Cloudmoney - Brett Scott - E-Book

Cloudmoney E-Book

Brett Scott

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Beschreibung

Warum die totale Digitalisierung des Geldes gefährlich ist

Nicht erst seit der Corona-Krise bezahlen immer mehr Menschen bargeldlos mit Karte oder App. Corona hat die Entwicklung deutlich beschleunigt. Nutznießer sind vor allem die großen IT-Unternehmen wie Amazon und Google und die Großen der Finanzindustrie, die unter dem Banner des Fortschritts schon seit Längerem die bargeldlose Gesellschaft propagieren. Der englische Finanzexperte und Aktivist Brett Scott zeigt, dass und wie Big Tech und Big Finance immer enger zusammenrücken und mithilfe der allgegenwärtigen digitalen Geräte ihre Macht über uns gefährlich ausbauen, zum Nachteil unserer Freiheit und Unabhängigkeit. Eine augenöffnende Analyse und ein Weckruf, die als unausweichlichen Fortschritt dargestellte Welt des digitalen Gelds, das Scott »Cloudmoney« nennt, nicht widerspruchslos hinzunehmen.

Mit einem Vorwort des Autors zur deutschen Ausgabe.

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Seitenzahl: 433

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Warum die totale Digitalisierung des Geldes gefährlich ist

Nicht erst seit der Coronakrise bezahlen immer mehr Menschen bargeldlos mit Karte oder App. Corona hat die Entwicklung deutlich beschleunigt. Nutznießer sind vor allem die großen IT-Unternehmen wie Amazon und Google und die Großen der Finanzindustrie, die unter dem Banner des Fortschritts schon seit Längerem die bargeldlose Gesellschaft propagieren. Der englische Finanzexperte und Aktivist Brett Scott zeigt, dass und wie Big Tech und Big Finance immer enger zusammenrücken und mithilfe der allgegenwärtigen digitalen Geräte ihre Macht über uns gefährlich ausbauen, zum Nachteil unserer Freiheit und Unabhängigkeit. Eine augenöffnende Analyse und ein Weckruf, die als unausweichlichen Fortschritt dargestellte Welt des digitalen Geldes, das Scott »Cloudmoney« nennt, nicht widerspruchslos hinzunehmen.

Über den Autor

Brett Scott ist Autor, Journalist und Aktivist, der sich vor allem mit Fragen des internationalen Finanzwesens, seiner Reform und alternativer und digitaler Währungen befasst. Nach einem Studium der Anthropologie sowie der Internationalen Entwicklung bei dem bekannten Ökonomen Ha-Joon Chang in Cambridge arbeitete er als Broker, später an Universitäten und für Institutionen wie The Finance Innovation Lab. 2013 veröffentlichte er The Heretic’s Guide to Global Finance: Hacking the Future of Money. Brett Scott lebt in Berlin.

»Brett Scott liefert eine enthüllende, brillante Kritik an digitalem Geld und dem Aufstieg der Fintech-Imperien und entwirft zugleich eine überzeugende Alternative.«

Jason Hickel, Autor von »Die Tyrannei des Wachstums«

»Ein brillantes, faszinierendes und absolut zugängliches Buch. Wenn Sie verstehen wollen, was Geld ist – und was es zu werden droht –, fangen Sie hier an.«

Kate Raworth, Autorin von »Die Donut-Ökonomie«

»Dringend notwendig.«

Nicholas Shaxson, Autor von »Schatzinseln. Wie Steueroasen die Demokratie untergraben«

Über den Autor

Brett Scott ist Autor, Journalist und Aktivist, der sich vor allem mit Fragen des internationalen Finanzwesens, seiner Reform und alternativer und digitaler Währungen befasst. Nach einem Studium der Anthropologie sowie der Internationalen Entwicklung bei dem bekannten Ökonomen Ha-Joon Chang in Cambridge arbeitete er als Broker, später an Universitäten und für Institutionen wie The Finance Innovation Lab. 2013 veröffentlichte er The Heretic’s Guide to Global Finance: Hacking the Future of Money. Brett Scott lebt in Berlin.

BRETT SCOTT

CLOUD

MONEY

CASH, KARTE ODER KRYPTO:

WARUM DIE ABSCHAFFUNG

DES BARGELDS

UNSERE FREIHEIT GEFÄHRDET

Aus dem Englischen

von Thorsten Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

Cloudmoney. Cash, Cards, Crypto and War for our Wallets

bei The Bodley Head, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2022 Brett Scott

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Fabian Bergmann

Umschlaggestaltung: total italic / Thierry Wijnberg

Umschlagabbildung: Unsplash/crawford; Freepik

Satz und Bildbearbeitung: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25594-7V001

www.penguin-verlag.de

Für Mum, Dad, Craig und Ant, mit großer Liebe

INHALT

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einleitung

1   Das Nervensystem

2   Der Krieg gegen Bargeld

3   Der Riese auf dem Berg

4   Digitale Chips

5   Die Bankchip-Gesellschaft

6   Big Brother. Big Bouncer. Big Butler

7   Der unnatürliche Fortschritt einer »sich rasch verändernden Welt«

8   Häutungen

9   Sherlock Holmes und der seltsame Fall des Datengeists

10   Der Kampf der Leviathane

11   Parapsychologischer Leitfaden zum Umgang mit dem Bitcoin-Gespenst

12   Die political tribes von Cyber-Kowloon

13   Die Raider raiden

Schluss

Dank

Anmerkungen

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Im November 2020 packte ich meine Sachen in London und zog nach Berlin. Ich hatte elf Jahre in der britischen Hauptstadt gelebt und begann dort, an Cloudmoney zu schreiben. Während dieser Zeit war London immer »bargeldloser« geworden, ein beschönigender Ausdruck für die allmähliche Übernahme des Geldsystems durch Banken und Zahlungsunternehmen wie Visa und Mastercard. Schon heute hat die Finanzindustrie eine beherrschende Stellung in der britischen Wirtschaft, und jedes Mal, wenn wieder ein Unternehmen anfing, die Annahme von Bargeld zu verweigern, sah ich darin einen Beleg dafür, dass der Bankensektor seine Macht noch weiter ausdehnte. Zu der Zeit, als ich der Stadt den Rücken kehrte, breitete sich die »Bargeldlosigkeit« wie ein Lauffeuer aus. Die Covid-19-Pandemie mag diesen Trend beschleunigt haben, aber die Erosion des Bargeldsystems war ein Prozess, der Jahrzehnte vor dem Ausbruch der Pandemie in Gang gesetzt worden war.

Cloudmoney ist ein Buch über die »Politik des Geldes«, die Machtdynamik des digitalen Zahlungsverkehrs im Gegensatz zu derjenigen von Barzahlungen, über die daran beteiligten Unternehmens- und staatlichen Akteure sowie die Rebellionen, die sich in diesem Umfeld herausgebildet haben (wie etwa die Kryptowährungsbewegungen). Ich möchte allerdings klarstellen, dass ich nicht aus einer romantischen Nostalgie für greifbare Banknoten heraus über Bargeld schreibe. Ich schreibe darüber, weil es eine analoge Form öffentlichen Geldes in einem Weltwirtschaftssystem ist, das von Privatunternehmen beherrscht wird, die in aggressiver Weise transnationale digitale Zahlungssysteme durchdrücken wollen. In diesem Zusammenhang kann der Kampf zur Verteidigung des Bargelds als eine Form des Widerstandes gegen die digitale Beschleunigung angesehen werden.

Jedes Land (oder jede Person), die sich diesem Trend zur Bargeldlosigkeit nicht anschließt, wird für gewöhnlich als »nicht auf der Höhe der Zeit« dargestellt, aber die Fähigkeit, Trends zu ignorieren, könnte ebenso Selbstbewusstsein signalisieren (in der gleichen Weise, in der ein Teenager, der Trends in seiner Bezugsgruppe ignoriert, als selbstsicher angesehen werden könnte). Eine Nation braucht einen gewissen Mut, um ihre Souveränität zu behaupten und gegen den Strom des globalen Überwachungskapitalismus zu schwimmen, indem sie ihr heimisches Bargeldsystem fördert.

In dieser Hinsicht gibt es deutliche Unterschiede zwischen Großbritannien und Deutschland. Denn ungeachtet der Beteuerungen Großbritanniens, durch den Brexit die Unabhängigkeit anzustreben, fürchten sich britische Regierungen oft davor, den Interessen der internationalen Finanz- und Technologiekonzerne zuwiderzuhandeln. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die britische Regierung ihr Bargeldsystem unterstützt, aus Angst, die britische Bankenbranche zu verärgern, und aus Angst, den Anschein zu erwecken, nicht mit den Trends zu gehen. Deutsche Institutionen wie die Bundesbank dagegen haben offen ihre Unterstützung für Bargeld erklärt, auch wenn sie dadurch Gefahr laufen, als »uncool« zu gelten. Das Robert Koch-Institut war auch eine der ersten Gesundheitsbehörden, die die zu Beginn der Pandemie weitverbreitete Legende widerlegte, an Bargeld könne man sich mit Covid anstecken.

