Co-Abhängigkeit (Leben Lernen, Bd. 238) - Jens Flassbeck - E-Book

Co-Abhängigkeit (Leben Lernen, Bd. 238) E-Book

Jens Flassbeck

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Beschreibung

Suchtkranke sind fast immer umgeben von mehreren nahestehenden Menschen, die ihnen helfen und sie aus der Sucht befreien wollen und sich darüber co-abhängig verstricken. Angst, Scham, Verdruss, immer wieder zerstörte Hoffnung, Ohnmacht und Verzweiflung sind das täglich Brot der Angehörigen, Helfer und Freunde. Ihre Leiden und ihre Not werden bisher weder von Therapeuten noch von der Gesellschaft gesehen. Das Buch - beschreibt die typischen Abläufe einer co-abhängigen Verstrickung; - benennt die Symptome und spezifischen Erkrankungen im Umfeld eines Süchtigen; - entwickelt Leitlinien für eine dringend gebotene psychotherapeutische Behandlung; - klärt über die individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge auf. Auch für Betroffene lesbar. ZIELGRUPPE: - Suchttherapeuten - Psychotherapeuten - Psychologische Berater - Ärzte - Sozialarbeiter - Pfleger - Laienhelfer im Suchtbereich - Betroffene

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Seitenzahl: 386

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Jens Flassbeck

Co-Abhängigkeit

Diagnose, Ursachen und Therapie für Angehörige von Suchtkranken

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.deKlett-Cotta© 2010 by J. G. Cotta’ sche BuchhandlungNachfolger GmbH, gegr. 1659, StuttgartAlle Rechte vorbehaltenCover: Hemm & Mader, StuttgartTitelbild: Horst Antes: »Dreiäugige Figur mit schwarzer Weste«© VG Bild-Kunst, Bonn 2011© Foto: Reni Hansen, Kunstmuseum Bonn

Datenkonvertierung:

Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89106-5E-Book: ISBN 978-3-608-10208-6

Vorweg

Einleitung Von Frosch, Prinzessin, Hoffnung und Küssen

Von gesellschaftlicher Routine und verkappter Menschlichkeit

Abhängigkeit ist ein soziales System

Vom stillen Funktionieren und vergessenen Leiden

Was Sie erwartet

Zum Gebrauch von Sprache

Zu den Inhalten

I. Was ist Co-Abhängigkeit?

1.1 Eine Ordnung: Drei Formen und drei Systemebenen

1.2 Co-Abhängigkeit als co-abhängiges Risiko und persönliche Verstrickung

Das stille Leiden

Helfen ist menschlich, aber »Perlen vor die Säue«

Von Langmut und anderem persönlichen Zierrat

Vom Wegschauen der anderen

Von Sprachlosigkeit und überwältigenden Gefühlen

Zum familiären Zusammenhalt

Eine Definition der co-abhängigen Verstrickung

1.3 Co-Abhängigkeit als therapeutische Verstrickung

1.4 Co-Abhängigkeit als Co-Abhängigkeitssyndrom

Abhängigkeitsspezifische Symptome

Schamkomplex und andere sozioemotionale Störungen

Zusätzliche wichtige und typische Auffälligkeiten

Symptomatischer Abgleich Co-Abhängigkeit versus Sucht

Operationalisierung der Diagnose

1.5 Co-Abhängigkeit in Abgrenzung zu anderen Formen zwischenmenschlicher Abhängigkeit

1.6 Co-Abhängigkeit in Wechselwirkung mit anderen psychischen Störungen

1.7 Co-Abhängigkeit bei Kindern

2. Institutionelle Co-Abhängigkeit

2.1 Institutionelle Diagnose

Abhängigkeitsspezifische Auffälligkeiten

Einseitige Solidarität und Überbetonung des Sozialen

Weitere personelle und organisatorische Störungen

2.2 In Kombination mit macht- und ökonomisch begründeter Abhängigkeit

Zu den Machtaspekten

Zu den ökonomischen Aspekten

3. Daten und Fakten

3.1 Prävalenz

Einige kritische Anmerkungen und Fragen

Eine eigene nicht repräsentative Schätzung

3.2 Ambulante Behandlungsquote

3.3 Zur Geschlechterasymmetrie

3.4 Zum co-abhängigen Risiko von Kindern aus Suchtfamilien

3.5 Weitere Befunde zu Kindern aus Suchtfamilien

3.6 Eine kleine Auszählung an Veröffentlichungen

4. Störungsbedingungen und Ressourcen

4.1 Der Schliff zur Prinzessin

Von der Last, Prinzessin zu sein

Mögen hätte ich schon gewollt, aber dürfen habe ich mich nicht getraut

4.2 Die Prinzessin küsst sich zur Fröschin

Vom übermäßigen Bedürfnis, gebraucht zu werden

4.3 Die Beliebigkeit der (co-)abhängigen Rollenverteilung

4.4 Eine nicht alltägliche, irrationale und komplexe Belastung

Spezifischer co-abhängiger Stress

Unspezifischer Stress

4.5 Vom kindlichen Trauma einer Suchtfamilie

Traumatisierende Bedingungen und ihre traumatischen Folgen

4.6 Von Freiheit, Selbsterhaltung und Ressourcen

5. Institutionelle und gesellschaftliche Aspekte

5.1 Die systemimmanente Fehldynamik

5.2 Das co-abhängige Dilemma von Konsequenz und Menschlichkeit

5.3 Zum Mangel an offenem und kritischem Dialog

5.4 Von positiven, doch inhaltsleeren Images

5.5 Sucht zieht nicht nur Süchtige magisch an

5.6 Aspekte der Arbeitszufriedenheit

5.7 Abhängigkeit durch formale und informelle Macht

5.8 Ökonomische Zwänge

5.9 Zur Suchtgesellschaft

6. Wo finden Angehörige Beratung und Therapie?

6. 1 Aufklärung und Prävention

6. 2 Beratung und Therapie

6. 3 Ineffektive und ineffiziente Suchthilfe

7. Leitthemen und Leitlinien der Behandlung

7.1 Ein personzentriertes Behandlungsangebot

Psychotherapeutische Stoßrichtung

Der Frosch muss an die Wand, viele Male! – zur Prozessorientierung

7.2 Reden hilft

7.3 ICH statt ER – Anstoßen der Selbstaktualisierung

Wie geht es Ihnen?

Der kleine Anfang, wieder etwas für sich zu tun

Die berühmte Frage nach dem Warum

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Aufhören zu lächeln

Trennen oder Trennung

Heilsame Verstörung des Mythos vom moralisch besseren Menschen

Ehrgeiz entwickeln und die Therapie gut beenden

Therapie klären oder zur Not vorzeitig beenden

7.4 DU statt ER – Anstoßen der Beziehungsfähigkeit

Nein sagen

Scham überwinden

Hilfebedürftigkeit eingestehen und annehmen

Auseinandersetzen und Auseinandersetzung

Den Frosch an die Wand werfen – gesunde Aggressivität

Angst vor Rückfällen

Feste Kost für den großen Hunger nach Gebrauchtwerden

7.5 Vermittlung von Wissen und Kompetenzen

Sucht und der Umgang damit

Sich und andere schützen

Co-Abhängigkeit als Thema

Die Ex-Coabhängige als Multiplikator

7.6 Psychotherapie für Kinder in Suchtfamilien

7.7 Zur Traumabewältigung einer Suchtfamilie

Die Wiedererinnerung, so nebenbei (Schritt 1)

Zusammenhänge zwischen Trauma damals und Leben heute (Schritt 2)

Stabilisieren, stärken und selbst behaupten (Schritt 3)

Das übersehene Kind bergen und Ressourcen aktivieren (Schritt 4)

8. Institutionelle Strategien und Maßnahmen

8.1 Allgemeine institutionelle Strategien

Mit Bedacht reden

Coaching

Klarheit, Verbindlichkeit und Kontrolle

Demokratisches, wertschätzendes und kritisches Arbeitsklima

8.2 Institutionelle Maßnahmen in der Suchthilfe

Angehörigenangebote

Schritte zu einer angehörigenzentrierten Haltung

Konzentration auf den Einzelfall und kleine, unabhängige Einrichtungen

Kommunikation und Kooperation – Zauberwort Vernetzung

Personelle Durchlässigkeit

Wirtschaftliche Unabhängigkeit

Resümee

Literatur

Informationen zum Autor

Vorweg

Sie sind als Sozialarbeiter, Arzt, Pfleger, Therapeut, Psychologe, Seelsorger oder Laienhelfer im Suchtbereich tätig? Sie beschäftigen sich als Wissenschaftler mit dem Thema Sucht? Oder Sie kümmern sich außerhalb der Suchthilfe um Angehörige und Kinder von Suchtkranken, vielleicht als niedergelassener Arzt oder Psychotherapeut, als Bewährungshelfer oder als Pädagoge in der Jugend- und Familienhilfe? An Sie richtet sich das vorliegende Buch vordringlich. Die heutige Suchthilfe, -prävention und -forschung ist eingenommen von dem Süchtigen und seinen Suchtmitteln. Dieses Buch ist dagegen ausschließlich den Angehörigen und ihrem Leiden gewidmet. Ich möchte Sie einladen, eine neue und ganzheitlichere Perspektive von (Co-)Abhängigkeit zu gewinnen. Auch werden sich Ihre Selbstsicht und Ihr Selbstverständnis als Suchthelfer verändern. Ihr persönliches co-abhängiges Risiko als professioneller Helfer wird aufgedeckt und hinterfragt. Obendrein wird Ihre Sicht geschärft, inwieweit Ihre Arbeitsstelle und Einrichtung in den Strukturen und Arbeitsabläufen co-abhängig verstrickt ist und wie Sie diesen institutionellen Verstrickungen durch geeignete Maßnahmen begegnen können.

