CONVOCO! Podcast - Corinne Michaela Flick - E-Book

CONVOCO! Podcast E-Book

Corinne Michaela Flick

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Beschreibung

Gespräche mit Ann-Kristin Achleitner, Jens Beckert, Bazon Brock, Heinz Bude, Udo Di Fabio, Gabriel Felbermayr, Wolfgang Fink, Clemens Fuest, Veronika Grimm, Birke Häcker, Peter M. Huber, Brigitte Knopf, Stefan Korioth, Anja Langenbucher, Jörn Leonhard, Rudolf Mellinghoff, Timo Meynhardt, Arend Oetker, Stefan Oschmann, Christoph G. Paulus, Ingolf Pernice, Herbert A. Reitsamer, Jörg Rocholl, Gisbert Rühl, Monika Schnitzer, Wolfgang Schön, Sven Simon, Claudia Wiesner & Hildegard Wortmann. Die in diesem Band enthaltenen Gespräche basieren auf der Convoco Podcast-Serie. Sie spiegeln ein Jahr Corona. Ohne direkt auf die Krise Bezug zu nehmen, steht die Pandemie bei jedem Gespräch im Hintergrund. Die Convoco Podcast-Serie ist ein Kind der Krise. Sie wurde geschaffen, um in schwierigen, noch nie dagewesenen Zeiten Orientierung zu geben. Grundsätzlich steht Convoco für "a better understanding": ein besseres Verständnis der Zusammenhänge und auch der Herausforderungen. Convoco formuliert Probleme, beleuchtet sie aus verschiedenen Perspektiven und bietet somit kuratierten Inhalt. Convoco hilft der Wissenschaft, sich zu vermitteln. Insgesamt sind 40 Podcasts, sowohl in deutscher wie englischer Sprache, im Zeitraum von März 2020 bis März 2021 veröffentlicht worden. In diesem Band sind die in deutscher Sprache erschienenen Interviews enthalten. Jedes einzelne bietet Erkenntnisgewinn.

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2021

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CONVOCO! Podcast-Gespräche

CONVOCO! PODCAST

März 2020 bis März 2021

Herausgegeben von

Corinne Michaela Flick

CONVOCO! EDITION

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© Convoco Stiftung, München 2021

www.convoco.co.uk

Convoco gemeinnützige Stiftung-GmbH

Brienner Straße 28

D-80333 München

Herausgeberin: Dr. Corinne Michaela Flick

Lektorat: Niclas Kern

Korrektorat: Gudrun Weidner & Dr. Rainer Schöttle

Umschlaggestaltung: Franziska Jernej

Podcast-Technik: Yves Kaiser

Buchsatz: Thomas Auer

ISBN: 978-3-754123-45-4

Gespräche März 2020 bis März 2021

Inhalt

Vorwort

Die Podcast-Gespräche mit Corinne Michaela Flick:

1.Timo MeynhardtGemeinwohl und Freiheit in der Balance

2.Peter M. HuberDie freiheitliche Grundordnung unter Druck:Die Corona-Krise als Bewährungsprobe?

3.Rudolf MellinghoffDer Staat in Zeiten der Krise:Starker Staat in geschwächter Wirtschaft?

4.Christoph G. PaulusSchlechtwetterzeiten als Herausforderung für die Insolvenz: Solidarität als Grundvoraussetzung

5.Monika SchnitzerWirtschaftliche Herausforderungen in der heutigen Krise

6.Arend OetkerEin persönliches Gespräch

7.Ingolf PerniceEigenverantwortung im Sinne von Solidarität und Freiheitsrechten

8.Herbert ReitsamerEin Blickwinkel aus Österreich: Die Bedeutsamkeit des Gesundheitssystems

9.Gisbert RühlKrise als Chance

10.Anja LangenbucherPrivate Stiftungen: Katalysatoren für globale Kooperation

11.Claudia WiesnerDie EU zwischen Realpolitik und Ideal

12.Stefan OschmannWelche Kooperationen braucht es für unsere Gesundheit?

13.Jörn LeonhardWer bestimmt die Neuordnung der Welt? Währungen der Macht und die neue globale Unübersichtlichkeit

14.Bazon BrockWie bedingen sich Distanz und Menschenwürde?

15.Stefan KoriothVon der Finanzkrise zur Viruskrise: Welche Erfahrungen sind jetzt hilfreich?

16.Wolfgang FinkWas lernen Banken und Unternehmen aus der Krise?Eine neue gesellschaftliche Allianz

17.Hildegard WortmannWie geht die AUDI AG mit der aktuellen Krise um?

18.Birke HäckerWas kommt nach dem Brexit?

19.Heinz BudeSolidarität aus Verwundbarkeit

20.Jens BeckertNicht geteilte Erwartungen & konkurrierende Zukunftsnarrative:Was bedeutet das für die Welt im 21. Jahrhundert?

21.Gabriel FelbermayrWie kann Europa sich in der neuen Weltwirtschaftsordnung durchsetzen?

