Compassion Focused Therapy - Paul Gilbert - E-Book

Compassion Focused Therapy E-Book

Paul Gilbert

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Beschreibung

Die Bedeutung der heilsamen Wirkung von Mitgefühl (engl. compassion) hat in den letzten Jahren im therapeutischen Setting enorm zugenommen. Die Entwicklung von Mitgefühl – sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber – ist zu einem wichtigen therapeutischen Instrument und Ziel geworden. Paul Gilbert erklärt in seinem Buch, wie die sogenannte Compassion Focused Therapy (CFT), in der Mitgefühl zur Verbesserung der psychischen Gesundheit des Klienten im Fokus steht, umgesetzt werden kann. Er zeigt die Unterschiede zu anderen kognitiven Therapieformen auf und stellt die typischen Merkmale der therapeutischen Arbeit vor. Unterteilt in einen theoretischen und einen praktischen Teil bietet das Buch eine klare Darstellung der CFT und eignet sich hervorragend sowohl für Lehrende, Lernende als auch für Praktiker, die mehr Einblicke in diesen vielversprechenden Ansatz bekommen möchten.

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Seitenzahl: 349

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Paul GilbertCompassion Focused Therapy

Reihe Therapeutische Skills kompakt Band 3

Copyright: © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Copyright: © der Originalausgabe: Paul Gilbert, 2010

Originalausgabe Die Originalausgabe ist 2010 unter dem Titel „Compassion Focused Therapy. Distinctive Features“ bei Routledge erschienen.

Übersetzung: Guido Plata, Bremen

Coverfoto: © nicholashan – Fotolia.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2013

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-835-8 ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-935-5

Vorwort

Neue Entwicklungen in der Psychotherapie – insbesondere innerhalb der Kognitiven Verhaltenstherapie – betonen, wie zentral die Validierung unseres Erlebens und das Erlernen von Achtsamkeit, Selbstfürsorge, Mitgefühl und Akzeptanz für unsere Gesundheit ist. Wie kommt das? Studienergebnisse zeigen uns immer deutlicher, welche transdiagnostischen und universellen Mechanismen uns psychisch krank machen, welche unserer psychischen Gesundheit zuträglich sind und welche Mechanismen in der Psychotherapie eine schulübergreifende Wirkung zeigen (Schanche et al., 2011).

Ein wegweisendes Forschungsergebnis ist, dass unser ganzer Organismus sich am optimalsten entwickeln kann, wenn wir uns geborgen und geliebt fühlen (Gerhardt, 2006). Mit der Evolution der Säugetiere und der benötigten Brutpflege bedurfte es eines neuen psychophysiologischen Systems, welches das Geben und Empfangen von Fürsorge und Zuwendung ermöglichte. Diese Fürsorgementalität ist maßgeblich an der Fähigkeit, unsere Gefühle zu regulieren, beteiligt. Wir bedürfen eines Gefühls von sozialer Geborgenheit, Zugehörigkeit und Verbundenheit, damit unser Organismus zur Ruhe kommen und sich regenerieren kann. Wir sind also darauf angelegt, Kontakt mit anderen zu suchen, uns auszutauschen, anzuvertrauen und uns ineinander einzufühlen, Freude und Leid zu teilen und damit soziale und emotionale Unterstützung zu erleben. Nur wenn wir uns sicher genug fühlen, um uns fallen zu lassen und somit den Kampf-, Flucht- oder Erstarrungszustand zu verlassen, können wir zum Beispiel unsere Trauer zeigen und weinen, was erleichternd und regulierend auf uns wirkt. Wenn wir weiterhin Bedrohungen erleben oder wahrnehmen und es keine Zuflucht in eine sichere und gütige Beziehung – zu anderen oder zu uns selbst – gibt, dann verharren wir in einem Bedrohungszustand, und es kann keine heilsame Regulierung stattfinden.

Psychotherapeutische Methoden – insbesondere in der Kognitiven Verhaltenstherapie – haben sich bisher vorwiegend auf unser Antriebssystem (zum Beispiel durch Aktivierung) und unser Bedrohungssystem (zum Beispiel durch Exposition) fokussiert. Dabei wurde der grundlegenden Funktion des sogenannten Besänftigungs- und Affiliationssystems in der Entwicklung von psychologischen Kompetenzen wie Emotionsregulation, Mentalisierungs- und Empathiefähigkeit und Bindungs- und Beziehungsfähigkeit nur wenig Beachtung geschenkt.

Paul Gilbert und Kollegen entwickelten den Ansatz der Compassion Focused Therapy in der Arbeit mit Patienten, die an schweren psychischen Störungen litten und oft traumatische Erfahrung in der Kindheit durchlebt haben. Bei Menschen, die nur wenig Zuwendung, Einfühlung und Geborgenheit erfahren haben, treten vermehrt psychische Erkrankungen auf. Paul Gilbert beobachtete in seiner psychotherapeutischen Arbeit, dass das Erleben dieser Menschen oft von starker Scham und Selbsthass geprägt war. Diese Patienten versuchten ihre negativen Gefühle von Nichtgewollt- und Ausgegrenztsein durch Selbstverurteilung zu regulieren, was die Beschwerden üblicherweise verschlimmerte. Das Besänftigungs- und Affiliationssystem war in diesen Fällen meist unterentwickelt. Ziel der Compassion Focused Therapy ist es, dieses Hauptemotionsregulationssystem wieder durch die Kultivierung von Mitgefühl mit uns und anderen zu aktivieren. Die Aktivierung dieses Systems kann jedoch starke Ängste und Widerstände gegenüber positiven affiliativen Gefühlen wie Freude, Liebe und Güte hervorrufen. Aufgrund von früher Konditionierung können zum Beispiel das Erleben von Freude mit Bestrafung oder Verlust oder das Wohlwollen von anderen mit Missbrauch assoziiert sein. CFT setzt an diesen Ängsten an und hilft, diese Widerstände stufenweise zu überwinden, um Patienten einen sicheren Zugang zu dieser inneren Ressource des festverdrahteten Besänftigungs-und Affiliationssystems zu ermöglichen.

Paul Gilbert führt in diesem Buch die Erkenntnisse aus der Evolutions-, Sozial- und Entwicklungspsychologie sowie der Neurowissenschaft und aus mehr als 30 Jahren klinischer Forschung und Psychotherapiepraxis, worauf das theoretische Modell der CFT basiert, zusammen. Er schafft es, komplexe Prozesse in ein leicht verständliches Erklärungsmodell und leicht umsetzbare Interventionen zu übersetzen, die Patienten in Studien durchweg als hilfreich und entlastend erlebt haben.

