Codename Tesseract - Tom Wood - E-Book + Hörbuch

Codename Tesseract Hörbuch

Tom Wood

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Beschreibung

Die perfekte Verbindung von Action, Spannung und einem brillanten Helden

Victor, Codename „Tessaract“, ist Auftragskiller. Der beste, den es gibt. Er stellt keine Fragen, er hinterlässt keine Spuren, er macht keine Fehler. Auch sein jüngster Job in Paris scheint glattzulaufen: Victor soll einen Mann töten, bei dem Opfer einen USB-Stick sicherstellen und diesen weitergeben, sobald man ihm eine Adresse übermittelt. Doch plötzlich wird er selbst zur Zielscheibe. Durch seinen Auftrag gerät Victor ins Kreuzfeuer einer internationalen Verschwörung, bei der Jäger und Gejagte nicht mehr zu unterscheiden sind …

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Zeit:17 Std. 11 min

Sprecher:Carsten Wilhelm

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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »The Killer« bei Thomas Dunne Books, an imprint of St. Martin’s Press, New York.
Copyright © der Originalausgabe 2010 by Tom Hinshelwood
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Coveragentur: UNO Werbeagentur Covermotiv (Collage): FinePic, München und Getty Images/Coolidge Redaktion: Gerhard Seidl AB · Herstellung: Str. Satz: omnisatz GmbH, Berlin
eISBN 978-3-641-05604-9V005
www.goldmann-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Buch

Victor ist ein Elite-Auftragskiller, der beste, den es gibt. Niemand kennt seine wahre Identität, niemand findet Spuren von ihm am Tatort. Auch seinen jüngsten Auftrag erledigt er ohne Fehler. Doch als er nach dem Mord in sein Pariser Hotel zurückkehrt, machen ihn in der Lobby einige Männer misstrauisch, deren auffällig unauffälliges Verhalten er nur zu gut kennt – von sich selbst. Das Killerkommando, das offenkundig auf ihn wartet, ist gut. Aber es ist nicht gut genug. Nachdem Victor einen Mann nach dem anderen ausschalten konnte, gelingt ihm die Flucht. Doch wer steckte hinter diesem Anschlag auf sein Leben? Solange er nicht weiß, warum man ihn ausschalten will, schwebt er in ständiger Lebensgefahr. Dass ihn überhaupt jemand aufspüren konnte, ist eigenartig genug. Denn Victor, dem seine Verfolger den Codenamen »Tesseract« gegeben haben, hinterlässt eigentlich keine Hinweise auf seinen Aufenthaltsort. Den konnte nur jemand in Erfahrung bringen, der über exzellente Verbindungen und Informationsquellen sowie über unbegrenzte Ressourcen verfügt. Eine tödliche Jagd beginnt …

Autor

Tom Wood, der eigentlich Tom Hinshelwood heißt, ist freischaffender Bildeditor und Drehbuchautor. Er wurde in Staffordshire, England, geboren und lebt mittlerweile in London. »Codename Tesseract« ist sein Debütroman, mit dem er Leser und Kritiker im Sturm eroberte.

Mehr zum Autor und seinen Büchern finden Sie unter www.tomhinshelwood.com

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorWidmungKapitel 1 - Paris, Frankreich Montag 06:19 MEZKapitel 2 - 08:24 MEZKapitel 3 - 08:27 MEZKapitel 4 - 08:34 MEZKapitel 5 - 08:38 MEZKapitel 6 - 08:45 MEZKapitel 7 - 09:15 MEZKapitel 8 - 09:41 MEZKapitel 9 - 13:15 MEZKapitel 10 - Charleroi, Belgien Montag 17:02 MEZKapitel 11 - Central Intelligence Agency, Virginia, USA Montag 13:53 EST (Eastern Standard Time)Kapitel 12 - Südöstlich von Charleroi, Belgien Montag 19:48 MEZKapitel 13 - Paris, Frankreich Montag 22:48 MEZKapitel 14 - München, Deutschland Dienstag 01:12 MEZKapitel 15 - Central Intelligence Agency, Virginia, USA Dienstag 06:07 ESTKapitel 16 - Genf, Schweiz Dienstag 18:32 MEZKapitel 17 - München, Deutschland Dienstag 22:39 MEZKapitel 18 - Paris, Frankreich Dienstag 23:16 MEZKapitel 19 - Nördlich von Saint Maurice, Schweiz Mittwoch 08:33 MEZKapitel 20 - 14:18 MEZKapitel 21 - 14:34 MEZKapitel 22 - Paris, Frankreich Donnerstag 15:16 MEZKapitel 23 - Central Intelligence Agency, Virginia, USA Mittwoch 16:56 ESTKapitel 24 - Flughafen Charles de Gaulle, Paris, Frankreich Donnerstag 07:30 MEZKapitel 25 - Budapest, Ungarn Donnerstag 17:46 MEZKapitel 26 - Paris, Frankreich Donnerstag 22:22 MEZKapitel 27 - Marseille, Frankreich Freitag 05:03 MEZKapitel 28 - Paris, Frankreich Freitag 08:12 MEZKapitel 29 - Debrecen, Ungarn Freitag 20:12 MEZKapitel 30 - Paris, Frankreich Samstag 00:09 MEZKapitel 31 - 01:35 MEZKapitel 32 - 01:50 MEZKapitel 33 - Marseille, Frankreich Samstag 01:59 MEZKapitel 34 - Central Intelligence Agency, Virginia, USA Samstag 10:49 ESTKapitel 35 - St. Petersburg, Russland Samstag 16:23 MSK (Moskau-Zeit)Kapitel 36 - Zürich, Schweiz Samstag 13:11 MEZKapitel 37 - St. Petersburg, Russland Samstag 16:58 MSKKapitel 38 - 17:27 MSKKapitel 39 - Central Intelligence Agency, Virginia, USA Sonntag 06:05 ESTKapitel 40 - Schukowka, Russland Samstag 21:04 MSKKapitel 41 - In einem Waldgebiet nahe Moskau, Russland Sonntag 07:43 MSKKapitel 42 - Mailand, Italien Sonntag 21:33 MEZKapitel 43 - St. Petersburg, Russland Montag 13:57 MSKKapitel 44 - Paris, Frankreich Montag 10:07 MEZKapitel 45 - St. Petersburg, Russland Montag 17:25 MSKKapitel 46 - Östlich von Kohtla-Järve, Estland Montag 16:45 EET (Eastern European Time)Kapitel 47 - Paris, Frankreich Montag 19:54 MEZKapitel 48 - Moskau, Russland Montag 23:05 MSKKapitel 49 - Paris, Frankreich Montag 21:01 MEZKapitel 50 - 21:13 MEZKapitel 51 - 23:03 MEZKapitel 52 - Falls Church, Virginia, USA Montag 16:54 ESTKapitel 53 - London, Großbritannien Dienstag 13:56 GMT (Greenwich Mean Time)Kapitel 54 - Central Intelligence Agency, Virginia, USA Dienstag 08:17 ESTKapitel 55 - London, Großbritannien Dienstag 16:46 GMTKapitel 56 - Amsterdam, Niederlande Mittwoch 21:37 MEZKapitel 57 - Washington, D. C., USA Mittwoch 19:40 ESTKapitel 58 - London, Großbritannien Donnerstag 04:02 GMTKapitel 59 - Rostow, Russland Donnerstag 17:50 MSKKapitel 60 - Nikosia, Zypern Donnerstag 15:49 EETKapitel 61 - 21:01 EETKapitel 62 - Paris, Frankreich Donnerstag 21:20 MEZKapitel 63 - Nikosia, Zypern Donnerstag 23:49 EETKapitel 64 - 01:10 EETKapitel 65 - 01:49 EETKapitel 66 - Arlington, Virginia, USA Freitag 12:30 ESTKapitel 67 - Nikosia, Zypern Samstag 02:59 EETKapitel 68 - Harrisonburg, Virginia, USA Samstag 08:12 ESTKapitel 69 - 130 Kilometer östlich von Tanga, Tansania Sonntag 11:27 EAT (East Africa Time)Kapitel 70 - Tanga, Tansania Sonntag 19:03 EATKapitel 71 - Falls Church, Virginia, USA Sonntag 12:05 Uhr ESTKapitel 72 - Tanga, Tansania Sonntag 19:17 EATKapitel 73 - 19:22 EATKapitel 74 - 19:24 EATKapitel 75 - 19:26 EATKapitel 76 - 19:26 EATKapitel 77 - 19:34 EATKapitel 78 - 19:34 EATKapitel 79 - 19:37 EATKapitel 80 - Daressalam, Tansania Dienstag 12:03 EATKapitel 81 - 13:13 EATKapitel 82 - Moskau, Russland Dienstag 14:11 MSKKapitel 83 - Tanga, Tansania Dienstag 16:50 EATKapitel 84 - 17:02 EATKapitel 85 - Falls Church, Virginia, USA Samstag, drei Wochen später, 22:49 ESTDanksagungCopyright

In liebevollem Andenken an meinen Bruder Simon, der wie niemand sonst an mich geglaubt hat.

Kapitel 1

Paris, Frankreich Montag 06:19 MEZ

Die Zielperson sah älter aus als auf den Fotos. Das trübe Licht der Straßenlaternen betonte noch die tiefen Falten auf seinem Gesicht und seinen bleichen, fast schon kränklichen Teint. Auf Victor machte der Mann einen sehr erregten Eindruck. Entweder war er hochgradig nervös, oder er hatte zu viel Koffein im Blut. Doch egal, was der wahre Grund sein mochte, in dreißig Sekunden würde es sowieso keine Rolle mehr spielen.