22.Veronika GrimmUnsere Wirtschaft im Umbau zur Klimaneutralität: Chancen und Herausforderungen

23.Sven Simon & Birke HäckerDer Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte

24.Ann-Kristin Achleitner & Jörg RochollWorin liegt das Potenzial von Stiftungsvermögen?

25.Wolfgang SchönWie frei ist unsere Wissenschaft?

26.Brigitte KnopfWarum ist der Green Deal ein Deal?

27.Clemens FuestHohe Staatsschulden und niedrige Investitionen: Was bedeutet das für unsere Zukunft?

28.Udo Di FabioWarum der Nationalstaat das Fundament unserer Freiheit ist

Convoco Podcasts in englischer Sprache

Die Gesprächsteilnehmer:innen

Vorwort

Die in diesem Band enthaltenen Gespräche basieren auf der Convoco Podcast-Serie. Sie spiegeln ein Jahr Corona. Ohne direkt auf die Krise Bezug zu nehmen, steht die Pandemie bei jedem Gespräch im Hintergrund. Die Convoco Podcast-Serie ist ein Kind der Krise. Sie wurde geschaffen, um in schwierigen, noch nie dagewesenen Zeiten Orientierung zu geben. Grundsätzlich steht Convoco für „a better understanding“: ein besseres Verständnis der Zusammenhänge und auch der Herausforderungen. Convoco formuliert Probleme, beleuchtet sie aus verschiedenen Perspektiven und bietet somit kuratierten Inhalt. Convoco hilft der Wissenschaft, sich zu vermitteln. Als Vermittler baut Convoco Brücken zwischen Menschen, Themen und Institutionen. Wesentlich ist diese Vermittlung in Zeiten des Umbruchs. Der durch die Technologie bereits stark und schnell vonstatten­gehende Wandel unserer Welt wird durch die Pandemie noch verschärft. Heute, im April 2021, ist die Bedrohung durch Corona noch nicht vorbei, und die letztendlichen Auswirkungen sind nicht sichtbar. Jedes Gespräch endet mit den gleichen Fragen: „Wie verändert sich unsere Gesellschaft durch die Krise? Was ist Ihre größte Befürchtung, und was ist Ihre größte Hoffnung?“ Wir betreiben also auch ein Stück weit Prophetie.

Man kann die Gespräche in chronologischer Reihenfolge lesen, man kann sie aber auch in Themenfelder zusammenfassen. Am Ende eines jeden wird auf Interviews verwiesen, die dieses ergänzen beziehungsweise mit diesem in Zusammenhang stehen. Insgesamt sind 40 Podcasts, sowohl in deutscher wie englischer Sprache, im Zeitraum von März 2020 bis März 2021 veröffentlicht worden. In diesem Band sind die in deutscher Sprache erschienenen Interviews enthalten. Jedes einzelne bietet Erkenntnisgewinn.

Corinne Michaela Flick

1. Gemeinwohl und Freiheit in der Balance

Corinne M. Flick im Gespräch mit Timo Meynhardt, Inhaber des Dr. Arend Oetker Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der Handelshochschule Leipzig (HHL) sowie Herausgeber des GemeinwohlAtlas, am 29. März 2020

Corinne Michaela Flick: Herr Meynhardt, Ihr Thema ist das Gemeinwohl. Könnten Sie für uns den Begriff Gemeinwohl kurz definieren?

Timo Meynhardt: Gemeinwohl ist zunächst ein Erfahrungs- und Beziehungsbegriff. Er beschreibt die Qualität von Beziehungen in Familien, Gesellschaften und Gemeinschaften jeweils nach Kontext und historischer Verlaufsentwicklung unterschiedlich. Im Kern geht es immer um die Qualität von Beziehungen zwischen Menschen in einem Sozialverband. Gemeinwohl ist die Erfahrung von positiver Bestimmtheit, beispielsweise von Einstellungen zu Unternehmen oder zur Politik. Diese Erfahrung der Umwelt – als Gemeinwohl beschrieben – ist ganz generell eine Wertung, die sich ausbuchstabieren und messen lässt.

CMF: In der Corona-Krise geht es sehr stark um das Gemeinwohl. Es geht um die Gesundheit unserer Bevölkerung und unserer Mitmenschen, vor allem unserer älteren Generationen. Im Moment ist das Gemeinwohl also zentraler Begriff unseres täglichen Lebens. Viele Eingriffe in unsere Gesellschaft und in unsere Freiheiten werden jetzt mit dem Gemeinwohl begründet. Sollte man nicht achtsam mit dem Begriff Gemeinwohl umgehen?

TM: Achtsamkeit im Umgang mit dem Begriff Gemeinwohl ist das Gebot der Stunde. Nicht alles in der Politik ist mit dem Gemeinwohl zu rechtfertigen. Handlungsspielräume des Einzelnen per se einzuschränken, ist kein gangbarer Weg. Gemeinwohleingriffe sollten in der Wirkung den Einzelnen stärken und nicht schwächen. Wenn man das nicht schafft, wird sich in den nächsten Wochen zeigen, dass sich Menschen diese Freiheitsräume zurückerobern und nicht bereit sind, Einschränkungen dauerhaft in Kauf zu nehmen. Wichtig ist in jedem Fall eine gute Kommunikation, die die Menschen erreicht.

