Clean - Sucht  verstehen und überwinden - Maia Szalavitz - E-Book

Clean - Sucht verstehen und überwinden E-Book

Maia Szalavitz

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Beschreibung

Alkohol, Drogen, verschreibungspflichtige Medikamente, Sex, Glücksspiel, Pornografie oder das Internet – heute gibt es mehr Menschen denn je, die von einer Sucht betroffen sind. Doch trotz der hohen medialen Aufmerksamkeit beruhen unser Erklärungsansatz und unsere Therapiemethoden auf veralteten Ideen und Annahmen. Mit ihrem New York Times-Bestseller bietet Maia Szalavitz einen Denkansatz, der Sucht völlig neu definiert. Sie widerlegt, dass Süchtige ein »kaputtes Gehirn« oder eine »Suchtpersönlichkeit« haben, und betrachtet Süchte stattdessen als Entwicklungsstörungen. Indem wir Sucht auf diese Weise betrachten, können wir nicht nur die Fehler herkömmlicher Therapiemethoden erkennen, sondern finden auch bessere Alternativen. Es sind die persönliche Geschichte, die Familie, Freunde, die Kultur sowie Chemikalien in der Umwelt, die eine Sucht auslösen. Wenn wir verstehen, wie diese Faktoren zusammenspielen und die Krankheit ausgelöst haben, liegt darin auch der Schlüssel zur Heilung. Maia Szalavitz, die früher selbst heroin- und kokainabhängig war, verbindet in ihrem Buch ihre eigenen Erfahrungen mit den Erkenntnissen aus mehr als 20 Jahren Forschung auf dem Gebiet Sucht und Abhängigkeit – eine einzigartige Kombination aus Authentizität und wissenschaftlichem Fachwissen.

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Maia Szalavitz

CLEAN

SUCHT VERSTEHEN UND ÜBERWINDEN

Ein revolutionärer Erklärungsansatzund neue Chancen für die Therapie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2017

© 2017 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright der Originalausgabe: © 2016 by Maia Szalavitz. All rights reserved.

Die englische Originalausgabe erschien 2016 bei St. Martin`s Press in New York unter dem Titel Unbroken Brain. A Revolutionary New Way of Understanding Addiction.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Martin Rometsch

Redaktion: Silke Panten

Umschlaggestaltung: Laura Osswald

Umschlagabbildung: Shutterstock/Omelchenko

Satz: Carsten Klein, München

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86882-850-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-088-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-087-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für Ted

Mein besonderer Dank gilt dem Soros Justice Fellowship Program, das dieses Buchprojekt unterstützte.

Inhalt

Anmerkungen der Autorin

Einführung

Kapitel 1

Die Nadelspitze

Kapitel 2

Eine Geschichte der Sucht

Kapitel 3

Die Natur der Sucht

Kapitel 4

Intensive Welt

Kapitel 5

Das Märchen vom Suchttyp

Kapitel 6

Etiketten

Kapitel 7

Die Hölle ist die Mittelstufe

Kapitel 8

Initiation in der Abenddämmerung

Kapitel 9

Über Drogen und Dopamin

Kapitel 10

Schauplätze und Kulissen

Kapitel 11

Liebe und Sucht

Kapitel 12

Riskantes Geschäft

Kapitel 13

Ertappt

Kapitel 14

Das Problem mit dem Tiefpunkt

Kapitel 15

Antisoziales Verhalten

Kapitel 16

Die Schwierigkeit mit den 12 Schritten

Kapitel 17

Schadensminimierung statt absolutes Verbot

Kapitel 18

Die Kiwi-Methode1

Kapitel 19

Auch Genesung ist erlernbar

Kapitel 20

Neurodiversität und die Zukunft der Sucht

Danksagungen

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Anmerkungen der Autorin

Wer über Sucht schreibt, wird mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Eine der schwierigsten ist die Allgegenwart der Stigmatisierung und der ungenauen Sprache. Fürsprecher haben durchgesetzt, dass »der Mensch zuerst kommt«, wenn wir von Schizophrenie, bipolaren Störungen und anderen Erkrankungen sprechen. Sie weisen darauf hin, dass wir Menschen herabwürdigen, wenn wir sie allein nach ihrer Krankheit bewerten. Doch dieser Fortschritt hat die meisten Medien noch nicht erreicht, wenn sie über Sucht berichten: Sie werfen auf eine Art und Weise, die ansonsten undenkbar wäre, mit abwertenden Begriffe wie »Junkie« und »Trinker« um sich. Ich verwende Begriffe dieser Art nur, um auf ein Klischee hinzuweisen. Zudem benutze ich den abwertenden Begriff »Missbrauch« nur, um Drogenprobleme zu beschreiben, wenn ich Behörden zitiere oder mich auf die heute veraltete psychiatrische Diagnose »Substanzmissbrauch« beziehe, mit der man früher Probleme unterhalb der Suchtschwelle bezeichnete. Der bessere Begriff für weniger ernste Süchte ist »übermäßiger Gebrauch«, der Drogenkonsum nicht automatisch mit Kindesmissbrauch, sexueller Belästigung und häuslicher Gewalt gleichsetzt. »Drogenkonsum« ist die Bezeichnung für einen Substanzgebrauch, der nicht mit Schäden oder Sucht einhergeht.

Was Autismus anbelangt, ziehen die meisten autistischen Mitglieder von Selbsthilfegruppen den Begriff »autistische Person« der Bezeichnung »Person mit Autismus« vor. Diese Aktivisten betrachten den Autismus als Teil ihrer Persönlichkeit. Ihrer Meinung nach ist der Ausdruck »Person mit Autismus« vergleichbar mit der Bezeichnung »Person mit Weiblichkeit« für eine Frau. Ich spreche von »Süchtigen«, weil ich Wiederholungen und Schwerfälligkeit vermeiden möchte.

Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass die Namen in den Fallgeschichten in diesem Buch geändert wurden.

Einführung

Zwischen den Mächten der Pathologie und der Schöpfung kommt es häufig zu einem Kampf und, noch interessanter, bisweilen zu einem heimlichen Einverständnis.

Oliver Sacks

Ich liege im dünnen Metallrohr des Gehirnscanners im Semel-Institut für Neurowissenschaft und menschliches Verhalten der UCLA und versuche, nicht an Särge und Erdbeben zu denken. Auf meinem Oberschenkel liegt ein Gummiball, den ich drücken soll, wenn ich in Panik gerate, und der mich sofort von der riesigen, donutförmigen weißen Maschine befreien kann. Jetzt liegt mein Kopf mitten im Loch. Vorher wurde ich auf Gleitschienen hineingeschoben und musste unwillkürlich an die Schubladen denken, in denen die Toten im Leichenschauhaus liegen. Obwohl ich Ohrstöpsel trage, kommt mir das Dröhnen des Gerätes, begleitet von gelegentlichem Rütteln und schrillem Piepen, ohrenbetäubend vor. Da ich an Platzangst leide und lauten Lärm verabscheue, versuche ich, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Eine meiner Aufgaben besteht darin, meine Impulskontrolle zu messen, aber es erfordert fast meine ganze Willenskraft, um den Ball nicht sofort zu drücken und zu fliehen.

Ich werde nicht gescannt, weil ein Arzt es mir verordnet hat. Nein, ich habe selbst beschlossen, mich als Teil eines Experiments in diese enge Röhre zu begeben. Ich will Süchte und meine eigene Suchtgeschichte besser verstehen lernen. Wie konnte es passieren, dass ich, ein »begabtes« Kind und eine Stipendiatin einer Eliteuniversität, mir bis zu 40 Mal am Tag Kokain und Heroin spritzte? Warum wurde ich mit 23 geheilt, obwohl viele andere dafür viel länger brauchen oder nie genesen? Wichtiger noch, welche Faktoren bestimmen, wer süchtig wird, wer die Sucht überwindet und wer es nicht schafft? Und wie können wir als Gesellschaft besser mit der Sucht umgehen? Während ich im Scanner warte, erinnere ich mich an die letzten Tage meines Drogenkonsums, eine verstörende Phase im Jahr 1988, als ich meine Zeit ausschließlich damit verbrachte, mir eine Spritze zu verabreichen, Drogen zu verkaufen oder mir welche zu beschaffen. Ich überlege, was sich geändert hat – und was sich nicht geändert hat.

Wäre ich in den 1980er Jahren eingenickt und 2015 irgendwie wiederbelebt worden, hätte ich leider kaum einen Unterschied bemerkt, was den Umgang mit Süchten und die damit verbundene Terminologie anbelangt. Sicher, mindestens vier amerikanische Bundesstaaten und Washington haben den Verkauf von Marihuana als Partydroge erlaubt. Das würde alle schockieren, die sich nur noch an die Jahre des »Keine Macht den Drogen« erinnern. Und ja, Suchtverhalten ist wieder Thema in den Medien. Allerdings geht es heutzutage nicht um Crack, sondern um Internetsucht, Sexsucht, Esssucht und Spielsucht. Am meisten Aufmerksamkeit erregt der tragische Tod von Stars und anderen Menschen durch Überdosierung von Medikamenten. Überdosen sind heute sogar die Hauptursache für Tod durch Unfall, noch vor Verkehrsunfällen.1

Mehr Menschen denn je zuvor betrachten sich heutzutage als süchtig oder glauben, nach übermäßigem Substanzgebrauch auf dem Weg der Besserung zu sein. In einer großen, landesweiten Umfrage im Jahr 2012 erklärte einer von zehn erwachsenen Amerikanern, er habe irgendwann in seinem Leben Drogen- oder Alkoholsucht überwunden.2 Das sind mehr als 23 Millionen Menschen. Mindestens weitere 23 Millionen leiden derzeit an irgendeiner Störung, die mit übermäßigem Substanzgebrauch zusammenhängt.3 Nicht berücksichtigt sind die Millionen Menschen, die nach eigenen Angaben süchtig nach Sex, Glücksspielen oder Online-Aktivitäten sind oder sich gerade davon erholen. Berücksichtigt sind auch nicht die Millionen, die an Essstörungen leiden. Nachdem die American Medical Association im Jahr 2013 verkündete, Fettleibigkeit sei eine mit Sucht vergleichbare Krankheit, könnte einer von drei Amerikanern wegen seines Übergewichts nunmehr als süchtig gelten.4

Gleichzeitig scheinen die Konzerne, die Medikamente, Nahrung, Tabak, Alkohol und andere Produkte verkaufen, genau zu wissen, was Süchte sind und wie man sie manipuliert. Die meisten Amerikaner – auch die meisten Menschen mit Drogenproblemen und ihre Angehörigen – wissen das nicht. Gefangen in überholten Ideen – von denen sich viele seit den Tagen der Prohibition nicht verändert haben –, führen wir immer wieder die gleichen müden Debatten und setzen kontraproduktive Strategien durch, die Menschen kriminalisieren. Das muss nicht sein.