Der Name im Dossier lautete Andris Ozols. Lettischer Staatsbürger. Achtundfünfzig Jahre alt. 1,75 Meter groß. Fünfundsiebzig Kilogramm schwer. Rechtshänder. Keine besonderen Kennzeichen. Die grauen Haare waren genauso kurz und sorgfältig gestutzt wie sein Schnurrbart. Blaue Augen. Ozols war kurzsichtig und trug daher eine Brille. Er war elegant gekleidet, dunkler Anzug, Mantel, blank gewienerte Schuhe. Er hielt einen kleinen, ledernen Diplomatenkoffer mit beiden Händen fest an sich gedrückt.

Am Anfang der schmalen Gasse warf Ozols einen Blick über die Schulter zurück, eine amateurhafte Bewegung, zu offensichtlich, um einen Beschatter zu übertölpeln, und zu überhastet, um, falls es ihm doch gelungen wäre, einen zu erkennen. Nach Victors Erfahrung achteten die Leute immer viel mehr auf das, was sich in ihrem Rücken abspielen könnte, als auf das, was vor ihnen lag. Daher sah Ozols den Mann nicht, der nur wenige Meter von ihm entfernt im Schatten stand. Den Mann, der ihn töten wollte.

Victor wartete, bis Ozols den Lichtkegel der Laterne hinter sich gelassen hatte, dann drückte er ruhig und gleichmäßig ab.

Schallgedämpfte Schüsse durchbrachen die Stille des frühen Morgens. Ozols wurde zweimal in unmittelbarer Folge ins Brustbein getroffen. Bei den Projektilen handelte es sich um Unterschallmunition, 5,7 Millimeter, doch die Wirkung war genauso verheerend wie bei schnelleren oder schwereren Geschossen. Mit Kupfer ummantelte Bleikugeln bohrten sich durch Haut, Knochen und Herz, bevor sie Seite an Seite zwischen zwei Wirbeln zum Stillstand kamen. Ozols fiel auf den Rücken, landete mit dumpfem Aufprall auf dem Boden, die Arme ausgestreckt, während der Kopf zur Seite sackte.

Victor löste sich aus der Dunkelheit und machte einen wohlkalkulierten Schritt nach vorn. Er richtete die FN Five-seveN noch einmal auf Ozols und jagte ihm eine Kugel in die Schläfe. Er war zwar schon tot, aber Victor war der festen Überzeugung, dass man nie sicher genug sein konnte.

Die leere Patronenhülse landete klirrend auf den Pflastersteinen und blieb in einer Wasserlache liegen, in der sich das orangefarbene Licht der Natriumdampflampen spiegelte. Ansonsten war nur das leise Pfeifen aus den beiden Einschusslöchern in Ozols’ Brust zu hören. Das war die Luft, die er mit dem letzten Atemzug eingesaugt hatte und die jetzt langsam entwich.

Es war kalt und dunkel. Die Morgendämmerung zeichnete die ersten farbigen Spuren an den östlichen Himmel. Victor befand sich mitten im Herzen von Paris, in einem Viertel mit schmalen Avenuen und gewundenen Seitenstraßen. Die kleine Gasse lag zwar sehr abgeschieden – kein einziges Fenster, das einen Blick darauf geboten hätte –, aber Victor vergewisserte sich trotzdem kurz, dass niemand den Mord beobachtet hatte. Die Schüsse waren jedenfalls nicht zu hören gewesen. Die Unterschallmunition und der Schalldämpfer hatten jedes Mal nur ein leises Klack zugelassen. Trotzdem ließ es sich nicht vollkommen ausschließen, dass irgendjemand beschlossen hatte, ausgerechnet hier seine Blase zu entleeren.

Nachdem er sich versichert hatte, dass er alleine war, ging Victor neben dem Leichnam in die Knie. Sorgfältig vermied er jede Berührung mit der Gehirnmasse, die aus der kleinen Austrittswunde an der Schläfe seines Opfers quoll. Mit der linken Hand zog Victor den Reißverschluss des Diplomatenköfferchens auf und warf einen Blick hinein. Der Koffer war leer, abgesehen von dem einen Gegenstand, den er erwartet hatte. Klein und unschuldig sah er aus. Kaum vorstellbar, dass das der Grund für einen Auftragsmord sein sollte, aber genauso war es. Victor machte sich wieder einmal bewusst, dass ein Grund so gut war wie der andere. Es war nur eine Frage der Perspektive. Er hatte sich schon oft gesagt, dass er lediglich für etwas bezahlt wurde, was die Menschheit seit Jahrtausenden immer weiter perfektioniert hatte. Er repräsentierte nichts weiter als die letzte Entwicklungsstufe dieses Prozesses.

Sorgfältig suchte er den leblosen Körper ab, um sicherzugehen, dass er nichts übersehen hatte. Nur ein bisschen Kleinkram und eine Brieftasche. Victor klappte sie auf. Das Übliche: Kreditkarten, ein Führerschein auf den Namen des Letten, Bargeld sowie die verblasste Fotografie eines jüngeren Ozols, zusammen mit Frau und Kindern. Eine gut aussehende, intakte Familie.

Victor steckte die Brieftasche wieder zurück und erhob sich. Dann überlegte er, wie viele Schüsse er genau abgegeben hatte. Zwei in die Brust, einen in den Kopf. Blieben also noch siebzehn Patronen im Magazin der FN. Eine einfache Rechnung, aber trotzdem eine feste Regel. Er wusste genau: Der Tag, an dem er den Überblick verlor, war der Tag, an dem beim Abdrücken nur das gefürchtete, leere Klick ertönte. Dieses Geräusch hatte er schon einmal gehört. Damals hatte sich die Waffe in der Hand eines anderen befunden, und er hatte sich geschworen, dass er niemals so sterben würde.

Erneut blickte er sich um. Weder Menschen noch Autos waren zu sehen, kein Schritt war zu hören. Victor schraubte den Schalldämpfer ab und steckte ihn in die Manteltasche. Mit aufgeschraubtem Schalldämpfer ließ sich die Waffe nicht richtig verstecken und nur langsam ziehen. Er drehte sich um, erblickte die drei leeren Patronenhülsen auf dem Boden und hob sie auf, bevor das langsam sich ausbreitende Blut sie erreicht hatte. Zwei waren noch warm, nur die dritte, die in einer Wasserlache gelandet war, war schon abgekühlt.

Der Halbmond hing hell am Himmel. Irgendwo hinter den Sternen dehnte sich das Universum bis zur Unendlichkeit aus, aber aus Victors Sicht war die Welt klein und die Zeit viel zu kurz. Er konnte seinen Herzschlag spüren, langsam und gleichmäßig, vielleicht vier Schläge pro Minute über seinem normalen Ruhepuls. Viel zu hoch, eigentlich. Er sehnte sich nach einer Zigarette, so wie immer in letzter Zeit.

Er verließ die Gasse. Seine Schritte waren auf dem harten, unebenen Untergrund praktisch nicht zu hören. Seit einer Woche war er jetzt schon in Paris und hatte auf das Startsignal gewartet. Er war froh, dass der Job so gut wie erledigt war. Heute Abend musste er den Gegenstand noch in das Versteck legen und den Makler informieren. Es war kein schwieriger und erst recht kein riskanter Auftrag gewesen, sondern ein eher einfacher. Geradezu langweilig. Ein Standardmord inklusive Mitbringsel, eigentlich weit unter seinem Niveau, aber wenn der Kunde bereit war, für einen Auftrag, den jeder Amateur fertiggebracht hätte, sein unverschämtes Honorar zu bezahlen, dann wollte Victor sich auch nicht beschweren. Obwohl sich eine leise, mahnende Stimme in seinem Hinterkopf bemerkbar machte, weil das alles viel zu einfach gewesen war.

Bevor er in Richtung Innenstadt verschwand, warf er noch einen letzten Blick auf den Mann, den er ohne jedes Wort und ohne jedes Schuldgefühl ermordet hatte. Im Dämmerlicht starrten ihn die weit aufgerissenen, anklagenden Augen seines Opfers an. Das Weiße war durch das einsickernde Blut bereits schwarz geworden.

Kapitel 2

08:24 MEZ

Sie waren zu zweit.

Mittelgroß, leger gekleidet, nichts Auffälliges, abgesehen von der Tatsache, dass sie zu unauffällig waren. Das Hôtel de Ponto lag in der schicken Rue du Faubourg Saint-Honoré. Hier stiegen überwiegend wohlhabende Touristen und Geschäftsleute ab, allesamt Männer und Frauen, die sich mit Designerkleidung ausstaffierten. In einer ganz normalen Menschenmenge wären die beiden nicht weiter aufgefallen. Aber hier schon.

Victor entdeckte sie gleich, als er durch den Haupteingang kam. Sie verharrten vor den Fahrstühlen am hinteren Ende der Lobby und hatten ihm den Rücken zugewandt. Beide standen sie vollkommen regungslos da. Einer mit den Händen in den Taschen, der andere mit verschränkten Armen. Sie warteten. Falls sie irgendwelche Worte wechselten, dann ohne jede Veränderung der Körperhaltung.