Sie sind neugierig und wollen sich über Sucht und Abhängigkeit informieren, vielleicht weil Sie gerade als Lehrer eine Unterrichtsreihe zum Thema Sucht vorbereiten, weil Sie als Pastor einen Suchtfall in Ihrer Gemeinde haben, weil Sie als Politiker oder Funktionär Einfluss nehmen wollen und an Entscheidungen beteiligt sind oder vielleicht weil Sie einen Freund, Kollegen oder Nachbarn haben, der Ihnen wegen Suchtproblemen aufgefallen ist? Lesen Sie weiter, Sie werden fündig werden. Dieses Buch bietet Ihnen Informationen und eine Perspektive von Sucht, die Sie nur schwer woanders finden werden. Das Thema Co-Abhängigkeit ist erstaunlicherweise selbst unter Suchtfachleuten recht unbekannt.

Sie waren selber süchtig? Auch Ihnen möchte ich die Lektüre dieses Buches empfehlen. Den ersten Schritt aus der Sucht heraus, Ihren Konsum oder Ihr Suchtverhalten einzustellen, haben Sie vermutlich schon geschafft, sonst hätten Sie dieses Buch nicht in die Hand genommen. Aber haben Sie den zweitwichtigsten Schritt schon unternommen, nämlich nicht mehr ausschließlich um das eigene Selbst zu kreisen? Teil einer Suchtstörung ist es, dass man nur sich selber sieht, andere Menschen manipuliert und für die eigenen süchtigen Interessen einspannt. Lesen Sie bitte weiter. Die Lektüre wird Ihre soziale Wahrnehmung schärfen und Ihr Mitgefühl für die Menschen um Sie herum vertiefen. Ein wohlgemeinter Ratschlag: Sparen Sie sich jegliches schlechtes Gewissen! Schuldgefühle sind nur der Höhepunkt der süchtigen Selbstbezogenheit. – Sie haben Ihre Schuld schon durchgearbeitet? Noch besser! Dann sind Sie offen für die Angehörigenthematik.

Sie haben als Kind, Partner, Eltern, Kollege oder Freund unter der Suchterkrankung eines Ihnen nahestehenden Menschen gelitten oder leiden noch? Angst, Scham, immer wieder zerstörte Hoffnung und Enttäuschung, Ohnmacht, Verdruss, Verzweiflung und Verbitterung – man kann Ihrem Leiden viele Namen geben. Sie wollen dem Suchtkranken gerne helfen, machen sich viele Gedanken, wie Sie dem geliebten Menschen aus der Sucht helfen können, oder Sie haben sich bereits vielfältig gekümmert und alles Menschenmögliche unternommen. Sie wissen irgendwie nicht mehr weiter und sind verzweifelt. Trifft das weitgehend auf Sie zu, dann ist das vorliegende Buch Ihnen gewidmet. Dieses Buch kümmert sich solidarisch und ausschließlich um Ihre Belange als Angehörige eines suchtkranken Menschen.

Einleitung

Von Frosch, Prinzessin, Hoffnung und Küssen

Sie kennen das Märchen vom Froschkönig, und vielleicht haben Sie schon davon gehört, dass dieser Text gerne als Illustration für Sucht genutzt wird? Der nasse, dicke und hässliche Frosch symbolisiert den Süchtigen. Er verlangt für eine Kleinigkeit, nämlich die Goldkugel aus dem Brunnen zu holen, alles von der Prinzessin: am Tischlein sitzen, vom goldenen Tellerlein essen, aus dem Becherlein trinken und zu guter Letzt mit ins Bett wollen. Dies entspricht den Lebensmustern von Süchtigen, die Verantwortung für die eigene Person und das eigene Leben nicht anzunehmen. Süchtige sind ständig und ausschließlich mit ihren Suchtbedürfnissen und -interessen beschäftigt. Die sonstigen Lebensangelegenheiten vernachlässigen sie, bzw. gewöhnlich gibt es Menschen in ihrem Leben, die sich stellvertretend darum sorgen und kümmern.

In dem Märchen sind diese anderen Menschen vor allem durch die Rollen der Prinzessin, aber auch ihres Vaters, des Königs, vertreten. Der Königsvater ist streng mit der Prinzessin und verlangt von ihr, dass sie halten muss, was sie verspricht, gleichgültig, wie absurd das Versprechen ist. Folgsam lässt sie den Frosch bei sich sitzen, von ihrem Tellerlein essen, aus ihrem Becherlein trinken und nimmt ihn mit auf ihr Zimmer. Erst als der Frosch das Letzte verlangt, nämlich mit ins Bett zu dürfen, widersetzt sie sich mutig und zornig dem väterlichen Gebot, überwindet ihren ganzen Ekel und Widerwillen, packt den süchtigen Frosch und wirft ihn mit ihrer ganzen Wut und Verzweiflung an die Wand. Die Prinzessin befreit sich dadurch von den süchtigen Ansprüchen des Frosches und von der Bevormundung durch den Königvater. Durch die mutige Tat entkommt sie der Enge und dem Gefängnis des Lebens am königlichen Hof und beginnt ein neues, aufregendes und eigenes Leben.

Kennen Sie auch die co-abhängige Version des Märchens? Die Geschichte ist schnell und unprätentiös erzählt.

Die co-abhängige Version vom Froschkönig

Eine Prinzessin trifft auf einen Frosch, und da sie das Märchen vom Froschkönig kennt, denkt sie sich, dass der Frosch ein verwunschener Prinz sein muss. Sie nimmt den Frosch und küsst ihn voller Hoffnung und Sehnsucht und wird selber zur Fröschin.

Diese Geschichte ist bitter, und man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Nichtsdestotrotz ereignet sie sich täglich millionenfach. Dieses Buch behandelt die Lebensrealität und das Leiden von Millionen Angehörigen. Um es in der Symbolsprache des Märchens auszudrücken, geht es um Menschen, die den Frosch immer wieder sehnsüchtig küssen, in der Annahme, dass er ein verwunschener Prinz sei, und die täglich in ihrer falschen Hoffnung betrogen und enttäuscht werden. Dieses Buch behandelt aber auch die gesunde Hoffnung auf Heilung bzw. die Chance der Selbstbefreiung, den Frosch an die Wand zu werfen, die Co-Abhängigkeit zu überwinden und das Abenteuer eines eigenen Lebens zu wagen

Von gesellschaftlicher Routine und verkappter Menschlichkeit

Das Suchtthema, so ist mein Eindruck, ist in den letzten zwei Jahrzehnten zur gesellschaftlichen Gewohnheit geworden. Gewiss nicht zu einer liebgewonnenen Gewohnheit, mehr zu einem »angeheirateten Familienmitglied« der Gesellschaft – die Schwester oder Tochter hat halt so einen dicken, hässlichen Frosch geheiratet –, dessen Teilnahme an Familienfeierlichkeiten man wohl oder übel erdulden und über sich ergehen lassen muss.

Niemand empört oder entrüstet sich über das Suchtthema mehr großartig. Die in der Öffentlichkeit gezeigte Aufregung ist nur Teil eines altbekannten Schauspiels, das bei seiner Erstaufführung vor vielen Jahren ein großer Skandal war, heute aber jeder in- und auswendig kennt und niemanden mehr vom Hocker reißt. Niemand regt sich auf, wenn Personen des öffentlichen Lebens durch Suchteskapaden auffallen. Die Medien schlachten es quotenträchtig aus, und der »Marktwert« der Person wird in den meisten Fällen noch gesteigert.