Ich schlage in diesem Buch einen neuen Blickwinkel vor, der dazu beitragen könnte, diese Stagnation zu beenden und mit neuen Methoden Suchtverhalten zu behandeln, zu verhindern und in den Griff zu bekommen. Wie ich in diesem Buch zeigen werde, ist Sucht keine Sünde und keine freie Wahl. Aber sie ist auch keine chronische, fortschreitende Gehirnkrankheit wie Alzheimer. Eine Sucht ist vielmehr eine Entwicklungsstörung, ein Problem, bei dem es um Timing und Lernen geht. Sucht ähnelt eher dem Autismus, dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und der Legasthenie als Krankheiten wie Mumps oder Krebs. Das geht sowohl aus vielen Daten als auch aus den gelebten Erfahrungen von Menschen mit Süchten eindeutig hervor.

Wie der Autismus führt auch eine Sucht zu Schwierigkeiten im Umgang mit anderen. Und wie beim ADHS können überraschend viele Menschen aus ihrer Sucht herauswachsen. Mehr noch, eine Sucht kann wie andere Entwicklungsstörungen mit Talenten und Vorteilen einhergehen – nicht nur mit Defiziten. Viele Menschen mit ADHS sind beispielsweise erfolgreiche Unternehmer oder Forscher,5 während autistische Menschen oftmals in detailorientierten Aufgaben glänzen, hochbegabte Musiker, Künstler, Mathematiker oder Programmierer sind.6 Legasthenie wiederum kann die Verarbeitung visueller Informationen und das Erkennen von Mustern verbessern,7 was auch in Naturwissenschaften und in der Mathematik hilfreich ist. Sucht ist häufig mit einem starken Antrieb und mit Besessenheit verbunden, was, richtig kanalisiert, Leistungen aller Art begünstigen kann. In allen diesen Fällen verschwimmen die Grenzen zwischen normalem und gestörtem Verhalten.

Natürlich scheinen die Unterschiede zwischen einer Sucht und anderen Entwicklungsstörungen in mancher Hinsicht extrem groß zu sein, vor allem weil eine Sucht offenbar bewusste und wiederholte Entscheidungen voraussetzt, von denen einige, etwa der Konsum illegaler Drogen, als grundsätzlich unmoralisch gelten. Frühkindliche Traumata können bei der Sucht ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, während all dies beim Autismus nicht der Fall ist. Diese Unterschiede verdecken jedoch wichtige Gemeinsamkeiten. Sowohl beim Autismus als auch bei Süchten wird beispielsweise wiederkehrendes Bewältigungsverhalten häufig als Ursache des Problems fehlinterpretiert, anstatt es als Lösungsversuch zu werten. Bei schwer vernachlässigten Kindern ist sogar oft autismusähnliches Verhalten zu beobachten.8 Sie schaukeln zum Beispiel ständig hin und her, um sich zu beruhigen oder anzuregen. Misshandelte Kinder leiden scheinbar oft an ADHS, weil sie hypervigilant sind, das heißt extrem anfällig für »Ablenkungen«, etwa für Türknallen.

Bei allen diesen Störungen – auch beim Autismus selbst – sind wiederkehrende, hyperwachsame oder destruktive Verhaltensweisen meist nicht das Hauptproblem; für gewöhnlich handelt es sich um Bewältigungsverhalten (Coping), um den Versuch, mit einem Umfeld zurechtzukommen, das häufig als bedrohlich oder überwältigend wahrgenommen wird. Ähnlich ist es beim Suchtverhalten: Es ist oft eine Suche nach Sicherheit, nicht ein Versuch, zu rebellieren oder sich egozentrisch nach innen zu wenden – was früher auch autistischen Kindern vorgeworfen wurde. In diesem Buch wird immer wieder deutlich werden, dass Menschen mit Entwicklungsstörungen einschließlich Sucht unnötig stigmatisiert werden, wenn man ihre verständlichen Bemühungen, sich selbst zu schützen, als hedonistisch, egoistisch oder »verrückt« bezeichnet. Dadurch helfen wir ihnen nicht, sondern verstärken ihre Störungen noch.

Kritisch anzumerken ist, dass eine Sucht nicht einfach dadurch entsteht, dass jemand mit Drogen in Berührung kommt. Sie ist auch nicht die unvermeidliche Folge eines bestimmten Persönlichkeitstyps oder der Gene, obwohl diese Faktoren eine Rolle spielen. Sucht ist vielmehr eine erlernte Beziehung zwischen dem Timing und dem Muster der Konfrontation mit Substanzen oder anderen potenziell süchtig machenden Erfahrungen einerseits und der Veranlagung eines Menschen, seiner kulturellen und physikalischen Umwelt sowie seiner sozialen und emotionalen Bedürfnisse andererseits. Das Stadium der Gehirnreifung ist ebenfalls wichtig: Süchte kommen weitaus seltener bei Menschen vor, die Drogen zum ersten Mal konsumieren, wenn sie älter als 25 Jahre sind, und sie legen sich häufig mit oder ohne Behandlung bei Menschen Mitte zwanzig, wenn das Gehirn völlig erwachsen wird. 90 Prozent aller Substanzabhängigkeiten beginnen im Jugendalter und der Konsum illegaler Drogen endet meist bis zum Alter von 30 Jahren.9

Die Folgen der Entwicklungsperspektive sind weitreichend. Wenn eine Sucht eine Lernstörung ist, ist der »Krieg gegen die Drogen« nutzlos. Erstaunlicherweise werden sogar nur 10 bis 20 Prozent der Menschen süchtig, die die am meisten stigmatisierten Drogen wie Heroin, Crack oder Methamphetamin probieren.10 Und diesen Menschen, die nicht selten in der Kindheit erheblich traumatisiert wurden und/oder psychisch krank waren, gelingt es meist, sich selbst zwanghaft mit Medikamenten zu behandeln, ganz gleich, wie sehr wir die eine oder andere Substanz verdammen. Der Versuch, eine Sucht zu beenden, indem man bestimmte Drogen beseitigt, gleicht dem Bemühen, zwanghaftes Händewaschen zu heilen, indem man eine Seife nach der anderen verbannt. Vielleicht bringen wir Menschen dazu, mehr oder weniger schädliche Substanzen zu konsumieren, während sie ihren Zwängen ausgesetzt sind, doch damit lösen wir nicht das eigentliche Problem.

Wenn man bedenkt, dass eine Sucht eine Lernstörung ist, liegt zudem nicht unbedingt ein lebenslanges Problem vor, das eine dauerhafte Behandlung und die Akzeptanz einer stigmatisierten Identität erfordert. Studien zeigen, dass die Abhängigkeit von Kokain, Alkohol, Medikamenten und Cannabis11 sich meist legt, bevor die Betroffenen Mitte dreißig sind, und zwar weitgehend ohne Therapie.12 Auch ein Drittel bis die Hälfte der Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert13 wurde, erfüllt die Kriterien dafür als Erwachsene nicht mehr und eine Therapie hat anscheinend keinen Einfluss darauf, ob die Störung sich auswächst oder nicht14 – allerdings kann sie mit Sicherheit die Lebensqualität der Betroffenen verringern. Der Ansatz, dass Sucht eine Lernstörung ist, ermöglicht uns zudem Einblicke in andere Erkrankungen – von Angststörungen bis zur Schizophrenie, von der bipolaren Störung bis zur Depression –, die einer Sucht oft vorausgehen und die von ähnlichen Ansätzen profitieren könnten.

Dieses Buch stellt sowohl die Idee, ein Süchtiger habe ein »kaputtes Hirn«, als auch die simple Vorstellung von einem »Suchttyp« infrage. Es ermöglicht eine neue Sicht auf Drogen, Begierden und Zwänge, sowohl in Bezug auf extremes Verhalten wie das Spritzen von Drogen als auch auf den gewöhnlichen Diätwahn.

Während ich darauf warte, dass der Scanner das weiche Gewebe unter meinem Schädel abtastet, muss ich einfach an das Organ denken, das die Wissenschaftler für das komplexeste Gebilde im bekannten Universum halten. Ich weiß, dass alle unsere Erfahrungen irgendwie im Gehirn gespeichert werden. Irgendwo in den Windungen und pulsierenden Oberflächen meines Gehirns müssen die Echos von allem, was ich je gelernt habe, aufbewahrt sein, egal ob ich mich daran erinnere oder nicht. Das Gleiche gilt für jede Entscheidung, die ich bewusst oder unbewusst jemals getroffen habe.

Und irgendwo in meiner grauen und weißen Gehirnmasse befinden sich die Nervenstrukturen, die dafür verantwortlich sind, dass mein Suchtrisiko bereits hoch war, bevor ich Drogen konsumierte. Und dort befinden sich auch hartnäckige Rückstände der chemischen Veränderungen, die die Substanzen hervorgerufen haben. Alles, was ich bin, und alles, was ich je war, ist hier irgendwo chemisch, strukturell oder elektrisch abgebildet – nicht nur Süchte, sondern auch die inzwischen mehr als 25 Jahre andauernde Genesung und die anderen Lebenserfahrungen der vergangenen Jahrzehnte.