Die Frage, warum viele Menschen in Deutschland am Bargeld festhalten (während viele andere europäische Staaten sich der digitalen Zahlungsindustrie in die Arme zu werfen scheinen), hat viele Facetten, und ich kann sie hier nicht erschöpfend beantworten. Zweifellos spielen kulturelle Faktoren eine Rolle. Anders als schnelle Kreditkartenzahlungen zum Beispiel eignet sich Bargeld aufgrund seiner Stofflichkeit und seiner »Langsamkeit« gut für eine sorgfältige Budgetierung, die zu der Sparmentalität passt, die seit Langem mit Deutschland in Verbindung gebracht wird. Für Bargeld sprechen auch ganz pragmatische Gründe: Es ist auch dann noch verfügbar, wenn der Strom ausfällt oder der Bankensektor zusammenbricht. Es funktioniert einfach, und warum ein System aufgeben, das funktioniert?

Aber es gibt auch historische Traumata, die bei der Vorliebe der Deutschen für Bargeld eine Rolle spielen. So ist zum Beispiel die Stasi-Überwachung im kulturellen Gedächtnis verankert und ebenso das Wissen, dass Bargeld die Privatsphäre schützt. Ein Hauptgrund für meinen Umzug nach Berlin war die Tatsache, dass die Stadt ein globales Zentrum für Aktivisten ist, die sich für den Schutz der Privatsphäre einsetzen und an Anti-Überwachungstechnologien arbeiten. Die Stadt beherbergt auch viele Exilanten aus autoritären Staaten, die die gefährlichen politischen Folgen vollständig digitalisierter Geldsysteme kennen.

Berlins historische Rolle als ein Zentrum radikalen Denkens spiegelt sich in seinem allgemeinen Widerstand gegen einen »Ausverkauf an die Konzerne« wider. Londons Unterhaltungsszene ist verkrampft, reguliert und kommerzialisiert; die Kneipenbesitzer sind darauf aus, möglichst viel Profit zu machen, indem sie eine größtmögliche Anzahl von Gästen mit höchstmöglicher Geschwindigkeit durch ihre Läden schleusen. Berlins Unterhaltungsszene dagegen fühlt sich so an, als sei sie den 1920er-Jahren entstiegen, mit verrauchten, zwanglosen Bars, wo Leute bis um 4 Uhr in der Früh chillen. Diese Ungezwungenheit ist – wie ich in dem Buch darlege – eng mit einem hohen Bargeldgebrauch verbunden: Der Widerstand gegen die Vermarktungsmentalität geht Hand in Hand mit dem Widerstand gegen die Zahlungstechnologien von Konzernen.

Bargeld ist ein faszinierendes Thema, weil es unter verschiedenen politischen Gesichtswinkeln betrachtet werden kann. Heutzutage hat es antikapitalistische Züge, weil es den großen Digitalkonzernen im Wege steht, aber es findet auch in nationalistischen oder traditionalistischen Gemeinschaften Anklang. Wenn ich über die Bedeutung von Bargeld schreibe, bekomme ich oft Beifall von der extremen Linken und der extremen Rechten, aber was Deutschland von Ländern wie Großbritannien unterscheidet ist die Tatsache, dass die Pro-Bargeld-Einstellung auch in der politischen Mitte anzutreffen ist.

Ob dies so bleiben wird, ist eine andere Frage. Während die Zunahme des bargeldlosen Bezahlens weithin als ein Phänomen beschrieben wird, das »aus der Mitte der Gesellschaft« komme und von einfachen Bürgern getragen werde, behaupte ich, dass es genauso sehr ein »von oben verordnetes« Projekt ist, das von großen Institutionen vorangetrieben wird. Deutschland hat einen starken Bankensektor und eine aufstrebende Fintech-Szene, und diese Industrie hat ein Interesse daran, die Idee zu propagieren, dass Bargeld eine Sache der Vergangenheit sei. Berlin beherbergt auch eine ganze Reihe von Tech-Start-ups und – in zunehmendem Maße – von Blockchain- oder »Web 3«-Start-ups, die alle eine digitale Agenda verfolgen (auch wenn sie als revolutionär hingestellt wird). Diese Branchen locken eine internationale Mittelschicht an, die die Stadt gentrifiziert und daran mitarbeitet, Konzernsysteme als einen modernen und progressiven Standard zu definieren.

Der Prozess der Schwächung des Bargeldes befindet sich in Deutschland noch immer in einem vergleichsweise frühen Stadium, aber er hat begonnen, Fuß zu fassen: Im letzten Jahr sind in Berlin trendige Geschäfte und Kneipen, die kein Bargeld mehr annehmen, aus dem Boden geschossen; damit wiederholt sich hier ein Prozess, der sich in London schon vor etlichen Jahren ereignete. Die Fintech-Firmen, Zahlungsunternehmen und Banken visieren immer zunächst junge, trendige Leute an. Youngster lassen sich am einfachsten ansprechen, weil sie in einer Welt aufwachsen, die bereits von Big Tech beherrscht wird, und sie möchten sich von den älteren Generationen abheben, indem sie die neuen Technologien übernehmen, die sich in ihrer Peergroup verbreiten. Anders als die Bundesbank wollen Teenager nichtuncoolerscheinen, indem sie sich dem Trend verweigern, aber »cool« zu sein bedeutet – in der gegenwärtigen Phase des globalen Kapitalismus –, sich mit dem Aufstieg von Konzernen abzufinden, die mehr Macht erlangen als je ein anderes Unternehmen in der Geschichte der Menschheit.

Diese Unternehmen haben eine Machtbasis in der jüngeren Generation (und in den trendigen Mittelschichten der Welt), und sie werden diese als Sprungbrett benutzen, um von hier aus ältere, ärmere und nonkonformistische Menschen nach und nach dazu zu drängen, sich zu den digitalen Zahlungslösungen der Konzerne zu bekehren. Diese Finanz- und Technologieunternehmen ermutigen die deutschen Unternehmen insgesamt auch dazu, eine Agenda des bargeldlosen Bezahlens durchzudrücken. Als ich zum Beispiel im Mai 2022 eine Lufthansa-Maschine bestieg, sagte man mir, dass die Fluggesellschaft an Bord kein Bargeld mehr annehme. Lufthansa ist der nationale Flagcarrier Deutschlands, trotzdem haben ihre Führungskräfte von oben herab entschieden, jeden Passagier dazu zu zwingen, mit der Karte oder dem Smartphone zu bezahlen. Dies ist keine Reaktion des Unternehmens auf »Wünsche der Verbraucher« – schließlich will niemand weniger Zahlungsoptionen haben. Vielmehr nutzt die Fluggesellschaft ihre Machtposition, um allmählich die Einstellung der deutschen Flugreisenden – ob es sich nun um Journalisten, Dozenten, Manager oder Urlauber handelt – zu Bargeld so zu verändern, dass dieses immer mehr an Akzeptanz verliert. In einem ähnlichen Schritt haben die Berliner Verkehrsbetriebe begonnen, kein Bargeld mehr anzunehmen. Sie folgen damit dem Beispiel, mit dem London mehrere Jahre, bevor das bargeldlose Bezahlen in dieser Stadt immer schneller um sich griff, voranging.

Wenn große Institutionen wie diese Menschen dazu zwingen, Karten oder Apps zu nutzen, schlägt sich dies in den Zahlungsstatistiken als eine Zunahme der Anzahl von Kartenzahlungen nieder, die Ökonomen als einen Anstieg der »Nachfrage« nach Kartenzahlungen interpretieren. Journalisten greifen diese Statistiken auf und berichten darüber unter Schlagzeilen wie »Verbraucher wenden sich digitalen Zahlungen zu«, statt, wie es eigentlich heißen müsste, »Verbraucher zu digitalen Zahlungen gedrängt«. Diese Nachrichtenmeldungen wiederum werden von anderen Institutionen aufgegriffen, um zu rechtfertigen, warum auch sie auf »unbar umstellen«, und – in Ländern wie Großbritannien – von Banken, um zu rechtfertigen, warum sie Geldautomaten und Filialen schließen (und es so schwerer machen, sich Bargeld zu beschaffen).

In Großbritannien führen diese sich beschleunigenden Rückkopplungsschleifen zu einer vollständigen Implosion des öffentlichen Bargeldsystems, mit der Folge, dass alle vollkommen vom privaten Bankensystem abhängig werden, um Zahlungen tätigen zu können. Dies mag in Deutschland noch nicht geschehen sein, aber Leser sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass alles, was ich in dem Buch beschreibe, auch in Deutschland mehr und mehr um sich greift. Die Frage ist jetzt, ob deutsche Bürgerinnen und Bürger erfolgreich Widerstand gegen diesen Prozess leisten können, um sich für ein ausgewogeneres, inklusiveres und öffentliches Zahlungssystem einzusetzen.