Auch über allabendliche, öffentliche Saufgelage in Innenstädten und Parkanlagen regt sich niemand mehr großartig auf. Sie gehören zur gesellschaftlichen Normalität dazu. An die Drogenplatte in den Innenstädten hat man sich auch irgendwie längst gewöhnt, wie der Gartenbesitzer akzeptiert hat, dass Unkraut nicht vergeht. Also wird dem Kraut sein Platz gewährt. Den jährlichen Drogenbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung nimmt man fachkundig zur Kenntnis bzw. lässt ihn als sozial gewissenhaftes Mitglied der Gesellschaft über sich ergehen, wie auch das ungeliebte Familienmitglied auf Familienfeiern geduldet wird. Und regelmäßig registriert man routiniert die neuesten Schreckensmeldungen irgendwelcher Suchtverbände oder Forschungsstätten:

Die allerneueste Sensation über Sucht im 36. Aufguss

Das Einstiegsalter für Droge X ist wieder gesunken; männliche Migranten der dritten Generation ohne Schulabschluss sind besonders durch Droge Y gefährdet; das Einstiegsalter der Droge Z bei Hartz-IV-empfangenden, milieugeschädigten Jugendlichen sinkt weiter; starke Zunahme des Suchtverhaltens XYZ bei jungen Frauen; das Geheimnis der Sucht ist gelöst: die Uni A hat das Suchtgen entdeckt; das Geheimnis der Sucht wurde gelüftet: das Institut B fand heraus, dass Sucht hormonell bedingt ist; der Suchtverband C warnt davor, dass die Wirtschaftskrise und die damit verbundene individuelle Perspektivlosigkeit die Voraussetzungen für eine Verschärfung der Suchtprobleme schafft …

Allein das Magersuchtthema junger Models hat in den letzten Jahren für ein wenig Wirbel und Schlagzeilen gesorgt. Doch wohl kaum wegen der Suchtthematik und der tragischen Folgen im Einzelfall. Im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit standen vielmehr die Bilder mehr oder weniger unbekleideter junger Frauen. Das Sexappeal einer Frau wird durch ein wenig (magersuchtbedingte) Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit immens gesteigert. Alte Blondinenmasche! Profitiert haben von der öffentlichen Debatte und Aufmerksamkeit die Werbebranche und die durch die Models beworbenen Produkte, nicht aber die seriöse Suchthilfe, die sich um magersüchtige Frauen kümmert.

Das war früher anders. In den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts war die wachsende Drogensucht ein großes kontroverses Thema. Es wurde gesellschaftlich, politisch und fachlich heftig gestritten. Und Anfang der 90er wurde die Kontroverse nochmals bezüglich des um sich greifenden Ecstasy- und Partydrogengebrauchs neu entfacht. Die Kontroverse war geprägt durch die Ambivalenz zwischen dem Bedarf nach Hilfe, Beratung und Behandlung von kranken Menschen auf der einen Seite sowie der Notwendigkeit auf der anderen Seite, Sucht- und Drogenkonsum mit gesetzgeberischen, ordnungspolitischen und polizeilichen Mitteln einzuschränken. Entsprechend der gesellschaftlichen Ambivalenz entwickelten sich Hilfestrukturen, die gleichermaßen soziale Hilfeleistungen anboten, aber auch den Betroffenen Eigeninitiative und Vorleistungen abverlangten.

Das Suchtthema benötigt, davon bin ich überzeugt, Auseinandersetzungen im Sinne von öffentlichkeitswirksamer Provokation und gesellschaftlichen Streits. Der gesellschaftliche und individuelle Nährboden von Sucht ist Gewöhnung, Resignation und ein Zuviel an Menschlichkeit und Hilfe, das die süchtige Verantwortungsvermeidung und -delegation fördert. Unsere heutige suchtroutinierte, aber ratlose Gesellschaft ohne Streit und Hader hat vor dem Suchtproblem kapituliert und agiert co-abhängig. Es wird dem Süchtigen gesellschaftlich geboten, was dieser in seiner Sucht wünscht, nämlich in Ruhe konsumieren bzw. dem Suchverhalten nachgehen zu können.

Um auf das Märchen vom Froschkönig zurückzukommen, gilt es heute als unmenschlich bzw. ist es ein Tabu, den Frosch an die Wand zu werfen. Den Frosch immerzu sanft zu küssen, gilt als menschlich und sozial. An die Stelle des absurden Gebots des Königvaters im Märchen »Was du versprochen hast, musst du auch halten!« ist die allgemein akzeptierte, humane Moral bzw. das gesellschaftliche Tabu getreten: »Nicht zu helfen ist unmenschlich!« Die co-abhängigen Folgen des Tabus sind, dass der Frosch nicht nur am Tischlein sitzen, vom Tellerlein essen und aus dem Becherlein trinken darf, was an sich in Ordnung ist, sondern dass – im übertragenen Sinn – dem Frosch die feuchte Nachtruhe bzw. der Beischlaf mit der Prinzessin gewährt und die Prinzessin der maßlosen Begierde des Frosches geopfert wird.

Abhängigkeit ist ein soziales System

Der Begriff Abhängigkeit beschreibt und bewertet ein System von Menschen und ihren Beziehungen. Im Fokus des Abhängigkeitssystems steht der Süchtige, passend auch als Symptomträger bezeichnet. Um den Symptomträger gruppiert sich stets eine Anzahl von Menschen, die unter der Sucht leiden und die dem Süchtigen helfen wollen. Das sind Eltern, Partner, Kinder, Kollegen, Freunde, auch Therapeuten, Sozialarbeiter, Ärzte, Pastoren etc. Im Märchen vom Froschkönig sind, wie gesagt, die Angehörigen durch die Rolle der Prinzessin, aber auch durch die Figur des Königvaters repräsentiert.

Aus dieser systemischen Sicht kennzeichnet die Diagnose Sucht immer ein abhängig verstricktes Beziehungsgefüge. Ich ziehe den Begriff der Abhängigkeit vor, da er klarer diese soziale Beschaffenheit benennt. Abhängigkeit besteht nicht nur zwischen dem Süchtigen und seinem Suchtmittel oder Suchtverhalten, sondern auch zwischen dem Süchtigen und seinem sozialen Umfeld. Diese systemische Sicht ist nicht neu, vielmehr stellt sie heutzutage einen Allgemeinplatz in der Suchthilfe und -forschung dar, und niemand wird diese Erkenntnis ernsthaft infrage stellen wollen.

Doch ich möchte behaupten, dass die soziale Beschaffenheit von Sucht bis heute in der Suchtpolitik, -hilfe, -prävention und -forschung nicht bzw. nur absolut unzureichend berücksichtigt wird. Alle fokussieren und kümmern sich um die süchtigen Symptomträger, kaum einer beachtet, geschweige denn kümmert sich um die ebenfalls betroffenen Angehörigen. Sie werden allenfalls mitbehandelt, ansonsten aber übersehen, missachtet und vergessen. Ein prägnantes Beispiel für die Marginalisierung und Missachtung der Angehörigenthematik bietet die Homepage der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS).

Von der Suche im Heuhaufen

Auf der umfangreichen Homepage der DHS (www.dhs.de, Nov. 2009) findet man tatsächlich Hinweise auf die Problematik von Angehörigen bzw. Informationen über Co-Abhängigkeit. Das ist zunächst einmal positiv zu würdigen. Doch muss man lange und ausdauernd suchen, bis man fündig wird. Unter den vier wichtigen Rubriken Daten und Fakten, Suchtstoffe/-verhalten, Stellungnahmen und Einrichtungssuche habe ich nichts zum Angehörigenthema finden können, aber vielleicht habe ich nur zu oberflächlich geschaut.

In der Rubrik Infomaterial hatte ich drei erfreuliche Treffer. Drei sehr gut gemachte Broschüren, allerdings waren diese ganz unten an 33., 34. und 39. Stelle platziert. Nur weil ich ausdauernd und aufmerksam seitenlang nach unten gescrollt habe, bin ich auf die Broschüren gestoßen.

Im Jahr 2000 schon schrieb der damalige Geschäftsführer der DHS Hüllinghorst in einem Zeitschriftenartikel zum Thema Angehörigenarbeit (S. 42): »Was aber das Wichtigste ist: Wir müssen uns insgesamt lösen von der Fixierung auf den oder die Missbraucher/in, die oder den Abhängige/n. … Auf der anderen Seite müssen wir immer wieder dafür kämpfen, dass auch Angehörige die Hilfe bekommen, die erforderlich ist.« Aus ganzem Herzen stimme ich Hüllinghorst in seinem kämpferischen Anspruch zu, aber die Internetrepräsentanz der DHS erfüllt dieses Ziel auch neun Jahre später nicht.

Falls die Angehörigen doch Beachtung erfahren, werden sie heute üblicherweise nur als Anhängsel der Suchtkranken berücksichtigt und mitbehandelt, wie die folgenden Beispiele aufzeigen.