Nicht einmal ein Dutzend Menschen hielten sich in der großzügigen Hotellobby auf. Eine hohe Decke, Fußboden und Säulen aus Marmor, viel zu viele üppige, exotische Topfpflanzen, Sitzgruppen aus grünen Ledersesseln in der Mitte sowie in den Ecken. Ungeachtet der potenziellen Gefahr schlenderte Victor locker und gelassen zum Rezeptionstresen, der sich an der Wand zu seiner Rechten entlangzog. Dabei behielt er die Männer aus dem Augenwinkel ununterbrochen im Blick, jederzeit bereit zu handeln, falls einer in seine Richtung sah. Er hatte sich noch keine endgültige Meinung über die beiden gebildet, aber in Victors Beruf war eine potenzielle Gefährdung so lange eine definitive Gefährdung, bis das Gegenteil bewiesen war. In der Lobby war er ungedeckt, verwundbar, auch wenn er sich das in keiner Weise anmerken ließ. Niemand schenkte ihm die geringste Aufmerksamkeit. Er benahm sich wie alle anderen, sah aus wie alle anderen.

Nach einer weitverbreiteten Vorstellung trugen Victor und seine Berufsgenossen immer nur schwarze Kleidung, aber einem Klischee zu entsprechen war nicht Victors Hauptinteresse. Wie die meisten Menschen sah auch er in Schwarz gut aus, zu gut für jemanden, dessen Leben unter Umständen davon abhing, unbemerkt zu bleiben. Mit seinem dunkelgrauen Anzug, dem weißen Baumwollhemd und der einfarbigen silbernen Krawatte entsprach Victor von Kopf bis Fuß dem Bild eines respektablen Geschäftsmanns. Den wollenen Anzug hatte er von der Stange gekauft, hervorragende Qualität, aber etwas größer als nötig, ohne jedoch allzu schlecht zu sitzen, um zusätzlichen Spielraum an Hüften, Oberschenkeln, Armen und Schultern zu haben. Seine schwarzen Oxford-Schuhe glänzten, aber nicht zu sehr, waren knöchelhoch und besaßen eine dicke Profilsohle. Dazu kamen eine einfache Brille und ein langweiliger Haarschnitt.

Sein äußeres Erscheinungsbild war ganz darauf abgestimmt, eine nichtssagende, neutrale Gestalt zu schaffen. Wer versuchen sollte, sich an ihn zu erinnern, würde sich sehr schwertun, eine genaue Vorstellung zu bekommen. Ein Mann mit Anzug, wie Millionen andere auch. Abgesehen von der leicht abzunehmenden Brille, gab es nur noch ein anderes hervorstechendes Merkmal, das möglicherweise bemerkt würde, und genau dazu war es da: um die Aufmerksamkeit von anderen Dingen abzulenken. Er würde es nachher abrasieren. Er wirkte schick, aber nicht stilvoll, gepflegt, aber durchschnittlich, selbstbewusst, aber nicht arrogant. Leicht zu vergessen.

Er trat an den Tresen und lächelte höflich, als die schwarzhaarige Rezeptionistin den Kopf hob und ihn anschaute. Sie besaß sonnengebräunte Haut und große Augen und war gekonnt, aber unauffällig geschminkt. Ihr Lächeln war fröhlich und falsch. Sie verbarg es gut, aber Victor wusste, dass sie jetzt lieber woanders gewesen wäre.

»Bonjour«, sagte er nicht zu laut. »J’habite à la chambre 407, je suis Mr. Bishop. Pouvez vous me dire si j’ai recu des messages?«

»Un instant, s’il vous plait.«

Sie nickte kurz und sah nach. An der Wand hinter dem Tresen hing ein großer Spiegel, in dem Victor die beiden Männer beobachten konnte. Als die Fahrstuhltüren aufgingen, traten die Männer auseinander und ließen ein Paar durch die Lücke gehen, bevor sie praktisch synchron den Fahrstuhl betraten. Er sah ihre Hände. Sie trugen Handschuhe.

Victor veränderte seine Position ein wenig, um besser ins Innere des Fahrstuhls sehen zu können, erfasste aber nur das Spiegelbild eines der beiden Männer. Victor neigte den Kopf zur Seite und verdeckte einen Teil seines Gesichts, falls der Mann zu ihm herüberblicken sollte. Er besaß helle Haut und ein kantiges, glatt rasiertes Konterfei. Er wirkte hochkonzentriert, den Blick geradeaus gerichtet, die Arme hingen locker am Körper. Seine Handschuhe waren aus braunem Leder. Unter seinem Nylonjackett verbarg sich entweder ein deformierter Brustkorb oder etwas mit den Umrissen einer Pistole. Jeder Rest von Zweifel verflüchtigte sich.

Waren sie von der Polizei? Nein, sagte Victor sich. Der Mord an Ozols war noch keine zwei Stunden her. In so kurzer Zeit konnte er niemals mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Und Geheimdienstler waren es auch nicht. Die hätten es nicht nötig, Handschuhe zu tragen. Das ließ nur noch eine Möglichkeit offen.

Victor tippte auf Osteuropa … Tscheche, Ungar oder vielleicht vom Balkan, wo besonders effektive Killer ausgebildet wurden. Zwei hatte er gesehen, aber es konnten leicht noch mehr sein. Zwei Pistolen sind wirkungsvoller als eine, aber ein ganzes Team war eindeutig noch besser, zumal die Zielperson ein erfahrener Auftragskiller war. Nur die Besten können es sich erlauben, alleine zu arbeiten.

Die Männer benahmen sich so, als gäbe es noch andere. Sie schenkten ihrer Umgebung keine Beachtung, machten sich keinerlei Gedanken um ihre Sicherheit. Also zusätzliche Überwachung, ein größeres Team. Vielleicht vier, vielleicht auch zehn Mann stark. Falls es noch mehr waren, dann rechnete Victor sich keine Chance aus.

Sie hatten herausgefunden, wo er wohnte, und das bedeutete, dass sie über erhebliches Geschick verfügten oder sehr exakt recherchiert hatten. Solange Victor nicht genau wusste, mit wem er es zu tun hatte, konnte er es sich nicht leisten, sie zu unterschätzen. Er musste davon ausgehen, dass sie ihm zumindest ebenbürtig waren. Sollte sich herausstellen, dass dem nicht so war, dann umso besser.

Die Rezeptionistin beendete ihre Suche und schüttelte den Kopf. »Monsieur, il n’y a aucun message pour vous.«

Er bedankte sich und sah im selben Augenblick, wie die konzentrierte Miene des Mannes im Fahrstuhl für einen kurzen Augenblick einem Ausdruck des Schmerzes oder höchster Anspannung wich. Er hob einen Finger an das rechte Ohr, dann warf er einen schnellen Blick auf seinen Partner. Noch während er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, versuchte er die Hand zwischen die zugleitenden Fahrstuhltüren zu schieben, doch es war zu spät. Victor konnte gerade noch die ersten Worte von seinen Lippen lesen.

Er ist in der Lobby …

Sie trugen Funkempfänger. Man hatte ihn entdeckt.

Victor drehte sich um und ließ den Blick durch das Foyer gleiten, musterte jede einzelne Person etliche Sekunden lang, um festzustellen, ob ihm andere Mitglieder des Killerkommandos entgangen waren. Die natürliche Reaktion auf eine solche unmittelbare Bedrohung wäre gewesen, sofort zu handeln. Bei Gefahr wurden die Nebennieren angeregt, Adrenalin auszuschütten, das den Herzschlag beschleunigte und den Körper in Aktionsbereitschaft versetzte. Doch Victor verließ sich nur ungern auf seine Instinkte. In der Wildnis hatte man immer nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: kämpfen oder flüchten. Victors Herausforderungen waren jedoch in der Regel weit weniger einfach.

Er schluckte, holte tief Luft, zwang seinen Körper zur Ruhe. Er musste nachdenken. Schnelles Handeln brachte überhaupt nichts, wenn es falsch war. Wer in Victors Branche den ersten Fehler machte, war nur selten in der Lage, noch einen zweiten zu begehen.

Er zählte zehn Personen in der Lobby. Ein Mann mittleren Alters und seine junge, attraktive Begleiterin waren auf dem Weg zur angrenzenden Bar. Eine Gruppe hüftsteifer alter Männer saß auf den Ledersesseln und amüsierte sich. Die verführerische Rezeptionistin unterdrückte ein Gähnen. Ein Geschäftsmann steuerte den Ausgang an und rief etwas in sein Handy. Bei den Fahrstühlen kämpfte eine Mutter mit ihrem Kleinkind. Niemand, der etwas mit den beiden Männern zu tun haben könnte, allerdings war es möglich, dass weitere Gegner den Lieferanteneingang oder vielleicht sogar die Küche besetzt hielten, um ihrer Beute jeden möglichen Fluchtweg zu versperren. Das war das übliche Vorgehen. Allerdings zwecklos, wenn die Beute gar nicht da war, wo sie eigentlich sein sollte.

Aus irgendeinem Grund war der zeitliche Ablauf durcheinandergeraten, und der ursprüngliche Plan funktionierte nicht mehr. Sie würden hektisch werden, fürchten, dass sie entdeckt worden waren und dass ihre Zielperson womöglich entkommen konnte. Sie hatten ihn aus den Augen verloren und mussten ihn zunächst einmal wiederfinden. Oder sie würden jedes Versteckspiel über Bord werfen und versuchen, ihn hier und jetzt umzubringen, solange sie ihn noch für verwundbar und unaufmerksam hielten. Victor hatte weder das eine noch das andere vor.

Er beobachtete die Anzeige über dem Fahrstuhl. Die Drei leuchtete auf. Dort lag sein Zimmer. Er starrte weiter auf die Anzeige. Wenige Sekunden später erschien die Zwei. Sie waren wieder auf dem Weg nach unten.