Seit der 1. Auflage dieses Buches (auf dem englischsprachigen Markt) im Jahr 2010 ist die Anzahl der veröffentlichten Studien über Mitgefühl und mitgefühlsbasierte Ansätze rasant angestiegen. Die Forschung zeigt deutlich, dass erhöhtes Mitgefühl mit uns selbst mit geringerem Stress, einer Abnahme von Angst und Depression (MacBeth & Gumley, 2012) sowie besserem Gesundheitsverhalten, Resilienz und zufriedeneren Beziehungen einhergeht (Neff, 2012). Die Wirksamkeit von Mitgefühlstraining mit nichtklinischen Gruppen zeigt sich durch positive Auswirkungen auf unser „empathisches“ Gehirn, Immunsystem, psychisches Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Sozialverhalten. CFT konzentriert sich als bisher einziger Ansatz auf die Anwendung von Mitgefühl bei komplexen, schambasierten psychischen Störungen. Die Evidenz für das theoretische Modell der CFT nimmt zu (Hutton et al., 2012; Kelly & Carter, 2012; Matos, Pinto-Gouveia & Gilbert, 2012). Eine wachsende Anzahl experimenteller, unkontrollierter und kontrollierter Studien zeigt, dass CFT ein hilfreicher Ansatz ist, der zu signifikanten Verbesserungen führt und die bisherigen KVT-Verfahren zu ergänzen scheint. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen berichteten nach 16 Sitzungen CFT-Gruppentherapie, dass Scham, Selbsthass und Depression abgenommen und sich ihr Wohlbefinden, Selbstberuhigung und Arbeitsfähigkeit verbessert haben (Lucre & Corten, 2012). Das Training des mitfühlenden Denkens bewirkte eine Verbesserung des Selbstmitgefühls im Rahmen des KVT-Ansatzes bei Traumata (Beaumont, Galpin & Jenkins, 2012) und zeigte auch Wirksamkeit bei der Behandlung nach Hirnläsionen (Ashworth, Gracey & Gilbert, 2011). Die Integration von CFT in ein KVT-Behandlungsprogramm bei Essstörungen führte zum Rückgang der Symptome, insbesondere bei Bulimie (Gale, Gilbert, Read & Goss, 2012). Die erste randomisierte kontrollierte Studie zur Gruppen-CFT zeigte stärkere klinischen Verbesserungen (65 %) im Vergleich zur Standardbehandlung (5 %) bei Psychose. Nur in der CFT-Bedingung erlebten Teilnehmer eine Zunahme von Mitgefühl, die mit einem verminderten Gefühl des Ausgegrenztseins und der Depression einherging (Braehler et al., 2012).

CFT ist ein schulübergreifender und integrativer Ansatz. Sie kann sowohl als eigenständige Therapieform angewendet werden als auch in Form eines „affiliativen Blickwinkels“ in die therapeutische Arbeit mit integriert werden. Paul Gilbert zeigt auf, dass Psychotherapie meist nur „greift“, wenn wir direkt mit dem affiliativen System des Patienten arbeiten. Dieses Buch ist somit eine Einladung an Psychotherapeuten verschiedenster Ausrichtungen, das Besänftigungs- und Affiliationssystem sowohl in der therapeutischen Beziehung, im Krankheitsverständnis als auch in direkten Interventionen mit zu berücksichtigen und zu stärken.

München, im Frühjahr 2013Christine BrählerPsychologische Psychotherapeutin, hat ihre Ausbildung in der CFT bei Paul Gilbert absolviert.

Verwendete Literatur

Ashworth, F., Gracey, F. & Gilbert, P. (2011). Compassion focused therapy after traumatic brain injury: Theoretical foundations and a case illustration. Brain Impairment, 12(2), 128-139.

Beaumont, E., Galpin, A. & Jenkins, P. (2012). Being kinder to myself: A prospective comparative study, exploring post-trauma therapy outcome measures for two groups of clients, receiving either Cognitive Behaviour Therapy or Cognitive Behaviour Therapy and Compassionate Mind Training. Counselling Psychology Review, 27(1), 31-43.

Braehler, C., Gumley, A., Harper, J., Wallace, S., Norrie, J. & Gilbert, P. (2012). Exploring change processes in compassion focused therapy in psychosis: Results of a feasibility randomized controlled trial. British Journal of Clinical Psychology, n/a-n/a. 10.1111/bjc.12009.

Gale, C., Gilbert, P., Read, N. & Goss, K. (2012). An Evaluation of the Impact of Introducing Compassion Focused Therapy to a Standard Treatment Programme for People with Eating Disorders. Clinical Psychology & Psychotherapy, n/a-n/a. 10.1002/cpp.1806.

Gerhardt, S. (2006). Why love matters: How affection shapes a baby’s brain. Infant Observation, 9(3), 305-309.

Hutton, P., Kelly, J., Lowens, I., Taylor, P. J. & Tai, S. (2012). Self-attacking and self-reassurance in persecutory delusions: A comparison of healthy, depressed and paranoid individuals. Psychiatry Research(0). 10.1016/j.psychres.2012.08.010.

Kelly, A. C. & Carter, J. C. (2012). Why self-critical patients present with more severe eating disorder pathology: The mediating role of shame. British Journal of Clinical Psychology, n/a-n/a. 10.1111/bjc.12006.

Lucre, K. M. & Corten, N. (2012). An exploration of group compassion-focused therapy for personality disorder. Psychology and Psychotherapy: Theory, Research and Practice, no-no. 10.1111/j.2044-8341.2012.02068.x.

MacBeth, A. & Gumley, A. (2012). Exploring compassion: A meta-analysis of the association between self-compassion and psychopathology. Clinical Psychology Review, 32(6), 545-552. 10.1016/j.cpr.2012.06.003.

Matos, M., Pinto-Gouveia, J. & Gilbert, P. (2012). The Effect of Shame and Shame Memories on Paranoid Ideation and Social Anxiety. Clinical Psychology & Psychotherapy, n/a-n/a. 10.1002/cpp.1766.

Neff, K. D. (2012). The science of self-compassion. In C. Germer & R. Siegel (Eds.), Compassion and Wisdom in Psychotherapy (pp. 79-92). New York: Guildford Press.

Schanche, E., Stiles T. C., McCullough, L., Svartberg, M., Nielsen, G. H. (2011). The relationship between activating affects, inhibitory affects, and self-compassion in patients with Cluster C personality disorders. Psychotherapy 48(3), 293-303. 10.1037/a0022012.

Vorwort und Danksagung zur englischen Ausgabe

Ich möchte Windy Dryden, Herausgeber der englischen Reihe, in der dieses Buch erschienen ist, dafür danken, dass er diese exzellente Reihe zusammengestellt, mich zu einem Beitrag eingeladen und meine zahlreichen Textentwürfe stets geduldig begleitet hat. Ich empfand den Gedanken an dieses Buch zunächst als abschreckend, da bislang kein etabliertes Standardwerk zur Compassion Focused Therapy (CFT) existiert, sodass es notwendig war, einige Hintergrundinformationen und Belege für den Wert eines mitgefühlsfokussierten Ansatzes einzubeziehen. Aus diesem Grund ist dieses Buch ein bisschen länger geworden und beinhaltet auch mehr Literaturangaben als andere Bände in dieser Reihe – deshalb nochmals vielen Dank an Windy, Joanne Forshaw und Jane Harris von Routledge für all ihre Unterstützung.

Ich habe versucht, die distinktiven Merkmale hervorzuheben und gleichzeitig das große Ausmaß an Vorarbeiten im Rahmen anderer Ansätze ebenso wie die Anlehnungen der CFT an diese Ansätze zu würdigen. Vielen Dank an alle, die die CFT unterstützt haben, insbesondere an mein gegenwärtiges Forschungsteam: Corinne Gale, Kirsten McEwan und Jean Gilbert; an die Vorstandsmitglieder der Compassionate Mind Foundation: Chris Gillespie, Chris Irons, Ken Goss, Mary Welfrod, Ian Lowens, Deborah Lee, Thomas Schroder und Jean Gilbert sowie an die klinisch tätigen Kollegen Michelle Cree, Sharon Pallant und Andrew Rayner, die ebenfalls an diesem Ansatz gearbeitet und all ihr Wissen, ihre Einsichten und ihre Erkenntnisse mit uns geteilt und unser Verständnis der CFT dadurch sehr bereichert haben. Weiterhin danke ich Giovanni Lotti, der mir die Bedeutsamkeit der Mentalisierung bewusst machte und mir zeigte, wie diese sich in Beziehung zu sozialen Mentalitäten setzen lässt; ich danke Andrew Gumley für seine Unterstützung, sein Interesse und seine Anleitung auf dem Gebiet der Psychosen sowie Sophie Mayhew und Christine Brähler für ihre inspirierenden Arbeiten zur CFT bei psychotischen Personen. Die Compassion Focused Therapy wird von der Compassionate Mind Foundation unterstützt, die Links zu anderen Webseiten über mitgefühlsfokussierte Ansätze und zu aktuellen Informationen, Downloads und Ausbildungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der CFT bereitstellt (s. http://www.compassionatemind.co.uk). Mein Dank gilt Diane Woollands für ihre wundervolle Unterstützung der Compassionate Mind Foundation und Kelly Sims für ihre enthusiastische Sekretariatsarbeit und ihre Überprüfung der Quellenangaben – was keine Kleinigkeit war.

