzten ihre strategische Position in Unternehmen wie TNT und IKEA sowie wichtigen Verteilerzentren. Genoss*innen des Wildcat-Kollektivs in Deutschland betrieben eigene Untersuchungen in größeren Lagerhäusern. Sie waren dort auch politisch aktiv. Wir diskutierten mit ihnen über die zunehmende Konzentration von Arbeiter*innen im Logistiksektor. Nicht zuletzt deshalb entschlossen wir uns, nach West-London zu ziehen, da sich dort die logistischen Nervenenden der Stadt befinden. In diesem Buch werdet ihr viel über die Arbeitsplätze in der Warenproduktion und im Logistiksektor West-Londons erfahren. Dabei gilt London als eine der am stärksten deindustrialisierten Metropolen der westlichen Welt. Menschen sprechen vom Verschwinden der Londoner Hafenarbeiter und dem Ersetzen der Warenproduktion durch die Finanzwirtschaft. Doch die Industriearbeiter*innen wurden schlicht an die Ränder der Stadt gedrängt und dadurch unsichtbar.
Als wir nach West-London zogen, kannten wir einen einzigen Arbeiter dort: einen Genossen, der in einer Lebensmittelfabrik in Greenford Obst und Gemüse verpackte. Wir erfuhren mehr über die Gegend, als wir ihn besuchten. Der Westliche Korridor, an dem Greenford liegt, spielt für das tägliche Überleben Londons eine zentrale Rolle. Er bezeichnet das Gebiet zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen, die aus westlicher Richtung nach London führen, die M4 und die A40. Der Flughafen Heathrow, an dem rund 80.000 Menschen arbeiten, sorgt für die globale Anbindung. Weitere 10.000 Arbeiter*innen schuften in Lagerhäusern rund um den Flughafen sowie in den angrenzenden Vororten Hounslow und Southall. In Greenford und Perivale, nahe der A40, tun das etwa 15.000 Menschen und im Industriegebiet Park Royal 40.000. Warendistribution und Lebensmittelverarbeitung sind die wichtigsten Industrien. Rund 60 Prozent aller Lebensmittel, die von der Bevölkerung Londons (mehr als acht Millionen Menschen) konsumiert werden, werden im Westlichen Korridor abgefertigt, verpackt und verarbeitet.
Die Arbeitskräfte sind in erster Linie Migrant*innen. Die meisten kommen aus Südasien und Osteuropa. Sie mieten Zimmer in den für die Vororte charakteristischen Einfamilienhäusern, in der Nähe ihrer Arbeitsplätze. Die meisten dieser Häuser wurden zwischen 1930 und 1960 gebaut, konzipiert für vier- oder fünfköpfige Familien. Da die Mieten hoch sind, teilen sich heute bis zu zehn Arbeiter*innen ein Haus.
Bevor wir uns genauer ansehen, wie es in den Vororten West-Londons heute aussieht, lasst uns einen Blick auf die jüngere Entwicklung der hiesigen Klassenverhältnisse werfen.
Die gesellschaftliche Entwicklung am westlichen Rande Londons wurde von Industrialisierungsprozessen und Arbeitsmigration bestimmt. Dies formte den lokalen Klassenkampf. Was waren die entscheidenden Entwicklungssprünge?
Die ersten bedeutenden Verkehrsverbindungen waren der Grand Union Canal, der London mit den Industriegebieten rund um Birmingham verband, und die Eisenbahnlinie Great Western. Beide wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaut. Die Great Western Railway machte Southall zu einer Eisenbahnerstadt. Fabriken wurden in der Nähe errichtet, in Greenford zur Produktion von Glas oder dem Verpacken von Tee. In Southall wurde Margarine produziert. Weite Teile westlich von London blieben ländlich geprägt und lieferten Treibstoff für die wichtigsten Transportmittel Londons jener Zeit: Pferde. Auch Ziegelöfen und Obstplantagen dienten der Versorgung der Stadt.
Während des Ersten Weltkriegs wurden in Park Royal Munitionsfabriken errichtet. In den 1920er-Jahren kamen jede Menge Arbeiter*innen aus den Bergbaugebieten von Wales nach West-London, um Arbeit zu finden. Sie halfen, die Western Avenue (ein Teil der A40) zu bauen, und fanden Anstellung in den immer wichtiger werdenden Industrien des Leichtmaschinenbaus und der Lebensmittelverarbeitung. In der Zwischenkriegszeit investierten US-Unternehmen wie Firestone, Hoover, Gillette und Heinz in Produktionsstätten in West-London. Mehrere Tausend Arbeiter*innen waren dort angestellt, unter ihnen viele Frauen.
Im Zuge der Wiederaufrüstung der 1930er-Jahre gewann die Luftfahrtindustrie zunehmend an Bedeutung. Der Einfluss der Kommunistischen Partei in den Fabriken war stark und führte zu mehreren Streiks, etwa beim Reifenhersteller Firestone und in der HMV-Fabrik in Hayes, wo statt Grammofonen nun Munition produziert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die meisten Arbeitsmigrant*innen aus Irland. Wie ihre Vorgänger aus Wales trafen sie auf eine Lokalbevölkerung, die sowohl Migrant*innen als auch Arbeiter*innen gegenüber feindlich eingestellt war. In den 1960er-Jahren konzentrierten sich die Vorurteile auf die Neuankömmlinge aus der Karibik und Südasien (von denen die meisten aus dem Punjab kamen). Diese fanden Jobs in der Warenproduktion, die damals immer noch am Wachsen war.