Victor warf einen Blick zum Haupteingang. Wenn er jetzt hinausging, dann musste er sich nur mit denen beschäftigen, die zu seiner Überwachung eingeteilt waren. Sie waren vielleicht nicht darauf eingerichtet, ihn zu Fuß zu verfolgen, und wenn er schnell genug war, konnte er unter Umständen entkommen, ohne dass ein Schuss fiel. Aber er konnte nicht weg. Sein Reisepass und seine Kreditkarten lagen in seinem Hotelzimmer. Die Dokumente waren zwar gefälscht, aber seine Verfolger wussten eigentlich jetzt schon zu viel über ihn.

Er konnte die Treppe nehmen, aber nicht, wenn einer der beiden ihm dort entgegenkam, um genau das zu verhindern. Es gab da nämlich noch ein Problem. Er war unbewaffnet. Die FN, die Ozols’ Leben beendet hatte, war in ihre Einzelteile zerlegt und einzeln entsorgt worden. Der Lauf in der Seine, der Schlitten in einem Gully, Verschluss und Schließfeder in einem Container, das Magazin in einem Mülleimer. Victor benutzte jede Waffe nur ein Mal. Mit Beweismitteln herumzulaufen, die ihm vor jedem Geschworenengericht einen Schuldspruch eingebracht hätten, war nicht sein Stil. Wenn er seine Ersatzwaffe in die Finger bekam, dann hatte er wenigstens die Chance, sich zu verteidigen.

Allerdings gab es nur einen funktionierenden Fahrstuhl. An der Tür des anderen baumelte ein Schild: Außer Betrieb. Victor schlenderte durch die Lobby und stellte sich vor den Aufzug, den auch die beiden Männer benutzt hatten. Er ließ die Finger seiner rechten Hand knacken, einen nach dem anderen.

Mit einem Pling erreichte der Fahrstuhl das Erdgeschoss. Kurz bevor die Türen sich öffneten, trat Victor zur Seite und drückte sich mit dem Rücken in eine kleine Nische, die von einer aufwendig verzierten Vase geschmückt wurde. Er blieb regungslos stehen, ohne die verwirrten Blicke eines Fünfjährigen zu beachten. Alle anderen hatten viel zu viel zu tun, um auf ihn aufmerksam zu werden.

Einer der beiden Attentäter verließ den Fahrstuhl und machte ein paar Schritte ins Foyer. Der zweite war nicht zu sehen. Offensichtlich hatte er sich für die Treppe entschieden. Der Mann, der Victor den Rücken zugedreht hatte, war kräftig gebaut. Er besaß einen Stiernacken, und seine ganze Erscheinung und Körperhaltung deuteten auf eine militärische Ausbildung hin. In entspannter Haltung stand er da, ohne den Kopf zu bewegen. Victor wusste, dass er dennoch den gesamten Raum absuchte, allerdings nur mit den Augen, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er war gut, aber nicht so gut, dass er sich umgedreht hätte.

Victor wartete so lange wie nur möglich, dann huschte er zwischen den sich schließenden Fahrstuhltüren hindurch. Zwischen ihm und dem Attentäter lagen gerade einmal fünfzehn Zentimeter.

Eine Sekunde, bevor die Türen ganz geschlossen waren, bemerkte der Mann den kleinen Jungen, der mit dem Finger auf Victor zeigte, und drehte sich um. So etwas ließ sich nie ganz ausschließen. Für einen Sekundenbruchteil blickte der Mann Victor direkt ins Gesicht.

Erkenntnis blitzte in seiner Miene auf.

Die Türen schlossen sich.

Kapitel 3

08:27 MEZ

Victor holte ein paarmal hintereinander tief Luft, hielt den Atem an und zählte bis vier. Erst dann atmete er wieder aus. Das Adrenalin jagte seinen Puls nach oben, wollte die Sauerstoffversorgung der Muskeln verbessern. Aber wenn das Herz mehr als hundertzwanzig Mal pro Sekunde schlägt, wird die Feinmotorik beeinträchtigt, jene kleinen Muskelbewegungen, die man beispielsweise benötigt, um ein Ziel anzuvisieren. Bei über hundertdreißig Schlägen gehen diese Fähigkeiten komplett verloren. Der Körper geht davon aus, dass sie für das Überleben keine unmittelbare Bedeutung haben.

Victor war da entschieden anderer Ansicht.

Indem er seine Atmung kontrollierte, unterbrach er die automatisierten Abläufe des vegetativen Nervensystems und verhinderte ein weiteres Ansteigen seines Pulses. Er konnte sich über seine Instinkte zwar nicht hinwegsetzen, aber er konnte sie zumindest beeinflussen.

Der Typ im Foyer würde vermutlich keine Zeit damit vergeuden, um den anderen Einheiten mitzuteilen, dass ihre Tarnung aufgeflogen war und die Zielperson nach oben flüchtete. Victor konnte in jedem beliebigen Stockwerk aussteigen, sich ein Fenster suchen und war dann wenige Augenblicke später verschwunden. Aber er brauchte seine Sachen. Falls die Killer sie nicht fanden, dann würden die Behörden früher oder später darauf stoßen. Reisepässe waren voll mit Länderstempeln und Datumsangaben. Kreditkartennummern ließen sich zurückverfolgen. Die Pistole würde dafür sorgen, dass sie jede Spur sehr sorgfältig unter die Lupe nahmen. Zwar waren sämtliche Dokumente auf einen falschen Namen ausgestellt, aber auf einen, den er schon einmal benutzt hatte. Er hatte alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, aber die, die wussten, wonach sie suchen mussten, fanden immer eine Spur, und am Ende dieser Spur, da befand sich sein wahres Ich. Das durfte er nicht zulassen.

Der Fahrstuhl fuhr ohne Halt an den ersten beiden Stockwerken vorbei. Victors Atem ging gleichmäßig. Er zählte jede einzelne, lange Sekunde bis zum Pling.

Noch während die Türen auseinanderglitten, stand Victor bereits im Flur und steuerte mit schnellen Schritten das Treppenhaus am Ende des Korridors an, rund zehn Meter vom Fahrstuhl entfernt. Die Tür war zu.

Er musste nicht einmal das Ohr an die Tür legen, um Schritte zu hören, die nach oben kamen. Sie waren nicht mehr weit. Er brauchte Zeit, um seine Sachen einzupacken, Zeit, die er nicht hatte. Es sei denn, er besorgte sie sich.

Ein Stück den Flur entlang hing eine Feueraxt an der Wand. Victor schlug mit dem Ellbogen die Schutzscheibe ein und nahm die Axt heraus. Dann ging er zurück zur Treppenhaustür und stemmte die Axt mit der Klinge nach oben gegen den Türgriff, sodass der Stiel fest auf den Boden gepresst wurde. Das machte einen stabilen Eindruck.

Unterhalb der Axthalterung befand sich ein Feuerlöscher. Victor nahm ihn in die linke Hand und ging zurück zum Fahrstuhl, der immer noch im dritten Stock stand. Er drückte auf die Taste, und die Türen glitten auf.

Plötzlich erzitterte die Treppenhaustür. Die Axt gab nicht nach, hielt die Klinke fest an ihrem Platz, ganz egal, wie viel Kraft aufgewandt wurde. Dann kehrte Ruhe ein.

Victor wandte sich wieder dem Fahrstuhl zu. Er legte den Feuerlöscher zwischen die geöffneten Türen, beugte sich ins Innere und drückte die Erdgeschosstaste. Die Türen glitten zu, prallten auf den Feuerlöscher und glitten wieder auf, immer und immer wieder. Nach Victors Schätzung hatte er sich damit ungefähr zwei Minuten erkauft. Er brauchte nicht einmal eine.

Lautlos schlich er zu seiner Zimmertür. Womöglich wurde er bereits erwartet. Sie würden aufmerksam sein, vorbereitet. Er trat die Tür ein und ging sofort tief in die Hocke, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Sein Kopf befand sich unterhalb seines normalen Körperschwerpunkts. Schon nach wenigen Sekundenbruchteilen hatte er das Zimmer, noch eine Sekunde später das Badezimmer inspiziert.

Niemand.

Die beiden im Treppenhaus, dazu das Überwachungsteam draußen und möglicherweise noch andere im Hotel. Sie waren gut. Durchorganisiert. Wenn sie wirklich gut waren, dann hatten sie auch noch einen Scharfschützen in einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite postiert.

Victor kam nicht einmal in die Nähe des Fensters.

Im Badezimmer nahm er den Deckel des Spülkastens ab und zog die verschließbaren Plastikbeutel heraus. In einem lagen sein Reisepass, das Flugticket und die Kreditkarten. Er steckte die Sachen in die Innentasche seines Jacketts. Der zweite enthielt eine weitere vollständig geladene FN plus Schalldämpfer. Es zahlte sich eben aus, immer auf das Schlimmste gefasst zu sein, sagte sich Victor. Er riss den Beutel auf, nahm die Waffe, schraubte den Schalldämpfer auf und zog den Schlitten durch, um eine Patrone in den Lauf zu befördern.

Ein Diplomatenkoffer mit Wechselkleidung und seinen übrigen Besitztümern stand bereits fertig gepackt auf dem Bett. Victor nahm ihn in die linke Hand, die Pistole hielt er möglichst verdeckt in der Rechten, presste sie seitlich an den Körper. Zügig ging er durch den Flur, hielt sich von der Treppe und dem Fahrstuhl fern, steuerte die Feuerleiter an. Bis die merkten, was los war, war er längst über alle Berge.

Er blieb stehen.

Wenn er jetzt das Weite suchte, dann wusste er gar nichts über die Leute, die ihn ermorden wollten. Wer immer diesen Auftrag erteilt haben mochte, er würde sie nicht einfach wieder nach Hause schicken. Bei irgendjemandem stand er auf der Abschussliste. Sie hatten ihn ein Mal gefunden, sie würden es auch ein zweites Mal schaffen. Und dann entdeckte er sie vielleicht nicht so schnell, vielleicht sogar überhaupt nicht.