CMF: Wir haben in der Geschichte gesehen, dass es autoritären Missbrauch mit dem Begriff Gemeinwohl gab.

TM: Den hat es immer wieder gegeben und wird es wieder geben. Gerade weil der Begriff umkämpft ist, ist er auch verletzbar und darf nicht benutzt werden, um Partikularinteressen zu rechtfertigen. Schon Dostojewski hat einen der Brüder Karamasow sagen lassen: „Mit Gemeinwohl wurde noch jede Schurkerei gerechtfertigt.“ Carl Schmitt hat uns zugerufen: „Wer bonum commune sagt, will betrügen!“ Immer wieder in der Geistesgeschichte, in der politischen Geschichte, kam das hervor. Gleichzeitig darf uns das jedoch nicht davon abhalten, den Begriff verantwortungsvoll zu nutzen. Wer jetzt nicht beginnt, an das Gemeinwohl zu denken, der wird es nie tun. Andersherum formuliert: Gemeinwohldenken ist das Gebot der Stunde, daran kann sich keiner vorbeistehlen.

CMF: Es gibt das Gemeinwohl und es gibt das Eigenwohl. Beides sind keine Gegenbegriffe. Es kommt auf die Spannung und Abwägung der Begriffe an, richtig?

TM: Ja, vielleicht hilft eine Differenzierung in der Gestalt eines Bildes. Wir müssen mehrere Schichten des Gemeinwohls unterscheiden. Im Sinne eines Aggregatzustands sollten wir von einer festen, flüssigen und gasförmigen Form des Gemeinwohls sprechen. Die Metapher sagt, dass es flüchtige Elemente gibt, die wir schnell verhandeln können, sowie Dinge, die wir über Dekaden verhandeln, und Dinge, die vielleicht gar nicht verhandelbar sind, außer um den Preis der eigenen Existenz. Im Moment geht es um diese festen, soliden Formen des Gemeinwohls, an denen wir erkennen, dass die Abhängigkeit voneinander so hoch ist, dass das Gemeinwohl keine normative Frage ist, sondern eher eine Frage des Überlebens der Gesellschaft. Wenn man diese drei Aggregatzustände betrachtet, gibt es Bereiche, die wir nicht ohne Freiheitsverlust einschränken können. Allerdings bringt das ein Risiko, dass es Gegenbewegungen gibt – Gegenbewegungen im Netz und im Entstehen neuer öffentlicher Räume, die neue, auch ungewollte Entwicklungen auslösen können. Insofern ist das, was unsere Kanzlerin in ihrer Rede gesagt hat, richtig: Die Einschränkung der Freiheit im Namen des Gemeinwohls darf nicht zu hoch sein. Da ist, wie Sie sagen, die Spannung das entscheidende Element. Es ist allen Führungskräften und Politikern zu empfehlen, diese Spannung zu erhalten und nie einseitig abzuwägen. Dann gibt es eine Chance, dass wir gemeinsam aus dieser Situation herauskommen, ohne die Freiheit mit Füßen zu treten. Jene Denker, die einen liberalen Gemeinwohlbegriff verfolgen, sind gerade jetzt gefordert, das liberale Gemeinwohl hochzuhalten. Wer die Freiheit liebt, darf das Gemeinwohl nicht verachten und umgekehrt, die Gemeinwohl-Freunde dürfen nicht vergessen, dass die Freiheit ein hohes Gut ist, das wir uns über Jahrhunderte erarbeitet haben und im Sinne der Aufklärung nicht preisgeben sollten.

CMF: Dann ist das jetzt ein sehr wichtiger Zeitpunkt für den Begriff des Gemeinwohls.

TM: Wir könnten das als Chance betrachten, den Begriff für das 21. Jahrhundert produktiv zu machen. Auch andere Krisen haben Chancen eröffnet, das Gemeinwohl neu zu denken. Als großen Punkt der europäischen Geistesgeschichte würde ich das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 nennen. Daraufhin beschäftigten sich die Philosophen der Aufklärung mit dem Theodizee-Problem: „Wie kann uns Gott, der uns eigentlich Gutes will, so etwas antun?“ Könnte auch das „Virusbeben“ dazu führen, dass wir neue Formen des Gemeinwohls denken lernen und damit dem Begriff seine normative Schwere nehmen, ihn für uns produktiv machen und erkennen, wo Gemeinwohlbelange berührt sind? Können wir diese Erfahrungen auch für neue Theorien nutzen und damit dem philosophischen Denken neuen Schub verleihen, das dann wieder über Generationen hinweg die Praxis beeinflussen kann? Man darf von der Wissenschaft aber nicht zu schnelle Schritte erwarten. Es ist zu früh, heute wie ein Sanitäter durch die Reihen zu gehen und Tipps und Tricks zu verraten, wie die Krise zu bewältigen ist. Dafür ist es zu früh, die Einordnung steht erst noch an. Ob der Vergleich zum Erdbeben von Lissabon hinkt, wird sich zeigen, aber in diesen Dimensionen sollten wir in Europa denken und damit die europäische Idee des Gemeinwohls nach vorne tragen. Diese Idee ist nicht veraltet, sondern sehr modern.