Dieses Buch ist mit Dank all jenen Klienten gewidmet, die im Laufe der Jahre all ihre Tief- und Höhepunkte mit uns geteilt haben und durch ihr ehrliches Feedback dazu, was hilft und was nicht hilft, die Entwicklung der CFT gelenkt haben. Ich stehe tief in ihrer Schuld.

TEIL I: DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER CFT

1. Grundlagen

Alle Psychotherapien haben die Annahme gemeinsam, dass eine Therapie in einer mitfühlenden Art und Weise durchgeführt werden sollte, in der respektvoll, unterstützend und insgesamt gütig mit den Menschen umgegangen wird (Gilbert, 2007a; Glasser, 2005). Rogers (1957) formulierte zentrale Aspekte der therapeutischen Beziehung einschließlich positiver Wertschätzung, Echtheit (Kongruenz) und Empathie – was man auch als eine Ausprägung der „mitfühlenden Art und Weise“ ansehen kann. In jüngerer Zeit wurde erforscht, wie man Menschen dabei helfen kann, Selbstmitgefühl zu entwickeln (Gilbert & Procter, 2006; Leary, Tate, Adams, Allen & Hancock, 2007; Neff, 2003a, 2003b), und wie sich dieses als Fokus zur Selbsthilfe nutzen lässt (Germer, 2009; Gilbert, 2009a, 2009b; Rubin, 1975 / 1998; Salzberg, 1995). Die Entwicklung von Mitgefühl für das eigene Selbst und für andere Menschen als Weg zur Steigerung des Wohlbefindens ist darüber hinaus seit Tausenden von Jahren ein zentraler Aspekt der buddhistischen Praxis (Dalai Lama, 1995; Leighton, 2003; Vessantara, 1993).

Nachdem im ersten Teil des Buches zunächst die Hintergrundprinzipien der Entwicklung der Compassion Focused Therapy (CFT)[1] erläutert werden, folgt in Kapitel 16 eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Aspekte von Mitgefühl im Rahmen des CFT-Ansatzes. Wir können jedoch bereits an dieser Stelle anmerken, dass derzeit mehrere unterschiedliche Modelle von Mitgefühl aufkommen, die jeweils auf unterschiedlichen Theorien, Traditionen und Forschungen basieren (Fehr, Sprecher & Underwood, 2009). Das englische Wort für „Mitgefühl“ lautet „compassion“ und leitet sich vom lateinischen Begriff „compati“ ab, welcher „leiden mit“ bedeutet. Die bekannteste Definition für Mitgefühl stammt vermutlich vom Dalai Lama, der Mitgefühl als „die Empfindsamkeit gegenüber dem eigenen Leid und dem anderer Menschen, mit einer tiefen Hingabe, dieses zu lindern“, bezeichnete; also als empfindsame Aufmerksamkeit / Bewusstheit plus Motivation. Im buddhistischen Modell entstammt wahres Mitgefühl der Einsicht, dass ein abgetrenntes Selbst ebenso illusorischer Natur ist wie das Streben nach der Aufrechterhaltung seiner Grenzen – also dem, was man als einen erleuchteten oder erwachten Geist bezeichnet. Kristin Neff (2003a; 2003b; siehe www.self-compassion.org), eine Pionierin auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls, leitete ihr Modell und ihre Eigenberichtsinstrumente aus dem Theravada-Buddhismus ab. Ihr Ansatz in Bezug auf das Selbstmitgefühl umfasst drei Hauptkomponenten:

eine achtsame und offene Haltung gegenüber dem eigenen Leid zu pflegen;

gütig und nicht selbstverurteilend zu sein und

sich bewusst zu sein, dass man Erfahrungen und Leid mit anderen Menschen teilt, anstatt sich beschämt und allein zu fühlen – also Offenheit gegenüber unserer gemeinsamen Menschlichkeit an den Tag zu legen.

Demgegenüber wurde die CFT mit und für Menschen entwickelt, die chronische und komplexe psychische Probleme im Zusammenhang mit Scham und Selbstkritik haben und oft aus schwierigen (etwa vernachlässigenden oder von Misshandlungen geprägten) Verhältnissen stammen. Der CFT-Ansatz zum Mitgefühl entlehnt Elemente aus zahlreichen buddhistischen Lehren (insbesondere die Rolle der Empfindsamkeit für das Leid anderer und die Motivation, dieses zu lindern), aber seine Wurzeln liegen in einem evolutionären, neurowissenschaftlichen und sozialpsychologischen Ansatz, verbunden mit der Neurophysiologie der Zuwendung – sowohl im Hinblick auf das Geben als auch auf das Empfangen von Zuwendung (Gilbert, 1989, 200a, 2005a, 2009a). Zuwendung zu erfahren und sich akzeptiert, anderen Menschen zugehörig und mit diesen verbunden zu fühlen ist grundlegend für unsere physiologische Reifung und unser Wohlbefinden (Cozolino, 2007; Siegel, 2001, 2007). Der Grund hierfür ist eine Verbindung dieser Gefühle mit bestimmten Arten von positivem Affekt, die ihrerseits wiederum mit Wohlbefinden (Depue & Morrone-Strupinsky, 2005; Mikulincer & Shaver, 2007; Panksepp, 1998) und weiterhin mit einem neuro-hormonalen Profil von erhöhten Endorphin- und Oxytocinspiegeln (Carter, 1998; Panksepp, 1998) assoziiert sind. Auch lassen sich diese ruhigen und friedvollen Arten von positiven Gefühlen von den psychomotorisch aktivierenden Emotionen unterscheiden, die mit Erfolg, Begeisterung und Ressourcensuche in Zusammenhang stehen (Depue & Morrone-Strupinsky, 2005); so kann man etwa in Eigenberichtsdaten ein positives Erleben von Wohlbefinden, Zufriedenheit und Sicherheit klar von Gefühlen von Erregung und Erfolgsorientierung abgrenzen (Gilbert et al., 2008). In der zitierten Studie beispielsweise fanden wir heraus, dass Gefühle von Zufriedenheit und Sicherheit stärker mit einem geringeren Niveau von Depression, Angst und Stress assoziiert waren, als dies bei positiven Emotionen wie Begeisterung oder Energiegeladensein der Fall war.