Sie waren ihm zwar zahlenmäßig überlegen, aber sie hatten die Initiative aus der Hand gegeben. Eines der ersten Dinge, die er über Gefechtstaktik gelernt hatte, war, niemals einen Vorteil aus der Hand zu geben.

Victor drehte sich um.

Atemlos und mit gezogenen Waffen kamen sie vor seinem Zimmer an. Einer stellte sich rechts neben die Tür, der andere links. Die Zimmertür der Zielperson stand offen, das Schloss war aufgebrochen. Der größere und ältere der beiden drückte zweimal auf den Sendeknopf des Funkgeräts in seiner Innentasche. Aus seinem drahtlosen, hautfarbenen Ohrhörer drang ein Flüstern.

Nach einem schnellen Handzeichen zu seinem Partner stürmten die beiden das Zimmer. Der Erste war schnell und lief geduckt, damit der Zweite, der dicht hinter ihm war, über ihn hinweg schießen konnte. Der Erste deckte die linke Seite des Zimmers ab, der andere die rechte. In höchstem Tempo, aggressiv und überfallartig, um die Person im Zimmer in die Defensive zu drängen, zu überrumpeln, zu lähmen.

Das Zimmer war leer. Sie sahen im Badezimmer nach – ebenfalls leer. Während sie sich gegenseitig Deckung gaben, sahen sie im Schrank nach, unter dem Bett, überall, wo sich ein Mensch vielleicht verstecken konnte, und sei es noch so unwahrscheinlich. Man hatte ihnen gesagt, sie sollten gründlich vorgehen, nichts dem Zufall überlassen. Sie schauten auch hinter den Vorhängen nach, wobei der Erste zunächst die Hand vor das Fenster hielt, um dem Scharfschützen im gegenüberliegenden Gebäude zu signalisieren, dass er nicht schießen sollte. Auf ihren Gesichtern glänzten Schweißtropfen.

Das Zimmer war ein einziges Durcheinander. Die Zielperson war offensichtlich in aller Eile geflohen und hatte gar nicht mehr alle Sachen eingepackt. Kleidungsstücke lagen auf dem Boden verstreut, das Bett war nicht gemacht, am Waschbecken standen noch Toilettenartikel. Das war nachlässig, unprofessionell.

Beide Männer entspannten sich, atmeten ein wenig leichter. Er war weg. Sie steckten ihre Waffen ein, für den Fall, dass ihnen andere Hotelgäste begegneten. Als der Fahrstuhl nicht reagiert hatte, da hatten sie keine andere Wahl gehabt, als wieder die Treppe hinaufzulaufen und die Treppenhaustür aufzubrechen. Dabei war es nicht gerade leise zugegangen.

Sie verließen das Zimmer und zogen die Tür hinter sich zu. Der ältere der beiden hob seinen Hemdkragen hoch und berichtete in das Mikrofon, dass die Zielperson verschwunden war. Sorgfältig vermied er jede Andeutung auf einen Fehler von seiner Seite. Sie machten sich keine allzu großen Gedanken. Alle Ausgänge des Gebäudes wurden bewacht. Eines der anderen Teammitglieder würde ihn sehen und handeln … vielleicht sogar jetzt, in diesem Moment. Die Zielperson war so gut wie tot. Jedes Teammitglied würde einen fetten Bonus erhalten, sobald der Job erledigt war, und sie hatten nicht einmal einen einzigen Schuss abgeben müssen.

Ihr Chef hatte gesagt, dass sie vorsichtig sein sollten, dass die Zielperson gefährlich war, aber jetzt hatten sie eher das Gefühl, als sei die ganze Aufregung umsonst gewesen. Ihre ach so gefährliche Zielperson hatte bei der erstbesten Gelegenheit die Flucht ergriffen und war jetzt nicht mehr ihr Problem. Leicht verdientes Geld.

Ihre Mienen verdunkelten sich jedoch schlagartig, als sie erfuhren, dass die Zielperson das Gebäude nicht verlassen hatte und von keinem ihrer Kollegen gesichtet worden war. Die beiden Männer blickten einander an, und beiden stand dieselbe Frage ins Gesicht geschrieben.

Wo war er dann?

Victor trat von dem Spion in der gegenüberliegenden Zimmertür zurück und hob die Pistole. Er drückte zehnmal in schneller Folge hintereinander ab und leerte sein Magazin genau zur Hälfte. Die Zimmertür war dick und aus solidem Nadelholz, aber die Projektile aus der Five-seveN waren geformt wie Gewehrkugeln und durchschlugen die Tür, wobei sie kaum an Durchschlagskraft verloren.

Zwei schwere Objekte fielen auf den Teppichboden, ein dumpfer Plumps und dann noch einer.

Seine Zimmertür knarrte. Er hatte sie von innen mit dem Fuß zugehalten, da er gezwungen gewesen war, das Schloss aufzubrechen. Jetzt zog er sie mit der Linken auf und trat hinaus auf den Flur. Der erste Mann war direkt vor ihm auf dem Fußboden zusammengebrochen und gegen den Türrahmen von Victors Zimmer gesunken. Der Kopf hing nach vorn, Blut tropfte aus seinem Mund und sammelte sich in einer Lache auf dem Teppich. Abgesehen von einem Zucken des linken Fußes, bewegte er sich nicht.

Der andere lebte noch. Er lag mit dem Gesicht auf dem Fußboden und gab ein leises Gurgeln von sich. Er hatte etliche Treffer abbekommen, in den Unterleib, die Brust und den Hals, von wo das Blut aus der zerfetzten Halsschlagader an die Wand spritzte. Er versuchte wegzukriechen, den Mund weit aufgerissen, als wollte er um Hilfe schreien, aber kein Laut drang heraus.

Victor ließ ihn liegen und griff in die Jackentasche des Toten, suchte erfolglos nach einem Portemonnaie. Dann wollte er den Funkempfänger an sich nehmen, aber der war von einer Kugel auf dem Weg in Richtung Herz komplett zerstört worden. In einem Schulterhalfter entdeckte Victor eine Beretta 92F, neun Millimeter, sowie in einer Tasche zwei Ersatzmagazine. Die Beretta war eine gute, zuverlässige Pistole mit maximal fünfzehn Schuss, sie war aber auch groß und schwer und ließ sich selbst ohne den aufgesetzten Schalldämpfer nie spurlos verstecken. Und mit Unterschallmunition war die Durchschlagskraft auch nicht gerade berauschend. Keine gute Wahl für einen Auftrag wie diesen. Wenn der Typ nicht tot gewesen wäre, hätte Victor ihn vielleicht darauf aufmerksam gemacht.

Die Beretta wäre im Normalfall nicht seine erste Wahl gewesen, aber in Zeiten wie diesen konnte man nie ausreichend bewaffnet sein. Victor steckte sie nach hinten in den Hosenbund. Urplötzlich fuhr ein Zucken durch den leblosen Körper, vielleicht durch einen Muskelkrampf, und er fiel nach vorn. Der Mund klappte auf, und ein ganzer Schwall Blut, das sich im Mund angesammelt hatte, schwappte auf den Teppich, gefolgt von einer halb abgebissenen Zunge. Victor trat beiseite und wandte seine Aufmerksamkeit demjenigen zu, der lebte. Noch.

Als Victor ihm den Absatz zwischen die Schulterblätter drückte, gab er jeden Versuch auf wegzukriechen. Dann wälzte Victor den Mann auf den Rücken und ging neben ihm in die Knie, wobei er ihm den Schalldämpfer der Five-seveN kräftig in die Wange drückte. Dabei drehte er den Kopf des Mannes beiseite, damit der Blutschwall aus der Arterie auch weiterhin die Wand traf und nicht ihn. Das Blümchenmuster der Tapete wurde verunstaltet.

Der Mann versuchte, etwas zu sagen, brachte aber nicht mehr als ein Krächzen zustande. Die Kugel hatte die Luftröhre durchschlagen, und er konnte nur einige wenige Geräusche von sich geben. Er zerrte an Victors Kragen, versuchte ihn zu packen, wollte den Kampf trotz seiner tödlichen Verletzung nicht verloren geben. Seine Beharrlichkeit nötigte Victor durchaus Respekt ab.

Wie sein Partner war auch er mit einer Beretta, einem Funkempfänger und einem Ohrstöpsel ausgestattet. Victor entlud die Waffe und sah in den übrigen Taschen nach. Sie waren leer, abgesehen von ein paar Streifen Kaugummi, noch mehr Munition und einer zerknitterten Quittung. Er nahm den Kaugummi und die Quittung, die auf ein halbes Dutzend Kaffees lautete, und warf sie weg. Dann wickelte er einen Kaugummistreifen aus und schob ihn in den Mund. Pfefferminz. Er nickte.

»Danke.«

Er schüttelte die Hand ab und lauschte ins Treppenhaus. Kein Anzeichen für weitere Attentäter, nur ein paar Frauen beschwerten sich über den defekten Fahrstuhl. Victor ging wieder zurück, wich vorsichtig den dunklen Flecken auf dem Teppich aus und nahm den Feuerlöscher aus den Fahrstuhltüren. Er trat ein und drückte erneut die Erdgeschosstaste. Zwar waren noch etliche seiner Sachen im Zimmer zurückgeblieben, aber das war kein Problem. Die Toilettenartikel waren nagelneu, die Kleidungsstücke ungetragen, und dank der Silikonlösung an seinen Händen hatte er nirgendwo irgendwelche Fingerabdrücke hinterlassen.