Ich hoffe, dass meine Gehirnscans mir helfen darzulegen, warum das Lernen bei dieser Störung eine wichtige Rolle spielt. Nach Jahrzehnten des Lesens, Berichtens und Schreibens über Sucht, nach Hunderten von Gesprächen mit Experten und noch mehr Gesprächen mit Drogenkonsumenten und ehemaligen Konsumenten – von denen viele Erfahrungen mit der Sucht haben – bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Lernen der Schlüssel zu besseren Therapien, zur Vorbeugung und zum Umgang mit Betroffenen ist. Wissenschaftler wissen zwar seit Langem, dass Lernen bei Abhängigkeit von großer Bedeutung ist, doch der größte Teil der Bevölkerung weiß das nicht – oder ihm ist nicht bewusst, welche Folgen diese Betrachtungsweise hat. Wenn wir allerdings versuchen, die Sucht zu verstehen, ohne die Rolle des Lernens zu berücksichtigen, gleicht das dem Versuch, Lieder und Symphonien zu analysieren, ohne etwas von Musiktheorie zu verstehen: Wir können Misstöne und Schönheit intuitiv erfassen, aber die tiefere Struktur, die Harmonie erzeugt, entgeht uns.

Es hat katastrophale Folgen, wenn wir die wahre Natur der Sucht nicht erkennen. Dieses Versäumnis verhindert, dass wir alle Arten von Drogenproblemen effektiv anpacken, sowohl hinsichtlich der Vorbeugung und Behandlung als auch in Bezug auf unsere Strategien. Es hindert uns daran, individualisierte Methoden zu entwickeln, und es bewirkt, dass sich Diskussionen über diese Themen zu nutzlosen Streitereien darüber entwickeln, ob wir Süchte als Verbrechen oder als Krankheiten betrachten sollen.

Eine falsche Auffassung von Sucht führt außerdem dazu, dass die Drogenpolitik ein politischer und ethnischer Spielball bleibt, weil unsere derzeitigen ineffektiven Strategien viele betroffene Menschen und deren Familien zur Verzweiflung treibt. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Sucht im Großen und Ganzen die psychiatrische Störung mit den besten Heilungschancen ist und nicht die mit der schlechtesten Prognose, wie manche Leute sich haben einreden lassen.15

Menschen werden nicht einfach dadurch süchtig, dass sie zufällig eine bestimmte Chemikalie finden und anfangen, sie regelmäßig zu konsumieren. Eine Sucht wird erlernt und hat eine Geschichte, die in der individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Menschen wurzelt. Wir halten sie nur deshalb für eine einfache Gehirnerkrankung oder für kriminelles Verhalten, weil wir ihre Entwicklungsgeschichte nicht verstehen und nicht wissen, wie viele Probleme sie hervorruft – Probleme, die oberflächlich betrachtet gleich aussehen, tatsächlich aber sehr unterschiedlich sind. Wenn wir die Bedeutung des Lernens verstehen, wird klar, was wirklich vor sich geht und was wir dagegen tun können.

Richtig verstanden ist das süchtige Gehirn nicht »kaputt« – es hat einfach eine andere Entwicklung hinter sich. Wie ADHS oder Autismus könnten wir die Sucht als abweichende Schaltung bezeichnen, nicht unbedingt als Zerstörung von Hirngewebe, obwohl manche Drogen in bestimmten Dosen durchaus Gehirnzellen schädigen können. Sicherlich kann sich eine Sucht wie alles, was erlernt ist, mit der Zeit verfestigen; dennoch nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Heilung mit zunehmendem Alter nicht ab, sondern zu.16 Dieser scheinbare Widerspruch ergibt mehr Sinn, wenn wir ihn als Teil einer Entwicklungsstörung betrachten, die sich mit dem Alter verändern kann.

Mehr noch, Eltern und Lehrer wissen sehr wohl, dass es fast unmöglich ist, Lernen zu erzwingen oder gar ein Verhalten zu ändern, das bereits zur Gewohnheit geworden ist. B.F. Skinner schrieb dazu: »Ein Mensch, der bestraft wurde, neigt deshalb nicht weniger zu einem bestimmten Verhalten; bestenfalls lernt er, wie er der Strafe entgehen kann.«17 Furcht und Drohungen entziehen den Gehirnregionen, die für Selbstbeherrschung und abstraktes Denken zuständig sind, buchstäblich Energie,18 und das ist das genaue Gegenteil dessen, was wir erreichen wollen, wenn wir versuchen, jemandem neue Denk- und Verhaltensweisen beizubringen. Verhaltensänderungen sind viel einfacher, wenn wir soziale Unterstützung, Mitgefühl und positive Anreize nutzen.19 Das belegen zahlreiche psychologische Studien, die jedoch bei der Therapie und in der Drogenpolitik oft ignoriert werden. Das ist offensichtlich bedeutsam, wenn wir die Frage stellen, wie erfolgversprechend es ist, Sucht durch Kriminalisierung zu bekämpfen.

Die Tatsache, dass das Lernen und die Entwicklung bei der Sucht eine große Rolle spielen, bedeutet zudem, dass im Gegensatz zu den meisten physischen Krankheiten bei der Sucht kulturelle, gesellschaftliche und psychische Faktoren unlösbar mit der Biologie verwoben sind. Wer nur an einem einzelnen dieser Stränge zieht, macht aus der ganzen Idee ein unverständliches Gewirr. Wenn wir die Sucht lediglich biologisch, psychologisch, gesellschaftlich oder kulturell betrachten, können wir sie nicht verstehen. Sobald wir jedoch das Lernen, den Kontext und die Entwicklung einbeziehen, ist alles viel leichter zu erklären und zu lösen.

Wenn wir die Sucht als Lernstörung auffassen, können wir viele bisher verwirrende Fragen beantworten, zum Beispiel: Warum können Süchtige offenbar freie Entscheidungen treffen und dadurch ihren Drogenkonsum verbergen und ihre regelmäßige Versorgung mit der Droge planen, obwohl es ihnen nicht gelingt, Gewohnheiten zu ändern, die ihnen mehr schaden als nützen? Das Lernen hilft uns zu verstehen, warum kulturelle Trends und die Gene großen Einfluss haben können und warum Faktoren wie Arbeit und soziale Unterstützung die Genesung viel stärker fördern als bei körperlichen Krankheiten. Leider verschwindet ein Tumor nur selten, wenn Betroffene sich verlieben und heiraten – aber bei Alkoholismus und anderen Süchten ist das möglich.20

In diesem Buch werde ich erklären, wie eng das Lernen mit jedem Aspekt der Sucht verbunden ist: von molekularen Veränderungen im Gehirn als Folge bestimmter Verhaltensmuster beim Drogenkonsum und bestimmter Erfahrungen bis zum Zusammenhang zwischen Drogen und speziellen Umgebungsreizen und Erinnerungen, die von individuellen, familiären, kulturellen und geschichtlichen Umständen beeinflusst werden. Ich werde meine eigenen Erfahrungen als Fallstudie nutzen und zeigen, warum eine bestimmte Sucht diesen und andere Süchte jenen Verlauf nehmen. Obwohl meine eigene Geschichte zweifellos ungewöhnlich ist, illustriert sie, wie entscheidend das Lernen beim Suchtprozess ist, und sie hilft uns trotz ihrer Einzigartigkeit, das größere Problem zu verstehen.

Wir werden sehen, dass eine Sucht eine ganz spezifische Art des Lernens beeinflusst und uralte Leitungsbahnen im Gehirn nutzt, die sich entwickelt haben, um das Überleben und die Fortpflanzung zu fördern. Weil das die grundlegenden Aufgaben jedes biologischen Organismus sind, lösen sie ein hochmotiviertes Verhalten aus. Wenn wir hungern, verliebt sind oder Kinder großziehen, müssen wir trotz negativer Folgen durchhalten – dies ist auch das Wesen des Suchtverhaltens. Hier handelt es sich nicht um ein Virus, sondern um eine Funktion, wie die Programmierer sagen. Es kann zwischen Leben und Tod, zwischen Erfolg und Scheitern entscheiden. Wenn die Leitungsbahnen des Gehirns, die Essen, soziale Kontakte, Fortpflanzung und die Versorgung der Kinder fördern, jedoch für eine Sucht genutzt werden, kann ihr Segen zum Fluch werden. Liebe und Sucht sind Veränderungen derselben Leitungsbahnen, und das ist der Grund dafür, dass Fürsorge und Zuneigung für die Genesung ebenfalls notwendig sind.

Endlich begreift die Welt, dass die amerikanische Methode – Sucht mit Strafen zu bekämpfen –, die im vorigen Jahrhundert die Drogenpolitik dominierte, gescheitert ist. Um diese Methode zu überwinden, brauchen wir ein neues Verständnis der Störung und ihres Zusammenhangs mit dem Drogenkonsum und anderen Verhaltensweisen. Erst wenn wir verstanden haben, was eine Sucht ist – und was sie nicht ist –, können wir anfangen, nach besseren Heilverfahren zu suchen. Und nur wenn wir süchtige Menschen als Individuen betrachten und sie mitfühlend behandeln, finden wir bessere und viel wirksamere Methoden, den Schaden zu verringern, den Drogen anrichten.

Während ich im Scanner liege, geht mir eine Passage aus einem Song der Talking Heads durch den Kopf: »Also, wie bin ich hierhin gekommen?« Das ist das Rätsel jeder Sucht, und um es zu lösen, müssen wir es unter dem Blickwinkel eines Süchtigen betrachten. Durch die Untersuchung des Spezifischen und Besonderen können wir allgemeine Grundsätze entdecken.