CMF: Die Krise erfordert eine tiefe Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft. Welche Rolle fällt den Unternehmen zu?

TM: Zum einen fällt den Unternehmen die Rolle zu, die Grundversorgung in allen Bereichen der kritischen Infrastruktur, von Lebensmitteln bis Gesundheit, sicherzustellen und das öffentliche Leben nach Kräften aufrechtzuerhalten. Jetzt, wo harte wirtschaftliche Einschnitte folgen werden, fällt ihnen auch die Rolle zu, langfristig das Gemeinwohl im Blick zu behalten. Das Unternehmenswohl sollte nicht gegen das Gemeinwohl ausgespielt werden, sondern es gilt, Brücken zu schlagen, um eine sozialverträgliche Lösung zu finden. Damit sichern die Unternehmen ihre Akzeptanz für die Zeit nach der Krise. Fachkräftemangel, Digitalisierung und Globalisierung werden nicht deshalb weggehen, weil wir uns im Moment im Krisenmodus befinden. Unternehmen sollten schon heute ins Gemeinwohl investieren, um nach der Krise besser aufgestellt zu sein. Es darf nicht dazu kommen, dass ökonomische Belange gegen andere Belange gehandelt werden. Für das 21. Jahrhundert kann man sagen: Es gibt keinen Zweck, der die Mittel heiligt. Das unselige Denken „Der Zweck heiligt die Mittel“ ist etwas, das in der Krise nach vorne kommen wird. Vor dem warne ich aber. Es würde uns allen im Nachhinein zu Schaden gereichen, wenn die Wirtschaft zu stark auf Eigeninteresse pocht. Jetzt sind Unternehmer gefragt, die für die Gesellschaft mitdenken.

CMF: Hier besteht eine Chance für die Bewusstseinserweiterung von Unternehmern und Managern.

TM: Eine Bewusstseinserweiterung und ein Lernschritt auf allen Seiten. Man kann jetzt zeigen, dass vieles, was uns in der saturierten Welt selbstverständlich geworden ist – die Milch im Supermarkt, das Brot, das Handy –, Leistungen sind, die Wertschätzung erfahren sollten. Unternehmen haben die unglaubliche Chance, ihren Beitrag zum Gemeinwohl sichtbar zu machen und zu verdeutlichen, dass unser Wettbewerbssystem Vorteile besitzt. Insofern ist das auch für die Marktwirtschaft eine Möglichkeit zu demonstrieren, was das kapitalistische Wettbewerbsprinzip zu leisten vermag, um uns aus der Krise herauszuführen.

CMF: Einerseits Wettbewerb, andererseits aber auch ein neues Verständnis von Individualität und eigenem Streben. Was Freiheit bedeutet, wird anders definiert werden. Das kann auch zu einer besseren Gesellschaft führen.

TM: Peter Drucker hat es so formuliert: Ob nun eine bessere oder schlechtere, es geht um eine erträgliche Gesellschaft – „a bearable society“ –, in der der Einzelne in seinem Sozialverband überleben kann. Wir haben neue Chancen, eine andere, erträglichere Gesellschaft zu bauen, die erkennt, dass Kleinräumigkeit, kleinere Lebenskreise und weniger Reichweite etwas sind, was uns Vorteile verschafft. Die Integration der Wertschöpfungsketten, die Synergieeffekte über Kontinente hinweg, wird in Frage gestellt werden müssen. Die „Circular-Economy“ wird nach vorne rücken. Das große Thema wird ein Vorwärts durch Mäßigung sein – Wachstum in sozialen Qualitäten. Der Gedanke des Postwachstums wird an Bedeutung gewinnen, weil wir gesehen haben, dass die Verbreitung des Virus stark mit den Wirtschaftsprozessen zusammenhängt. Neue Versorgungsketten, die in der Region verankert sind, müssen aufgebaut werden. Wir werden auch ein neues Verhältnis zur Diskussion um den Klimawandel und andere Umweltthemen bekommen, da wir erkennen, dass das Rückgrat unseres Wohlstandes in einer funktionierenden Wirtschaft besteht. Die Klimadiskussion wird nicht mehr alles dominieren, sondern sie wird im Rahmen der Gemeinwohlbelange neben wirtschaftlicher Solidität und der Sicherung von Arbeitsplätzen in ein Spektrum gesetzt werden. Das wird zu einer Refokussierung der Klimadiskussion führen, an der die Unternehmen verantwortungsvoll teilnehmen sollten und die sie nicht allein der Politik überlassen dürfen.

CMF: Einerseits wollen wir uns jetzt wieder mehr auf das Regionale konzentrieren, andererseits wollen wir es aber auch schaffen, dass die Welt insgesamt mehr zusammenwächst, ein Einverständnis über Werte entwickelt und eine Art universale Zivilisation bildet.