Wenn es also unterschiedliche Arten von positiven Emotionen gibt – und diesen jeweils unterschiedliche Gehirnsysteme zugrunde liegen –, dann könnten Psychotherapeuten sich sinnvollerweise auch auf die Frage konzentrieren, wie sich die Fähigkeit zum Erleben der mit Beruhigung und Wohlbefinden assoziierten positiven Emotionen verbessern lässt. Wie wir später noch sehen werden, beinhaltet dieses Unterfangen, die Klienten bei der Entwicklung von Selbstmitgefühl, Mitgefühl für andere Menschen und der Fähigkeit zum Erleben des Mitgefühls von anderen Menschen (beziehungsweise der entsprechenden Motivation) zu unterstützen. Es gibt mitfühlende und nichtmitfühlende Wege, sich mit schmerzlichen Erfahrungen, beängstigenden Gefühlen oder traumatischen Erinnerungen auseinanderzusetzen. In der CFT geht es nicht darum, schmerzliche Dinge zu vermeiden oder sie „durch Trösten verschwinden zu lassen“, vielmehr ist die CFT ein Weg, sich mit diesen schmerzlichen Dingen auseinanderzusetzen. In Kapitel 29 werden wir uns damit befassen, dass viele Klienten Angst vor dem Mitgefühl von anderen Menschen und Mitgefühl für das eigene Selbst haben, und dass die Arbeit mit dieser Angst den Hauptfokus der therapeutischen Tätigkeit ausmachen kann.

Ein zweiter Aspekt des durch evolutionstheoretische Überlegungen geprägten CFT-Ansatzes ist die Annahme, dass selbstbewertende Systeme für ihre Selbstbewertung auf dieselben Verarbeitungssysteme zurückgreifen, die wir auch für die Bewertung sozialer und interpersoneller Prozesse einsetzen (Gilbert, 1989, 2000a). Somit gilt, was Behavioristen seit langer Zeit vertreten: Ob wir nun sexuelle Dinge sehen oder über sexuelle Dinge fantasieren, das System für sexuelle Erregung ist in beiden Fällen dasselbe – es existieren keine unterschiedlichen Systeme für die Verarbeitung interner und externer Reize. Ebenso können auch Selbstkritik oder Selbstmitgefühl auf Gehirnprozesse zurückgreifen, die hervorgerufen werden, wenn andere Menschen uns gegenüber kritisch oder mitfühlend sind. Eine zunehmende Zahl von Befunden zugunsten dieser Sichtweise entstammt den Forschungen zur Empathie und zu Spiegelneuronen (Decety & Jackson, 2004) sowie unserer eigenen neueren fMRT-Studie zu Selbstkritik und Selbstmitgefühl (Longe et al., 2010).

1.1 Interventionen

Die CFT ist eine multimodale Therapie, die auf einer Reihe von kognitiv-verhaltenstherapeutischen (KVT) Konzepten und anderen Therapien und Interventionen basiert. Aus diesem Grund konzentriert sie sich auf Aufmerksamkeit, Schlussfolgern und Grübeln, Verhalten, Emotionen, Motive und innere Bilder. Sie nutzt:

die therapeutische Beziehung (s. u.);

sokratische Dialoge, geleitetes Entdecken, Psychoedukation (im Hinblick auf das CFT-Modell);

strukturierte Formulierungen;

Beobachtung von Gedanken, Emotionen, Verhalten und „Körperwahrnehmungen“;

Inferenzketten;

funktionale Analysen;

Verhaltensexperimente;

Exposition, graduierte Aufgabenstellungen;

mitgefühlsfokussierte Imaginationen;

Stuhlarbeit;

Darstellen von unterschiedlichen Selbstanteilen;

Achtsamkeit;

Lernen emotionaler Toleranz, Lernen des Verstehens und Bewältigens von emotionalen Schwierigkeiten, Hingabe an das eigene Bemühen und Üben, Verdeutlichung von Sicherheitsstrategien;

Mentalisieren;

expressives (Brief-)Schreiben, Vergeben, Unterscheiden zwischen schambasiertem Kritisieren und mitfühlender Selbstkorrektur sowie

Hausaufgaben und geleitete Übungen

– um nur einige ihrer therapeutischen Verfahren zu nennen!

1.2 Die Veränderung fühlen

Die CFT fügt den traditionellen KVT-Ansätzen durch ihre Konzentration auf Mitgefühl und die Verwendung mitfühlender Imaginationen distinktive Merkmale hinzu. Wie bei vielen neueren Entwicklungen im Bereich der Psychotherapien wird auch hier der Achtsamkeit sowohl aufseiten des Klienten als auch des Therapeuten besondere Aufmerksamkeit gewidmet (Siegel, 2010). In der klinischen Formulierung konzentriert sich die CFT auf das Affektregulationsmodell, das in Kapitel 6 eingehender beschrieben wird (s. Abb. 6.1), und es werden Interventionen dazu verwendet, spezifische Muster von Affektregulation, Gehirnzuständen und Selbsterfahrungen zu entwickeln, die Veränderungsprozessen zugrunde liegen. Dies ist besonders wichtig, wenn an der Selbstkritik oder Scham von Klienten aus problematischen Verhältnissen gearbeitet wird. Solche Menschen haben oft nicht viel Zuwendung oder Nähe von anderen Personen erlebt und daher weniger Zugang zu ihrem (tröstenden) Emotionsregulationssystem. Daher sagen diese Individuen auch gelegentlich Dinge wie „Ich verstehe die Logik hinter [beispielsweise] der KVT, aber ich fühle mich trotzdem nicht anders“. Sich anders zu fühlen, setzt die Fähigkeit zum Zugriff auf die eigenen Affektsysteme (bestimmte neurophysiologische Strukturen) voraus, die uns die Gefühle von Bestärkung und Sicherheit ermöglichen. Dieses Problem ist in der KVT seit Langem bekannt (Leahy, 2001; Stott, 2007; Wills, 2009, S. 57).

Vor mehr als 20 Jahren befasste ich mich mit der Frage, weshalb „alternative Gedanken“ nicht als hilfreich „erlebt“ wurden. Es stellte sich heraus, dass der emotionale Tonfall und die Art, wie die betreffenden Klienten die alternativen Gedanken in ihrem Kopf „hörten“, in vielen Fällen kalt, distanziert oder sogar aggressiv waren. Alternative Gedanken zum Gefühl, ein Versager zu sein, wie etwa „Jetzt komm schon, es gibt keine Belege dafür, dass eine so negative Sicht zutreffend wäre; denk’ doch mal daran, wie viel du letzte Woche erreicht hast!“ haben völlig andere Auswirkungen, wenn man sie aggressiv und gereizt zu sich selbst sagt (sie erlebt), anstatt sie langsam und mit Güte und Wärme vorzubringen. Dasselbe galt für Expositionen und Hausaufgaben – die Art, wie sie ausgeführt werden (bedrängend und zwingend versus ermutigend und gütig gegenüber sich selbst aufzutreten), kann genauso wichtig sein wie das, was getan wird. Es schien klar, dass wir uns viel stärker auf die mit alternativen Gedanken verbundenen Gefühle anstatt lediglich auf ihren Inhalt konzentrieren mussten – tatsächlich erwies sich eine zu starke Betonung des Inhalts oft als nicht hilfreich. Und so bestanden meine ersten Schritte in Bezug auf die CFT einfach darin, die Klienten zu der Vorstellung zu ermutigen, dass eine warme, gütige Stimme ihnen die Alternativen vorschlägt oder sie bei ihren Aufgaben unterstützt. Zum Zeitpunkt der zweiten Auflage meines Buches Counselling for Depression (Gilbert, 2000b) lag bereits ein Hauptschwerpunkt meiner Arbeit auf der „Entwicklung innerer Wärme“ (s. a. Gilbert, 2000a). Somit bestand die CFT zunächst in der Durchführung einer KVT mit einem Fokus auf Mitgefühl (Güte) und entwickelte sich dann, während weitere Belege zugunsten des Modells aufkamen und sich spezifischere Übungen als hilfreich erwiesen, weiter zur eigentlichen CFT.