Kapitel 1

Die Nadelspitze

[…] weil Heroin das Einzige war, das wirklich funktionierte, das Einzige, das ihn davor bewahrte, in einem Hamsterrad unbeantwortbarer Fragen herumzuhetzen. Heroin war die Kavallerie.

[… Es] landete behaglich schnurrend auf seiner Schädelbasis und wand sich dunkel um sein Nervensystem, wie eine schwarze Katze, die es sich auf ihrem Lieblingskissen gemütlich macht.

Edward St. Aubyn, Schlechte Neuigkeiten

Im Juli 1988 hatte sich mein Leben fast auf die Größe einer Nadelspitze verengt. Ich lebte mit meinem festen Freund Matt zusammen und verkaufte Kokain. Mein einziges tägliches Ziel bestand darin, zunächst zu einer Methadon-Abgabestelle zu schlurfen und dann irgendwie genug Geld zu beschaffen, um high zu werden, die Miete zu bezahlen und die Katze zu füttern. Dieser Sommer war gleichzeitig die beste und die schlimmste Zeit meines Lebens. Es war die beste, weil ich im August die Kokain- und Heroinsucht überwand, in deren Verlauf ich bis auf 38 Kilo abgemagert war. Eklige Stichwunden sprenkelten alle vier Gliedmaßen, mein Haar war dünn und übermäßig gebleicht, als versuche Madonna, blond wie Marylin zu werden. Mein Blick war abwesend und leer. Es war zugleich die schlimmste Zeit, weil ich, nun ja, niemandem eine aktive Sucht und eine zügige Heilung empfehlen würde.

Ich war 23, befand mich gegen Kaution auf freiem Fuß und musste nach einer Anklage im Jahr 1986 mit einer fünfzehnjährigen bis lebenslangen Gefängnisstrafe wegen Kokainhandels rechnen. Das sahen die Drogengesetze des Staates New York vor, die unter Gouverneur Rockefeller erlassen worden waren. Man hatte mich mit zweieinhalb Kilo Kokain geschnappt, was mich scheinbar zu einer hochkarätigen Dealerin abstempelte. In Wahrheit gehörte das meiste Kokain Matts Lieferanten, der ihn gebeten hatte, es zu verstecken.

Kaum jemand hätte mir eine solche Zukunft vorausgesagt – einem Mädchen, das mit drei Jahren lesen konnte, seine Schüchternheit zu überwinden versuchte, in der achten Klasse als »höchstwahrscheinlich erfolgreich« eingestuft wurde und sich akademisch so auszeichnete, dass es 1983 von der Columbia University in den ersten Kurs für Frauen aufgenommen wurde. Das war jetzt Vergangenheit. Ich konnte nicht studieren, während ich mit einem Strafverfahren konfrontiert war. Im Grunde konnte ich überhaupt nicht viel tun; ich vernachlässigte sogar alltägliche Verrichtungen wie Putzen, Baden und Wäschewaschen.

An dieser Stelle könnte ich Ihnen sagen, dass ich anders bin, dass ich nicht die »typische Süchtige« war. Die amerikanischen Medien versichern uns immer wieder, dass ein typischer Süchtiger bestimmt nicht weiß, weiblich, gebildet oder Angehöriger der Mittelschicht ist. Aber ich werde das nicht tun. Die Geschichte lehrt, dass die Vorstellung vom »typischen Süchtigen« ein grausames Klischee ist, das in einer Periode des harschen Rassismus entstand. Dieses Klischee hat viel damit zu tun, dass unsere Drogentherapien und unsere Drogenpolitik sowohl drakonisch als auch unwirksam sind. Die ganze Idee ist eines der verborgenen Hindernisse, die uns davon abhalten, Drogenprobleme genau zu verstehen. Wenn wir es besser machen wollen, müssen wir wissen, was eine Sucht wirklich ist – und einsehen, dass unsere fehlerhaften Versuche, sie zu definieren, großen Schaden angerichtet haben.

In den 1980er Jahren, als ich süchtig war, legte man großen Wert darauf, zwischen »physischer« und »psychischer« Abhängigkeit zu unterscheiden. Auch heute noch ist die Vorstellung, eine solche Unterscheidung sei wichtig, erstaunlich weit verbreitet. Körperliche Abhängigkeit galt hauptsächlich als medizinisches Problem: Der Süchtige war aufgrund biologischer Faktoren auf eine Droge angewiesen, um arbeiten zu können, ohne dass er körperlich krank gewesen wäre. Die offizielle Bezeichnung für das Problem im diagnostischen Handbuch der Psychiater lautete in den 1980er Jahren und bis 2013 »Substanzabhängigkeit«.

»Psychische« Abhängigkeit galt hingegen als moralisches Problem: Man hatte sich selbst nicht mehr im Griff und war willensschwach und egoistisch. Die körperliche Abhängigkeit war real, die psychische spielte sich nur im Kopf ab. Leider mussten Menschen wie ich auf die harte Tour lernen, dass das körperliche Bedürfnis, eine Droge zu konsumieren, um Entzugserscheinungen zu vermeiden, nicht der Kern des Problems ist. Die Psyche und das Lernen, das sie beeinflusst, spielen eine viel, viel größere Rolle. Im Sommer 1988 beherrschte diese Psyche mein Leben.

»Fötid« – übelriechend – war eines von Matts Lieblingswörtern. Es beschrieb unsere Lebensverhältnisse in jenem Sommer treffend. Unsere Mietwohnung in Astoria, nicht weit von der Triborough Bridge entfernt, kostete 750 Dollar im Monat und war im Wesentlichen ein Rechteck mit vier Zimmern und spärlichem Mobiliar. In einem Schlafzimmer lag eine nackte, fleckige Futonmatratze auf dem Boden. Wir hatten viele Bücher, Comichefte, Platten und CDs, eine teure Stereoanlage und ein paar Tische und Stühle.

Die Spuren des Drogenkonsums waren überall verstreut: gebogene, geschwärzte Löffel und bauchige, gläserne Crackpfeifen, von denen einige zerbrochen waren und verkohlte Metallsiebe in ihren Köpfen hatten. Ein paar Spritzenteile in Neonorange lagen auf Schmutzwäschehäufen – meine Wäsche war fast schwarz. In der Ecke eines Schlafzimmers stand ein Schreibtisch mit einem alten PC und einem Nadeldrucker. In diesem PC speicherte ich Artikel, die ich für die Kifferzeitschrift High Times schrieb. Meine erste landesweit gelesene Kolumne, die ich unter dem Pseudonym Maura Less schrieb, trug den Titel »Piss Patrol«. Darin ging es um Urinkontrollen.

In einer anderen Ecke stand ein Katzenklo und unsere langhaarige Tigerkatze Smeek trottete herum und prahlte mit ihrem dicken, bauschigen Schwanz. Wenigstens Smeek wurde geliebt und vielleicht etwas zu gut gefüttert. Ansonsten lebten wir in Schmutz und Unordnung. Auch das Katzenklo war nicht immer sauber, was Smeek manchmal veranlasste, sein Geschäft aus Protest außerhalb der Kiste zu verrichten, oft auf den herumliegenden Zeitungen und Kleidungsstücken.

Inzwischen war Matt grotesk besessen von seinen Körperfunktionen und hatte schreckliche Angst davor, von der Feuerwehr festgenommen zu werden. Er glaubte, die Männer in den roten Fahrzeugen seien irgendwie imstande, die Dämpfe des Kokains aufzuspüren, das er rauchte. Er ließ die Rollläden immer geschlossen und spähte gelegentlich argwöhnisch hinaus, um nachzusehen, ob die Feuerwehrleute ihm auf den Fersen waren. Dieser jüdische Junge aus Long Island, einst bekannt für seinen trockenen Humor und sein künstlerisches Talent, saß nun meist zu Hause, trug nur kurze weiße Unterhosen und war von Müll umgeben. Er war davon überzeugt, dass das Kokain sein Verdauungssystem zerstörte, konnte aber nicht mit dem Koksen aufhören.

Jeden Morgen nahm ich mir vor, kein Kokain zu spritzen, da ich wusste, dass es Zwangsstörungen auslöste und mich ängstlich und paranoid machte (aber immerhin nicht in Bezug auf die Feuerwehr). Dann schleppte ich mich zur Methadon-Abgabestelle in eine Art Festung, die sich in der Nähe der erhöhten U-Bahngleise am Fuß der Brücke in der 59. Straße befand. Ich hatte beschlossen, mich dort behandeln zu lassen. Ich wusste, dass körperliche Heroinabhängigkeit ein Problem war und suchte Hilfe beim Entzug. Ich glaubte tatsächlich, das sei alles, was ich tun müsse, um auf den rechten Weg zurückzufinden.

Ich war gründlich durchdrungen von der paradoxen amerikanischen Einstellung zur Sucht und hielt sie sowohl für ein moralisches als auch für ein medizinisches Problem. Den moralischen Aspekt konnte ich für meine eigene Heroinsucht nicht akzeptieren; das hätte meiner Meinung nach bedeutet, dass mein Verstand – das Einzige, was ich an mir selbst schätzte – geschwächt und verdorben war. Also redete ich mir ein, ich sei »nur körperlich abhängig« und Methadon könne das reparieren.

Ich wollte mir ein illegales Opiat »abgewöhnen«, indem ich ein sicheres, sauberes, legales Opiat einnahm, und zwar in immer kleineren Dosen im Laufe von sechs Monaten. Die Methadonbehandlung1 in der örtlichen Abgabestelle begann damit, dass ich mit einer, wie ich heute weiß, viel zu geringen Dosis »stabilisiert« wurde. Die wirksame Methadondosis ist bei jedem Patienten unterschiedlich, aber sie liegt meist bei über 60 Milligramm (ich bekam 30) und reduziert mit der Zeit das Verlangen nach Heroin, ohne eine Euphorie auszulösen. Eine solche Dosis verhindert auch, dass man bei Rückfällen high wird. Das habe ich nie erlebt.