Berlin, Juni 2022

EINLEITUNG

In diesem Buch geht es um eine Fusion und eine Übernahme. Die Fusion bezieht sich auf die Tatsache, dass die großen Finanzkonzerne und die großen Technologiekonzerne ihre Kräfte bündeln. Und die Übernahme meint Aneignung von Macht: Sobald die Fusion abgeschlossen ist, werden Big Finance und Big Tech in einem historisch beispiellosen Ausmaß Macht über uns besitzen.

Ich werde hier in einer Weise argumentieren, die der herrschenden Meinung zuwiderläuft. Jeden Tag sind die Medien voll von Berichten über dieses oder jenes Start-up-Unternehmen, das uns angeblich durch diese oder jene spannende neue Fintech-App vielfältige praktische Vorteile beschert. Wenn beispielsweise Amazon eine neue Partnerschaft mit einer Zahlungsplattform bekannt gibt oder Citigroup eine Zusammenarbeit mit Google Pay ankündigt, dann wird dies als eine willkommene, bahnbrechende Innovation hingestellt – und von den Medien in dieser Weise präsentiert. Zukunftsoptimisten kämpfen darum, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, und sie versuchen, einander mit den neuesten Schlagwörtern des digitalen Finanzwesens zu übertrumpfen wie Barden, die sich in Preisgesängen auf den König miteinander messen.

Ich möchte Ihnen zeigen, warum Sie Narrativen über den vermeintlich zwangsläufigen Fortschritt, der mit der Digitalisierung des Geld- und Finanzwesens einhergeht, misstrauen sollten. Dazu wird es notwendig sein, vor dem alltäglichen Geplapper der Finanz- und Technologiebranche die Ohren zu verschließen und die Märchen zu ignorieren, die uns Spitzenmanager und ihre Gefolgsleute auftischen. Wie Surfer erzählen auch dynamische Jungunternehmer gern aufregende Geschichten über die Wellen, die sie reiten (während sie zugleich Tipps geben, wie man die Balance hält), aber es interessiert sie weniger, über das Zusammenwirken verborgener Kräfte nachzudenken – wie etwa Winden auf hoher See und Korallenriffen, die hohe Wellen hervorbringen. Diese Wellen können durch ein weit entferntes Erdbeben entstehen, das seinerseits durch unsichtbare Plattentektonik verursacht wird. Ich würde gern die Surfer-Storys überspringen und direkt zur Sache kommen, das heißt die Plattentektonik der Weltwirtschaft freilegen.

Wir erleben gegenwärtig die Automatisierung der globalen Finanzmärkte. Dieser Prozess erfordert zunächst, dass das physische Geld in unseren Geldbörsen durch – vom Bankensektor kontrolliertes – digitales Geld ersetzt wird. Dieses Szenario wird beschönigend auch »die bargeldlose Gesellschaft« genannt. Die Finanzindustrie und einige Regierungen unternehmen seit mindestens zwanzig Jahren gemeinsame Anstrengungen, um physisches Geld zu dämonisieren. Im Zuge der Covid-19-Pandemie haben sie ihre Schmähungen noch einmal verstärkt, und Finanz- und Technologiekonzerne haben die Gelegenheit ergriffen, um den Krieg gegen das Bargeld zu beschleunigen. Um der Agenda einen zusätzlichen Schub zu verleihen, werden auch hygienische Argumente ins Feld geführt. Bargeld schützt unsere Privatsphäre, und Naturkatastrophen und Bankenzusammenbrüche können ihm nichts anhaben. Trotzdem wird es zunehmend als ein Fortschrittshemmnis hingestellt, das zwangsläufig einer neuen Welt des digitalen Geldes weichen werden muss, dem »Cloudmoney«, wie ich es nenne.

Die Digitalisierung von Zahlungen ermöglicht die Digitalisierung von Finanztransaktionen ganz allgemein – eine Aufgabe, die gegenwärtig an die Finanztechnologie-Branche (»Fintech«) ausgelagert wird –, die ihrerseits die vollständige Automatisierung des Konzernkapitalismus erlaubt. Wir können dies bereits in den Geschäftsstrategien von Konzernen wie Amazon, Uber und Google (beziehungsweise Tencent und Alibaba in China) sehen. So gut wie jedes große Technologieunternehmen geht Partnerschaften mit Finanzinstituten ein. Diese Unternehmen können keine globalen digitalen Reiche aufbauen, wenn sie nicht mit globalen digitalen Zahlungssystemen fusionieren.

Im Zuge dieses Prozesses entstehen große Oligopole (Konglomerate von Megakonzernen), aber sie verstecken sich hinter einer Vielzahl von Apps, die oberflächlich den Anschein echter Vielfalt erwecken. Hinter unseren Smartphone-Bildschirmen wächst eine Infrastruktur automatisierter Finanzkontrolle heran. Milliarden von Menschen werden in miteinander vernetzte Systeme eingeschlossen, die ein bis dato unvorstellbares Ausmaß an Überwachung und Datengewinnung zulassen und besorgniserregende neue Möglichkeiten zur Ausschließung, Manipulation und Täuschung mit sich bringen. Der Kampf darum, Menschen von diesen Systemen abhängig zu machen, wird zu einem geopolitischen Ringen zwischen Großmächten, die dabei von den mit ihnen verbündeten Konzernen unterstützt werden.

Auf den ersten Blick sollte man meinen, dass einzelne Großunternehmen und Regierungen um die Vorherrschaft konkurrieren. Aber bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass sie sich im Ringen um eine gute Position im expandierenden weltumspannenden Supersystem gegenseitig mit den Ellbogen beiseitestoßen. Es ist schwer, auch nur einen flüchtigen Blick auf dieses Supersystem in seiner Gänze zu erhaschen, nicht zuletzt deshalb, weil es aufgrund seiner schieren Größe praktisch unsichtbar ist. Aber unsere regelmäßigen Interaktionen mit einer ganzen Reihe von Smartphones, Computern und Sensoren (die alle Informationen an weit entfernte Datenzentren weiterleiten) machen etwas mit uns. Und so verfestigt sich in uns der unangenehme Eindruck, in einer Welt zu leben, die unweigerlich auf immer höhere Stufen geballter Vernetzung zusteuert.

Manche – mich eingeschlossen – haben ein klaustrophobisches Gefühl, wenn sie bemerken, dass sich dieses Netz immer fester zusammenzieht. Mich schaudert, wenn ich Werbung sehe, die die Annehmlichkeit von Produkten anpreist, die später versuchen werden, mein Verhalten auszuspionieren und zu lenken. Ich betrachte mein Handy und frage mich, ob es vielleicht eher ein Werkzeug finsterer Mächte ist, die Aspekte meines Lebens überwachen, die sich früher einer systematischen Kontrolle entzogen.

Allerdings will ich damit nicht behaupten, dass die digitale Welt grundsätzlich schlecht und die nichtdigitale Welt grundsätzlich gut sei. Öffentliche Debatten werden gern so dargestellt, als ginge es hier um einen Kampf zwischen einer Sache und einer anderen, aber ich sehe die Welt eher als eine Reihe von Gegensätzen. Ich bin mir bewusst, dass wir alle in komplexe – wirtschaftliche, kulturelle und politische – Netze eingebunden sind, die uns zugleich befreien und gefangen halten können. Ich möchte in diesem Buch das verzerrte Narrativ der Finanzinteressen, die uns die Digitalisierung als Befreiung verkaufen, geraderücken. Um es bildlich auszudrücken: So, wie das Yang heller strahlt, ist das Yin seinerseits dunkler.

Die Geld und Technologien innewohnenden Widersprüche

Als mein Bruder und ich jung waren, brachte unser Dad uns bei, wie man topografische Karten liest, und schickte uns in die südafrikanischen Drakensberge, wo wir unter Beweis stellen sollten, dass wir uns, nur mit einem Kompass bewaffnet, zurechtfinden würden. Wir dachten, dies würde uns zu wirklich harten Burschen machen, aber 500 Jahre früher hatten indigene San-Menschen ohne irgendein technologisches Hilfsmittel genau das Gleiche geschafft – sie hatten sich ausschließlich mithilfe ihres Erfahrungswissens, ihrer Intuition und der Sterne orientiert.

Hierin liegt ein Widerspruch. Ein Werkzeug ist – allem Anschein nach – ein Instrument, das wir benutzen, um der Welt unseren Willen aufzuzwingen, wie der wertvolle Kompass, den mein Bruder und ich fest in der Hand hielten, als wir durch die Berge wanderten. Und tatsächlich erreichten wir vor Einbruch der Dunkelheit die angepeilte Berghöhle und waren stolz auf unsere Leistung. Allerdings fällt es uns schwer, zu erkennen, dass das Gerät nur funktioniert, wenn wir dafür in Kauf nehmen, von ihm abhängig zu werden. Dadurch, dass wir es benutzen, lagern wir gleichsam einen Teil unseres inneren Kompasses aus, wir verlernen, wie man ihn gebraucht, oder verlieren ihn sogar. Schlimmstenfalls entwickeln wir unseren inneren Kompass gar nicht mehr.