1.3 Die therapeutische Beziehung

Die therapeutische Beziehung spielt eine Schlüsselrolle in der CFT (Gilbert, 2007c; Gilbert & Leahy, 2007), mit besonderer Betonung auf:

den Mikrofertigkeiten der therapeutischen Bindung (Ivey & Ivey, 2003),

Problemen mit Übertragung / Gegenübertragung (Miranda & Andersen, 2007),

Ausdruck, Verstärkung, Hemmung von Emotionen und / oder Furcht vor denselben (Elliott et al., 2003; Leahy, 2001),

Scham (Gilbert, 2007c),

Validierung (Leahy, 2005) und

Achtsamkeit seitens des Therapeuten (Siegel, 2010).

Wenn wir Personen mit einem anderen therapeutischen Ausbildungshintergrund (insbesondere KVT) in der CFT trainieren, bemerken wir stets, dass wir sie bremsen und ihnen in der Therapie Raum und Ruhe für Reflexion und Erleben gestatten müssen, anstatt uns mit einer Reihe sokratischer Fragen oder „Zielsetzungen“ zu befassen. Wir lehren, wie man die Geschwindigkeit und den Tonfall der eigenen Stimme, nonverbale Kommunikation, das Pacing der Therapie, Achtsamkeit (Katzow & Safran, 2007; Siegel, 2010) und den reflektiven Prozess nutzt, um „Sicherheit“ für das Erkunden, Entdecken, Experimentieren und Entwickeln herzustellen. Entscheidend ist, emotionale Kontexte zu bieten, in denen der Klient den Therapeuten als „mitfühlenden Begleiter“ erleben (und internalisieren) kann. Dies ist keine leichte Aufgabe, denn wie wir in Kapitel 10 noch erörtern werden, bewirkt Scham aufseiten der Klienten oft das emotionale Erleben (Übertragung), missverstanden zu werden oder Dinge falsch zu interpretieren; weiterhin Bemühungen, herauszufinden, welches Verhalten ihrerseits die andere Person sich wünscht, und intensive Einsamkeit. Der emotionale Tonfall in der Therapie wird teilweise auch durch das allgemeine Auftreten und das Pacing des Therapeuten bestimmt, und er ist wichtig in diesem Prozess des Erlebens von „Miteinander“. CFT-Therapeuten sind sensibel für den Umstand, dass es für Klienten tatsächlich sehr schwer sein kann, „Miteinander“ oder „Umsorgtwerden“ zu erleben, weshalb sich diese mit der Sicherheitsstrategie panzern, das Selbst von „den Gefühlen von Miteinander und Verbundenheit abzuschotten“ (s. Kap. 29; Gilbert, 1997, 2007a, insb. Kap. 5 und 6, 2007c).

Die CFT konzentriert sich auf eine Form der Zusammenarbeit, bei der Therapeut und Klient sich gemeinsam dem Problem widmen – als Team. Weiterhin konzentriert sich die CFT auf (geistiges) „Teilen“. Die Evolution des Teilens (und der Motive hierzu) – vom bloßen Teilen von Objekten hin zum Teilen von Gedanken, Ideen und Gefühlen – stellt eine der wichtigsten Anpassungsleistungen des Menschen dar, und wir alle haben ein großes Bedürfnis zu teilen. Dieser Wunsch ist uns als Vertreter einer besonders sozialen Spezies angeboren, und wenn wir nicht nur materielle Dinge, sondern auch Wissen, Werte und die eigenen Gedanken teilen, erhoffen wir uns davon, dass andere Menschen uns besser kennen, verstehen und schätzen. Somit handelt es sich bei der Motivation zum Teilen – im Gegensatz zu der Furcht vor dem Teilen (Scham) – ebenso wie bei Empathie und Theory of Mind[2] um bedeutsame entwickelte Motive und Kompetenzen. Es sind die wahrgenommenen Hindernisse für einen „gemeinsamen Flow des Geistes“, die manchen Menschen Probleme bereiten, und es ist die Art, auf die der Therapeut den Weg für diesen Flow „frei macht“, die therapeutisch wirksam sein kann.

Die Dialektische Verhaltenstherapie (DVT; Linehan, 1993) widmet sich dem zentralen Problem von mit der Therapie interferierenden Verhaltensweisen. Wie in jeder anderen Therapieform muss es in der CFT möglich sein, klare Grenzen zu setzen und Autorität als umspannenden Prozess zu nutzen. Manche Klienten können als „emotionale Rüpel“ auftreten, die den Therapeuten bedrohen (etwa mit juristischen Schritten oder Suizid), und die allgemein sehr anstrengend sind. Ein hiervon eingeschüchterter Therapeut kann dann vielleicht den Wünschen der Klienten nachgeben oder die Behandlung abbrechen; und auch der Klient ist umgekehrt bis zu einem gewissen Grad eingeschüchtert von seiner eigenen Fähigkeit, seine Mitmenschen von sich wegzustoßen. Bei anderen Klienten hingegen würde der Therapeut in für diese schmerzlichen Momenten versuchen, sie aufzufangen, anstatt zu schweigen. Hieran wird deutlich, wie immens wichtig es ist, die therapeutische Beziehung klar zu definieren, und aus diesem Grund empfiehlt die CFT auch eine Supervisionsgruppe für Therapeuten, die mit schwierigen Klienten arbeiten.

Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass Mitgefühl ein echter Bestandteil der Selbstidentität werden kann; allerdings kann es auch in Verbindung mit selbstbildbezogenen Zielen gesetzt werden. Dies bedeutet, dass Menschen mitfühlend sind, um gemocht zu werden (Crocker & Canevello, 2008), und derartige mitgefühlsfokussierte Ziele in Bezug auf das Selbstbild sind in vielerlei Hinsicht problematisch. Auch beginnen Forscher damit, den Zusammenhang zwischen Bindungsstilen und therapeutischen Beziehungen zu erkunden, und haben dabei bereits festgestellt, dass sicher gebundene Therapeuten leichter und mit weniger Problemen therapeutische Allianzen eingehen als Therapeuten mit einem unsicheren Bindungsstil (Black et al., 2005; s. a. Liotti, 2007). Auch Leahy (2007) beschrieb, wie die Persönlichkeit und die Schemaorganisation des Therapeuten eine wichtige Rolle in der therapeutischen Beziehung spielen können – Beispiele wären etwa autokratische Therapeuten mit abhängigen Klienten, oder abhängige Therapeuten mit autokratischen Klienten. Mitgefühl hat also nichts mit unterwürfiger „Nettigkeit“ zu tun – es kann beinhalten, sehr hart zu sein, Grenzen zu setzen, kompromisslose Ehrlichkeit an den Tag zu legen und Klienten das zu geben, was sie nicht wollen, aber brauchen. Ein Alkoholiker möchte mehr Alkohol trinken – das ist nicht das, was er braucht; viele Menschen möchten Schmerz vermeiden und versuchen dies auf vielerlei Weise – aber es können (gütige) Deutlichkeit, Exposition und Akzeptanz sein, die letztlich Veränderungen und Wachstum ermöglichen (Siegel, 2010).

1.4 Befunde zugunsten der positiven Auswirkungen von Mitgefühl

Obwohl die Wurzeln der CFT in einem evolutionstheoretischen, neuro- und psychologischen Wissenschaftsmodell liegen, muss man betonen, dass sie auch viele Elemente aus dem Buddhismus entlehnt. Seit mehr als 2500 Jahren hat sich der Buddhismus auf Mitgefühl und Achtsamkeit als zentrale Wege zur Erleuchtung und „Heilung des Geistes“ konzentriert. Während der Theravada-Buddhismus dabei Achtsamkeit und liebevolle (freundliche) Güte betont, liegt der Schwerpunkt der Mahayana-Praktiken speziell auf Mitgefühl (Leighton, 2003; Vessantara, 1993). Am Ende seines Lebens sagte Buddha, dass seine Hauptlehren Achtsamkeit und Mitgefühl seien – also sich selbst oder anderen kein Leid zuzufügen. Buddha beschrieb einen „edlen Achtfachen Pfad“, mittels dessen man üben und den eigenen Geist darin schulen kann, das Zufügen von Leid zu vermeiden und Mitgefühl zu fördern. Dieser Pfad umfasst:

Rechte Anschauung:

Entwicklung klarer Einsichten in die wahren Ursachen des Leids, die mit Bindungen und Verlangen in Zusammenhang stehen.