Doch selbst die richtige Anfangsdosis hätte bei mir nichts bewirkt. Man begann nämlich fast sofort mit dem »Ausschleichen« und reduzierte die Dosis auf eine Menge, die schon nach den damaligen wissenschaftlichen Erkenntnissen völlig unwirksam war. Folglich konsumierte ich mehr Heroin, je weniger Methadon ich bekam, sodass die ganze Therapie nutzlos war und sich meine körperliche Abhängigkeit festigte. Ich fühlte mich hilflos, in einer Falle gefangen.

Also änderte ich meine Taktik. Zuerst machte ich mir klar, dass das Methadon die Entgiftung sogar erschwerte. Auf der Straße erzählte man sich, ein Verzicht auf Heroin sei leichter als ein Entzug mit Methadon, weil die schlimmsten Heroinentzugssymptome nur zwei harsche Wochen lang auftraten, während der Methadonentzug Monate dauerte (später erfuhr ich, dass er weniger hart ist, wenn man es richtig macht). Mein neuer Plan sah so aus: Ich wollte das Methadonprogramm durchziehen und dann ein paar Wochen lang nur Heroin spritzen, um das Methadon aus meinem Körper zu entfernen. Danach würde ich endgültig mit dem Methadon und dem Heroin aufhören – und mit dem Kokain gleich mit. Heute allerdings wollte ich mir nur einen einzigen Schuss verpassen.

Da Matt und ich Kokain verkauften und fast immer welches bei uns hatten, führte diese eine Injektion schnell zu Dutzenden. Ich suchte nach einer meiner wenigen noch benutzbaren Venen, wartete, bis ich fündig wurde, und schaute zu, wie das Blut in den Zylinder sprudelte. Doch selbst wenn das mühelos gelang, prickelte die Euphorie nicht mehr. Sie war mit Paranoia verunreinigt, überschattet von einer drohenden, unbestimmten Angst. Was so aufregend begonnen und mir ein Gefühl unbegrenzter Chancen und Fähigkeiten vermittelt hatte, war jetzt mit Furcht behaftet. Ich fühlte mich gelähmt, nicht befreit. Aus Verlangen wurde Furcht, die dann erneut ein sinnloses und frustrierendes Verlangen nach mehr auslöste.

Total aufgedreht, zitternd und unfähig, mich zu entspannen, wurde mir klar, dass nur Heroin mir helfen konnte. Mein Herz schien lauter zu schlagen, als es sollte. Die Folge war eine epische Suche nach der Droge auf den damals düsteren Straßen in Bushwick, Brooklyn oder der Lower East Side von Manhattan.

Ich hatte schreckliche Angst davor, beim Kauf erwischt und festgenommen zu werden – nicht nur aus den üblichen Gründen, sondern auch, weil ich mich vor den Folgen fürchtete, die eine Verhaftung für meine Kautionsbedingungen und somit für die Häuser meiner geschiedenen Eltern haben würde, die zusammen anstelle einer Bareinzahlung in Höhe von 50.000 Dollar als Sicherheit dienten. Diese hohe Kaution war damals festgesetzt worden, als die zweieinhalb Kilo Kokain, mit denen ich erwischt worden war, mich nach dem Gesetz zu einer höchst gefährlichen Dealerin machten, obwohl das kaum der Realität entsprach. Es war sogar meine erste Festnahme gewesen.

Um das Risiko einer erneuten Verhaftung zu verringern, kaufte ich nicht selbst, sondern fuhr mit Freunden umher, die auf der Straße für mich Heroin besorgten und dafür einen Teil davon bekamen. Wir fuhren meist in einem klapprigen Auto nach Bushwick. Wenn wir die berühmt-berüchtigte Gegend erreichten, kauerte ich mich ängstlich auf dem Rücksitz zusammen, um nicht entdeckt zu werden. Mein gehetzter Blick und mein zerlumptes Aussehen hätten sofort verraten, weshalb wir uns hier herumtrieben. So wartete ich voller Angst, während jemand, der sich als Fahrer angeboten hatte, in heruntergekommene, mit Graffiti bemalte Gebäude rannte und nach einer gefühlten Ewigkeit zurückkam.

Wenn es uns gelang, anständigen Stoff zu erwerben – nicht unwirksamen, verfälschten Schrott –, schenkte die Droge mir ein paar glückselige Stunden der Ruhe. Sobald ich nach Hause kam, erhitzte ich den Löffel, um das Heroin vorzubereiten. Ich löste es in Wasser, fügte ein wenig Kokain hinzu, wenn das Wasser abkühlte, und injizierte mir dann die Mischung. Wenn der Stoff gut und meine Toleranzschwelle nicht zu hoch war – was in diesem Stadium meiner Sucht selten vorkam –, fühlte sich der erste Schuss himmlisch an. Das Kokain versetzte mich schlagartig in einen euphorischen Rauschzustand, während ich den Kolben hinunter drückte. Ich schmeckte das eisige Aroma der Droge tief in meiner Kehle. Wenige Augenblicke später übernahm das wärmere, lindernde, harmonische Heroin das Kommando. Jedes Atom meines Körpers fühlte sich ruhig, sicher, satt und vor allem geliebt.

Leider entschied ich bald, dass eine weitere Kokainspritze angenehm wäre. Dann verpasste ich mir immer wieder »nur noch einen« Schuss, bis die ängstliche Wachheit des Kokains die beruhigende Wirkung des Heroins vollständig auslöschte. Nach einer schlaflosen Nacht begann der folgende Tag genau wie der vorhergehende: Ich erduldete die Demütigungen des Methadonprogramms.

Das flache Gebäude im unwirtlichen Leichtindustriegebiet im Schatten der erhöhten Gleise, auf denen Schnellzüge fahren, ist von Fabriken umringt, die unter anderem Autoteile herstellen, und sieht wie ein Gefängnis aus. Jedes Detail war auf Sicherheit ausgelegt und zeugte von der Belagerungsmentalität, die sich entwickelt, wenn man versucht, seine Wertsachen vor seinen Kunden zu schützen, die alle Kriminelle sind. Regen, Schnee, Graupeln oder Hagel – kein Wetter war extrem genug, um zu verhindern, dass sich am frühen Morgen zur Öffnungszeit auf der Straße eine Schlange bildete. Alle warteten auf die Medikamente, die ihre Entzugssymptome lindern sollten. Wenn die schwere Metalltür sich öffnete – manchmal etwas später, nie aber eine Sekunde früher –, gingen wir durch eine Drehschleuse, wo wir mit einer Videokamera genau überwacht wurden. Nachdem die erste Tür sich geschlossen hatte, öffnete sich eine zweite, ebenso schwere und imposante Tür und wir durften eintreten.

Drinnen bildete sich wieder eine Schlange. Oft mussten wir eine Urinprobe abgeben, bevor eine Schwester uns den bitteren Cocktail aus Methadon und Orangenlimonade reichte. Er kam aus einer genau geeichten und schwer bewachten Maschine. Dieser Prozess war in jenem Sommer ein Problem für mich, weil die Spritzen der vergangenen Nacht mich fast immer dehydriert hatten. Und wenn ich unter Beobachtung Urin abgeben musste, stand die Frau, die mit dieser reizenden Aufgabe betraut war, meist vor mir und wartete, bis ich genügend Urin aus meiner Blase gepresst hatte. Man hätte mich einfach fragen können, ob ich Drogen konsumiert hatte. Ich glaube nicht, dass ich dort jemals »sauberen« Urin abgab, und mein Drogenkonsum hätte ein Anzeichen dafür sein müssen, dass ich zusätzliche Hilfe brauchte. Aber dafür hätten mich diese Leute als einen Mitmensch sehen müssen, der krank war, nicht als einen von vielen Junkies – und es hätte eine wirklich individuelle Therapie erfordert, nicht nur bürokratische Regeln.

Dies war meine erste persönliche Begegnung mit angeblich professioneller Hilfe für Süchtige: mit einem System, das jeden »schmutzig« nennt, der rückfällig wird, und davon ausgeht, dass ein Drogenkonsument ein Lügner, ein Dieb oder etwas Schlimmeres ist. Wenn die Suchtsymptome sich verschlimmern, wird einem dort keine zusätzliche Hilfe angeboten – man wird bestraft oder hinausgeworfen. Als klar wurde, dass mein »Entzug« zu scheitern drohte, fragte ich meine Beraterin, ob ich länger am Methadonprogramm teilnehmen dürfe, um herauszufinden, ob ich mich stabilisieren und langsam genesen könne. Aber sie erklärte, ich hätte nicht lange genug Heroin gespritzt, um eine langfristige Methadontherapie zu bekommen. Außerdem nähme ich zu viel Kokain.

Mit anderen Worten, ich kam zwar offensichtlich nicht von den Drogen los, aber ich hatte ein Problem: Das Kokain war »zu schlimm« und das Heroin »nicht schlimm genug«, weil ich es nur ein paar Jahre genommen hatte. Also konnte man mir nicht helfen. Meine Suchtsymptome waren der Hauptgrund dafür, dass ich von der Therapie ausgeschlossen wurde. Man wies mich nicht einmal auf eine andere Entziehungskur oder auf mögliche ärztliche Hilfe hin, obwohl die HIV-Epidemie unter Drogenkonsumenten in den Vereinigten Staaten damals ihren Höhepunkt erreicht hatte und ich in New York lebte, im Epizentrum dieser Seuche. In der Stadt war mindestens die Hälfte der Süchtigen, die Spritzen benutzten, bereits infiziert,2 darunter viele meiner Freunde, mit denen ich Nadeln hätte teilen können. In jedem anderen Bereich der Medizin wäre eine solche »Fürsorge« inmitten einer weltweiten Pandemie als Kunstfehler bezeichnet worden.