TM: Auch hier gilt es, die Spannung aufrechtzuerhalten. Im Moment ist eine Wiederaufwertung des Regionalen unvermeidbar. Gleichzeitig kann es keinen Rückzug in Burgen und Festungen geben. Der Prozess der Globalisierung ist zu weit fortgeschritten, als dass man einfach Mauern hochziehen kann – weder um Flüchtlingsströme aufzuhalten noch um gewonnene Freiheiten zu beschneiden. Ein neues Maß zu finden, das wird die Herausforderung. Bald sprechen wir nicht nur von „Human Rights“, sondern auch von „Common Good Rights“, also Gemeinwohl-Rechten und -Pflichten. Inwieweit es gelingt, globale Institutionen zu bauen, bleibt abzuwarten. Vielleicht ist der aktuelle Druck dafür gut, um solche Schritte schneller zu gehen. Gleichzeitig würde ich immer wieder auf diesen einen Punkt zurückkommen, den wir uns in Europa so hart durch die Aufklärung erkämpft haben: Das Individuum in seiner Würde sollte im Mittelpunkt stehen, allerdings ohne es zu einer Selbstanmaßung und Hybris zu überhöhen. Raum für Individualismus ist nur möglich, solange es eine funktionierende Gemeinschaft gibt. Also: „Ohne Gemeinwohl keine Freiheit.“ Das so auszutarieren wird Globalisierungsprozesse nicht stoppen, aber zumindest in ein neues Licht rücken. Ich sehe die Chance, dass uns die Virus-Pandemie neuen Denkraum ermöglicht und die Einsicht wachsen lässt, dass wir es mit Systemen zu tun haben, die keiner mechanisch steuern kann, die sich wie die Evolution selbst organisieren und teilweise chaotisch entwickeln. Die Frage wird sein, wo die Eingriffspunkte sind, um eben nicht etwas autoritär mit Zwangsmaßnahmen durchzusteuern, sondern im Sinne einer neuen Form von „Softpower“, die es uns ermöglicht, in Frieden auf diesem Planeten weiter zusammenzuleben. Da stehen wir erst am Anfang der Überlegungen.

CMF: Der Aufstieg Europas und die Ausbreitung der abendländischen Zivilisation, die Sie mit der Aufklärung angesprochen haben, war eine jahrhundertelange Entwicklung. Stehen wir heute vor einem Wendepunkt?

TM: Ich möchte dafür werben, dass es keinen Wendepunkt gibt und dass wir die Stärken, die wir in Europa entwickelt haben, nicht einfach opfern dürfen. Stattdessen sollten wir versuchen, diese Stärken weiterzuentwickeln, und zwar unabhängig davon, dass Europa als Raum im globalen Wettbewerb zusammenstehen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben. In Europa sind kulturelle Kräfte vorhanden, die sonst nirgendwo auf dem Planeten so sichtbar geworden sind. Ohne Zivilisationen gegeneinander aufzuwiegen, ist ein Europa der Vielfalt – geprägt von Entscheidungsprozessen, von Kriegs- und Demokratieerfahrungen – entstanden, welches einen Lernschatz beinhaltet, der durchaus zukunftsfähig ist. Mehr denn je hat die europäische Idee für mich Zukunft, wenn wir sie denn verantwortungsvoll weitertragen und uns nicht nehmen lassen, was schon erreicht wurde.

CMF: Wie wird sich unsere Gesellschaft durch die Krise verändern? Was ist Ihre größte Befürchtung, und was Ihre größte Hoffnung?

TM: Meine größte Befürchtung ist, dass die Corona-Krise Entsolidarisierungseffekte zwischen den Generationen einleitet. Meine größte Hoffnung ist, dass es eine Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft geben wird und damit verbunden auch eine gewisse Entschleunigung, ein Überdenken unserer Lebensformen und einen Umbau unserer Gesellschaft, bei dem die überleben, die wirklich zur Überlebensfähigkeit der Gesellschaft beitragen. Ich hoffe, dass wir vielleicht auch manch Unsinniges im Alltag, was Konsum und das Anhäufen von Gütern betrifft, aufgeben – hin zu einer besseren Lebensqualität, die verträglicher mit der Umwelt umgeht. Das wäre meine größte Hoffnung: mehr Lebensqualität durch Mäßigung.

Zu diesem Thema:

Gespräch 2: Peter M. Huber

Gespräch 5: Monika Schnitzer

Gespräch 28: Udo Di Fabio

2. Die freiheitliche Grundordnung unter Druck: Die Corona-Krise als Bewährungsprobe?

Corinne M. Flick im Gespräch mit Peter M. Huber, Richter des Bundesverfassungsgerichts im Zweiten Senat, am 5. April 2020

Corinne Michaela Flick: Im Moment erleben wir, dass unsere Freiheits- und Partizipationsrechte, die wichtigsten Errungenschaften unserer Zivilisation, in Reaktion auf die Corona-Pandemie eingeschränkt werden. Das ist die drastischste Einschränkung der Grundrechte in der Geschichte der Bundesrepublik. Kann man das so sagen?