Rechte Absicht:

verbunden mit der Motivation, Zuwendung zu geben / mitfühlend zu sein.

Rechte Rede:

verbunden mit interpersonellen Beziehungen, Äußern gütiger anstatt verletzender Dinge.

Rechtes Handeln:

verbunden mit Verhalten, das eher heilen denn zerstören soll.

Rechter Lebensunterhalt:

verbunden mit der Wahl eines Berufes, der anderen Lebewesen nicht schadet.

Rechtes Streben:

verbunden mit ernsthaftem Bemühen / Hingabe, negative Affekte zu zügeln.

Rechte Achtsamkeit:

verbunden mit der Ausrichtung von Aufmerksamkeit „auf den Moment“, und zwar in mitfühlender Weise.

Rechte Konzentration:

steht mit fokussierter Aufmerksamkeit in Beziehung, die etwa auf Achtsamkeit und Mitgefühl gerichtet ist.

Es sind diese multimodalen Komponenten, die zu einem mitfühlenden Geist führen. Wir wissen heute, dass das Praktizieren diverser Aspekte von Mitgefühl das Wohlbefinden steigert und die Gehirnfunktion beeinflusst, insbesondere die in Regionen, die an der Emotionsregulation beteiligt sind (Begley, 2007; Davidson et al., 2003).

In den vergangenen zehn Jahren beobachteten wir eine enorme Zunahme der Forschungen zu den positiven Auswirkungen des Kultivierens von Mitgefühl (Fehr et al., 2009). In einer frühen Studie fanden Rein, Atkinson und McCraty (1995) heraus, dass die Unterweisung von Probanden, sich mitfühlende mentale Bilder vorzustellen, positive Effekte auf einen Indikator der Immunfunktion hatte (sIgA), während wutbesetzte Imaginationen negative Effekte hatten. Übungen darin, sich Mitgefühl für andere vorzustellen, rufen Veränderungen im frontalen Kortex, im Immunsystem und im Wohlbefinden hervor (Lutz et al., 2008). Hutcherson, Seppala und Gross (2008) fanden heraus, dass eine kurze Meditation in liebevoller Güte das Gefühl sozialer Verbundenheit und Zusammengehörigkeit mit Fremden stärkte. Frederickson et al. (2008) teilten 67 Angestellte der Firma Compuware einer Gruppe für Meditation in liebevoller Güte und 72 Angestellte derselben Firma einer Wartelisten-Kontrollgruppe zu. Die Forscher fanden heraus, dass sechs jeweils 60-minütige Gruppensitzungen einschließlich Übungen für Zuhause, die auf einer CD mit Anleitungen für Meditation in liebevoller Güte (zunächst Mitgefühl gegenüber sich selbst, dann gegenüber anderen Menschen, dann gegenüber Fremden) basierten, eine Zunahme von positiven Emotionen, Achtsamkeit, Gefühlen von einer Bestimmung im Leben und dem Erfahren sozialer Unterstützung sowie eine Verminderung von Krankheitssymptomen bewirkten. Pace, Negi und Adame (2008) fanden heraus, dass Mitgefühlsmeditation (sechs Wochen lang durchgeführt) die Immunfunktion sowie neuroendokrinologische und verhaltensbezogene Reaktionen auf Stress verbesserte. Rockliff et al. (2008) stellten fest, dass mitfühlende Imaginationen bei geringgradig selbstkritischen, jedoch nicht bei hochgradig selbstkritischen Menschen die Herzratenvariabilität steigerten und den Cortisolspiegel senkten. Wir fanden in unserer kürzlich durchgeführten fMRT-Studie, dass Selbstkritik und Selbstbestärkung in Reaktion auf vorgestellte bedrohliche Ereignisse (wie eine abgelehnte Bewerbung um einen Arbeitsplatz) unterschiedliche Hirnareale stimulierten, wobei Selbstmitgefühl Aktivität in der Insula hervorrief, Selbstkritik jedoch nicht – die Insula ist ein Areal im Gehirn, das mit Empathie assoziiert ist (Longe et al., 2010). Das Betrachten von traurig, neutral oder mitfühlend aussehenden Gesichtern beeinflusst die neurophysiologische Reaktion auf Gesichter (Ji-Woong et al., 2009).

In einer kleinen unkontrollierten Studie an Menschen mit chronischen psychischen Problemen bewirkte ein Mitgefühlstraining eine signifikante Reduzierung von Scham, Selbstkritik, Depression und Angst (Gilbert & Procter, 2006). Weiterhin erwies sich Mitgefühlstraining als hilfreich für Psychotiker, die Stimmen hören (Mayhew & Gilbert, 2008). In einer Studie zur gruppenbasierten CFT für 19 Klienten in einer geschlossenen forensisch-psychiatrischen Einrichtung mit hoher Sicherheitsstufe fanden Laithwaite et al. (2009)

„... ein hohes Maß an Veränderung in Bezug auf Depression und Selbstwertgefühl ... Ein moderates Maß an Veränderung zeigte sich auf der Skala ‚sozialer Vergleich‘ sowie hinsichtlich der allgemeinen Psychopathologie, mit einem geringen Maß an Veränderung in Bezug auf Scham ... Diese Veränderungen waren auch bei einer Follow-up-Untersuchung nach sechs Wochen noch vorhanden.“ (S. 521)

Im Hinblick auf Beziehungen und Wohlbefinden existieren heute gute Belege dafür, dass das Umsorgen von anderen Menschen sowie die Fähigkeiten zur Empathie und Mentalisierung viel zum Aufbau positiver Beziehungen beitragen, was wiederum signifikanten Einfluss auf das Wohlbefinden und die physische wie auch psychische Gesundheit hat (Cacioppo et al., 2000; Cozolino, 2007, 2008). Eine zunehmende Zahl von Belegen stützt die Hypothese, dass die Art des „Selbst“, zu dem wir uns entwickeln möchten, unser Wohlbefinden und unsere sozialen Beziehungen beeinflusst, und dass mitfühlende anstatt ichbezogener Selbstidentitäten mit den besseren Ergebnissen assoziiert sind (Crocker & Canevello, 2008). Insgesamt betrachtet, ergeben sich gute Gründe für eine weitere Entwicklung und Erforschung der CFT.

Neff (2003a, 2003b) war eine Pionierin auf dem Gebiet der Studien zum Selbstmitgefühl. Sie hat gezeigt, dass Selbstmitgefühl von Selbstwertgefühl unterschieden werden kann, dass es ein besserer Prädiktor für einige Aspekte des Wohlbefindens ist als Selbstwertgefühl (Neff & Vonk, 2009) und dass Selbstmitgefühl bei der Bewältigung von akademischen Misserfolgen hilfreich ist (Neff, Hsieh & Dejitterat, 2005; Neely et al., 2009). Das Schreiben mitfühlender Briefe an sich selbst unterstützt die Bewältigung von Lebensereignissen und reduziert Depressionen (Leary et al., 2007). Wie jedoch bereits angemerkt, unterscheidet sich Neffs Modell des Mitgefühls von dem evolutionären und in der Bindungstheorie verwurzelten Ansatz, der hier beschrieben wird, und es gibt bis heute keine einvernehmliche Definition von Mitgefühl – tatsächlich kann die Bedeutung des Wortes „Mitgefühl“ in verschiedenen Sprachen kleine, aber bedeutsame Unterschiede aufweisen. Aus diesem Grund definieren wir Mitgefühl hier als „Geisteshaltung“, als grundlegende Mentalität, und werden uns in Kapitel 16 auch noch eingehender mit der Natur von Mitgefühl befassen.