Technologien haben zwei Seiten. Wir erleben sie als etwas, was unsere Fähigkeiten erweitert, und doch verstärken sie zugleich unsere Abhängigkeit. Diese äußeren Geräte, die uns unterstützen, fangen schließlich an, unser Denken und Handeln zu prägen, als Innovationen, die zunächst als neu hinzugewonnene Optionen begrüßt, aber dann zu zwingenden Notwendigkeiten werden. Wenn Sie in einer Großstadt leben, können Sie vielleicht die Marke Ihres Smartphones frei wählen, aber Sie können nicht wirklich frei darüber entscheiden, ob Sie überhaupt ein Smartphone nutzen wollen. Wenn Sie sich dagegen entscheiden, müssen Sie damit rechnen, aus dem sozioökonomischen Netzwerk ausgeschlossen zu werden, in das Sie eingebunden und von dem Sie abhängig sind.

Und dieser Widerspruch verstärkt sich noch, wenn wir die leistungsfähigen Technologien, auf die wir angewiesen sind, nicht einmal besitzen. Google Maps zum Beispiel ist nicht in meinem Smartphone gespeichert. Es befindet sich in einem fernen digitalen Datenzentrum – als Teil dessen, was umgangssprachlich »die Cloud« genannt wird –, auf das ich über mein Smartphone zugreife. Es ist, als hätten wir unseren Orientierungssinn ausgelagert, ihn einem weit entfernten, sehr großen Privatunternehmen anvertraut.

Unsere Abhängigkeit von Google Maps ist neueren Datums – eine Sache von Jahrzehnten. Aber heutzutage beginnt das Herz von Londoner*innen zu rasen, wenn die Batterie ihres Smartphones auf 1 Prozent fällt und sie befürchten müssen, keinen Zugriff mehr auf dieses aus der Ferne kontrollierte digitale Orakel zu haben. Diese Technologien werden zu einem so zentralen Bestandteil unseres Lebens, dass sie gleichsam mit uns verschmelzen. Wenn ich für einen Tag den Zugang zu meinem Smartphone verliere, fühle ich mich wie ein Kettenraucher auf einem Langstreckenflug, der nur noch an den Moment denkt, an dem das Flugzeug endlich landet und er nach draußen stürzen kann, um sich eine Zigarette anzuzünden und sich wieder ganz zu fühlen.

Dieses Muster von Widersprüchen zeigt sich auch bei Geld, allerdings auf einer noch tieferen Ebene. Heutzutage erleben wir Geld als etwas, das unverzichtbar ist und uns – sofern man sich auf der richtigen Seite der Einkommensverteilung befindet – Gestaltungsfreiräume eröffnet. Wir haben längst vergessen, wie die Welt aussah, bevor geldbasierte Tauschbeziehungen die Norm wurden, und zwar so sehr, dass wir uns diese Welt im Grunde gar nicht mehr vorstellen können. Vor 5000 Jahren waren Geldsysteme räumlich eng begrenzt und isoliert. Aber dann haben sie unsere Zivilisation allmählich regelrecht überrollt. So gut wie jedes Objekt um uns herum – angefangen von unseren Computern über unsere Schuhe und unsere importierten Nudeln bis zu diesem Buch – beschaffen wir uns über ein globales geldbasiertes Tauschsystem. Unsere Beziehung zu Geld ist sogar noch tiefer als unsere Bindung an Technologien. Sobald sich unser Kontostand null nähert, geraten wir in Panik, denn wir müssen befürchten, den Zugang zum Markt zu verlieren. Wenn ich diesen Zugang verliere, fühle ich mich wie ein Fisch, der an Land gespült wurde, nun langsam erstickt und deshalb wild zappelnd das rettende Wasser zu erreichen versucht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Geld den Zugang zu allen anderen Dingen, von denen wir abhängig sind, erleichtert. Dadurch wird es zu einem Objekt, von dem wir in einer Weise abhängig sind wie von keinem zweiten.

Dies nimmt allerdings eine völlig neue Dimension an, wenn wir die Fähigkeit verlieren, unser Geld direkt zu besitzen. Das digitale Geld auf unseren Bankkonten befindet sich in fernen Datenzentren, die von den Banken kontrolliert werden und mit denen wir über unsere Smartphones, Computer oder Zahlkarten kommunizieren. Die »bargeldlose Gesellschaft« ist eine Welt, in der unsere Fähigkeit zu Transaktionen an diese Finanzinstitute ausgelagert ist, die gegenwärtig synergistische Vereinbarungen mit Konzernen wie Google schließen, die die Kontrolle über unsere Fähigkeit zur Orientierung haben. Es wird der Eindruck erweckt, als wären diese Synergien für uns unglaublich vorteilhaft, aber diese Annehmlichkeit geht mit einer extrem hohen Abhängigkeit von geballter Konzernmacht einher. Dies ist ein zentraler Widerspruch unserer Zeit, den ich in diesem Buch ausführlich beschreiben möchte.

Mein Weg

Während der letzten vierzehn Jahre habe ich die Entwicklungen im globalen Finanzsektor aus eigener Anschauung miterlebt. Alles fing damit an, dass ich bei einem skrupellosen Finanz-Start-up in London anheuerte, wo ich mich mitten in der Finanzkrise von 2008 bemühte, Käufer für undurchsichtige Wettgeschäfte, sogenannte »exotische Derivate«, zu finden. Zwei Jahre lang verbrachte ich meine Tage damit, Finanzvorstände von Konzernen, Manager von Mega-Investmentfonds und Wertpapierhändler bei Investmentbanken anzurufen. Das Beben an den Weltmärkten ließ das Unternehmen schließlich zusammenbrechen, aber es überlebte lange genug, um mir eine Einführung in die dunklen Künste der Hochfinanz zu geben.

Der Finanzsektor ist eine sehr alte Machtinstitution – mindestens tausend Jahre älter als das Internet. Er kontrolliert das globale Geldsystem, das die Grundlage von Hunderten Millionen wirtschaftlicher Transaktionen und Finanzkontrakten pro Tag bildet. Es ist die Welt der Zentralbanken, der Geschäftsbanken, der Wall Street, der Londoner City und des globalen Netzes von Onshore- und Offshore-Finanzzentren. Die brechend vollen Pubs in den Londoner Finanzdistrikten werden von rüpelhaften Anzugträgern aus der Branche frequentiert: dem großmäuligen Trader, dem geschniegelten Investmentbanker, dem kultivierten Vermögensberater, dem ruppigen Hedgefondsmanager. Im vornehmen Viertel Mayfair beschaffen sich russische Oligarchen hinter verschlossenen Türen Kapital für Bergbauprojekte, während Ölscheichs aus dem Nahen Osten Anlageempfehlungen für ihre Staatsfonds erhalten.

Im Jahr 2013 veröffentlichte ich ein Buch über diese Welt mit dem Titel The Heretic’s Guide to Global Finance: Hacking the Future of Money. Ich habe Anthropologie studiert, und ich habe Methoden dieser Disziplin angewandt, um die Strategien der großen Finanzkonzerne besser zu verstehen. Das Buch stützte sich auch auf die Hackerphilosophie, die sich mit der Frage befasst, wie man komplexe Systeme infiltrieren kann, und eine Methode aufzeigt, um die Macht der Finanzindustrie zu erschüttern. Im Anschluss an die Veröffentlichung des Buches begann ich, kreuz und quer durch die Welt zu reisen und mit vielen verschiedenen Gruppen zusammenzuarbeiten, die behaupten, den Schlüssel zur Reform oder Revolution des Finanzsektors entdeckt zu haben.

Diese Gemeinschaften, angefangen von linksextremen Anarchisten und ökologischen Aktivisten über New-Age-Spiritualisten und Marktliberale bis zu konservativen Hardlinern und Regierungstechnokraten, haben sehr unterschiedliche Standpunkte. Gemeinsam mit Hippies habe ich lokale Währungen konzipiert, Klimaaktivisten geholfen, Einfluss auf Pensionsfonds zu nehmen, Wirtschaftsprüfer dabei unterstützt, zukunftsweisende neue Konzepte der Buchprüfung zu erarbeiten, und geldpolitische Entscheidungsträger herausgefordert. Ich war ein »Financial Artist-in-Residence« bei einer Wiener Kunstgalerie, und ich habe mit dem MIT Media Lab zusammengearbeitet. Die Welt, in der ich mich bewege, schließt malaysische Notenbanker und hochrangige amerikanische Mitarbeiter des IWF ebenso ein wie deutsche Anti-Überwachungsaktivisten und politische Dissidenten aus Serbien. Ich hatte sogar Gelegenheit, mit rechtsextremen Aktivisten, von denen einige mit dem Faschismus liebäugeln, am selben Tisch zu sitzen. Ich habe das Glück gehabt, konträre Ansichten über die Probleme, die unser Wirtschaftssystem belasten, und unterschiedliche Vorschläge darüber, in welcher Weise es verändert werden sollte, zu hören. Und mir ist auch klar geworden, dass den Menschen, die diese Reformen fordern, ganz unterschiedliche Endziele vorschweben.