Aber genau das passierte mir und leider passiert es auch heute noch allzu oft. Mindestens ein Drittel aller Methadonprogramme verwendet keine ausreichende Dosis.3 Doch so unglaublich es selbst mir heute erscheinen mag, ich hielt mich nicht für eine echte Drogensüchtige, obwohl ich mir täglich Dutzende von Spritzen verpasste, wegen eines Schwerverbrechens angeklagt war, an einem Methadonprogramm für Heroinsüchtige teilgenommen hatte und nach meiner Verhaftung von der Uni exmatrikuliert worden war.

Das änderte sich am 4. August. An diesem Tag kapierte ich, dass ich im Begriff war, eine Grenze zu überschreiten und meine eigenen, sorgfältig ausgearbeiteten Kriterien für eine Sucht zu erfüllen (ich gebe zu, dass ich mich mit diesen Kriterien selbst freisprechen wollte). Wir hören zwar oft von Drogenkonsumenten, die ihr Leben aufgrund einer plötzlichen Einsicht geändert haben; aber wissenschaftliche Studien belegen, dass solche Durchbrüche nicht typisch sind und selten Verhaltensänderungen bewirken. Es hat sich gezeigt, dass die Absicht, etwas zu unternehmen, nur in etwa 33 Prozent aller Fälle zum Erfolg führt, selbst bei Menschen ohne Drogenprobleme.4 Wir brauchen eben Zeit, um ein neues Verhalten zu lernen.

Meine Erfahrungen waren allerdings etwas anders; sie könnten ein Beispiel für einen Genesungsweg sein, den der Forscher William Miller »Quantenwechsel«5 nennt: Einige wenige Menschen ändern ihren Kurs abrupt, im Gegensatz zu den vielen, die allmählich vorankommen und bei denen es auf und ab geht. Vielleicht erreichte der natürliche Reifungsprozess meines Gehirns endlich den Punkt, an dem meine »Führungsfunktionen« beginnen konnten, die Hirnregionen zu bremsen, die Verlangen auslösen. Diese Erleuchtung rettete mir das Leben.

Es war einer jener Tage, an denen mich das nackte Grauen packte, weil ich nicht genügend high war. Ich nahm kein Methadon mehr, also kehrte ich zum Heroin und zum Kokain zurück. Die Angst vor dem Entzug ließ mich nicht mehr los. Eines Nachmittags ging ich mit Heather, der Freundin eines Freundes von Matt, in die Lower East Side. Es war heiß auf den Straßen, im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Niemand schien zu verkaufen. Doch irgendwann sah Heather einen Drogenvermittler und machte sich auf den Weg zum Verkäufer, während ich wartete.

Jedes Mal, wenn ich ein lautes Geräusch hörte oder ein Auto sah, in dem möglicherweise Polizisten saßen, schlug mir das Herz bis zum Hals. Ein paar Jahre zuvor hatte eine umfangreiche Polizeiaktion begonnen, die dem Justizsystem immer wieder Konsumenten und kleine Dealer zutrieb. Ich stand auf einer Straße, die durch mehrere Viertel mit Sozialwohnungen führte. Die gedrungenen Häuser aus roten Ziegeln sahen alle gleich und irgendwie bedrohlich aus. Ich wollte mich verstecken. Passanten schienen durch mich hindurchzuschauen, als wäre ich ein unglücklicher Teil des Stadtmobiliars, wie eine überquellende Mülltonne. Ich senkte den Kopf und schaute weg.

Dann fiel mir ein Traum ein, den ich eine Woche zuvor gehabt hatte: Ich wehrte mich heftig gegen einen Parasiten aus dem Weltraum, der sich in meinem Gehirn einnisten wollte. Ich sah, wie die Parasiten andere Menschen befielen und unsagbar glücklich machten – aber sie zerstörten auch ihre Persönlichkeit und steuerten alle ihre Bewegungen. Infizierte waren nie wieder sie selbst. Ich wollte fliehen, aber es war nirgendwo sicher, und als eine Freundin mein Versteck verriet, begannen die Aliens, in mich einzudringen. Dann wachte ich auf, in Panik und zitternd. Heute denke ich, dass etwas in mir bereit für einen Wandel war.

Allmählich machte ich mir Sorgen. Wenn Heather festgenommen worden war, würde ich stundenlang in der heißen Sonne stehen und immer kränker werden. Doch auf einmal bog sie um eine Ecke – mit den schnellen, beschwingten Schritten, die, wie ich wusste, ein Zeichen für einen Deal waren.

Als wir wieder in Queens waren, ging alles schief. In den zwei »Bündeln«, die sie gekauft hatte, befanden sich mehrere verschiedene Marken. Ein Bündel kostete 100 Dollar und enthielt zehn Beutel. Eines war für sie und ihren Partner bestimmt, eines für mich. Straßenhändler verpassen ihren Produkten oft makabre Markennamen, Evergreens wie Seven to Life und Poison wechselten sich ab mit bissigen Schlagwörtern wie einem heutigen Obamacare. Die Vielfalt der Marken in unseren Bündeln war jedoch kein gutes Zeichen: Wenn man nicht abgezockt wird, bekommt man von Straßenverkäufern nur eine oder zwei Marken.

Sobald ich in der Küche war, schüttete ich den Inhalt eines Beutels in einen Löffel. Inzwischen fühlte ich mich richtig mies. Ein Entzug ist viel schlimmer, wenn man Drogen besitzt und weiß, dass man sie bald spritzen kann, aber nicht jetzt gleich. Das Pulver roch seltsam, als es im Wasser landete. Trotzdem injizierte ich es – ohne Wirkung.

In diesem Augenblick passierte etwas in mir. Ich glaube kaum, dass es an der unwirksamen Substanz in dem Bündel lag, jedenfalls bettelte ich Heathers Freund, den ich nicht besonders mochte, um einen der anderen Beutel an, die sie ihm gegeben hatte. Sein Straßenname war Beaver. Mit seinem braunen Haar, dem Bart und einem ausgeprägten Überbiss glich er tatsächlich einem Biber, abgesehen vom angeblichen Fleiß dieser Tiere. Er war meist extrem lässig.

Ich bat ihn um eine andere Marke, weil ich hoffte, dass wenigstens ein Beutel echtes Heroin enthielt. Mein Geld reichte nicht, um mehr zu kaufen. Ich war verzweifelt, zumal die Entzugssymptome immer stärker wurden. Ich diskutierte mit ihm: Da er nicht körperlich abhängig war, hatte er keine Folgen zu befürchten, außer dass er an diesem Tag nicht high werden konnte. Ich hingegen würde krank werden. Außerdem musste ich am nächsten Tag vor Gericht erscheinen. Mein Anwalt versuchte immer wieder, das gefürchtete endgültige Urteil hinauszuzögern. Da ich das Methadonprogramm »abgeschlossen« hatte, sollte es mir gut gehen.

Aber Beaver ließ sich nicht erweichen. In meiner Panik überlegte ich sogar, ihn zu verführen, nur um die Droge zu bekommen. Es war mir egal, dass mein Freund und Beavers Freundin im selben Zimmer waren. Es war mir egal, dass ich ihn nicht mochte und nicht attraktiv fand. Und es war mir egal, dass die Idee letztlich total verrückt und kaum realistisch war. Mein Gehirn suchte nach Wegen, das Heroin zu bekommen, einerlei, wie absurd sie waren.

Trotzdem erschreckte mich dieser Gedanke. Ich verurteile keine Frau, die Sex gegen Drogen tauscht oder sich prostituiert, um ihre Sucht zu befriedigen. Wenn dabei jemand geschädigt wird, sind diese Frauen die wahrscheinlichsten Opfer und viele von ihnen wurden als Kinder missbraucht.6 Aber ich verstand mich selbst nicht. Erstens reagiere ich empfindlich auf Berührungen, Scham und Zurückweisung. Zweitens hatte ich die abstruse Vorstellung, dass eine Frau außergewöhnlich schön sein muss, damit ein Mann für ihren Stoff zahlt, und, nun ja, ich war nicht der Meinung, dass ich eine passable Prostituierte abgeben würde, auch wenn das komisch klingen mag.

Meine eigene Idee, Beaver zu verführen, war also derart abwegig, dass ich mich sofort gezwungen sah, das bis dahin Undenkbare ins Auge zu fassen: dass ich eine heruntergekommene Süchtige war. Physisch, psychisch, wie immer man es nennen mag – ich war im Begriff, eine Grenze zu überschreiten. Das war für mich ein Zeichen dafür, dass ich nun zu »denen da« gehörte, zu den willensschwachen Süchtigen.

Jetzt änderte sich mein Blickwinkel. Ich dachte über meinen früheren Drogenkonsum nach – Marihuana und Haschisch in der Highschool, LSD bei Konzerten der Grateful Dead und Kokain in schicken Nachtclubs. Ich sah mich im Wohnheim der Columbia eine Droge abwiegen, die ich für harmlos hielt, die mich fröhlich machte und mir beim Lernen half. Ich erinnerte mich an die Partys, vor allem an jene in einem Apartment in der Fifth Avenue, hoch über der 86. Straße und mit Blick auf den Central Park. Es war eine der vornehmsten Adressen in New York. Niemand dort hätte mich je eingeladen, wenn ich keine Drogen verkauft hätte. Dann huschten weitere Bilder an mir vorbei: Es war spät am Abend; ich konnte weder aufhören noch schlafen, meine Nase blutete und die ganze Euphorie löste sich auf. Ich dachte daran, dass meine Schule mich suspendiert hatte, weil ich eine Dealerin war, und dass die Polizei mich später, als ich wieder am Unterricht teilnehmen durfte, festnahm. Ich sah mich Heroin schnupfen, dann spritzen – und ich sah mich jetzt in diesem schmuddeligen Apartment einen Mann, den ich nicht mochte, um Drogen anbetteln.

Ich schaute mich um, als sähe ich meine Wohnung und mich selbst zum ersten Mal. Die Katzenstreu war viel zu lange nicht erneuert worden und stank ekelhaft. Alles war verdreckt. Katzenhaare und Staub bildeten Knäuel auf der schmutzigen Wäsche, verbrannte, zerbrochene Crackpfeifen lagen auf vergilbten Zeitungen. Die Luft roch ekelerregend. Plötzlich wunderte ich mich über meine Umgebung und verstand nicht, wie ich in diesem Zustand jahrelang hatte leben können.