2. Eine persönliche Reise

Mein Interesse daran, die Fähigkeit zur Entwicklung von Mitgefühl und Selbstmitgefühl aufseiten meiner Mitmenschen zu steigern, ergab sich aus einer Reihe unterschiedlicher Belange:

Erstens hatte ich seit langer Zeit Interesse an evolutionstheoretischen Ansätzen zur Erklärung von Verhalten, Leid und persönlichem Wachstum beim Menschen (Gilbert, 1984, 1989, 1995, 2001a, 2001b, 2005a, 2005b, 2007a, 2007b, 2009a). Die Idee, dass kognitive Systeme auf tiefer liegende entwicklungsgeschichtlich begründete Mechanismen der Motivation und Emotion zurückgreifen, war auch ein zentrales Element von Becks kognitivem Ansatz (Beck, 1987, 1996; Beck, Emery & Greenberg, 1985), und ich selbst habe mich in einer Sonderausgabe einer meiner Schriften mit der Schnittstelle zwischen Evolution und Kognition befasst (Gilbert, 2002, 2004).

Zweitens hat sich die evolutionäre Psychologie signifikant auf Altruismus und Zuwendung konzentriert (Gilbert, 2005a) und dabei in zunehmendem Maße erkannt, wie wichtig diese Phänomene für unsere Evolution waren (Bowlby, 1969; Hrdy, 2009) und es heute für unsere physische und psychologische Entwicklung (Cozolino, 2007) und unser Wohlbefinden (Cozolino, 2008; Gilbert, 2009a; Siegel, 2007) sind.

Drittens kommen Menschen mit chronischen psychischen Problemen oft aus Verhältnissen, in denen sie starkem Stress ausgesetzt waren und / oder ein geringes Maß an Altruismus und Zuwendung erfahren haben (Bifulco & Moran, 1998), was erhebliche Auswirkungen auf die physische und psychologische Entwicklung hat (Cozolino, 2007; Gerhardt, 2004; Teicher, 2002).

Viertens können Menschen mit chronischen und komplexen Problemen sehr von Scham und Selbstkritik und / oder Selbsthass geplagt werden, was teilweise eine Folge der im letzten Punkt beschrieben Lebenserfahrungen ist. Aus diesem Grund ist es für die Betroffenen enorm schwierig, für die Güte von anderen Menschen offen zu sein oder sich selbst gütig zu behandeln (Gilbert, 1992, 2000a, 2007a, 2007c; Gilbert & Procter, 2006).

Fünftens, wie bereits auf Seite 20 erwähnt, sagen diese Personen im Rahmen einer KVT typischerweise Dinge wie: „Ich sehe die Logik hinter den alternativen Gedanken, aber ich fühle trotzdem noch X oder Y. Ich verstehe, dass es nicht meine Schuld war, dass man mich misshandelt hat, aber ich

fühle

mich immer noch so.“ Oder auch: „Ich

fühle

mich immer noch so, als ob mit mir etwas nicht stimmt.“

Sechstens wird man sich in zunehmendem Maße bewusst, dass

die Art

des Nachdenkens und Reflektierens über die Inhalte des eigenen Geistes, zu der die Klienten fähig sind, entscheidende Implikationen für den Prozess und den Fokus der Therapie in sich trägt (Bateman & Fonagy, 2006; Choi-Kain & Gunderson, 2008; Liotti & Gilbert, 2011; Liotti & Prunetti, 2010). Ein Beispiel hierfür wären Mentalisierungskompetenzen im Kontrast zu Alexithymie oder „Gefühlsblindheit“; Schwierigkeiten in Bezug darauf, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und in Worte zu fassen, mit diesen umzugehen oder die Gefühle anderer Menschen zu erkennen. Gefühle wie Wut, Traurigkeit, Angst oder Niedergeschlagenheit werden dabei durchaus erlebt, können von den Betroffenen aber nur mit einem begrenzten Spektrum an Begriffen wie „glücklich“ oder „unglücklich“ beschrieben werden.

Der letzte Punkt ist mein langes persönliches Interesse an Philosophie und Praxis des Buddhismus – auch wenn ich mich selbst nicht als Buddhisten im eigentlichen Sinne betrachte. Mitgefühlspraktiken wie der Aufbau eines mitfühlenden Selbst (s. Teil 2) können ein Gefühl von Sicherheit hervorbringen, das die Herausbildung von Achtsamkeit und Mentalisierung unterstützt. In der buddhistischen Psychologie bewirkt Mitgefühl eine „Transformation“ des Geistes.

Logik und Emotion

Es ist seit langer Zeit bekannt, dass Logik und Emotion in einen Konflikt geraten können. Und tatsächlich hat die Forschung uns bereits in den 1980er-Jahren gezeigt, dass wir für diese Dinge auch zwei sehr unterschiedliche Verarbeitungssysteme in unserem Geist haben. Das eine davon steht in Verbindung mit der sogenannten impliziten (automatischen) Verarbeitung, die unbewusst, schnell, emotional und fast ohne Zutun erfolgt, durch klassische Konditionierung und Selbstidentifikationsfunktionen beeinflusst werden kann und sogar in der Lage ist, Gefühle und Fantasien entgegen den bewussten Wünschen zu generieren. Dies ist das System, das das „Gefühl bei einer Sache“ vermittelt.

Im Gegensatz dazu steht die explizite (kontrollierte) Verarbeitung, die langsamer, hauptsächlich bewusst, reflektiv, verbal und unter entsprechendem Bemühen stattfindet (Haidt, 2001; Hassin, Uleman & Bargh, 2005). Diese Befunde wurden in hilfreicher Weise auf die klinische Arbeit bezogen (vgl. beispielsweise Power & Dalgleish, 1997), wobei Teasdale und Barnard (1993) auch komplexere Modelle anbieten. Der grundlegende Punkt ist jedoch, dass zwischen Kognition und Emotion keine einfach geartete Verbindung existiert und dass diesen jeweils unterschiedliche neurophysiologische Systeme zugrunde liegen (Panksepp, 1998). Daher lässt sich eines der Probleme bei der Herstellung einer Verbindung zwischen Denken und Fühlen („Ich weiß das, aber ich fühle mich nicht so.“) auf die Tatsache zurückführen, dass (unterschiedliche) implizite und explizite Systeme jeweils unterschiedliche Verarbeitungsstrategien und Schlussfolgerungen anbieten. Kognitiv orientierte Therapeuten und Psychologen, aber auch viele aus anderen Fachrichtungen, haben der Lösung dieser Probleme keinen Gefallen getan, indem sie die Konzepte von Kognition und Informationsverarbeitung synonym verwendeten, so als ob es sich dabei um ein- und dieselbe Sache handeln würde. Sie sind nicht dasselbe. Ihr Computer und Ihre DNA – tatsächlich sogar jede einzelne Zelle in Ihrem Körper – sind Informationsverarbeitungssysteme, aber ich denke nicht, dass diese „Kognitionen“ haben. Dieses Fehlen einer Definition hinsichtlich dessen, was „eine Kognition“ oder „kognitiv“ ist und was nicht (gegenüber den definierten Konzepten von Motiven und Emotionen), hat den Forschungen auf diesem Gebiet Schwierigkeiten bereitet.