Im Jahr 2015 begann ich, mein Augenmerk auf die Herren der digitalen Automatisierung zu richten – die im Silicon Valley ansässigen Technologiekonzerne. Anders als die straff organisierten Büros der Finanzabteilungen von Unternehmen ist dies eine Welt von Großraumbüros mit Sitzsäcken, Post-it-Notizen an Whiteboards und farbigem Programmcode auf schwarzen Bildschirmen. Es ist die Welt der Start-up-Pitches, in denen das Evangelium der Innovation heruntergebetet wird und bei denen CEOs mit einem Headset-Mikrofon auf die Bühne gehen, um unter dem Beifall ihrer Hightech-Jünger ihre jüngste App vorzustellen. Die größten Unternehmen – Google (Alphabet), Facebook, Apple, Amazon und Microsoft (sowie in China Alibaba, Tencent und Baidu) – machen sich unverzichtbar als digitales »Bindegewebe«, durch das wir alle mit dem Markt interagieren. Die Position versetzt sie in die Lage, riesige Mengen an Daten zu sammeln, mit denen sie anschließend ihre KI-Systeme trainieren.

Die Spitzenpositionen im Finanz- und Digitaltechnologiesektor werden von Personen bekleidet, die sich selbst als globale Vorkämpfer verstehen, die jedoch aus grundverschiedenen Kulturen kommen. Während der Finanzbranche das Image skrupelloser Selbstbereicherung anhaftet, wie es von der Figur des Corporate Raider Gordon Gekko in dem Film Wall Street (1987) verkörpert wird, galten Mitarbeiter von Technologiefirmen lange Zeit als idealistische und etwas schräge Programmierer. Der ikonische Apple-Werbespot »1984«, der anlässlich des Super Bowl ausgestrahlt wurde, brachte diese Sichtweise auf den Punkt. Darin zerschmettert ein bunt gekleideter Athlet mit einem Vorschlaghammer den repressiven Status quo – das Versprechen der Befreiung von traditionellen Machtstrukturen.

Aber das waren die 1980er-Jahre. Heute verschmelzen diese Kulturen. Ein Beleg dafür ist der Wechsel von Mitarbeitern zwischen Big Finance und Big Tech. So arbeitete zum Beispiel ein Freund von mir als quantitativer Analyst bei J. P. Morgan, wo er die Preise von Finanzkontrakten berechnete. Heute arbeitet er bei DeepMind, dem Google-Unternehmen, das sich auf KI-Forschung spezialisiert und sich zum Ziel gesetzt hat, eine künstliche Intelligenz zu entwickeln, die sich auf jede Situation anwenden lässt.

Dieses Zusammenwachsen des Finanz- mit dem Technologiesektor zeigt sich auch darin, dass die beiden Branchen im Bereich der Fintechs immer stärker miteinander verschmelzen. Dies ist eine Branche, die die ambivalente, aber enge Beziehung zwischen den beiden Welten verdeutlicht. Im Anschluss an die Finanzkrise von 2008 war der Ruf der Banken ruiniert, und es kam die techno-utopische Idee auf, digitale Start-ups würden dem Geschäftsmodell der Finanzindustrie den Boden entziehen und zu einer Demokratisierung der Finanzindustrie führen. Digitale Technologien wurden als Retter in der Not angepriesen, die den in die Jahre gekommenen Finanzsektor wieder in Form bringen würden. »Fintech« wurde zu einem Modewort, das sowohl Angestellte traditioneller Banken, die Ideen hatten, wie sich Dienstleistungen digitalisieren ließen, als auch Existenzgründer aus dem Tech-Sektor anlockte, die als Branchenfremde ins Geschäft mit Finanzdienstleistungen einsteigen wollten.

Von Anfang an hatte die Finanztechnologie-Branche aufgrund ihrer engen Verbindung zur mächtigen alten Big Finance zwar weniger Glanz als der Rest des Technologiesektors, aber zugleich war sie bunter als der traditionelle Finanzsektor, da sie eng mit dem Hype um das Silicon Valley verbunden war. Bis heute profitiert Fintech von der Überzeugung, dass neue Technologien den Finanzsektor grundlegend umgestalten und dass Banken förmlich an den Haaren in die neue digitale Welt hineingezerrt werden müssen. Die Vertreter der Tech-Branche erklären, die Zukunft müsse in die Gegenwart vorverlegt werden, und alles Alte müsse schnellstmöglich in der Vergangenheit entsorgt werden. Das alte Finanzsystem müsse auf den neuesten Stand gebracht werden, und die alten Praktiken – wie etwa Bankfilialen, physisches Bargeld und nichtdigitale Prozesse – müssten beendet werden. Diese Ideen werden als eine Revolution des Finanzsektors hingestellt, aber wenn ich mir die Fintech-Branche aus einer gewissen Distanz ansehe, dann kann ich kein Bemühen erkennen, Big Finance grundlegend umzugestalten, sondern lediglich das Bestreben, dieses zu automatisieren. Dieser Unterschied wird aber nur selten gemacht. Warum?

Der »zwangsläufige Fortschritt« durch Automatisierung

Wir machen intuitiv Vorhersagen darüber, wie die Zukunft sein könnte, aber wenn wir uns nicht sicher sind, wie die Zukunft aussehen wird, können wir Argumente vorbringen, die sich darauf beziehen, wie sie sein sollte. Das ist das Feld der Politik, auf dem wir uns leidenschaftlich für die Zukunft einsetzen, die wir wollen, statt uns mit einer Zukunft abzufinden, die wir für wahrscheinlich halten. Aber während sich innenpolitische Forderungen zum Beispiel auf eine bessere Finanzierung von Schulen oder den Aufbau einer umweltgerechten Infrastruktur beziehen, sind transnationale Forderungen viel schwerer umzusetzen. Was den allgemeinen Trend zur Digitalisierung und Automatisierung in der Weltwirtschaft anlangt, nehmen die meisten Menschen diesen seltsam schweigend hin. Sie glauben wohl, dass es unabhängig von dem, was sie selbst wollen, dazu kommen wird.

Warum? Nun, unser transnationales Wirtschaftssystem lässt jeden Einzelnen von uns als gänzlich unbedeutend erscheinen, und die meisten haben gelernt, dass es eher etwas ist, worauf man reagiert, als etwas, das man aktiv gestaltet. Kein Mensch hat das Gefühl, dass er oder sie die Weltwirtschaft »antreibt«, vielmehr erleben wir sie als etwas, das sich wie ein riesiger, von einem Autopiloten gesteuerter Umzug von selbst bewegt. Man nimmt es als etwas Unabänderliches hin, auch wenn es einem nicht gefällt – so wie den Umstand, dass Konzerne immer größer und Waffen immer zerstörerischer werden, Ressourcen sich erschöpfen und die digitale Vernetzung immer dichter wird. Dies scheint sich auf unheimliche Weise mit Szenarien zu decken, die Cyberpunk-Science-Fiction-Schriftsteller ab den 1970er-Jahren in ihren Werken entwarfen. Ihre Figuren leben in High-Tech-Welten, in denen Wälder durch wuchernde Megalopolen vernichtet worden sind und in denen Regierungen mit Megakonzernen verschmolzen sind. Letztgenannte bieten verstörten Menschen die Möglichkeit, sich in virtuelle Traumlandschaften zu versetzen, um der Tretmühle ihres Alltags zu entfliehen, während kleine Rebellengruppen Widerstand leisten.

Wenn es mitunter den Anschein hat, als hätten dystopische Science-Fiction-Romane Technologieunternehmen inspiriert, dann deshalb, weil die in diesen Romanen als Treiber ihrer Handlungen beschriebenen Technologien heute in Innovationen, die uns Big Tech beschert, Wirklichkeit werden: von der allgegenwärtigen Gesichtserkennungstechnologie in Minority Report über die Biotechnologie in Blade Runner bis hin zu den »Gargoyles« in Snow Crash – Menschen, die mit Apparaten ausstaffiert sind, die audiovisuelle Daten in eine Virtuelle-Realität-Version des Internets einspeisen, die »Metaverse« genannt wird. Aber niemand muss sich von Science-Fiction inspirieren lassen, damit deren Inhalte Wirklichkeit werden: Der Cyberpunk hat lediglich aus Trends, die kapitalistischen Systemen innewohnen, extrapoliert. Das ist der Grund dafür, dass in der Gegenwart weiterhin die Folgen dieser Trends zum Vorschein kommen, als würden sie einer Art Trägheit unterliegen.