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich Hilfe brauchte. Morgen würde ich im Gerichtssaal meinen Vater treffen. Er kam immer, egal wie elend und hoffnungslos ich aussah. Meine Mutter war dagegen von meinen Gerichtsterminen so verstört, dass sie nicht mehr kam. Seit mindestens sechs Monaten beschränkte sie sich am Telefon auf kurze Gespräche und empfahl mir jedes Mal eine Entziehungskur. Das hatte ihr Therapeut ihr geraten und das Gleiche hörte sie in den Kursen über Drogenberatung, an denen sie teilnahm, weil sie sich beruflich neu orientieren wollte. Ich beschloss, meinen Vater zu bitten, mich zu ihr zu bringen, damit sie mir helfen konnte, eine Therapie zu beginnen. An meine letzte Nacht als Drogenkonsumentin – der missglückte Schuss sollte mein Letzter sein – und an die unangenehmen Symptome, die meinen Abstieg in den Entzug ankündigten, erinnere ich mich nur noch verschwommen.

Krank und verschwitzt ging ich zum Gericht. Ich trug ein schwarzes, aber wenigstens hell geblümtes Kostüm, in dem ich knochig aussah. Ich war so schwach, dass ich die hölzerne Halbtür, die zum Platz des Verteidigers führte, kaum öffnen konnte. Mein Anwalt Donald Vogelman, ein prominenter Strafverteidiger, war so galant, mir diese Arbeit abzunehmen. Er war groß und stattlich, Ende dreißig oder Anfang vierzig, hatte dunkles Haar und sprach mit einem starken Brooklyn-Akzent.

Richterin Leslie Crocker Snyder, eine ehemalige Staatsanwältin, die wegen ihrer harten Urteile als »Drachenlady« berüchtigt war, sagte später, sie hätte mich möglicherweise »zu meinem Besten« ins Gefängnis geschickt, wenn ich an diesem Tag nicht Hilfe gesucht hätte. Sie hatte glattes, perfekt frisiertes blondes Haar. Nicht nur ihre Robe, auch ihre Stimme und ihre Körpersprache strahlten Macht und Autorität aus. Sie war als strenge Richterin derart bekannt, dass Polizisten sie rund um die Uhr vor Auftragsmördern schützen mussten. Wütende Drogenbarone, die sie zu Gefängnisstrafen bis zu 120 Jahren verurteilt hatte, schickten ihr immer wieder Killer auf den Hals.

Als ich im Gerichtssaal vor ihr stand, war ich so jämmerlich dünn und bleich, dass man mich für krebsrank hätte halten können. Tatsächlich galt ich bald für magersüchtig. Ich hatte nicht versucht abzunehmen, aber das Kokain raubte mir den Appetit. Wenn ich doch einmal etwas aß, dann fast nur Cremetorte und andere Süßigkeiten.

Auch mein einst übertrieben dichtes Kraushaar zeugte von meiner schlechten Gesundheit. Es war jetzt brüchig und dünn und hing in Strähnen herab, als hätte ich eine Chemotherapie hinter mir. Ich hatte es nicht nur durch zu viel Bleichmittel geschädigt, sondern auch durch zwanghaftes Auszupfen, eine Angewohnheit, die mit Kokainsucht zusammenhängen kann. Insgesamt sah ich mehr als doppelt so alt aus, wie ich war. Mit meinen vom Entzug erweiterten Pupillen glich ich einem Gespenst. In diesem Stadium meiner Sucht hatte meine Mutter den Eindruck, als wäre »hinter meinen Augen niemand zu Hause«.

Ungeduldig begann ich noch am selben Tag mit der Entziehungskur. Der 4. August 1988 ist der Tag, den ich heute für den Beginn meiner Genesung halte. Was meine Sinnesänderung bewirkte, war nicht nur der Druck der Justiz oder meine sich verschlechternde Gesundheit, es war die plötzliche Einsicht, dass ich meine eigenen Kriterien für eine Sucht erfüllte. Ich hatte nicht im »schlimmsten« Augenblick oder auf dem »Tiefpunkt« meines Drogenkonsums aufgehört – das wäre entweder der Tag gewesen, an dem die Universität mich suspendiert hatte, oder der Abend, an dem ich festgenommen und in Handschellen aus meiner Wohnung geführt worden war, oder der Tag, an dem mein Vater die Kaution für mich gezahlt hatte.

Nein, ich hörte auf, als mir wirklich klar wurde, dass ich süchtig war.

Kapitel 2

Eine Geschichte der Sucht

Ich habe überhaupt keine Freude an den Stimulanzien, denen ich manchmal so irrwitzig fröne. Nicht das Streben nach Lust brachte mich dazu, mein Leben, meinen Ruf und meinen Verstand zu gefährden. Es war der verzweifelte Versuch, vor quälenden Erinnerungen, dem Gefühl unerträglicher Einsamkeit und einem sonderbaren nahen Verhängnis zu fliehen.

Edgar Allan Poe

Die erste Notaufnahme, die wir aufsuchten, wollte mich nicht aufnehmen, weil man »keine Junkies« behandle. Obwohl meine Mutter mich monatelang bekniet hatte, mir helfen zu lassen, war sie überrascht, als ich endlich zustimmte. Sie wusste nicht, wohin sie mit mir gehen sollte, aber sie strich das örtliche Krankenhaus sofort von ihrer Liste. Meine jüngste Schwester arbeitete dort ehrenamtlich als Hilfskrankenschwester und meine Mutter wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Schließlich landete ich im Krankenhaus von Sullivan County, einem Landkreis etwa 100 Kilometer nördlich von New York, das mich für eine siebentägige Entziehungskur akzeptierte.

Ich lag zitternd und weinend auf einer Trage und hielt die Hand meiner Mutter. Irgendwann bekam ich eine Spritze, die zunächst nicht zu wirken schien. Die Schwester wollte mir nicht sagen, was es war. Später erfuhr ich, dass man mir Naloxon injiziert hatte, einen Opioid-Antagonisten, der mit Opfern einer Überdosis gnädig, aber mit jemandem, der schon auf Entzug ist, etwas grausam umgeht, weil er die Symptome verschlimmern kann.1 Das Medikament wirkt wie ein Gegengift und entfernt Opioide aus ihren Rezeptoren (man gibt es heute auch Süchtigen, ihren Angehörigen und Polizisten als Mittel gegen Überdosen, und dabei rettet es zweifellos Menschenleben).

Ich vermute, man verabreichte mir Naloxon, um die Drogen schneller aus meinem Körper zu entfernen. Leider verschlimmerte es meine Qualen und meine Entzugssymptome und man spritzte es mir ohne mein Einverständnis – ein weiterer Beleg dafür, dass Sucht als Sünde und als Krankheit zugleich gilt. Der Gedanke, dass Süchtige wie andere Patienten ein Recht auf Information über eine Maßnahme haben und dann ja oder nein sagen dürfen, kam niemandem. Obwohl Behandlung und Strafe Gegensätze sind, waren raue moralistische Taktiken die Regel, als ich nach Hilfe suchte, und sie sind heute noch Teil der Therapie, die den meisten Süchtigen zuteilwird.

Bevor ich Hilfe suchte, hatte ich von Entziehungskliniken gelesen, in denen Süchtige in die Mangel genommen wurden: Man beschimpfte sie, schrie sie an und bespuckte sie. Ich hatte gehört, dass solche Therapiesitzungen Stunden dauerten, ohne dass die Patienten ins Bad gehen oder schlafen durften. Es gab keine Privatsphäre und die unerbittlichen Beschimpfungen zielten darauf ab, die Identität des Süchtigen zu zerbrechen. Berühmte Leute kamen zu den Benefizveranstaltungen dieser Einrichtungen und sie erhielten in den Medien breite Unterstützung. Ich wusste, dass sie allgemein anerkannt waren. Die Furcht vor brutaler und bewusster Demütigung in Entziehungskliniken war einer der Hauptgründe dafür gewesen, dass ich die Kur nicht schon früher begonnen hatte.

Andere Leute jagten mir ohnehin Furcht ein. Ich nahm Drogen, um nicht emotional verletzt zu werden und um Trost zu finden. Noch verwundbarer gemacht und »zerbrochen« zu werden, um meine Sucht zu heilen, war meiner Meinung nach das genaue Gegenteil dessen, was ich brauchte. Ich wollte nicht öffentlich verurteilt werden, ohne mich dem entziehen zu können und ohne Einfluss auf mein Umfeld zu haben. So stellte ich mir die Hölle vor. Mir mangelte es nicht an Scham, Selbstverachtung und Schuldgefühlen. Ich hatte mir nicht Dutzende Male am Tag Kokain gespritzt, weil ich stolz auf mich war.

Und für introvertierte oder überempfindliche Menschen kann es eine Art Folter sein, keine Privatsphäre zu haben und zu langen Gruppensitzungen gezwungen zu werden, selbst wenn die anderen freundlich sind. Unablässig und auf feindselige Weise persönlich angegriffen zu werden, ist geradezu traumatisch, vor allem für Patienten, die in der Kindheit schikaniert und missbraucht wurden, was bei Süchtigen häufig der Fall ist. Eine Studie stellte dauerhafte seelische Schäden bei 9 Prozent der normalen College-Studenten fest, nachdem sie an aggressiven Therapien teilgenommen hatten, die der üblichen Behandlung in Entziehungseinrichtungen nachempfunden waren.2 Die Folgen für seelisch Kranke sind natürlich noch schlimmer. Aber damals glaubte ich, keine andere Wahl zu haben, als die Therapie zu akzeptieren, die mir angeboten wurde.

Ich wusste nicht, wie sehr die Geschichte meine Einstellung zur Sucht und zur Suchttherapie verzerrt hatte.