Peter M. Huber: Das kann man ohne Weiteres so sagen. Das, was wir jetzt erleben, haben wir noch nie in vergleichbarer Weise seit 1949 erlebt. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass nur der Staat die Grundrechte garantieren kann. Der Staat hat a priori erst einmal die Aufgabe, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Er muss seine Bürger davor schützen, dass sie nicht von außen angegriffen werden, dass im Inneren keine Unruhen entstehen und natürlich auch, dass sie Krankheiten nicht zum Opfer fallen. Das ist in gewisser Weise die Voraussetzung dafür, dass man Freiheitsrechte überhaupt in Anspruch nehmen und ausüben kann. Wenn der Staat diesen Zweck verfehlt und hier krass versagen würde, wäre er vermutlich auch nicht in der Lage, auf Dauer unsere Freiheitsrechte zu garantieren.

CMF: Wird denn im Moment den rechtlich-normativen Fragen genug Aufmerksamkeit geschenkt?

PMH: Die Krise ist die Stunde der Exekutive. Dabei macht unser politisches Personal im Großen und Ganzen eine gute Figur. Dass man da nicht in erster Linie mit der abwägenden Waage eines Richters und eines Juristen herangeht, liegt in der Natur der Sache. Zunächst einmal muss gehandelt werden. Das bedeutet aber nicht, dass dabei keine Fehler passieren können. Nicht alles, was jetzt gemacht wird, ist über jeden rechtlichen Zweifel erhaben. Darüber wird man diskutieren und die Gerichte letztlich entscheiden müssen. Eine umfassende Bewertung wird erst im Laufe der Zeit möglich sein, vermutlich erst, wenn die akute Gefahr einmal gebannt ist. Die Diskussion findet schon heute statt: In der Frankfurter Allgemeine gab es Ende März einen Artikel von Christoph Möllers und Florian Meinel, die kritische Fragen an die Interpretation des Infektionsschutzgesetzes gestellt haben.1 Es gibt auch Gegenpositionen, aber die haben natürlich nicht dieselbe Präsenz wie in ruhigen Zeiten. Steile Thesen und Kritik ziehen mehr Aufmerksamkeit auf sich als eine behutsame Abwägung. Wie dem auch sei, eine rechtliche Debatte ist im Gange, aber die Aufarbeitung wird Jahre dauern. Jetzt muss der Staat erst einmal seine Ressourcen und Instrumente in die Hand nehmen, um unser aller Gesundheit und Leben zu schützen. Wenn er das nicht schafft, brauchen wir ihn nicht.

CMF: Sind wir vielleicht zu sehr an unsere Freiheitsrechte gewöhnt?

PMH: Wir haben beide das Glück gehabt, nie etwas anderes als diese Ordnung erlebt zu haben. Und diese Ordnung schreibt die Freiheit ganz groß, sie hat es vor der Corona-Krise getan, sie wird es nach der Corona-Krise tun und selbst in der Corona-Krise kann man sehen, wie Politiker darum ringen, wie viele Beschränkungen sie den Bürgern abverlangen können. Anders als in Frankreich oder in totalitären Staaten hat man nicht sofort rigorose Ausgangssperren verhängt, sondern erst mildere Mittel versucht. Je weniger diese gefruchtet haben, umso härter wurden dann die Maßnahmen. Dass sie teilweise wenig gefruchtet haben, liegt zum einen sicher daran, dass wir unsere individuelle – mitunter auch reichlich spießige – Selbstverwirklichung überziehen und verabsolutieren, zum anderen aber auch daran, dass man in ruhigen Zeiten aus dem Auge verliert, dass wir auf ein sozial verträgliches Zusammenleben angewiesen sind. Vielleicht ist das etwas, das man aus dieser Krise langfristig lernen kann: Die Freiheit ist zwar ein überragendes Gut, man darf sie jedoch nicht verabsolutieren, vor allem wenn es „nur“ verhältnismäßig schwache Positionen wie die Freiheit, ins Ausland zu reisen, betrifft. Die Verfassung macht das nicht; sie sieht – von der Menschenwürde abgesehen – jede Menge Beschränkungsmöglichkeiten vor. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes, die den Krieg hinter sich hatten, war klar, dass Freiheit nicht alles sein kann.

CMF: Die heutige technologische Entwicklung – denken wir beispielsweise an digitales Tracking oder die Überwachung durch Drohnen – forciert die Überwachung durch den Staat. Beunruhigt sie das?

PMH: Das ist auf jeden Fall etwas, worauf man achten muss. Sie haben sicher die Diskussionen um die Corona-Tracking-App mitbekommen, die auch im Parlament geführt wurde. Diese Debatte zeigt ein sehr verantwortungsvolles und maßvolles Ringen darum, dass die Einschränkungen der Freiheit nicht weiter gehen dürfen als unbedingt nötig. Dass damit Risiken verbunden sind, auch für den Datenschutz, sehen wir in China und auch in den Staaten, die sich dem gefährlichen Weg verschrieben haben, den Rechtsstaat abzubauen. Dieses Risiko gibt es auch in Demokratien; insofern muss man wachsam sein. Mein Eindruck ist aber, dass diese Wachsamkeit sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft vorhanden ist. Zudem darf man nicht alles verteufeln, was unternommen wird, weil es sonst keine Möglichkeiten gibt, die Situation in den Griff zu bekommen.