Wie Angehörige als Mittel zum Zweck funktionalisiert werden

Das folgende Zitat habe ich exemplarisch von der Homepage einer Suchtberatungsstelle entnommen: »Co-Abhängigkeit – Definition: Die lateinische Silbe ›Co‹ bedeutet ein Miteinander bzw. Nebeneinander. Co-Abhängigkeit bezeichnet ein Bündel aus typischen Persönlichkeitsmerkmalen, Verhaltensweisen, Einstellungen und Gefühlen, welches im Zusammenleben mit einer suchtmittelabhängigen Person deren Krankheit unterstützt. Anders ausgedrückt: Co-abhängig sind Verhaltensweisen von Bezugspersonen des Suchtmittelabhängigen, die geeignet sind, seine süchtige Fehlhaltung zu unterstützen und eine rechtzeitige Behandlung zu verhindern.«

Aßfalg (2009) drückt es schon im Titel seines Buches »Die heimliche Unterstützung der Sucht« unmissverständlich aus: Angehörige sind mitschuldig, Sucht zu fördern und aufrechtzuerhalten. In der Einleitung reflektiert der Autor, dass diese anklagende Haltung beabsichtigt ist: »Der Titel drückt einen Vorwurf aus: … Das klingt nach verstohlener Komplizenschaft, verdeckt hinter der Fassade scheinbar fürsorglichen Helfenwollens.« (S. 9)

Das Community-Reinforcement-Ansatz-basierte Familien-Training, kurz CRAFT, stammt aus den USA (Meyer & Smith, 2009). Es soll ein neues, auf empirisch wissenschaftlichen Grundlagen entwickeltes verhaltenstherapeutisches Therapiemanual für Angehörige sein. Doch erklärtes Hauptziel des Programms ist die Verringerung des Suchtmittelverbrauchs und die Förderung der Therapiemotivation der Suchtkranken. Umfassend wird auf mehreren hundert Seiten erklärt, wie die Angehörigen zu Co-Therapeuten ausgebildet werden, um therapeutisch auf die Suchtkranken einzuwirken. Der Problematik der Angehörigen ist eine halbe Seite gewidmet (S. 264 – 265). Der Begriff der Co-Abhängigkeit wird durch die Autoren als Stigmatisierung und Pathologisierung der Angehörigen gänzlich abgelehnt1.

Lange Zeit habe ich als Suchttherapeut, der nur sein süchtiges Klientel im Sinn hatte, Co-Abhängigkeit ähnlich verstanden. Durchaus ist die Einschätzung, dass Angehörige die Sucht ungewollt unterstützen, oftmals richtig. Doch missbillige ich mittlerweile ausdrücklich die darin enthaltene Pauschalisierung und Verurteilung der Angehörigen. Ihnen sogar Komplizenschaft zu unterstellen, ist von Aßfalg (2009) als eine wohlwollende Provokation gemeint, die ich aber für misslungen halte. Ich habe niemals co-abhängige Angehörige kennengelernt, die die Sucht – bewusst oder unbewusst – beabsichtigt gefördert haben, außer die Angehörigen litten selber unter einem Suchtproblem.

Schließlich beschäftigen sich die Autoren viel zu sehr mit den Auswirkungen des Angehörigenverhaltens auf die süchtigen Symptomträger und deren Konsum. Eine solche auf den Suchtkranken zentrierte Sichtweise degradiert die Angehörigen zum sozialen Anhängsel der Süchtigen. Die Angehörigen werden als Mittel zum Zweck funktionalisiert, indem sie allein deswegen (mit-)behandelt werden, um den Therapieerfolg der süchtigen Klientel zu erhöhen. Ich nenne diese heute weit verbreitete Sichtweise suchtzentriert, um sie von meiner und von nur wenigen Autoren und Fachleuten eingenommenen angehörigenzentrierten Sichtweise abzugrenzen. Selbstverständlich ist es richtig, die Angehörigen in die Therapie der Süchtigen einzubeziehen, um die Wirksamkeit von Suchttherapien zu steigern. Doch sollte man erwarten, dass in der Behandlung der Angehörigen ihr Leiden und Hilfebedarf an erster Stelle stehen.

Auf dieser Kritik beruhen die zwei zentralen Thesen und Botschaften des vorliegenden Buches. Co-Abhängigkeit ist erstens eine eigenständige psychosoziale Problematik. Nicht selten entwickelt sich aus dem Zusammenleben mit einem Süchtigen eine ernsthafte psychische Störung, die ich Co-Abhängigkeitssyndrom nenne und die eine verhaltensbezogene Suchtform darstellt. Angehörige, die sich co-abhängig verstrickt haben oder aber co-abhängig erkrankt sind, haben dementsprechend einen eigenen Anspruch auf angemessene Beratung und Behandlung. Co-Abhängigkeit ist zweitens auch eine institutionelle und gesellschaftliche Problematik, insofern das Leiden, die Probleme und der Hilfebedarf der Angehörigen durch unsere Gesellschaft und konkret durch die Suchthilfe bagatellisiert und missachtet werden.

Vom stillen Funktionieren und vergessenen Leiden

Angehörige sind de facto die größte von Sucht und (Co-)Abhängigkeit betroffene Gruppe. Um jeden Süchtigen gruppieren sich gewöhnlich mehrere Angehörige und leiden unter dem Auf und Ab der Sucht. Schätzungen sprechen von fünf bis acht Millionen Betroffenen. Ich bin überzeugt, dass die Zahlen das wahre Ausmaß der Problematik deutlich unterschätzen. Genauere, zuverlässige und gültige empirische Daten existieren bedauerlicherweise nicht, wie es auch sonst zu dem Thema kaum Information, Austausch und Forschung gibt. Angehörige haben keine Lobby, ihr Leiden passiert im Stillen, und ihre Störung stört niemanden. Saufgelage auf der Straße, Lungenkrebs, Spritzenfunde auf dem Spielplatz, kotzende junge Mädchen oder fast zu Tode gehungerte, halbnackte Models haben mehr Appellcharakter als die erschöpfte Frau eines Süchtigen, die sich um ihn und die Kinder kümmert, den Haushalt schmeißt und nebenbei noch arbeitet und Geld verdient.

Die Angehörige leidet im Stillen, ohne es ausdrücken zu können. Sie verbirgt ihre Erschöpfung und Verzweiflung und fordert keine Hilfe ein. Stattdessen hält sie gegenüber Freunden, Familie und Nachbarn den Schein der glücklichen Familie und der heilen Welt aufrecht. Sie funktioniert, was ein essenzieller Teil ihrer Problematik ist. Das ist nun keineswegs anstößig, mitleiderregend, amüsant oder sogar sexy, sondern alltäglich, farblos, monoton und trist. Mit der Angehörigenthematik sind keine medialen Auflagen oder Quoten zu erzielen, und ohne die mediale Aufmerksamkeit kann sich heutzutage keine durchsetzungsfähige Lobby bilden.

Teil einer Abhängigkeitserkrankung ist es, dass die Betroffenen ihre Erkrankung zumeist bagatellisieren und verleugnen und infolgedessen nicht aktiv um Hilfe ersuchen. Deswegen sind in der Suchthilfe niedrigschwellige und aufsuchende Hilfemaßnahmen die Methoden der Wahl. Die Angehörigen verleugnen ebenso ihr Leiden, ihre familiäre Problematik und ihre Hilfebedürftigkeit. Das ist ein wesentliches Merkmal oder Symptom einer co-abhängigen Verstrickung. Auch die Angehörigen brauchen niedrigschwellige und aufsuchende Hilfeangebote.

Dabei ist die co-abhängige Problematik keineswegs neu. In den 80ern des letzten Jahrhunderts gab es eine Reihe von Veröffentlichungen zu dem Thema. Bücher wie »Co-Abhängigkeit, die Sucht hinter der Sucht« von Anne Wilson Schaef (1986) oder »Verstrickt in die Probleme anderer, über Entstehung und Auswirkung von Co-Abhängigkeit« von Pia Mellody (1989) beschrieben die co-abhängige Problematik und Störung genau und umfassend und erzielten in den USA Millionenauflagen. Die Thematik schwappte über den Großen Teich und wurde auch im deutschsprachigen Raum in Fachkreisen diskutiert. Manche Suchtberatungsstelle nahm den Begriff der Angehörigen als Anhängsel in ihren Einrichtungstitel auf (»Suchtberatung für Suchtkranke und ihre Angehörigen«), und es wurden wohlfeile Forderungen von Fachmenschen, Verbänden und Politik gestellt. Doch konkrete Folgen in Form der Einrichtung und Finanzierung von angemessenen Hilfestrukturen für die Betroffenen oder einer systematischen Erforschung der Angehörigenthematik hatten die Diskussionen nicht. Die Fokussierung der Suchthilfe auf die Süchtigen und die Missachtung der Angehörigen und ihres Leidens ist eine institutionelle Form der Co-Abhängigkeit. Eine Kollegin aus der Suchthilfe drückte es, begleitet von einem Schulterzucken, lakonisch so aus: »Kein Geld!«

Wenn ich mir dies vergegenwärtige, spüre ich Trauer und Wut, zwei lebensbejahende Gefühle, die Co-Abhängige typischerweise unterdrückt und abgespalten haben. Ich habe diesen zugegeben etwas provokativen und leidenschaftlichen Start ins Thema gewählt, um Sie ein Stück zu emotionalisieren, denn in der Behandlung der Co-Abhängigkeit geht es leider nicht um zärtliches Wachküssen. Vielmehr geht es um:

aufrütteln

wütend werden

zur Tat schreiten

sich überwinden

den Frosch in die Hand nehmen und an die Wand schmeißen

die Lebenslust wieder spüren

das eigene Leben wieder aufnehmen

schreien, weinen und laut lachen.