Der Gebrauch stimmungsändernder Substanzen ist wahrscheinlich älter als die Menschheit. Viele Spezies fressen bewusst Giftpflanzen oder gärende, alkoholhaltige Früchte.3 Kleine und große Katzen verspeisen zum Beispiel Katzenminze4 und rollen darin herum, anscheinend nur, weil es ihnen Spaß macht (allerdings könnte es eine angenehme Nebenwirkung haben: das Abtöten von Parasiten). Pferde suchen nach Stechäpfeln, die bei ihnen ein bizarres Verhalten auslösen – und sie fressen sie sogar dann wieder, wenn sie davon krank geworden sind.5 Man sagt, die stimulierende Wirkung des Kaffees sei entdeckt worden, als Menschen den besonders federnden Gang von Ziegen nach dem Genuss von Kaffeebohnen beobachtet hätten.6 Manche Archäologen behaupten sogar, die Zivilisation habe begonnen, als die Menschen sesshaft wurden, um Getreide anzubauen – nicht weil sie es essen wollten, sondern weil sie daraus Bier brauten.7

Einerlei, wie die evolutionären Vorläufer unserer Drogen aussahen, eine ständig »drogenfreie« Kultur hat es nie gegeben.8 Wie Musik, Sprache, Kunst und Werkzeug ist das Streben nach veränderten Bewusstseinszuständen überall verbreitet.9 Da es wenige Alternativen gab, tranken sibirische Schamanen Urin von Rentieren und Menschen, um die psychedelische Wirkung des Roten Fliegenpilzes zu verstärken (die ausgeschiedenen Metaboliten sind möglicherweise stärker als die ursprüngliche Substanz).10 Auf der anderen Seite der Welt feiern Neuseeländer Partys mit ungetesteten »Forschungschemikalien«, die chinesische Chemiker synthetisieren. Drogen wurden zu allen Zeiten und in allen Kulturen konsumiert. Es gibt nur wenige Menschen, die nie eine Droge genommen haben, um ihre Stimmung zu verändern. Statistisch betrachtet sind diese Menschen anormal.

Heute nehmen etwa zwei Drittel der über zwölf Jahre alten Amerikaner mindestens einmal im Jahr einen Drink zu sich und einer von fünf Amerikanern raucht.11 (In den 1940er und 1950er Jahren rauchten sage und schreibe 67 Prozent der Männer.12) 60 Prozent der Amerikaner zwischen 21 und 25 Jahren haben mindestens einmal eine illegale Droge konsumiert – die weitaus meisten Marihuana – und 20 Prozent haben im vergangenen Monat eine Droge genommen.13 Etwa die Hälfte der Bevölkerung würde ohne ihren täglichen Kaffee womöglich an Entzugssymptomen leiden.14 Zwar sind die Amerikaner ziemlich eifrige Drogenkonsumenten – bei vielen Substanzen nehmen sie den Spitzenplatz ein –, aber wir sind keineswegs allein, was unsere psychoaktiven Vorlieben angeht.

Die deutsche Tageszeitung ZEIT hat im Jahr 2014 den Global Drug Survey, eine große Drogenumfrage mit mehr als 22.000 Deutschen durchgeführt. Das Ergebnis: Fast die Hälfte der Teilnehmer nahmen im Jahr vor der Umfrage Cannabis. 96 Prozent der Teilnehmer tranken im Jahr vor der Umfrage Alkohol, 34 Prozent davon sogar zwei- bis dreimal die Woche. 22 Prozent der Umfrageteilnehmer nahmen im Jahr vor der Umfrage Ecstasy und 13 Prozent Kokain. Nein, die Amerikaner sind nicht allein.

Drogensucht ist hingegen viel seltener. Sie betrifft etwa 10 bis 20 Prozent der Konsumenten der beliebtesten Substanzen,15 abgesehen vom Nikotin in Zigaretten, das etwa ein Drittel der Raucher süchtig macht.16 Diese Zahlen sind bei landesweiten Umfragen im Laufe der Zeit ziemlich gleich geblieben (wieder mit Ausnahme des Tabaks), wenn man die Zahl derer, die irgendwann eine Droge probiert haben, mit der Zahl derjenigen vergleicht, die sie zurzeit konsumieren und die diagnostischen Suchtkriterien erfüllen. Sie bleiben auch in den Studien gleich, die Drogenkonsumenten lange Zeit beobachten oder die die Häufigkeit psychiatrischer Störungen, einschließlich der Sucht, in großen Populationen untersuchen. Obwohl Drogenaufklärungsprogramme diese Zahlen nicht gerne veröffentlichen, sind sich Experten darüber einig, dass nur wenige Menschen, die Drogen probieren – selbst die gefährlichsten Drogen –, ernsthaft süchtig werden. Sogar in diesen Gruppen ist Genesung ohne Therapie nicht die Ausnahme, sondern die Regel.17

Zudem ist unsere Definition der Sucht ziemlich modern. Um zu verstehen, was Sucht ist und warum unsere Einstellung zu ihr so verzerrt ist, müssen wir ihre Geschichte kennen und uns klarmachen, dass die Politik und kulturelle Vorurteile die wissenschaftliche Erforschung des Problems überlagern. Als ich mir meines Problems mit Kokain und Heroin bewusst wurde, war auch ich von dieser betrüblichen Geschichte geprägt. Erst als ich etwas über den Ursprung der mit Sucht und Drogenkonsum verbundenen Klischees erfahren hatte, erkannte ich, wie viel Schaden sie anrichten. Ohne Geschichtskenntnisse ist schwer zu verstehen, warum wir Süchte so und nicht anders behandeln und warum wir die Rolle des Lernens berücksichtigen müssen, um etwas zu ändern.

Was wir heute Sucht nennen, war einst eine freie, wenn auch schlechte Entscheidung. Die Bibel beschreibt einen Trinker beispielsweise als »Weinliebhaber«. Sucht ist hier übermäßiger Genuss, kein freudloser Zwang. »Gott bestraft jene empfindlich, die übermäßig trinken«, predigte der Puritaner Samuel Danforth.18 Das spiegelt die Anschauung wider, eine Sucht sei ein notorisches, aber freiwilliges Verhalten, das zu häufigen Exzessen führt. Süchtige liebten den Rausch zu sehr, unterschieden sich aber ansonsten nicht von anderen Sündern. Dieser Zusammenhang zwischen ungesunder Liebe und Sucht wurde seither immer wieder neu entdeckt, aber oft missverstanden, wie ich in Kapitel 11 zeigen werde.

»Opiumesser« wie Thomas De Quincey, der 1821 seine berühmten Bekenntnisse über seine Erfahrungen schrieb, sprachen ebenfalls von der »enormen Macht« und »wundervollen Wirkung« dieser Droge. De Quincey beschrieb den Rausch als »Allheilmittel für alle Leiden des Menschen« und »Gipfel der göttlichen Freude«. Ebenso überschwänglich pries er die Qualen des Entzugs, behauptete jedoch: »Mein Fall ist zumindest ein Beweis dafür, dass man nach siebzehn Jahren Konsum und acht Jahren Missbrauch immer noch vom Opium loskommen kann.«19 Dennoch wurde der Autor des Buches, das als erste Biografie eines Süchtigen gilt, wie viele seiner Nachfolger später rückfällig. Und wie seine unmittelbaren Nachfolger rühmte er die Droge und dämonisierte sie zugleich. Er warnte vor ihrer fatalen, verführerischen Macht und beschrieb, wie man sie genießen und dann besiegen könne.

Die Ansicht, Sucht sei eine Art chemische Sklaverei, wurde ein paar Jahrzehnte später, Mitte des 19. Jahrhunderts, zunehmend populärer. Vielleicht war es kein Zufall, dass die Vereinigten Staaten zur selben Zeit von Debatten über Rasse und Sklavenhandel erschüttert wurden. Offener Rassismus und Sklaverei spielten von Anfang an eine Rolle, wenn es um Sucht und Drogenpolitik ging. Deshalb müssen wir die Bedeutung der Rasse in unsere Diskussion über Sucht einbeziehen, um sie wirksamer zu bekämpfen.

Benjamin Rush, ein Arzt und Mitunterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, gehörte zu den Ersten, die den Alkoholismus als »Krankheit des Willens« bezeichneten.20 Im Jahr 1784 schrieb er zum ersten Mal darüber, und zwar in der ersten Auflage seiner Broschüre Untersuchung der Wirkungen von Spirituosen auf den menschlichen Körper und ihres Einflusses auf das Glück der Gesellschaft. Er machte die körperliche Wirkung des Alkohols dafür verantwortlich, dass es starken Trinkern nicht gelang, mäßiger zu trinken (seltsamerweise glaubte er, nur Spirituosen seien ein Problem, Bier und Wein aber nicht). Aber die Auffassung, Sucht sei eine Krankheit, setzte sich erst Jahrzehnte später durch und spornte die Anhänger der Prohibition um die Jahrhundertwende und danach an.

Rush war auch ein führender Gegner der Sklaverei. Er gründete die erste Gesellschaft gegen Sklaverei in den USA. Allerdings betrachtete er dunkle Haut wie den Alkoholismus als Krankheit, die er negritude nannte und die nur geheilt werden konnte, indem man weiß wurde (er hielt das für möglich, weil er Fälle von Vitiligo gesehen hatte, bei der helle Flecken auf dunkler Haut erscheinen). Anscheinend stellte er keinen Zusammenhang zwischen negritude und rassistischen Klischees über den Charakter von Afroamerikanern her, und es war wohl Zufall, dass er sowohl dunkle Haut als auch Süchte für Krankheiten hielt.

Es ist allerdings ein vielsagender Zufall, weil die Drogenpolitik immer mit der Rasse und mit der Frage verwoben war, wer zu »uns« und wer zu »denen« gehört. Es ist durchaus kein Zufall, dass rassistische Klischees21