CMF: Wenden wir uns einmal von den Freiheitsrechten ab und schauen auf dieEigentumsrechte. Da geht es an ganz grundsätzliche Prinzipien unserer Rechtsordnung, zum Beispiel um „pacta sunt servanda“.

PMH: Zum einen gilt „pacta sunt servanda“ immer noch. Auch durch die Änderungen, die der Bundestag letzte Woche verabschiedet hat, sind Mietverträge nicht aufgehoben worden. Es ist nicht angeordnet worden, dass keine Mietzahlungen mehr zu leisten sind, sondern es sind für die Dauer der Beschränkungsmaßnahmen Härtefallregelungen, wie das Verbot einer Kündigung wegen Zahlungsverzugs, erlassen worden. Die Mietzahlung bleibt aber nach wie vor fällig und muss auch später verzinst werden. Ich habe nicht den Eindruck, dass unsere Eigentumsordnung durch die Corona-Krise und die in ihrem Zusammenhang getroffenen Maßnahmen über den Haufen geworfen wird. Der Gesetzgeber hat bisher keine vermögenswerten Rechte abgeschafft. Er hat den Ausgleich zwischen Vermietern und Mietern leicht modifiziert und an die Krisensituation angepasst. Das wird nach der Krise wieder in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden. Insofern besteht für das Eigentum, soweit es als Grundrecht gegenüber dem Staat geschützt ist, kein größeres Risiko als für unsere Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit oder andere Grundrechte. Ein anderes Problem ist, dass uns diese Beschränkungsmaßnahmen eine Rezession bescheren werden und wir wahrscheinlich sehr viele Arbeitsplätze verlieren werden. Das ist ein ökonomisches, vielleicht auch ein moralisches und soziales Problem, aber weniger ein juristisches Problem.

CMF: Der Einfluss des Staates wird dadurch stärker. Bekommen wir einen starken Staat oder glauben Sie, dass sich der Staat nach der Krise wieder zurücknehmen wird?

PMH: Die Welt wird nach der Krise nicht mehr dieselbe sein wie vorher. Die Krise kann uns aber lehren, dass man die Ideologie der Thatcher- und Reagan-Jahre, wonach die Wirtschaft alles und der Staat nichts kann, in der man den Staat und seine Einrichtungen, etwa die Daseinsvorsorge im Gesundheitswesen, auch auf ökonomische Effizienz trimmen wollte, in einem anderen Licht betrachten muss. Wenn wir erkennen, dass traditionelle Staatsaufgaben nicht nur nach ökonomischen Kriterien behandelt werden können und dass Rentabilitätserwägungen ohnehin einen eher zu großen Raum einnehmen, haben wir etwas gelernt. Das wäre aus meiner Sicht eine Rückkehr in die Zeit der 1980er-Jahre oder früher, als der Turbo-Kapitalismus mit dem Modell des „rheinischen“ Kapitalismus sozial domestiziert war. Man wird sicher auch lernen, dass die Globalisierung und die globalen Lieferketten nicht stets der Weisheit letzter Schluss sind. Gewisse Backup-Kapazitäten muss man vor Ort halten. Ich habe aber nicht die Angst, dass wir in einer Planwirtschaft landen werden. Vorübergehend wird der Staat bei Unternehmensbeteiligungen etc. aber eine größere Rolle spielen, um seine soziale Verantwortung für das Überleben wichtiger Unternehmenszweige wahrzunehmen.

CMF: Es ist beruhigend zu hören, dass Sie positiv gegenüber den ganzen Eingriffen eingestellt sind.

PMH: Mein Eindruck ist, dass der Staat sich bewährt und in einer existenziellen Herausforderung das Richtige tut. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Verantwortlichen den Bürgern mehr Beschränkungen als unbedingt nötig auferlegen wollen. Unsere Institutionen funktionieren. Ich weiß zwar nicht, ob alle wissenschaftlichen Ratgeber immer vollkommen richtig liegen, aber immerhin hören unsere Politiker auf die Wissenschaft. Deshalb habe ich ein relativ großes Zutrauen in unser System und in die Institutionen unseres Landes.

CMF: Das gilt wahrscheinlich auch für die anderen europäischen Länder.

PMH: Nicht im selben Maße. Die Österreicher haben das ähnlich gut im Griff. Ob das in allen anderen Ländern der Fall ist, weiß ich nicht. Die katastrophalen Situationen in Spanien, Italien und auch in Frankreich zeigen jedenfalls, dass diese drei Länder nicht genügend vorbereitet waren und dass ihre Infrastruktur möglicherweise zu große Defizite aufweist. Das ist auch Politikversagen. Wenn ich mir Großbritannien anschaue und den Premierminister Boris Johnson, der das Ganze im Vorfeld bagatellisiert hat, bin ich zwar optimistisch, dass das Vereinigte Königreich auch diese Krise schafft. Die Frage ist aber, zu welchem Preis? Ich hatte lange Zeit nicht den Eindruck, dass der Premierminister, der es sonst mit der Wahrheit auch nicht so genau nimmt und oft einen unernsten Eindruck macht, begriffen hatte, was die Stunde wirklich geschlagen hat. Allerdings bietet die Krise für uns alle die Chance, zu lernen.