Was ist Co-Abhängigkeit? Darum genau wird es in diesem Buch gehen, doch möchte ich Ihnen vorweg eine vorläufige Definition geben. Co-Abhängigkeit ist ein vielschichtiges, individuelles und soziales Phänomen. Es ist die andere Seite der Medaille der Sucht. Co-Abhängigkeit ist durch das gefühlsmäßige, gedankliche und verhaltensmäßige Eingenommensein von der Sucht eines anderen, nahestehenden Menschen gekennzeichnet. Die betroffene Person ist von dem übermäßigem Wunsch, die Sucht des anderen zu kontrollieren und den Süchtigen zu retten, beherrscht. Co-Abhängigkeit ist außerdem verbunden mit starken Scham- und Schuldgefühlen, für die Sucht des anderen verantwortlich zu sein. Die Scham macht sprachlos. Aus Scham schweigt die betroffene Person oder bagatellisiert und verleugnet die Sucht des anderen. Der Schein der heilen Welt wird um jeden Preis gewahrt, die betroffene Person strampelt sich jeden Tag aufs Neue dafür ab.

Co-Abhängigkeit bedeutet, im Stillen zu leiden, ohne Hilfe und Beachtung einzufordern und darüber hinaus tagtäglich in der eigenen Not durch den Süchtigen und andere Personen, die sich nur um den Süchtigen kümmern, abgewertet und missachtet zu werden. Von Co-Abhängigkeit kann man persönlich betroffen sein, sie kann aber auch ganze Gruppen, Einrichtungen, Organisationen oder Institutionen infizieren. Auch die Gesamtgesellschaft unterliegt co-abhängigen Tendenzen und Strömungen. Von Co-Abhängigkeit betroffene Personen benötigen Hilfe in Form von Beratung und Psychotherapie. Von Co-Abhängigkeit betroffene Institutionen benötigen ebenfalls Unterstützung in Form von Coaching und Maßnahmen der Personal- und Organisationsentwicklung.

In diesem Buch werden folgende Absichten und Ziele verfolgt:

Das Schweigen, das Vergessen und die Missachtung werden durchbrochen, und es wird für das co-abhängige Leiden sensibilisiert.

Es erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Missachtung und Verleugnung des co-abhängigen Leidens und den Defiziten der Suchthilfe, -prävention, -forschung und -politik. Es werden konkrete und vielfältige Anstöße und Anregungen gegeben, wie das Thema und die Betroffenen angemessene Berücksichtigung finden können und sollten.

Co-Abhängigkeit als persönliche und institutionelle Problematik und Störung wird umfassend konzeptualisiert, und es werden eindeutige diagnostische Leitlinien entwickelt, um das Ausmaß bzw. den Störungsgrad der co-abhängigen Verstrickung einer Person sowie einer Institution konkret beurteilen zu können.

Es werden die vielschichtigen persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, Ursachen und Faktoren der co-abhängigen Problematik und Störung diskutiert und die Dynamik der Co-Abhängigkeit erläutert.

Möglichkeiten der Beratung und Behandlung von Angehörigen werden aufgezeigt und diskutiert, und es wird ein ausführlicher, personzentriert psychotherapeutischer Behandlungsansatz der Co-Abhängigkeit vorgestellt. Schließlich werden institutionelle Strategien und Maßnahmen, co-abhängigen Verstrickungen vorzubeugen und zu überwinden, skizziert.

Alle Inhalte werden durch zahlreiche und lebendige Praxis- und Fallbeispiele illustriert und verdeutlicht.

Was Sie erwartet

Sprache prägt Inhalte. Deswegen möchte ich Ihnen zunächst einige Gedanken zum Gebrauch von Sprache nahebringen, bevor Sie ein inhaltlicher Überblick über das Buch und seine Kapitel erwartet.

Zum Gebrauch von Sprache

Silben, Worte, Klang, Satzstellung und Semantik werden beim Lesen konsumiert. Sprache ist ein Genussmittel und kann berauschen. Einer ergötzt sich an der Lyrik von Shakespeare oder Schiller, ein anderer findet allmorgendlich Erfüllung in den fettgedruckten Dreiwortsätzen einer Boulevardzeitung, und ein weiterer ist beim Lesen von Rezepten beglückt. Geschmack ist bekanntlich individuell. Mich nervt die deutsche Unart des intellektuellen Bodybuildings, Fachtexte durch möglichst viele Fremdwörter, und zwar grammatikalisch korrekte, doch verschachtelte und unleserliche Satzwürmer, zu entstellen. Aus der englischsprachigen, psychologischen Fachliteratur kenne ich anderes.

Es war leider nicht immer zu umgehen, in diesem Buch Fachsprache einzusetzen, und manchmal wollte ich Ihnen wichtige Fachausdrücke nicht vorenthalten. Doch habe ich mich bemüht, gut leserlich und verständlich zu formulieren. Immer wenn ich nicht weiterwusste, habe ich mir vorgestellt, wie sich meine Klienten ausdrücken würden, oder ich habe sie tatsächlich gefragt, ob sie mir helfen könnten, etwas zu formulieren. Das stellte sich als eine sehr effektive und erfolgreiche Strategie heraus. Obendrein werden die Fachinhalte durch zahlreiche Fallbeispiele konkret, lebendig und nachvollziehbar illustriert.

Mein Anliegen ist es, Sprachrohr für die Belange der sprachlosen und still leidenden Zielgruppe der Angehörigen von Suchtkranken zu sein. Als humanistischer Psychologe bin ich überzeugt davon, dass therapeutisches Fachwissen und -sprache nur so weit tauglich und sinnvoll ist, wie es von der Klientel verstanden und angenommen wird, zumal ich festgestellt habe, dass extreme Phänomene wie Co-Abhängigkeit und Sucht vielmals nicht durch Fachsprache in ihrer dramatischen Tragweite zu erfassen sind. Fachliche Sachlichkeit und Objektivität können eine besonders verkappte Form der (co-abhängigen) Bagatellisierung und Schönrederei sein. Manchmal muss man die Sache einfach beim Namen nennen.

Apropos! Nehmen Sie mir bitte meine geschlechtsspezifischen Formulierungen nicht übel, sie entsprechen meinen Erfahrungen in der Behandlung von Suchtformen, in denen die Symptomträger mehrheitlich Männer sind. Co-abhängige Angehörige sind überwiegend Frauen: Mütter, Partnerinnen und Töchter. Väter und Partner neigen nach meiner Erfahrung weniger zu einer co-abhängigen Rollenübernahme. Und die Söhne identifizieren sich häufig in einer späteren eigenen Suchtentwicklung mit dem süchtigen Vater, wechseln also im Verlauf der Jugend sozusagen die Seite. Eine geschlechtsneutrale Formulierung lässt Texte häufig unverständlich werden, weswegen ich mich entschieden habe, immer die für mich im konkreten Fall passende Form zu wählen, also z. B. die Angehörige, die Co-Abhängige, die Klientin, die Prinzessin oder die Fröschin, aber der Süchtige, der süchtige Symptomträger oder der Frosch. Durchaus sind mir auch Fälle bekannt, in denen es umgekehrt ist, z. B. die Frau süchtig und ihr Partner co-abhängig ist. Auch weitere mitspielende Personen oder Rollen werden ausschließlich aus Gründen der Leserlichkeit geschlechtsspezifisch benannt, z. B. der Suchtberater oder der Therapeut.