Der Sterbende im Flur hatte jetzt wenigstens aufgehört zu zucken. Das Blut sprudelte nicht mehr länger aus seinem Hals, sondern sickerte nur noch als dünnes Rinnsal auf den durchnässten Teppichboden. Victor konnte nicht anders, er musste das rote Muster an der Wand über der Leiche bewundern. Die kreuz und quer verlaufenden Linien besaßen eine gewisse ästhetische Qualität, die ihn an einen Jackson Pollock erinnerte.

Victor betrachtete sich in den verspiegelten Wänden der Fahrstuhlkabine und nahm sich einen Augenblick Zeit, um sein Erscheinungsbild zu vervollkommnen. Wenn er in dieser Umgebung nicht hundertprozentig respektabel aussah, dann würde das auffallen. Die Fahrstuhltüren schlossen sich, als aus Richtung des Treppenhauses ein schriller Schrei ertönte. Da hatte wohl jemand eine kleine Überraschung erlebt.

Victor nahm an, dass sie keine Anhängerin von Pollocks Werk war.

Kapitel 4

08:34 MEZ

Victor wartete geduldig in der Lobby, als um ihn herum die Panik ausbrach. Der Geschäftsführer des Hotels, ein kleiner, hagerer Mann mit einer verblüffend lauten Stimme, musste brüllen, um von seinen verängstigten Gästen überhaupt gehört zu werden. Manche waren nur halb angezogen und durch die Schreie, die von einem Massaker kündeten, rüde aus dem Bett gerissen worden. Der Geschäftsführer versuchte, den Leuten zu erklären, dass die Polizei schon unterwegs war und sie alle ruhig bleiben sollten. Aber dafür war es längst zu spät.

Victor saß in einem der luxuriösen Ledersessel in einer Ecke der Lobby. Den Sessel hatte er so gedreht, dass er den Haupteingang in der Mitte der gegenüberliegenden Wand sowie den größten Teil des Foyers im Auge behalten konnte, ohne den Kopf zu bewegen. Die Eingänge zur Hotelbar und ins Treppenhaus konnte er aus dem Augenwinkel einsehen. Zwar ging er nicht davon aus, dass irgendjemand die Fahrstühle zu seiner Rechten benutzen würde, aber falls doch, dann entdeckte er den- oder diejenigen immer noch zuerst, bevor sie ihn sehen konnten.

Bald würde die Polizei eintreffen. Die übrigen Mitglieder des Killerkommandos hatten nicht mehr viel Zeit, um ihren Auftrag zu Ende zu bringen. Vermutlich regierte jetzt, wo sie erfasst hatten, dass zwei ihrer Männer tot waren, die nackte Panik. Sie würden entweder selbst die Flucht ergreifen, wovon Victor nicht ausging, oder versuchen, ihren Job zu erledigen. In dem großen Durcheinander, das jetzt herrschte, war viel zu viel los, um ihn draußen auf der Straße zu erschießen. Außerdem war das zu riskant angesichts der anrückenden Polizeikräfte.

Es dauerte ungefähr eine Minute – länger als Victor gedacht hatte. Sie waren wohl doch nicht ganz so gut, wie er zunächst angenommen hatte. Sie waren leicht zu erkennen. Der Erste kämpfte sich mühsam gegen den Strom durch die Horde, die verzweifelt versuchte, nach draußen zu gelangen. Einen Augenblick später kam der Zweite aus einem Flur im Erdgeschoss in die Lobby gestürmt. Der erste Mann hatte blonde Haare, die rechte Hand in der Tasche seiner schwarzen Lederjacke vergraben, die Linke nach vorn ausgestreckt, um sich besser durch die verängstigte Menschenmenge schieben zu können. Der andere Kerl war groß und kräftig, mit kahl rasiertem Schädel und einem schwarzen Bartansatz. Ausgebeulte Jacke. Mit beiden Händen schob er die Leute aus dem Weg, ohne jede falsche Rücksichtnahme. Daraus schloss Victor, dass der Blonde in der Nahrungskette weiter oben angesiedelt war.

Sie trafen in der Mitte der Lobby zusammen und sprachen kurz miteinander. Dann blickten sie sich flüchtig um und warfen auf dem Weg durch das Foyer einen schnellen Blick in die Bar. Der blonde Mann steuerte die Treppe an, der kräftige den Fahrstuhl. Angesichts der Menschenmenge zwischen ihnen und Victor war es ein verständlicher Fehler, dass sie ihn übersahen, aber nichtsdestotrotz ein Fehler, der sie teuer zu stehen kommen würde.

Victor stand auf. Mit gemessenem Schritt nutzte er die Familie, die gerade den Fahrstuhl verließ, als Deckung vor den Blicken des Kräftigen, ging an ihm vorbei zur Treppe. Victor war schnell, und als der Mann mit der Lederjacke die Tür aufstieß, war er direkt hinter ihm.

Der blonde Mann sah den Schatten zu spät. Er versuchte noch, die Waffe zu ziehen, stellte seine Bemühungen aber sofort ein, als er den Schalldämpfer zwischen seinen Rippen spürte. Victor richtete ihn aufwärts, zielte auf das Herz. Gleichzeitig packte er mit der linken Hand die Hoden des Mannes und drückte zu. Er besaß recht beachtliche Kräfte und ging nicht sparsam damit um.

Der Mann schnappte nach Luft und wäre unter dem Ansturm der höllischen Schmerzen beinahe zu Boden gegangen.

Victor stieß ihn durch die Türöffnung und flüsterte ihm auf Französisch ins Ohr: »Rechte Hand – raus aus der Tasche. Waffe loslassen.«

Der Mann gehorchte.

»Wie viele seid ihr?«, wollte Victor wissen.

Der Mann konnte sich kaum auf den Beinen halten und schnappte nach Luft, um etwas zu sagen. Er hatte Todesangst. Victor konnte es ihm nicht verdenken. Er brachte nur ein einziges Wort hervor.

»Was?«

Victor bugsierte ihn einen Treppenabsatz höher und quetschte dem Mann noch einmal die Eier, um ihm klarzumachen, dass jeder Gedanke an einen Ausweg töricht wäre. Es war eigentlich überflüssig.

»Hier entlang.«

Sie nahmen auch den nächsten Absatz und landeten vor der Tür zum ersten Stock.

»Da rein. Aufmachen.«

Sie begegneten einem Zimmermädchen, das zur Treppe lief, und einer alten Frau, die die Haare zu einem strengen Knoten gebunden hatte und höchstens 1,50 Meter groß war. Victor hörte sie nach Luft schnappen – vielleicht, weil der andere so eine verzerrte Miene machte, oder wegen der Hand, die sich an sein Geschlecht klammerte. Victor achtete darauf, dass sein Kopf hinter dem seines Gefangenen blieb, sodass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte.

Wenn sie das, was sie da sah, jemandem erzählte, der wirklich etwas damit anfangen konnte, dann war er schon längst über alle Berge. Er hätte sie auch erschießen können, als Zeichen seiner außergewöhnlichen Umsicht, aber eine weitere Leiche im Flur würde ihm nur noch mehr Scherereien machen, und es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie zufällig hier vorbeikam.

Sie bogen um die Ecke in einen anderen Korridor ein. Es war still. Die Gäste hatten sich mittlerweile alle in der Lobby oder draußen auf der Straße versammelt.

»Tür aufmachen«, befahl Victor.

Der Mann zitterte, und seine Stimme klang heiser. »Welche?«

Victor jagte drei Kugeln an die Stelle zwischen Schloss und Türrahmen. Mit nur einer Kugel klappte das bloß im Film. »Die da.« Der Mann zögerte, und Victor erhöhte den Druck. »Aufmachen. Jetzt.«

Nur langsam drückte er die Klinke, und Victor stieß ihn ungeduldig ins Zimmer. Dann ging er hinterher und schob die Tür behutsam mit dem Fuß wieder zu.

»Waffe aufs Bett.«

Der Mann griff in seine Tasche und holte langsam, nur mit Daumen und Zeigefinger, die Pistole hervor. Er warf sie auf das Bett. Sie landete genau in der Mitte. Kein schlechter Wurf angesichts der Umstände.

Victor ließ den Blonden los und schleuderte ihn nach vorn. Er stolperte und brach auf dem Fußboden zusammen, blieb liegen wie ein geschrumpftes Bündel, fast in Fötushaltung, und hielt sich die gequetschten Hoden. Seine Tage als Casanova waren jedenfalls Vergangenheit. Er war jünger als die drei anderen, höchstens siebenundzwanzig. Seine Gesichtszüge waren anders, sein Auftreten kontrollierter. Victor musterte ihn neugierig. Irgendwie passte er nicht so recht zu den anderen. Ein Außenseiter. Oder ein Anführer.

Der Blick des Mannes huschte für einen Augenblick hinunter zu seinem rechten Fuß und dann schnell wieder weg. In einem ledernen Schienbeinhalfter, kaum zu erkennen, dort, wo das rechte Hosenbein beim Sturz etwas nach oben gerutscht war, steckte ein schwarzer, stupsnasiger Revolver. Er sah, dass Victor seinen Blick registriert und seine Gedanken erraten hatte.

Victor schüttelte einmal den Kopf.

Er trat einen Schritt nach vorn und richtete die Waffe auf die Stirn des Mannes. »Wie viele seid ihr?«

»Sieben.«

»Mit dir?«

Er nickte und verzog das Gesicht, für einen Augenblick unfähig zu sprechen, so groß waren die Schmerzen in seiner Lendengegend. Außer dem kräftigen Kerl im Fahrstuhl waren also noch drei weitere unterwegs.