Weil die Covid-19-Pandemie dieses Gefühl der Trägheit vorübergehend erschüttert hat, hat sie vielen von uns einen tiefen mentalen Schock versetzt. Unsere Systeme schienen kurzzeitig stillzustehen – was bei manchen Ängste und bei anderen Euphorie hervorrief –, bevor sie wieder in die gleichen alten Muster zurückfielen, wie eine Tretmühle, die (mit einer höheren Geschwindigkeit) wieder anläuft. Techno-Optimisten geben sich größte Mühe, dieses Gefühl der Trägheit in ein positives Licht zu rücken. Sie behaupten, die ständige Expansion und Beschleunigung wirtschaftlicher Prozesse sei ein »Fortschritt«, der von uns allen angetrieben werde und von der menschlichen Kreativität inspiriert sei.

Dies sind die gängigen Narrative derjenigen, die der Digitalisierung der Finanzwelt das Wort reden: So behaupten Experten zum Beispiel, eine bargeldlose Gesellschaft werde zwangsläufig kommen, weil »wir« – die Mitglieder der Öffentlichkeit – die Vorteile einer stetig zunehmenden Geschwindigkeit, Automatisierung, Vernetzung und Bequemlichkeit zu schätzen wüssten und deshalb immer mehr Finanztransaktionen digital abwickeln wollten. Weil dies »unser aller« Wunsch sei, könne sich dem kein einzelner Andersdenkender entgegenstellen, und wenn er es versuche, dann werde er eben abgehängt. Eine ganze Marketingbranche versucht, uns diese Botschaft einzuhämmern. Wir sollten uns auf den Wandel vorbereiten, den wir doch selbst herbeiwünschten, ansonsten würden wir in einer »sich rasch wandelnden Welt« den Anschluss verlieren, so ihre Mahnung. Diese Botschaften begleiten nahezu sämtliche Produkte, die Finanz- und Technologieunternehmen auf den Markt werfen. Sie stellen kommerzielle Interessen als Naturkräfte dar, die sich nicht aufhalten ließen und für alle Menschen ein Segen seien.

Ich sehe es in einer Londoner U-Bahn-Station in Form einer Werbeanzeige für einen digitalen Zahlungsdienst, die verkündet: »The Future is Here.« Ich sehe es auch an der Außenseite eines Wolkenkratzers in Singapur, wo eine Reklametafel für Samsung-Smartphones ankündigt: »Next is Now« (sinngemäß: Morgen beginnt heute). Ich sehe es, wenn ich einem Jungunternehmer auf der Bühne eines Konferenzsaals in Nur-Sultan, Kasachstan, zuschaue, der die kommende digitale Transformation prophezeit – und zwar von allem. Die gleiche Botschaft kommt aus dem Mund eines Politikers in einer Fernsehsendung in meinem Heimatland Südafrika, wenn er uns auffordert, wir sollten uns auf die »Vierte Industrielle Revolution« vorbereiten. Mein Vater ist ein Ex-Soldat, der in einer ländlichen Region Simbabwes aufwuchs und der einen zwölf Jahre alten Computer benutzt, aber dieses Hintergrundrauschen aus dem Fernseher ermahnt ihn, sich auf einen riesigen Komplex von Drohnen, Robotern, Smart Cities, Biotechnologie und KI vorzubereiten: alles Dinge, um die er nie gebeten hat.

Aber von wo hat dieser Politiker seine Botschaft bekommen? Die offizielle Geschichte nimmt ihren Ausgang in High-Tech-Zentren in wirtschaftsstarken Regionen, wo gigantische Profite auf dem Spiel stehen. Ein solches Zentrum befindet sich 16 000 Kilometer von Südafrika entfernt, im Silicon Valley, wo Existenzgründer Gelder von Investoren einwerben und Marketingkampagnen planen, um uns an ihre Plattformen zu binden. Ihr Geflüster dringt aus den Vorstandsetagen und Bars der Bay Area zu Innovationsjournalisten, die wiederum die Organisatoren von Diskussionsveranstaltungen beim Weltwirtschaftsforum in Davos beeinflussen. Über diese berichtet die BBC in einer Sendung, die sich ein lokaler Trendsetter in Johannesburg ansieht, der den Auftrag hat, meinen Politiker über internationale Trends auf dem Laufenden zu halten. Auf diese Weise gelangen die technologischen Mantras unserer Zeit ins Wohnzimmer meines Vaters. Hinzu kommen Tausende weitere Kanäle. Nachdem mein Vater aufgefordert wurde, sich für die Veränderungen zu wappnen, wird er wie die meisten Menschen einfach miterleben, wie sich die Technologien in seinem persönlichen Umfeld ausbreiten. Und so wird ihm kaum etwas anderes übrig bleiben, als sie zu übernehmen.

Viele Menschen fühlen sich diesen Entwicklungen mehr oder minder ohnmächtig ausgeliefert. Einigen fällt es indes leicht, die kommenden Wunder des technologischen Fortschritts anzupreisen und mit fatalistischem Gleichmut jeglichen Hinweis auf dystopische Risiken auszublenden. Es hilft, wenn man dafür auch noch bezahlt wird, und viele Mainstream-Futuristen bekommen eine Menge Geld dafür, dass sie sich zu Propheten vermeintlich unabänderlicher Entwicklungen stilisieren. So veröffentlichte Kevin Kelly, der Gründungsherausgeber von Wired, im Jahr 2016 das Buch The Inevitable: Understanding the 12 Technological Forces That Will Shape Our Future. Der Titel präsentiert die Zukunft so, als wäre sie wie das Wetter – etwas, das uns einfach widerfährt. Die zwölfte Prognose in seiner »Wettervorhersage« lautet, dass wir von einem »planetaren System [absorbiert werden], das alle Menschen und Maschinen in einer globalen Matrix miteinander vernetzt«.

Lassen Sie mich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten, wie man diese globale Matrix erschaffen könnte. Man nehme einen oligopolistischen Sektor von Technologiegiganten, deren Plattformen für Milliarden von Menschen ein essentieller Bestand ihres Lebens sind, und verbinde sie über eine Fintech-Infrastruktur mit einem oligopolistischen Sektor von Finanzkonzernen, deren digitales Geld essenzieller Bestandteil des Alltagslebens von Milliarden Menschen ist. Dann verbinde man beides mit allem anderen (Städten, Maschinen, unseren Körpern) und stelle diese Situation – in der unsere gesamte Umgebung von den Profitmotiven ferner Oligopole beherrscht wird – als eine unvermeidliche und begrüßenswerte Revolution dar, die von uns allen angetrieben werde. Schließlich brandmarke man jeden, der rebelliert, als einen realitätsfremden, vergangenheitsfixierten Technikfeind, dem man gut zureden beziehungsweise zu Hilfe kommen muss.

Die Krypto-Wildcard

Aber vielleicht gibt es auch noch andere Möglichkeiten, eine globale Matrix zu erzeugen. Ein derartiger Vorschlag tauchte im Jahr 2008 in Form eines neunseitigen PDF-Dokuments von unklarer Herkunft auf, das in einem Internetforum veröffentlicht wurde. Das Dokument trug den Titel »Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System« (Bitcoin: Ein elektronisches Peer-to-Peer-Cash-System); sein Verfasser war eine unbekannte Person, die unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto firmiert. In dem Aufsatz wird beschrieben, auf welche Weise ein Netzwerk von Personen digitale Token* ausgeben und sie ohne Beteiligung von Banken übertragen kann, die das normale digitale Geldsystem kontrollieren, das wir nutzen, wenn wir unsere kontaktlosen Zahlungskarten gebrauchen. Nakamoto und zahlreiche Mitstreiter machten sich dann daran, das vorgeschlagene System aufzubauen, und im Jahr 2009 veröffentlichten sie die erste Version eines Open-Source-Protokolls, das – als es von Menschen angewandt wurde – Bitcoin, die erste »Kryptowährung« der Welt, hervorbrachte.