Die 1960er- und 70er-Jahre sahen Proteste eines Industrieproletariats, das migrantisch und bäuerlich geprägt war. Viele waren auf dem Land aufgewachsen. Die Arbeiter*innen hatten nicht nur mit ihren Bossen zu kämpfen, sondern auch mit einem rassistischen Staatsapparat und faschistischen Organisationen wie der British National Party. Die Gewerkschaften zögerten, sie zu organisieren. West-London erlebte eine Reihe von Streiks, etwa in der Gummifabrik Woolf’s, der Autoteilefabrik Trico oder dem Fotolabor Grunwick. 1979 kam es in Southall zu Straßenschlachten bei Protesten gegen Faschisten und die Polizei. Die Metallverarbeitung verlor zu jener Zeit an Bedeutung. Von 1979 bis 1981 gingen in West-London 22.000 Jobs in diesem Sektor verloren. Es kam zu einer Restrukturierung der Industrien, die zu Arbeitskämpfen wie jenem bei Lucas Aerospace führten, wo Teile der Belegschaft Fragen nach ›Arbeitermitbestimmung‹ und ›gesellschaftlich nützlicher Produktion‹ aufwarfen. Diese Diskussionen blieben jedoch auf die Facharbeiterschaft beschränkt. Die anstehenden Massenentlassungen konnten nicht verhindert werden.
Während der 1980er-Jahre wurden die Jobverluste im Maschinenbau durch das rasante Wachsen des Flughafens Heathrow und die neuen Lagerhäuser und Logistikparks teilweise kompensiert. Hier wurden zum größten Teil Arbeiter*innen aus Südasien angestellt. Viele von ihnen waren Ende der 1970er-Jahre aus Uganda und Kenia vertrieben worden. In den 1980er- und 90er-Jahren sank die Zahl der Migrant*innen. Ein Teil der ersten Generation südasiatischer Einwanderer*innen bildete nun die lokale Mittelschicht: Mietsherren, Geschäftsführer, Politiker und ›Community Leaders‹. Migrant*innen in West-London organisierten sich entweder in der Labour Party oder sie sympathisierten mit religiösen Fundamentalismen, etwa der separatistischen Khalistan-Bewegung im Punjab. In diesen Jahrzehnten wurden die Flugzeug- und Autoindustrien in Park Royal und anderen Industriegebieten von Lebensmittelfabriken, Lagerhallen, Büros und kleinen Produktionsstätten abgelöst.
Das war eine kurze Zusammenfassung, eine detaillierte Beschreibung der Arbeitergeschichte West-Londons findet ihr im Anhang zu diesem Buch.
Was Anfang des 20. Jahrhunderts das Graben der Kanäle und in den 1930er-Jahren der Ausbau des Eisenbahnnetzwerks war, war in den 1980er- und 90er-Jahren die Erweiterung des Flughafens Heathrow. Sie brachte nicht nur Jobs vor Ort, sondern war Teil einer enormen Transformation globaler Logistik. Ob Obst und Gemüse, Pakete oder Elektroteile – alles, was im Bauch von Passagiermaschinen ankam, wurde in Dutzende von Lagerhäusern und Distributionszentren gebracht, wo es sortiert und verpackt wurde. Der Flughafen Heathrow beschäftigt 80.000 Menschen – indirekt sind es rund 150.000. Bei den meisten Jobs handelt es sich um körperliche Arbeit. Es arbeiten mehr Menschen dort als jemals in der Metallverarbeitung West-Londons gearbeitet haben. Gleichzeitig kam es in Industriegebieten wie Park Royal zu einer Reindustrialisierung im Kleinformat, vor allem in Form spezialisierter Produktionsstätten und in Zusammenhang mit neuen Informationstechnologien.
Zu einer wesentlichen Veränderung in der Zusammensetzung der lokalen Arbeiterklasse kam es in den frühen 2000er-Jahren. Die neue imperialistische Ordnung, die in den 1990er-Jahren durchgesetzt wurde (Golfkrieg 1991, NATO-Interventionen in Somalia und Afghanistan, Bürgerkrieg in Nepal), führte zu einem Anstieg von Asylsuchenden. In West-London beherbergten einige große Wohnsiedlungen fast ausschließlich Somalis. Danach folgte eine Migrationswelle aus Osteuropa, nachdem die Regelungen des EU-Arbeitsmarkts gelockert wurden. Von 1991 bis 1995 lag die Nettomigration nach Großbritannien im Durchschnitt pro Jahr bei 37.000 Menschen. Von 2011 bis 2015 lag sie bei 249.000. Viele Arbeiter*innen aus Osteuropa ließen sich in Perivale, Greenford und anderen westlichen Vororten Londons nieder. Gemeinsam mit der jüngsten Generation von Arbeitsmigrant*innen aus Südasien machen sie heute in vielen Lagerhäusern und Fabriken mehr als die Hälfte der Belegschaft aus.
Nur wenige der Arbeiter*innen aus Polen oder Rumänien kennen die Geschichte postkolonialer Migration. Mit ihren Vorurteilen treffen sie auf Familien der ›alten‹ südasiatischen Migrant*innen der 1960er- und 70er-Jahre, die ihnen nun in Form von Vermietern, Ladenbesitzern und Vorarbeitern begegnen.