»Wie viele Autos habt ihr dabei?«

Der blonde Mann spuckte seine Antwort so schnell wie möglich aus. »Eins.«

»Nur eins?«

»Ein Van.«

»Welches Kennzeichen?«

»Ich … ich weiß nicht.«

Victor jagte eine 5,7-Millimeter in den Boden zwischen seinen Füßen. Er musste zwar sparsam mit seinen Kugeln umgehen, hatte aber auch keine Zeit für ein ausgedehntes Verhör.

Der blonde Mann starrte das versengte Loch im Teppichboden an. »Ich schwöre.«

»Welches Fabrikat?«

»Ich weiß nicht … er ist blau. Ein Mietwagen.«

Sein Französisch war gut, aber nicht fließend. Er war kein Muttersprachler.

Victor sagte: »Weißt du, wer ich bin?«

Er antwortete nicht sofort. Victor trat einen Schritt näher, und der Mann fand seine Stimme wieder. »Nein.«

»Nein?«

»Nur ein Pseudonym … wir hatten ein Bild …«

»Woher habt ihr gewusst, wo ich wohne?«

»Man hat uns den Namen des Hotels gegeben.«

»Wann?«

»Vor drei Tagen.«

Dann erkannte Victor den Akzent. Er redete auf Englisch weiter. »Du bist Amerikaner.«

Er antwortete auf Englisch: »Ja.« Er stammte aus dem Süden, Texas vielleicht.

»Wer leitet die Operation?«, wollte Victor wissen.

»Ich.«

»Private Organisation?«

»Ja.«

»Seid ihr mir gefolgt?«

»Wir haben’s probiert, aber Sie sind uns immer entwischt.«

»Warum habt ihr nicht schon eher versucht, mich umzubringen?«

Der Amerikaner legte eine kurze Pause ein, dann antwortete er: »Wir mussten noch auf das Startsignal warten.«

»Und das habt ihr wann bekommen?«

»Ähm, um kurz nach sechs.«

Victor merkte, dass sein Gegenüber beschlossen hatte, die Wahrheit zu sagen. Vielleicht glaubte er ja, dann hätte er eine Chance. Selig sind die Unwissenden.

»Warum hast du die beiden Typen ins Hotel geschickt, bevor ich zurückgekommen bin?«

Der blonde Mann verzog erneut das Gesicht. »Ich habe die Nerven verloren. Ich dachte, Sie kommen nicht mehr zurück, und hab gesagt, sie sollen mal nachschauen.« Er zog ein grimmiges Gesicht, trotz der Schmerzen. »Schlechtes Timing.«

»Das war nicht besonders schlau«, meinte Victor. »Was ist mit dem USB-Stick?«

»Wir sollten sichergehen, dass Sie ihn haben, ihn mitnehmen und auf weitere Instruktionen warten.«

Victors Augen wurden zu Schlitzen. »Für wen arbeitest du?«

Der Mann ließ den Kopf sinken. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Bitte …«

»Für wen arbeitest du?«

Er schaute zu Victor auf und fand kein Mitleid in seinen Augen, keine Gnade. Er schluchzte.

»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?«

Victor glaubte ihm.

Er schoss ihm zweimal ins Gesicht.

Dann kniete er sich neben die Leiche, suchte nach irgendeinem Ausweis und entdeckte in der Innentasche des Jacketts ein Funkgerät, das auf Senden gestellt war. Das Licht flackerte. An der Unterseite seines Kragens war ein Mikrofon befestigt.

Ein Dielenbrett knarrte.

Victor erstarrte, blickte über seine Schulter.

Durch den Schlitz unterhalb der Tür konnte er einen Schatten draußen im Korridor erkennen, einen Schatten, der sich bewegte. Er tauchte nach rechts, als der kräftige Kerl mit dem rasierten Schädel das Zimmer stürmte, eine Maschinenpistole in der Hand, die bereits Feuer spuckte, noch bevor er ein Ziel ausgemacht hatte. Es war eine kompakte MP5K mit einem überlangen Schalldämpfer. Die Schüsse klangen nur noch wie eine Serie nicht nachlassender, gedämpfter Klicks.

Der Lauf der Waffe verfolgte Victor, während dieser ins angrenzende Badezimmer hechtete. Die Kugeln hinterließen eine Linie mit hübschen Löchern in der Wand hinter ihm. Auf dem Teppich zu Füßen des Attentäters stießen ausgeworfene Bronzehülsen klirrend aneinander.

Im Badezimmer hatte Victor seine Rolle kaum vollendet, da kauerte er bereits auf dem Boden und gab blindlings einen Schuss ab. Die Kugel zischte durch die Türöffnung und löste eine Gipswolke aus der gegenüberliegenden Wand.

Das Badezimmer war keine drei Quadratmeter groß, nicht mehr als eine geflieste Schachtel mit Dusche, Waschbecken und Toilette. Es gab keine Ecken oder Einrichtungsgegenstände, die irgendwie Deckung bieten konnten. Mit dem Schalter auf Vollautomatik konnte die MP5K ihr Magazin mit dreißig Schuss in zweieinviertel Sekunden entleeren. Auf diese Entfernung und mit dieser Feuerkraft konnte der Schütze beim besten Willen nicht danebenschießen.

Mit der linken Hand zog Victor die Beretta aus dem Hosenbund. Jetzt hatte er in jeder Hand eine Waffe und richtete beide auf die Türöffnung. Weniger gut für die Zielgenauigkeit, aber er brauchte die zusätzliche Durchschlagskraft, wenn er den Angreifer zu Fall bringen wollte, bevor dieser das Feuer eröffnen konnte. Er war sehr groß und kräftig. Weder die 5,7-Millimeter-Unterschallmunition noch die Neun-Millimeter-Kugeln konnten garantieren, dass er beim ersten Schuss zusammenbrach, es sei denn, sie drangen in seinen Schädel, sein Herz oder seine Wirbelsäule ein. Aber wenn Victor genügend Kugeln auf die Reise schicken konnte, dann spielte es keine Rolle mehr, wo er ihn traf. Er hielt die Beretta direkt unter die FN. So konnte er zumindest mit einer Waffe noch zielen. Victor hatte schon etliche Amateure gesehen, die beidhändig und mit schulterbreit ausgestreckten Armen versucht hatten, ihre Idole aus dem Kino nachzuahmen. Sie waren alle sehr schnell tot gewesen.

Da hörte er, wie etwas auf den Teppich fiel und mit leisem Klicken gegen die leeren Neun-Millimeter-Hülsen auf dem Fußboden rollte. Einen Augenblick später ertönte ein Klacken. Die MP5K war nachgeladen und einsatzbereit. Das erste Magazin war noch gar nicht leer gewesen, aber der Angreifer hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und wieder ein volles in den Schaft geschoben.

Victor blieb zusammengekauert auf dem Boden sitzen, so weit wie nur möglich von der Tür entfernt. Wenn der Feind schlau genug war, rechtzeitig nachzuladen, dann war er mit Sicherheit auch nicht so dumm, das Badezimmer zu stürmen, wenn er lediglich die Maschinenpistole hereinstecken und ein paar Feuerstöße abgeben musste. Victor spürte, dass der Attentäter in diesem Moment an der Außenwand des Badezimmers entlangschlich, weil er genau das vorhatte. So, wie es aussah, war Victor so gut wie tot. Er zwang sich, ruhig zu bleiben.

Er musste handeln und zwar schnell.

Er blickte sich um, entdeckte ein Handtuch am Handtuchhalter und über dem Waschbecken ein paar Toilettenartikel – Zahnpasta, Rasierschaum, Deospray, einen Rasierer, Rasierwasser.

Sein Blick blieb am Deo hängen.

Victor opferte zur Ablenkung noch einen Schuss aus der Five-seveN und schoss ein paar Sekunden später noch einmal, um ein bisschen Zeit zu gewinnen und den Angreifer zu verunsichern. Dann legte er die Beretta vor sich auf den Boden, nahm die FN in die linke Hand, stand auf und griff nach dem Deospray auf dem kleinen Regal über dem Waschbecken.

Kaum hatte er sich wieder hingekauert, drückte er noch zweimal den Abzug der Five-seveN, bis ein leeres Klick ertönte. Jetzt wusste der Angreifer, dass Victor keine Munition mehr hatte. Das war das Startsignal, jetzt würde er seine Chance beim Schopf packen.

Victor ließ die leere Waffe fallen, nahm das Deospray in die linke Hand und ergriff mit der rechten die Beretta. Dann sprang er auf und schleuderte die Spraydose knapp unterhalb des Türrahmens nach draußen, gerade, als der Lauf der MP sich um die Ecke schob.

Er gab drei Schüsse aus der Beretta ab.

Der letzte traf, und die Spraydose explodierte in der Luft.

Noch bevor er den Schrei hörte, stürmte Victor los, jagte geduckt nach draußen, obwohl sein Gegner in höchster Panik das Feuer eröffnete.

Doch die Kugeln flogen alle weit über seinen Kopf hinweg. Der Kerl stolperte rückwärts, sank gegen die Wand, die ihn als Einziges noch auf den Beinen hielt. Die MP immer noch in Schulterhöhe, so ballerte er wild und verzweifelt durch die Gegend.

Aus seinem verbrannten Gesicht und seinen Augen ragten zahlreiche zierliche Metallsplitter hervor. Seine Haare standen in Flammen.

Die Maschinenpistole klickte leer, und für einen kurzen Moment stellte der Mann sein Stöhnen ein. Sein Atem wurde schneller, abgehackter. Mit blinden Augen suchte er das Zimmer ab, die Waffe immer noch zu einer letzten, jämmerlichen Verteidigungspose erhoben. Es roch nach gegrilltem Schweinefleisch.