Zu den Inhalten

Als Fachbuch ist dieses Buch klassisch dreigeteilt gegliedert: 1. Beschreibung und Definition des Phänomens, 2. Theorie und Genese sowie 3. Beratung und Behandlung. Zunächst wird das Phänomen bzw. die Diagnose der persönlichen Co-Abhängigkeit (Kapitel 1) und der institutionellen Co-Abhängigkeit (Kapitel 2) nüchtern und deskriptiv beschrieben. Dann folgt der Theorieteil (Kapitel 3 bis 5), in dem Fakten, Bedingungen, Annahmen und Standpunkte zur Entstehung und Dynamik des Phänomens erläutert und diskutiert werden. Im Behandlungsteil werden Möglichkeiten der Beratung und Behandlung dargestellt (Kapitel 6), ein umfassender psychotherapeutischer Behandlungsansatz vorgestellt (Kapitel 7) und konkrete institutionelle Maßnahmen erläutert (Kapitel 8).

Man könnte das Buch auch in anderer Unterteilung lesen: Die Kapitel 1, 3, 4, 6 und 7 behandeln die individuellen bzw. persönlichen Auffälligkeiten und Bedingungen der Co-Abhängigkeit und deren Behandlung. Die Kapitel 2, 5 und 8 vertiefen die institutionellen und gesellschaftlichen Merkmale und Aspekte der Co-Abhängigkeit und deren positive Beeinflussung durch geeignete organisationelle Maßnahmen.

Zu Kapitel 1

Das Phänomen, die Problematik und das Störungsbild der Co-Abhängigkeit werden beschrieben. Zu Beginn des Kapitels stelle ich Ihnen ein Ordnungsschema der Co-Abhängigkeit vor, in dem drei Formen und drei Systemebenen unterschieden werden, um Ihnen eine Übersicht über die Komplexität des Phänomens zu geben.

Dann wird der Begriff der co-abhängigen Verstrickung als normale und gesunde Reaktion auf die Begegnung und Konfrontation mit Sucht eingeführt. Co-abhängige Reaktionen sind in vielen Fällen hilfreich und erfolgreich, bergen aber auch ein co-abhängiges Risiko, eine ungünstige und problematische Entwicklung zu nehmen. Außerdem wird die therapeutische Co-Abhängigkeit als gezielte Strategie oder Methode der Behandlung Süchtiger eingeführt, aber auch in ihrem persönlichen co-abhängigen Gefährdungspotenzial für den Suchthelfer erhellt.

Im nächsten Unterkapitel wird die Symptomatik der co-abhängigen Erkrankung, von mir als Co-Abhängigkeitssyndrom bezeichnet, umfassend beschrieben und eine Operationalisierung der co-abhängigen Diagnose anhand eindeutiger Leitlinien vorgenommen. In zwei weiteren Unterkapiteln wird das co-abhängige Phänomen gegenüber anderen Formen zwischenmenschlicher Abhängigkeit abgegrenzt und die nicht seltene Wechselwirkung mit anderen psychischen Störungen symptomzentriert betrachtet. Im letzten Unterkapitel werden die Diagnosestellung Co-Abhängigkeit bei Kindern und die Überschneidung mit anderen Diagnosen im Kinder- und Jugendalter angesprochen.

Zu Kapitel 2

Das Konzept der Co-Abhängigkeit wird auf Institutionen, z. B. Gruppen, Vereine, Betriebe oder Unternehmen, ausgeweitet. Die institutionell co-abhängige Verstrickung sowie Organisationsdiagnose stelle ich ebenfalls ausführlich anhand von diagnostischen Leitlinien und Symptomlisten dar. Das Hineinspielen von macht- und ökonomisch begründeten Formen der Abhängigkeit in die institutionelle Co-Abhängigkeit wird beschrieben.

Zu Kapitel 3

Zum Phänomen der Co-Abhängigkeit gibt es kaum wissenschaftliche Forschung. Das wenige, was ich an harten Daten und Fakten zu Prävalenz, Behandlungsquote, Geschlechterasymmetrie und zum Erkrankungsrisiko finden konnte, berichte ich hier. Darüber hinaus werden die Forschungsdefizite hinterfragt und Fragestellungen zu einer systematischen Erforschung der Angehörigensache hergeleitet. Das Kapitel wird durch eine eigene kleine Auszählung an wissenschaftlichen Veröffentlichungen abgeschlossen.

Zu Kapitel 4

Es werden Bedingungen und Hintergründe zur Entwicklung einer persönlichen Co-Abhängigkeit erläutert und diskutiert. Ausführlich skizziere ich erstens die Sozialisierungsbedingungen, die eine persönliche Disposition zur Co-Abhängigkeit schaffen. Zweitens beleuchte ich die belastende Herausforderung des Zusammenlebens mit einem Süchtigen. Drittens gehe ich auf die Beliebigkeit der co-abhängigen und süchtigen Rollenverteilung ein. Viertens stelle ich das kindliche Trauma einer Suchtfamilie dar. Fünftens reflektiere ich die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des Menschen und seine kreativen Ressourcen, auch unter ungünstigen Umständen zu überleben.

Zu Kapitel 5

Hier geht es um die Bedingungen und Faktoren der institutionellen Co-Abhängigkeit. Die Suchthilfe wird als besonders durch Co-Abhängigkeit betroffenes gesellschaftliches System abgehandelt, aber auch andere gesellschaftliche Systeme, wie Gruppen, Vereine, Betriebe oder Unternehmen, werden berücksichtigt. Die Thesen von der systembedingten Fehldynamik der Co-Abhängigkeit und das Dilemma von Menschlichkeit versus Konsequenz werden erörtert. Der Mangel an offenem und kritischem Dialog wird betrachtet und positive, doch inhaltsleere Images von sinnlosen Produkten und Dienstleistungen hinterfragt. Die Geselligkeit von Sucht unter günstigen co-abhängigen Umständen wird erläutert. Es werden Aspekte der Arbeitszufriedenheit, formale und informelle Machtaspekte und ökonomische Zwänge und Abhängigkeiten in Wechselwirkung mit co-abhängiger Verstrickung betrachtet. Abschließend wage ich drei provokative Thesen zur Suchtgesellschaft.

Zu Kapitel 6

Das Kapitel wird die Frage, wo Angehörige Beratung und Therapie finden, nicht zufriedenstellend beantworten können, da die Behandlungssituation ungenügend ist. Dennoch werden Möglichkeiten und Behandlungsalternativen aufgezeigt. Mängel in den Behandlungsstrukturen werden schonungslos aufgedeckt, aber auch Möglichkeiten angedacht, die Hilfeangebote zu verbessern.

Zu Kapitel 7

Das Kapitel ist mein Favorit. Über Beschwerden, Störungen, krank machende Faktoren oder die mangelhafte Beratungssituation nachzudenken, bereitet nicht wirklich Spaß. Doch personzentrierte Wege der Entwicklung, Besserung und Heilung aufzuzeigen, ist eine Herzensangelegenheit von mir als Psychotherapeut. Es ist daher das mit Abstand längste und ausführlichste Kapitel.

Nachdem Grundsätzliches zur Psychotherapie der Co-Abhängigkeit gesagt wurde, folgt ein Appell an die Betroffenen, ihr Schweigen zu überwinden und zu sprechen. Es wird ein person- bzw. angehörigenzentriertes Psychotherapiekonzept dargestellt, dessen Schwerpunkte auf der Selbstentwicklung und -entfaltung sowie der Förderung der Beziehungsfähigkeit liegen. Z. B. schildere ich, wie die falsche Hoffnung, übermäßige Freundlichkeit und das übergroße Verlangen nach Gebrauchtwerden der co-abhängigen Klientin therapeutisch wertschätzend und empathisch hinterfragt werden kann. Oder es wird aufgezeigt, wie die Klientin wieder anfangen kann, für sich tätig zu werden, und eine gesunde Portion an Ehrgeiz und Aggressivität entwickeln kann.

Auch die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen zu den Themen Co-Abhängigkeit und Sucht kann wichtige Anregungen und Anstöße geben. Z. B. ist es für die Behandlung der Co-Abhängigkeit unerlässlich, dass die Klientin lernt, sich vor den Manipulationen und Eskapaden des Süchtigen zu schützen. Zum Schluss werden vier besondere Aspekte oder Schritte der psychotherapeutischen Traumabewältigung von Co-Abhängigen, die in einer Suchtfamilie aufgewachsen sind, behandelt. Unter anderem wird der psychotherapeutische Umgang mit der starken schammotivierten Abwehr des Traumas und das ressourcenorientierte Vorgehen, die Klientin zu stärken, ein eigenes, unabhängiges Leben aufzubauen, geschildert.

Zu Kapitel 8

Das Kapitel besteht aus zwei Unterkapiteln. Im ersten beschreibe ich allgemeine Strategien, Co-Abhängigkeit in gesellschaftlichen Systemen und Institutionen zu überwinden. Z. B. werden die formalen und informellen Möglichkeiten, in einer Institution das co-abhängig süchtige Problem mit Bedacht anzusprechen, dargelegt und die Bedeutung von Klarheit, Verbindlichkeit und Kontrolle der Organisationsstrukturen aufgezeigt. Im zweiten Unterkapitel stelle ich konkrete Maßnahmen in Bezug auf die Suchthilfe vor, die geeignet sind, institutionelle Verstrickungen zu vermeiden und abzubauen sowie angemessene Hilfestrukturen für Angehörige zu entwickeln.