Ich begann 2011 mit Bitcoin zu experimentieren, und schrieb damals zunächst zwei Blogbeiträge darüber. Einer davon tauchte bald auf der ersten Seite der Google-Suchergebnisse zu diesem Phänomen auf. Als Produzenten bei der BBC und anderen Medienunternehmen um das Jahr 2013 herum fieberhaft nach Informationen über Bitcoin zu suchen begannen, erhielt ich E-Mails mit der Bitte, in Rundfunk und Fernsehen darüber zu sprechen. Ich begann auch, Bitcoin-Token zu verdienen – hauptsächlich dadurch, dass ich Exemplare meines ersten Buches dagegen eintauschte –, und ich nutzte sie, um Dinge wie Pizza in einem Londoner Pub, Pfefferminztee in Bulgarien und sogar Artikel in einem Online-Erotikshop namens Crypto Sex Toys zu bezahlen. Ich brachte meinen Mitbewohner dazu, meine Mietzahlung in Bitcoin zu akzeptieren, als mir das normale Geld ausging, und ich bezahlte Helfer damit. Auf der Basis von Bitcoin entwickelte sich eine Kryptoszene, und weitere Kryptowährungen folgten. Es machte Spaß, bei diesem Experiment mitzuwirken. Dieses Ethos des Unernstes zeigte sich besonders deutlich, als 2013 der spielerische Dogecoin eingeführt wurde, eine Kryptowährung auf der Basis des Shiba-Inu-Hunde-Mems.

Aber die Atmosphäre änderte sich schon bald. Spekulanten, die von der technologischen Neuartigkeit dieser Krypto-Token fasziniert waren, begannen, sich damit einzudecken und zu handeln. Gleichzeitig rückte die diesen Token zugrunde liegende Blockchain-Technologie in den Vordergrund. Und im Jahr 2015 wurde »Blockchain« zu einem eigenständigen Modewort, das begeistert von Innovationsgurus propagiert wurde. Mithilfe der Blockchain-Technologie lassen sich digitale Systeme erschaffen, die die Handlungen von Personen, die sich nicht kennen, koordinieren können, ohne dass es dazu eines Vermittlers bedarf. Dazu gehört u. a. die Weitergabe von Token (was das Bitcoin-System erleichterte), aber die Technologie konnte noch mehr. Die breite Palette von nicht erkundeten Möglichkeiten machte sie zu einem starken Katalysator für neue technologische Visionen, die alle auf dem Konzept der »Dezentralisierung« beruhen: Jedes bestehende System, das »zentralisiert« war – das heißt ein System mit einer geringen Anzahl bedeutender Akteure in seinem Zentrum –, war demnach von Disruption bedroht. Dies konnte das Finanzsystem, aber auch das Rechtssystem, das Urheberrecht und das Welthandelssystem betreffen.

Auch wenn dies aufregend war, beförderte die Vagheit der vorgeschlagenen Lösungen, zu der sich das mangelhafte Verständnis der bestehenden Systeme gesellte, einige hanebüchene Behauptungen über die vermeintliche Revolution, die die Blockchain im Geldwesen, im Finanzsektor und in den Volkswirtschaften ins Werk setzen würde. Eine breite Palette von Akteuren propagierte sie, die Spanne reichte von Urheberrechtsexperten bis zu anarchokapitalistischen Libertären und von Neofaschisten bis zu New-Age-Yogis, die darin eine organische Vision für ein harmonisches globales Miteinander sahen.

Der Hype nahm solche Ausmaße an, dass sogar etablierte Institutionen darauf aufmerksam wurden. Diese Entwicklung schlug sich in meinem Posteingang in Form von E-Mails mit Hilfsanfragen, Einladungen zu Medienauftritten und Vorträgen nieder. Ich schrieb einen der ersten Berichte der Vereinten Nationen über Kryptowährungen und stellte diesen später der EU-Kommission und dem EU-Parlament vor. Gleichzeitig schrieben mir IWF-Vertreter E-Mails, in denen sie mich fragten, ob Schwachstellen im internationalen Zahlungssystem mithilfe der Blockchain behoben werden könnten. Die Blockchain-Welle trug mich durch die ganze Welt, von Amsterdam bis San Francisco und von Nairobi bis Tokio.

Es mag seltsam klingen, aber tatsächlich wusste ich über die Blockchain-Technologie selbst nicht viel. Aber das galt auch für alle anderen. In der Szene tummelten sich jede Menge Opportunisten, die in den Studios von Bloomberg und CNBC oder auf den Podien globaler Konferenzen eingängige Sprüche abspulten. Ich habe Jungunternehmer gesehen, die keinen Schimmer von der komplexen Geschichte des Kolonialismus hatten und trotzdem behaupteten, die Blockchain werde »die Armut in Afrika beenden«. Und ich habe zahllose Kryptowährungsgurus gesehen, die den Niedergang des Bankensektors vorhersagten, ohne das Geringste vom Bankgeschäft zu verstehen. Ich habe auch hochrangige Banker getroffen, die solche Stimmen ernst nehmen, weil sie nicht die Fachkompetenz besitzen, um die Behauptungen von Technologiefans sachgerecht einzuschätzen.

Die Blockchain-Technologie versprach ursprünglich einmal, eine dezentrale Alternative zu den immer größer werdenden Finanz- und Technologie-Oligopolen, die ich am Anfang dieser Einleitung erwähnte, bereitzustellen. Es waren Befürchtungen bezüglich des Ausmaßes an Überwachung, das eine bargeldlose Gesellschaft womöglich zur Folge hätte, und die Sorge vor der massiven Zentralisierung staatlicher und unternehmerischer Macht im digitalen Zeitalter, die den Anstoß zur Entwicklung der Blockchain gaben. Allerdings ist die Blockchain-Technologie selbst von Widersprüchen durchdrungen, die ihr eine Art Janusköpfigkeit verleihen. So schrecken zum Beispiel Finanzinstitute und Megakonzerne keineswegs vor ihr zurück, vielmehr scheinen sie immer stärker daran interessiert zu sein, sie in ihre Geschäftsabläufe zu integrieren. Dieselbe Technologie, die Netzwerke gewöhnlicher Menschen koordinieren kann, lässt sich auch für die Koordinierung von Oligopolen einsetzen.

Im Jahr 2021 erreichte der Blockchain-Hype einen neuen Höhepunkt, als das globale kapitalistische System sich ganze Teile davon einzuverleiben begann. Technologie-Titanen wie Elon Musk begannen, für Krypto-Token zu werben, Wagniskapitalgeber legten Fonds auf, um in Krypto-Start-ups zu investieren, und globale Zahlungsdienstleister wie Visa traten in neue Geschäftsfelder ein, um Krypto- in normale Zahlungssysteme zu integrieren. Die Blockchain mag ursprünglich als Gegenpol zu Big Finance und Big Tech gedacht gewesen sein, in der Realität aber zeichnet sich heute eine Synthese ab, die dystopische Trends ebenso gut verstärken wie bekämpfen könnte.

Wohin führt uns das?

Gibt es in der Richtung, in die wir gelenkt werden, keinen Silberstreif am Horizont? Vielleicht, aber bevor ich darauf zu sprechen komme, müssen wir einen Rundgang durch unser Geldsystem machen, um besser zu verstehen, wie es sich verändert, und um die Erosion des Bargeldsystems zu beschreiben. Anschließend werde ich mich in die Dynamik der Finanztechnologie-Branche vertiefen, analysieren, wie sie versucht, das bestehende Finanzsystem »mit einer neuen Haut« zu überziehen, und wie sich dies mit den Interessen des Silicon Valley überschneidet. Danach werde ich Sie durch die oftmals verwirrende Welt der Kryptowährungen und der Blockchain-Technologie führen, die sich selbst als Alternative anpreisen. Ich werde die Zonen der Hybridisierung aufzeigen, die entstehen, wenn Banken in die Kryptowelt einfallen und umgekehrt. Die Darstellung wird uns bis in die Gegenwart führen, wo diese Kräfte nun kurz davorstehen, uns einzuschließen, wenn wir nicht die Stärke aufbringen, sie in eine neue Richtung zu lenken.

Ich werde im weiteren Verlauf viele Institutionen kritisieren, von Staaten und Konzernen bis hin zu Start-ups und ideologischen Gemeinschaften. Ich möchte betonen, dass ich damit keine Kritik an den Menschen innerhalb dieser Systeme üben will. Wir alle müssen in dieser Welt überleben, und für die meisten bedeutet dies, dass sie innerhalb der bestehenden Strukturen arbeiten müssen. Diese Strukturen besitzen oft eine Logik, die stärker ist als die guten Absichten derjenigen, die in ihnen arbeiten oder auch das Sagen haben. Bevor wir hoffen können, unsere Systeme auf kreative Weise neu zu konzipieren, müssen wir sie kritisch von innen betrachten. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, dies zu tun. Die Pandemie hat uns noch abhängiger gemacht von transnationalen digitalen Infrastrukturen, und viele von uns, die zu Hause hinter Bildschirmen festsaßen, haben nicht nur die Leere gespürt, die in diesem eingegrenzten »Raum« herrscht, sondern auch die verborgene Macht, die sich dort entfaltet.

*  Wertzeichen; Abbildung oder Verkörperlichung eines Werts; Objekte, die einen Wert bzw. monetären Wert repräsentieren. A. d. Ü.