Victor erhob sich, richtete die Beretta auf den Brustkorb des Mannes und jagte ihm zwei Kugeln ins Herz.

Kapitel 5

08:38 MEZ

Mit schnellen Schritten ging Victor durch das Hotel, die Hand mit der Beretta unter dem Jackett verborgen. Die leere FN steckte in seiner Tasche. Schon am ersten Abend hatte er sich die Grundrisse des Hotels sorgfältig eingeprägt, und so arbeitete er sich jetzt zielsicher durch die Flure im Erdgeschoss, bis er vor einer Tür landete mit der Aufschrift: Nur für Personal.

Überall im Erdgeschoss waren die lauten, entsetzten Stimmen von Polizisten zu hören. Das waren vermutlich Streifenbeamte, die durch den Notruf alarmiert worden waren. Verstärkung war mit Sicherheit bereits unterwegs. Wenn Victor sich nicht schnell aus dem Staub machte, dann würde das Hotel abgeriegelt werden, genau wie die gesamte Straße und vermutlich sogar der ganze Häuserblock. Aber bis es so weit war, wollte Victor eigentlich schon längst über alle Berge sein.

Er holte die Beretta unter seinem Jackett hervor und stieß mit der linken Hand die Küchentür auf. Obwohl er seine Fingerspitzen mit Silikonlösung behandelt hatte, benutzte er nur die Knöchel, aus reiner Gewohnheit.

In der Küche war es erstaunlich kühl. Die Hintertür stand sperrangelweit offen, vermutlich durch die Flucht verängstigter Gäste und Angestellter. Eine erfrischende Brise war zu spüren. Erst jetzt stellte Victor fest, dass er schwitzte. Kein Küchenpersonal war zu sehen. Alle hatten sie weise die Flucht angetreten. Victor sog den frischen Frühstücksduft ein. Eier verbrannten in den Pfannen auf dem Herd. Brot und Croissants in den Backöfen.

Er atmete tief ein und aus, um seinen Puls möglichst niedrig zu halten, und packte die Beretta mit beiden Händen, während er sich langsam vorantastete. Der Raum war sehr groß und besaß durch die vielen Regale mit Küchengeräten und die Vorratsschränke zahlreiche blinde Stellen. Er ließ die Augen ununterbrochen wandern, während er sich Zentimeter für Zentimeter der Tür näherte, im vollen Bewusstsein, dass noch drei Attentäter am Leben waren. Er musste davon ausgehen, dass er weiterhin auf der Abschussliste stand, ob nun mit Anführer oder ohne. Und wenn das so war, dann war dieser Ausgang bewacht.

Er ging auf die Tür zu, hielt sich immer in der Nähe von Schränken und Arbeitsflächen, um schnell Deckung zu finden, falls irgendjemand von draußen hereingestürmt kommen sollte. Eine rasch näher kommende Sirene zwang ihn zu einer etwas schnelleren Gangart, aber trotzdem war er sich der drohenden Gefahr bewusst und bewegte sich nur langsam und kontrolliert vorwärts.

Wenn da draußen in der Gasse noch ein Attentäter lauerte und die Tür anvisierte, dann brauchte Victor, wenn er eine Chance haben wollte, lebend hier herauszukommen, unbedingt das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Jede Hast würde es seinen Widersachern nur leichter machen. Heute bekamen sie ihr Geld jedenfalls nicht geschenkt.

Er machte noch einen Schritt, dann blieb er stehen.

Etwas hatte sich bewegt.

Eine Spiegelung in dem Edelstahlschrank zu seiner Linken. Nur ein verwischtes Huschen, aber er wusste, was das bedeutete, wirbelte herum und sah die Tür einer Vorratskammer wuchtig aufschwingen. Eine dunkelhaarige Frau mit einer Pistole in der Hand sprang heraus, zielte auf ihn.

Victor reagierte schneller, schoss zuerst, zweimal, und traf genau ins Zentrum. Der Einschlag riss sie von den Beinen und schleuderte sie zurück in die Kammer, aus der sie gekommen war.

Sofort war er bei ihr, sah, dass sie auf dem Rücken gelandet war. Sie lebte noch, doch waren die Augen geschlossen. Rund um die Brandlöcher in ihrer Bluse hatten sich kreisförmige Blutflecken gebildet. Sie keuchte. Ein Lungenflügel war kollabiert. Die Waffe lag direkt neben ihr, aber sie machte keine Anstalten, danach zu greifen. Sie hatte zu große Angst.

Da fiel Victors Schatten auf sie, und sie hob den Blick. Sie war verblüffend attraktiv, Ende zwanzig. In ihrem zierlichen Gesicht war Schmerz, in ihren stechenden Augen Todesangst zu erkennen. Sie starrte ihn flehend an,Tränen rannen ihr über die Wangen, Lippen, die er gerne geküsst hätte, formten tonlose Worte. Nicht mehr genügend Luft in den Lungen, um zu sprechen, um zu betteln. Oder um ihm etwas Hilfreiches zu verraten. Er verharrte einen Augenblick und überlegte, was eine Frau wie sie wohl in dieses Geschäft verschlagen haben mochte. Aber wie auch immer, sie würde gleich ein deprimierendes Ende finden. Ihr Kopf baumelte träge von einer Seite zur anderen.

Die rauchende Patronenhülse fiel klirrend auf die Bodenfliesen.

Er durchsuchte sie. Wie die anderen hatte auch sie kein Portemonnaie dabei, keine Papiere, nichts dergleichen. Das war eindeutig eine schlaue Auftragskillertruppe, auch wenn sie so dämlich gewesen waren, diesen Auftrag anzunehmen. Dann musste Victor eben bei einem der Verbliebenen noch etwas finden, was ihm weiterhelfen konnte. Mit der Frage, was wäre, wenn nicht, wollte er sich gar nicht erst beschäftigen.

Er ließ die Beretta fallen und griff nach der Pistole der Toten. Eine gute Waffe, eine Heckler & Koch USP in der Kompaktversion, Kaliber 45, mit einem kurzen, dicken Schalldämpfer. Er holte das achtschüssige Magazin heraus, sah die präzisionsgefertigten Hohlspitzgeschosse und rammte das Magazin zurück in den Schaft. Eine Mörderin, die offensichtlich Wert auf gutes Handwerkszeug legte. Na ja, jetzt nicht mehr.

Er schnappte sich noch ein Ersatzmagazin aus ihrer Jackentasche, dann lief er zum Hinterausgang hinaus in die schmale Gasse, geduckt, Blick nach links, Blick nach rechts. Die HK begleitete jeden seiner Blicke. Niemand. Er steckte die Pistole in den Hosenbund und ging in Richtung Hauptstraße. Endlich mal eine vernünftige Waffe. Attentäter hatten manchmal einen fürchterlichen Geschmack.

Mit der Frau hatte er insgesamt fünf erledigt.

Blieben noch zwei.

Vor dem Hotel hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Gäste und Angestellte waren gleichermaßen geschockt, überwältigt und verängstigt und suchten gemeinsam nach Trost. Nur eine Handvoll Menschen wusste wirklich genau, wie es dort oben im Flur des dritten Stockwerks aussah, aber die Gerüchte von Blut und Leichen hatten sich schnell verbreitet. Ein einzelner Polizist tat sein Möglichstes, um die Menge zurückzudrängen. Ständig kamen neue Passanten hinzu und wollten wissen, was los war.

Victor verließ die Seitengasse und mischte sich unter die Menge. Sooft es ging, bewegte er sich seitwärts, um etwaigen Scharfschützen kein allzu leichtes Ziel zu bieten. Es war zwar unwahrscheinlich, dass jemand einen solchen Schuss riskierte, aber sein Leben würde er nicht darauf wetten. Dann entdeckte er den blauen Van. Er stand ungefähr fünfzig Meter entfernt neben einer Telefonzelle am Straßenrand. Victor sah nur die Hecktüren, aber nicht, ob jemand am Steuer saß.

Wenn der Van noch da war, dann bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass mindestens ein Attentäter immer noch irgendwo unterwegs war. Victor kam näher und sah die Auspuffgase. Gut. Dann saß also jemand im Wagen, während der Motor im Leerlauf lief. Victor wusste, dass er in dem ganzen Durcheinander bis direkt neben den Van gelangen konnte, bevor der Fahrer etwas von seiner Anwesenheit ahnte. Er wollte gerade die Straße überqueren, da blieb er wie angewurzelt stehen.

Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber dem Hotel, hastete ein stämmiger Kerl die Eingangstreppe eines weiß getünchten Wohnblocks herunter. Er hatte sich eine große schwarze Sporttasche über die Schulter geschwungen, in der sich ohne Weiteres ein Tennis- oder Hockeyschläger verstauen ließ.

Oder ein Präzisionsgewehr.

Der Mann blieb wie angewurzelt stehen, als er sah, dass Victor ihn anstarrte. Das war eindeutig. Die beiden Männer verharrten vollkommen regungslos, während um sie herum das Chaos tobte. Der Scharfschütze löste das Patt als Erster auf. Er warf einen Blick nach links, zu der Stelle, wo der Van stand. Er und Victor waren gleich weit davon entfernt.

Victor machte einen Schritt nach vorn. Der Scharfschütze trat einen Schritt zurück. Er fasste in seine Jacke. Victor auch. Ein Streifenwagen kam mit heulender Sirene und blinkenden Lichtern die Straße entlang. Jeder Gedanke an den Einsatz einer Schusswaffe löste sich in Luft auf.