Eine Leseempfehlung

Für Suchtberater und -therapeuten, Psychologen und Ärzte sind die Kapitel 1, 4, 7 und 8 zu empfehlen. Soziologen oder Suchtfachleute, die die institutionelle Seite der Co-Abhängigkeit kennenlernen wollen, z. B. um ihre Einrichtung weiterzuentwickeln, werden die Kapitel 2, 5 und 8 bevorzugt aufschlagen. Für Wissenschaftler dagegen könnten die Kapitel 1 und 3 von besonderem Interesse sein. Für betroffene Angehörige werden die Kapitel 4, 6 und vor allem 7 interessant sein. Stöbern Sie nach Lust und Laune!

1. Was ist Co-Abhängigkeit?

Was ist Co-Abhängigkeit? Ist es »die heimliche Unterstützung der Sucht«, wie ein Buchtitel suggeriert (Aßfalg, 2009). Oder ist es eine Form des Mitbetroffenseins, eine Beziehungsstörung, eine Persönlichkeitsstörung, eine eigene Krankheit, oder ist es Teil anderer psychischer Störungen? Und wer ist von Co-Abhängigkeit betroffen? Sind es nur die nächsten Angehörigen und Freunde? Oder sind auch Arbeitskollegen oder professionelle Helfer gefährdet, in den Sog der Sucht zu geraten? Und wenn wir annehmen, dass Fachleute ebenfalls betroffen sein können, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zu fragen: Können sich nicht ganze Systeme, Organisationen oder Einrichtungen co-abhängig verstricken?

Es wurde in der Einleitung angedeutet: Das Phänomen der Co-Abhängigkeit ist eine vielschichtige individuelle, soziale und auch gesellschaftliche Problematik. Daher gibt es auf die gestellten Fragen keine einfachen Antworten, vielmehr möchte ich Ihnen eine Reihe von vorläufigen Antworten geben, die nachfolgend inhaltlich ausgeführt werden:

Im Kontakt oder in einer Beziehung zu einem Süchtigen kommt es beim Gegenüber zu typischen Erlebens- und Verhaltensmustern, die als co-abhängig verstrickt bezeichnet werden. Diese Erlebens- und Verhaltensmuster sind zunächst als normal, gesund und hilfreich einzustufen, tragen aber ein Risiko und können für die Person problematisch werden.

Aus einer problematischen co-abhängigen Verstrickung kann sich eine eigenständige psychische Störung entwickeln. Zentrale Symptome sind das Eingenommensein von dem Wunsch, dem Süchtigen helfen zu wollen, und ein starker Scham- und Schuldkomplex. Die Diagnose wird als Co-Abhängigkeitssyndrom bezeichnet und als verhaltensbezogene Suchtform konzeptualisiert und klassifiziert.

Die co-abhängige Störung geht nicht selten mit weiteren psychischen Störungen einher, z. B. Depression, Angststörungen, psychosomatischen Syndromen, Traumafolgestörungen oder Suchtproblemen.

Auch Suchthelfer reagieren mit denselben typischen Erlebens- und Verhaltensweisen auf ihr süchtiges Klientel. Gewöhnlich nutzen sie die co-abhängige Verstrickung als bewusste und gezielte therapeutische Hilfestrategie. Allerdings ist Suchthilfe immer eine Gratwanderung, professionelle Helfer können sich problematisch verstricken und co-abhängig erkranken.

Auch Institutionen und ihre Vertreter, z. B. ein Betrieb, eine Einrichtung oder ein Verein, können sich co-abhängig verstricken, falls ein Mitglied oder ein Kunde der Institution süchtig ist. Besonders die Einrichtungen der Suchthilfe sind von institutionell co-abhängiger Verstrickung betroffen. (Das Thema der institutionellen Co-Abhängigkeit wird in Kapitel 2 beschrieben.)

Es sei hier darauf hingewiesen, dass in diesem und dem 2. Kapitel das Phänomen bzw. die Problematik der Co-Abhängigkeit weitestgehend im Sinne einer deskriptiven Diagnostik behandelt wird. Die Erläuterung und Diskussion von Zusammenhängen, Bedingungen, Ursachen und Faktoren erfolgt erst in den nachfolgenden Kapiteln. Diese Trennung zwischen Beschreibung und Theorie ist Standard in der modernen Diagnostik und Störungslehre.

Im folgenden Unterkapitel wird eine zweidimensionale Ordnung vorgestellt, die Ihnen hilft, die unterschiedlichen Ausprägungen oder Beschaffenheiten der Co-Abhängigkeit diagnostisch einzuordnen und eine Übersicht oder Orientierung über die Thematik zu gewinnen. In den nachfolgenden Unterkapiteln wird die Ordnung inhaltlich gefüllt und anhand vieler Fallbeispiele konkret illustriert.

1.1 Eine Ordnung: Drei Formen und drei Systemebenen

Die Amerikanerinnen Anne Wilson Schaef (Die Sucht hinter der Sucht, 1999; Original 1986) und Pia Mellody (Verstrickt in die Probleme anderer, 2002; Original 1989) haben in den 80ern des letzten Jahrhunderts grundlegende Bücher zum Angehörigenthema veröffentlicht und Co-Abhängigkeit als weitverbreitete Problematik und Störung erkannt und beschrieben. Die Ansätze der Autorinnen sind sehr angehörigenzentriert und umfassend. Es mangelt bedauerlicherweise an Forschungsbemühungen zum Angehörigenthema, und auch die beiden lohnenswerten Ansätze von Schaef und Mellody wurden nie systematisch weiterentwickelt. Meine Konzeption, das Phänomen der Co-Abhängigkeit in seinen vielschichtigen Facetten zu beschreiben und in einer Störungsdiagnose zu verdichten, basiert auf den Ansätzen der beiden Autorinnen, aktualisiert sie und entwickelt sie weiter.

Co-Abhängigkeit ist nicht gleich Co-Abhängigkeit. Das Phänomen hat viele verschiedene Qualitäten. Um die verschiedenen Qualitäten einordnen zu können, unterscheide ich drei Formen sowie drei Systemebenen der Co-Abhängigkeit. Die zweidimensionale Ordnung ist aus meinen Erfahrungen in der konkreten psychotherapeutischen Arbeit mit Angehörigen generiert.

Drei Formen der Co-Abhängigkeit

1. Form: Im näheren Kontakt zu einem Süchtigen kommt es bei der Angehörigen zu typischen Erlebens- und Verhaltensweisen, z. B. Befremden, Verunsicherung, Widerwillen oder dem Wunsch, helfen zu wollen. Diese Reaktionen sind als normal, angemessen und hilfreich einzustufen, haben aber auch stets für die Angehörige eine riskante und problematische Seite. In Anlehnung an Mellody (2002) bezeichne ich das Risiko bzw. diese Problematik der Angehörigen als co-abhängige Verstrickung. Typische Reaktionen auf die Sucht eines anderen werden entsprechend als co-abhängig verstrickt bezeichnet.

2. Form: Es kann sich eine eigenständige psychische Störung entwickeln, wenn die betroffene Angehörige sich zu sehr verstrickt, sie aus ihren Erfahrungen mit dem Süchtigen nicht lernt, sich nicht der Situation angemessen anpasst und rigide und stereotyp an ihren (co-abhängig verstrickten) Erlebens- und Verhaltensmustern festhält. Ich nenne diese psychische Störung Co-Abhängigkeitssyndrom, sie ist eine verhaltensbezogene Suchtform bzw. Abhängigkeitsstörung.

3. Form: Ebenso wie Sucht oftmals zusammen mit anderen psychischen Störungen einhergeht, tritt eine co-abhängige Verstrickung oder Störung nicht selten als Doppeldiagnose auf, z. B. mit Depression, Angststörungen, Traumafolgestörungen oder psychosomatischen Syndromen. Die Co-Abhängigkeit kann sowohl Ursache als auch Folge der anderen psychischen Störung sein. Für eine wirksame therapeutische Behandlung muss auch die co-abhängige Problematik erkannt werden und in der Behandlung integrierte Berücksichtigung finden.