EINS

DAS NERVENSYSTEM

Ich blicke aus einem Fenster im 39. Stock des zweithöchsten Wolkenkratzers in Großbritannien. Sie nennen diesen Ort Level39. Es ist ein Gründerzentrum für junge Finanztechnologie-Unternehmen in Canary Wharf, dem Londoner Distrikt mit einer der weltweit größten Konzentrationen von Mega-Finanzkonzernen. Level39 wurde von der Canary Wharf Group gegründet, der Eigentümerin des gesamten Bezirks, um diese Fintechs wie in einer Petrischale zu züchten. Über einhundert sind hier ansässig; die meisten befassen sich mit irgendeinem Aspekt der Automatisierung von Finanzprozessen, von Zahlungs-Apps und Versicherungsbots bis zu KI-basiertem Kreditscoring und »Robo-Advisers«.

Die Räume, in denen sich die jungen Unternehmen tummeln, werden »Inkubatoren« oder »Akzeleratoren« genannt, aber ein treffenderes Bild wäre vielleicht ein luxuriöses Fitnessstudio, in dem ein Unternehmen eine intensive Trainingseinheit absolviert, mit Steroiden (Wagniskapital) vollgepumpt wird und sich zum Schluss für einen gesunden Teint eine Stunde in eine Sonnenbank legt. Ich werde oft in diese Welt der Tech-Start-ups eingeladen. Im Augenblick nehme ich in Level39 an einem Workshop über »die Zukunft des Geldes« teil.

Aber ich blicke nicht zum ersten Mal aus Wolkenkratzerfenstern in Canary Wharf. Das erste Mal war vor über zehn Jahren, im Juli 2008, als ich für ein Vorstellungsgespräch die Büros einer Investmentbank namens Lehman Brothers im 35. Stock aufsuchte. Ich wurde zu einem zweiten Vorstellungsgespräch eingeladen, aber bevor ich zu einem dritten gehen konnte, musste die Megabank Insolvenz anmelden, was eine weltweite Finanzkrise auslöste.

Während sich die Krise zuspitzte, bekam ich eine Anstellung als Derivatehändler, eine Position, in der ich viele dieser Wolkenkratzerbüros besuchte. Während dieser Zeit lernte ich: Je höher das Gebäude ist, in dem man arbeitet, umso weniger bodenständig muss man sein. So nutzt niemand ein Büro im 35. Stock, um aus mit Mühlsteinen gemahlenem Mehl von Hand Brot herzustellen. Aber man nutzt es, um Megawetten auf den globalen Weizenpreis einzugehen, mit denen das Risiko von Schwankungen des Weizenpreises auf internationalen Märkten begrenzt oder Spekulation betrieben wird.

© Brett Scott

London ist nicht der einzige Ort, an dem sich diese Wolkenkratzer hoch in den Himmel recken. Sie ragen überall dort empor, wo sich die Herren des Finanzkapitals versammeln, sei es in Singapur, New York, Schanghai, Tokio oder Frankfurt am Main. Einer der ikonischsten Wolkenkratzer in Frankfurt ist der Commerzbank Tower, und ich erinnere mich, dass ich einmal spätabends ein Foto davon schoss, während mich ein Wachmann von innen heraus beobachtete. Das riesige Gebäude erinnerte mich an die Festung des Zauberers Saruman aus Der Herr der Ringe, ein hoch aufragender Turm mit einer Zitadelle an der Spitze, die von starken Scheinwerfern in ein gespenstisches Gelb gehüllt wurde. Jedes Element dieser Gebäude – von den Sicherheitstoren bis zu den Spiegelglasscheiben, die in der Sonne funkeln – soll eine Aura undurchdringlicher Macht ausstrahlen. In der Architektur spiegelt sich unser Verhältnis zur Hochfinanz wider; die meisten Menschen stehen am Fuß dieser Monolithen, auf der Außenseite, und blicken nach oben.

© picture alliance/dpa | Boris Roessler

Aber im Innern birgt der Commerzbank Tower ein Geheimnis: eine Herrentoilette, in der eine Reihe von Keramikurinalen so angeordnet ist, dass man, wenn man davorsteht, einen Panoramablick auf die Stadt hat. Die »Insider« können also auf die Menschen unten hinabsehen, die ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen, während sie sich erleichtern.

Ist das ein passendes Bild für die Herablassung, mit der Banker auf die Welt unter sich blicken, während sie ihr im übertragenen Sinne auf den Kopf pinkeln? Nach meinen eigenen Erfahrungen in der Hochfinanz zu urteilen, ist die Sache komplizierter. Ungeachtet ihres prahlerischen Auftretens haben Banker nur selten einen maßgeblichen Einfluss auf die Institute, für die sie arbeiten, und sie sind oftmals Träger einer Logik, die sich ihrer Kontrolle entzieht. Eine Konzernzentrale in Form eines Wolkenkratzers hat etwas Unmenschliches. Die Anzüge, die Banker tragen, gleichen schützenden Uniformen, und die Toilette ist tatsächlich der einzige Ort in solch einem riesigen Gebäude, an dem sie eine Schwäche zeigen können, indem sie in der Kabine ihren Hintern entblößen und einen warmen menschlichen Körper enthüllen.

Letztlich sind wir alle lokal verwurzelte Gemeinschaftswesen, und noch die hochkarätigsten Banker würden den Willen verlieren, diese kalten Türme zu betreten, wenn sie keine Freunde, keine Familie, keine Schoßtiere oder keine andere Gemeinschaft hätten, zu denen sie jeden Abend zurückkehren könnten. Niemand will im Commerzbank Tower mit jemandem im Bett kuscheln, und das rege Treiben, das man vom 50. Stock aus sehen kann, wirkt aus der Entfernung seltsam steril – geruchlos und stumm. Wolkenkratzer sind kein natürlicher Lebensraum für warmblütige Menschen. Allerdings sind sie es für Konzerne, wenn wir uns diese als autarke Lebewesen vorstellen. Konzerne fühlen sich in Stahltürmen überaus wohl; die Menschen, die man vom 50. Stock aus sehen kann, sind für sie lediglich Datenpunkte, die sie mithilfe von Tabellenkalkulationsprogrammen verarbeiten.

Insgesamt betrachtet gleicht die globale Gemeinschaft der Finanzkonzerne einem dichten Nervenzentrum für ein mehrschichtiges Imperium des Geldes – und von Finanzinstrumenten –, das über Faseroptikkabel auf dem Meeresboden kommuniziert und über Offshore-Zentren an andere, weit entfernte Cluster von Konzernen gesendet wird. Level39 ist in den oberen Etagen eines dieser Türme untergebracht, und auch wenn sie es vielleicht nicht wissen, wurden die Fintech-Mitarbeiter in ihrem Innern eingestellt, um dieses Nervenzentrum zu automatisieren.

Geld als ein Nervensystem

Ich verwende den Ausdruck »Nervenzentrum« mit Bedacht. Ökonomen gebrauchen oft Blutmetaphern, wenn sie über Geld sprechen. Sie beschreiben es als eine wertvolle Substanz, die durch die Wirtschaft »fließt«. Finanziers mögen diese Metapher, weil sie ihre Branche als das »schlagende Herz« der Weltwirtschaft darstellt. Aber diese Kreislaufmetapher verhindert, dass wir die wahre Natur der Finanzmärkte erkennen.

In einem menschlichen Körper ist das Nervensystem ein Netz von Neuronen, die in alle Gewebe und Muskeln eingebettet sind und über die Impulse weitergeleitet werden, um diese Muskeln zu aktivieren. Sie konzentrieren sich an gewissen Stellen wie etwa unserem Rückenmark und unserem Gehirn (in dem sich die Nervenzellen am dichtesten bündeln). In ähnlicher Weise sind auch unsere globalen Währungssysteme miteinander verflochtene – wenn auch weitgehend unsichtbare – Netzwerke, die sich bis in die entlegensten Regionen des Planeten ausgebreitet haben, und so wie Neuronen in unser Gewebe eingebettet sind, so sind sie ebenfalls in uns eingebettet. Aber auch wenn es noch die verstaubteste Kleinstadt erreicht, konzentriert sich dieses Geldsystem in der Welt der Hochfinanz, die sich ihrerseits in diesen hohen Türmen verdichtet.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass es viele Menschen verwirrt, wenn sie im Fernsehen Experten zuhören, die über die dort stattfindenden Aktivitäten sprechen. Sie hören Aussagen wie »Weltweit werden am Devisenmarkt täglich Währungen im Wert von mehreren Billionen Dollar gehandelt« oder »Das Volumen des weltweiten Derivatemarktes beläuft sich auf das Zehnfache der Weltwirtschaftsleistung« und so weiter. Diese Beschreibungen wecken Bilder von einer fremden Welt gigantisch großer Zahlen. Die Hochfinanz scheint in unserem Leben allgegenwärtig und zugleich immer davon getrennt zu sein, aber die komplexen Finanznetzwerke lassen sich letzten Endes immer auf unsere Körper und auf die Erde zurückführen.