Für das Problem, dass Gefühle nicht Kognitionen oder logischer Überlegung folgen, wurden zahlreiche Erklärungen vorgeschlagen, wie etwa:

es würde mehr Zeit für entsprechende Übungen benötigt;

die meisten Veränderungen seien nun mal zeitaufwendig und schwierig;

es sei mehr Exposition an problematische Emotionen erforderlich;

es müssten „Straßenblockaden“ und ihre Funktionen identifiziert werden (Leahy, 2001);

man müsse eine bestimmte therapeutische Beziehung herstellen (Wallin, 2007) oder

die Entwicklung von Achtsamkeit und Akzeptanz sei vonnöten (Hayes, Follette & Linehan, 2004; Liotti & Prunetti, 2010).

Die CFT bietet einen weiteren Erklärungsansatz an. Laut der CFT könnte ein fundamentales Problem in einem impliziten emotionalen System bestehen, welches sich gemeinsam mit den für Zuwendung verantwortlichen neurophysiologischen Systemen der Säugetiere einschließlich des Menschen entwickelt hat und nun für Gefühle von Bestärkung, Sicherheit und Verbundenheit verantwortlich ist (s. Kap. 6). Die Unfähigkeit zum Zugriff auf das Affektsystem ist das, was dem Problem zugrunde liegt. Tatsächlich können manche Menschen, wie bereits auf Seite 20 ausgeführt, kognitiv (logisch) „alternative Gedanken“ hervorbringen, aber sie hören diese in ihrem Kopf als kalt, distanziert oder aggressiv. In ihren alternativen Gedanken liegt keine Wärme oder Ermutigung – der emotionale Tonfall entspricht eher einer kalten Anordnung. Ich habe festgestellt, dass die Idee des Fühlens von (innerer) Güte und Unterstützung als Bestandteil des Hervorbringens alternativer Gedanken diesen Menschen ein Gräuel ist. So können sie ihre alternativen Gedanken und mentalen Bilder nicht „fühlen“.

Außerdem haben diese Klienten ein tief sitzendes Gefühl, „für ihre Probleme selbst verantwortlich zu sein“; es ist „ihre Schuld“; mit ihnen „stimmt irgendetwas ganz und gar nicht“ – und dies blockiert Mitgefühl und Selbstakzeptanz. Es wird also klar, dass wir einerseits die Fähigkeit dieser Menschen dazu, ihre Gedanken, Gefühle und Probleme mit Abstand zu betrachten und sich selbst mit mehr Mitgefühl und Güte zu behandeln, verbessern müssen, und dass andererseits ebenso Einsicht, Logik, Problemlöseexpositionen und „Geistestraining“ erforderlich sind.

 Fallbeispiel

Vor mehr als 20 Jahren arbeitete ich mit Jane, die seit geraumer Zeit an einer bipolaren Störung mit Borderline-Merkmalen und Suizidalität litt. Sie war früh in ihrer Kindheit adoptiert worden und hatte ein seit Langem bestehendes Gefühl, nirgendwo dazuzugehören. Im Lauf der Zeit wurde sie gut darin, in Bezug auf die Idee, dass sie eine Versagerin und insgesamt unerwünscht sei, sehr vernünftige alternative Gedanken hervorzubringen – allerdings veränderte dies ihre Stimmungslage kaum. Als ich sie nach dem emotionalen Tonfall ihrer alternativen Gedanken fragte und außerdem wissen wollte, ob sie diese als beruhigend, hilfreich und gütig erlebte, war sie verwundert. „Natürlich nicht“, antwortete sie, „Ich muss einfach nur logisch sein. Warum sollte ich gütig zu mir sein? Gütig zu mir zu sein erscheint mir als Schwäche und als Sich-gehen-Lassen! Ich muss einfach nur diese Gedanken in den Griff bekommen“. Nun war sie allerdings verheiratet und hatte Kinder, weshalb ich laut nachdachte: „Aber ist das denn nicht der ganze Sinn dabei, diese alternativen Gedanken zu erkunden – sich geliebt und erwünscht zu fühlen – eben die Unterstützung, Zugehörigkeit, Güte und Akzeptanz zu fühlen, die sie suchen?“ Unter dem Eindruck von Erinnerungen an lange zurückliegende Zeiten sagte sie: „Ja, aber ich will nicht gütig zu mir sein – da gibt es zu viel an mir, das ich nicht mag!“ Es dauerte einige Zeit, bis sie erkannte, dass sie 1) der Güte anderer Menschen aufgrund ihrer eigenen Selbstablehnung verschlossen (und abweisend) gegenüberstand, was 2) ihre Fähigkeiten zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen untergrub, was 3) wiederum unterwürfige Verbitterung und Gefühle der Machtlosigkeit nach sich zog, und 4) die Verachtung und der Hass, die sie deswegen im Geheimen gegenüber sich selbst hegte, sie zu weiteren Gefühlen von Selbstablehnung führten.

Somit plante ich gemeinsam mit Jane, wie sie zu mehr emotionaler Wärme, „Akzeptanz“ und „Güte in ihren alternativen Gedanken“ gelangen könnte; meine Idee dabei war, dass, wenn sie alternative Gedanken (im Gegensatz zu ihren deprimierenden) dachte und diese (vielleicht) niederschrieb, sie sich auf die darin liegenden Gefühle von Wärme und Bestärkung konzentrieren solle. Dies enthüllte einen weiteren zentralen Aspekt der Arbeit mit Mitgefühl – zuerst stand Jane der Entwicklung von Wärme gegenüber sich selbst verächtlich und verängstigt gegenüber. Auch hatte sie Angst davor, sich selbst zu gestatten, der Zuwendung von anderen Menschen wirklich Aufmerksamkeit zu widmen und diese zu fühlen; sie hatte Angst vor intensiver emotionaler Nähe und davor, dass die Annäherung an andere Menschen früher oder später in Scham und Zurückweisung enden würde. Typisch für diese Haltung sind Überzeugungen wie „Wenn du mir wirklich nahekommen und wirklich wissen würdest, was in mir vorgeht, dann würdest du mich nicht mögen; du könntest auch etwas herausfinden, was du gegen mich verwenden würdest (wie meine hasserfüllten Gedanken)“ oder auch Furcht vor Abhängigkeit, beispielsweise in der Form von „Wenn ich jemanden nahe an mich heranlasse, werde ich ihn brauchen, und dann werde ich abhängig, bedürftig, schwach und verletzbar“. Somit sollte sich die Exposition an eine Art von positivem (gütigem und affiliativem, also beziehungsbildendem) Affekt und die Arbeit an der Furcht vor dem Fühlen in Bezug auf diesen positiven Affekt als hilfreich für Jane erweisen. Jane war eine der ersten, die das „Vorstellen eines idealen mitfühlenden Bildes“ (s. Kap. 26) einsetzte; in ihrem Fall war dies ein Buddha, der als Erdgöttin gekleidet war. All das war sehr hart für sie, aber in den vergangenen 15 Jahren hatte sie kein einziges Rezidiv einer depressiven Episode. Die Arbeit mit Jane brachte mich auf die Idee, dass manche Leute große Furcht vor positiven Emotionen haben, da sie diese mit negativen Emotionen und Ergebnissen assoziieren – und daher eine Desensibilisierung gegenüber positiven und affiliativen Emotionen sowie die Aktivierung derselben genauso viel Desensibilisierungsarbeit erfordert, wie im Falle bedrohungsbasierter Emotionen aufzuwenden ist (s. a. Kap. 29).