Drei Systemebenen der Co-Abhängigkeit

1. Personelles System: Alle Menschen, die einen näheren und helfenden Kontakt zu einem Süchtigen haben, sind durch Co-Abhängigkeit gefährdet. Der hier gebräuchliche Begriff der Angehörigen schließt alle Personen ein, die einen näheren sozialen Bezug zum Süchtigen haben, z. B. Partner, Eltern, Kinder, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen, Seelsorger, Ärzte, Suchthelfer, Lehrer, Vereinsmitglieder etc. Sind Individuen betroffen, wird dies als persönliche Verstrickung oder persönliche Co-Abhängigkeit etikettiert.

2. Therapeutisches System: Professionelle Suchthelfer lassen sich gezielt auf eine therapeutische Beziehung zum Süchtigen ein, um ihm zu helfen. Die co-abhängige Verstrickung ist in diesem Fall eine hilfreiche Strategie und Methode der aufsuchenden, akzeptierenden und motivierenden Suchthilfe. Die professionelle Distanz hilft dem Suchthelfer, sich nicht zu sehr zu verstricken, aber co-abhängige Verstrickung ist nichtsdestotrotz auch das ständige und systembedingte Berufsrisiko der Suchthelfer. Die professionelle Strategie, sich auf eine helfende Beziehung zu einem Süchtigen einzulassen, wie auch das Berufsrisiko werden als therapeutische Verstrickung oder therapeutische Co-Abhängigkeit benannt.

3. Institutionelles System: Auch Institutionen und deren Vertreter, die durch einen Süchtigen betroffen sind, können sich co-abhängig verstricken. Betroffene Institutionen können Gruppen, Familien, Freundeskreise, Vereine, Einrichtungen, Betriebe oder Unternehmen sein. Die Institutionen der Suchthilfe sind aufgrund ihrer süchtigen Klientel besonders gefährdet und betroffen. Auch eine Gesellschaft oder Kultur kann co-abhängig verstrickte Tendenzen aufweisen. In diesen Fällen wird von institutionell co-abhängiger Verstrickung oder institutioneller Co-Abhängigkeit gesprochen.

Ein Schema aus 3 x 3 Feldern

Wenn man die drei Formen und die drei Systemebenen kombiniert, erhält man ein übersichtliches Schema der Co-Abhängigkeit aus 3 x 3 Feldern, welches in Tabelle 1 dargestellt ist. Die sich ergebenden neun Felder sind mit beispielhaften Merkmalen, Symptomen und Auffälligkeiten gefüllt, die in den nachfolgenden Unterkapiteln bzw. im Fall der institutionellen Co-Abhängigkeit in Kapitel 2 inhaltlich ausgeführt werden.

Tabelle 1: Schema der Co-Abhängigkeit

Das Schema verdeutlicht, wie vielschichtig und facettenreich das Phänomen der Co-Abhängigkeit ist. Co-Abhängigkeit ist zunächst ein typisches und gesundes Erlebens- und Reaktionsmuster in dem näheren Kontakt zu einem Suchtkranken. Daraus kann sich eine ernsthafte persönliche Problematik entwickeln, aus der wiederum eine psychische Störung, das Co-Abhängigkeitssyndrom, erwachsen kann. Co-Abhängigkeit ist außerdem eine therapeutische Strategie der professionellen Suchthilfe, aber auch das persönliche Risiko eines Suchthelfers, durch die Arbeit mit einem süchtigen Klientel auszubrennen oder co-abhängig zu erkranken. Schließlich ist Co-Abhängigkeit die Reaktion einer Institution und ihrer Vertreter auf die Suchterkrankung eines Mitglieds. Auch die Institution kann sich in dem Bemühen um das suchtkranke Mitglied co-abhängig verstricken oder eine co-abhängige Organisationsstörung entwickeln.

1.2 Co-Abhängigkeit als co-abhängiges Risiko und persönliche Verstrickung

Bevor man sich mit dem Krankhaften oder Gestörten eines Phänomens beschäftigt, muss man das Gesunde, Normale und Sinnvolle – als Ausgang, als Basis und Ziel der Phänomenbestimmung – geklärt haben, sonst verliert man sich schnell hoffnungslos im schwarzen Loch des Pathologischen und kann nicht mehr die Ressourcen und Chancen sehen und nutzen, die jeder Person und Situation innewohnen. Deshalb werden in diesem Unterkapitel zunächst die normalen co-abhängigen Erlebens- und Reaktionsweisen auf die Konfrontation mit der Sucht eines nahestehenden Menschen beschrieben.

Sucht ist eine irrationale, komplexe und ganz und gar nicht alltägliche Notsituation. Sucht ist eine Subkultur unserer Gesellschaft und hat eigene Gesetzmäßigkeiten, die die normalen und rationalen Regeln eines friedlichen und partnerschaftlichen Miteinanders von uns Menschen außer Kraft setzen. So können im Grunde positive Eigenschaften, Einstellungen, Wahrnehmungen, Werte und Verhaltenweisen einer Person als Teil einer Beziehung zu einem Süchtigen unbeabsichtigt eine ungünstige Wirkung entfalten. Dieses Potenzial und die problematische Wirkung von bestimmten menschlichen Eigenschaften sowie Erlebens- und Verhaltensweisen im Kontakt zu einem Suchtkranken beschreibe ich als »co-abhängiges Risiko« und »co-abhängige Verstrickung«. Den Begriff der co-abhängigen Verstrickung habe ich von der schon erwähnten amerikanischen Therapeutin und Autorin Mellody (2002) übernommen. Der Begriff der co-abhängigen Verstrickung ist vergleichbar mit dem Konzept des problematischen Suchtkonsums oder -verhaltens, und der Begriff des co-abhängigen Risikos ist analog dem Begriff des riskanten Suchtkonsums oder -verhaltens.

Das stille Leiden

Jeder weiß es: Das Ziel, das der Süchtige tags wie nachts immer wiederkehrend verfolgt, ist es, in Ruhe seinem Suchtkonsum bzw. -verhalten nachgehen zu können. Im Kick, Rausch, Vollsein oder Breitsein findet er Momente scheinbarer Erfüllung. Für die Angehörige gibt es dagegen kaum Zeiten der Ruhe und Erfüllung. Sie ist den Launen seiner Sucht rausch- und schutzlos ausgesetzt, ihre Gedanken rotieren pausenlos und schwindelerregend, und ihr Alltag ist eine emotionale Achterbahn, gleichgültig, ob er sich gerade abgeschossen hat oder dem nächsten Drogen-Thrill hinterdreinjagt. Zustände von Hoffnung, Enttäuschung, Überforderung, Scham, Angst, Ohnmacht, Verzweiflung, Schmerz und Resignation wechseln sich ununterbrochen und im Stundentakt ab. Die Not und das Leiden der Angehörigen bezeichne ich als co-abhängig verstrickt, insofern es eine typische Reaktion auf die Sucht ist.

Aber Vorsicht! Das dramatische Leiden und die wechselnden Gefühlszustände der Angehörigen sind keinesfalls als krankhaft oder gestört einzustufen. Es sind das nachvollziehbare Erleben und die gesunde Reaktion eines psychisch intakten Menschen, der mit einer überfordernden, irrationalen, labilen und nahegehenden Problematik konfrontiert ist. Solange die Angehörige ungeschminkt ihre Empfindungen und Gefühle wahrnimmt, befindet sie sich im Vollbesitz ihrer geistigen und emotionalen Kräfte. Sie ist in der Lage, auf Grundlage ihres Erlebens notwendige Entscheidungen zu treffen, Konsequenzen zu ziehen und das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Erst wenn die Angehörige anfängt, ihr negatives Erleben dauerhaft zu beschönigen, zu unterdrücken oder zu verleugnen und durch inkonsequentes Handeln ihre Notsituation noch zu verschlimmern, ist eine Störungsentwicklung zu konstatieren. Doch dies wird erst im nachfolgenden Unterkapitel ausgeführt.

Sie kennen sicherlich das Buch Die Abenteuer des Huckleberry Finn von Mark Twain. Die Romanfigur Huckleberry Finn repräsentiert literarisch die Problematik der Co-Abhängigkeit und den verworrenen Entwicklungsweg, den es benötigt, Co-Abhängigkeit zu überwinden. Eine Mutter hat Huckleberry nicht. Der Vater ist ein Trunkenbold, Herumtreiber und Raufbold und der schlechteste Vater, den man sich vorstellen kann. Im fünften und sechsten Kapitel hat er seinen großen Auftritt, als er Huckleberry entführt, um ihn zum Zweck seiner Sucht auszunutzen. Folgend seien einige kurze Passagen aus den Kapiteln zitiert, um das co-abhängige Leiden anhand dem literarischen Beispiel Huckleberry zu veranschaulichen:

Die Leiden des Huckleberry Finn

»Dann drehte ich mich um, und da saß er. Ich hab immer schrecklich Angst vor ihm gehabt, er verprügelte mich so viel. Ich glaube, ich fürchtete mich auch diesmal, aber nach einer Minute war’s vorbei. Das heißt