CMF: Was ist Ihre größte Befürchtung bezüglich der weiteren Entwicklung unserer Gesellschaft? Was ist Ihre größte Hoffnung?

PMH: Meine größte Befürchtung ist, dass der Staat nicht in der Lage sein könnte, das Schutzversprechen wirklich einzulösen und die Bürger die Geduld mit ihm und mit den Maßnahmen verlieren. Dann wird es schwierig, die Kontaktsperren oder Kontaktreduzierungen dauerhaft durchzusetzen. Ich habe auch Angst, dass das Vertrauen in die Institutionen verloren gehen könnte. Ein bisschen hängt das davon ab, wie sich die Krise weiterentwickeln wird, und wie die Verantwortlichen darauf reagieren. Das ist noch nicht ausgemacht. Ich bin gleichwohl optimistisch. Wenn Sie mich aber nach meiner größten Befürchtung fragen, dann ist es die, dass die Akzeptanz staatlicher Entscheidungen in dieser Krise in eine eigenständige Krise gerät. Meine größte Hoffnung ist, dass wir uns wieder klarer darüber werden, was wir an einem funktionierenden Staat haben, dass wir die Verabsolutierung vor allem manch trivialer Selbstverwirklichung (Mallorca) ein Stück weit hinterfragen und dass wir vielleicht auch merken, dass so eine Zwangsruhepause, so belastend sie ist, auch positive Effekte hat. Ich hoffe, dass das soziale Miteinander durch die große Solidarität in der Gesellschaft gestärkt wird und der Glaube an die allein selig machende Kraft ökonomischer Rationalitäten ein bisschen abgeschwächt wird.

Zu diesem Thema:

Gespräch 1: Timo Meynhardt

Gespräch 7: Ingolf Pernice

Gespräch 8: Herbert Reitsamer

Gespräch 28: Udo Di Fabio

Anmerkung

1 Florian Meinel und Christoph Möllers, Eine Pandemie ist kein Krieg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.03.2020, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/eine-pandemie-ein-ausnahmezustand-aber-kein-krieg-16686801.html, abgerufen am 15.03.2020.

3. Der Staat in Zeiten der Krise – Starker Staat in geschwächter Wirtschaft?

Corinne M. Flick im Gespräch mit Rudolf Mellinghoff, bis Juli 2020 Präsident des Bundesfinanzhofs, am 7. April 2020

Corinne Michaela Flick: Lieber Herr Mellinghoff, ich möchte heute mit Ihnen über die Auswirkungen der Krise sprechen. Die staatlichen Hilfsprogramme sind die größten, die wir seit der Gründung der Bundesrepublik gesehen haben. Reichen die zahlreichen Hilfsprogramme der Regierung und der EZB für die betroffenen Unternehmen und Privatpersonen? Und kommen sie rechtzeitig?

Rudolf Mellinghoff: Da liest und hört man sehr Unterschiedliches. Teilweise liest man bereits in den Sozialen Medien von ganz beglückten Kleinunternehmern und auch Selbstständigen, die sehr rasch, innerhalb von wenigen Tagen, Hilfe erhalten haben. Wir hören natürlich auch von anderen, die länger auf das Geld warten müssen. Das ist sehr unterschiedlich. Bei der enormen Zahl der betroffenen Betriebe, Freiberufler oder Selbstständigen muss man sich darauf einrichten, dass es etwas länger dauert. Gegenwärtig werden viele notwendige Prüfungen unterlassen, damit die Menschen rasch an ihr Geld kommen, aber das Ganze muss natürlich später auch nachjustiert werden.

CMF: Erleben wir durch diese Hilfsprogramme die Rückkehr des starken Staates?

RM: Damit wird ja unterstellt, dass wir einen schwachen Staat haben. Ich würde da eher das Gegenteil behaupten, denn der Staat verfügt seit vielen Jahren über enorme Finanzmittel, über ständig steigende Steuereinnahmen. Der Staat hat in den letzten Jahren dieses Geld auch immer ausgegeben, keine Rücklagen gebildet und allenfalls einen ausgeglichenen Haushalt zustande gebracht. Das bedeutet natürlich, dass dieser Staat sich immer schon sehr stark in unser Leben eingemischt hat. Wenn wir jetzt sagen, wir haben einen starken Staat, weil er in der Lage ist, durch die über viele Jahre ausgeglichenen Haushalte hohe Kredite aufzunehmen, dann ist das sehr begrüßenswert. Nur dadurch sind wir in der Lage, diese sehr schwierige Phase überhaupt zu meistern. Das ist ein großes Glück, dass wir in der Bundesrepublik über diese Stabilität unserer Finanzen verfügen.

CMF: Wird der Staat stärker, weil er jetzt durch die Programme auch mehr leisten kann?

RM: Der Staat nimmt für sich sehr viel mehr Eingriffsbefugnisse in die Freiheit der Bürger in Anspruch. Wir haben enorme Freiheitsbeschränkungen. Das setzt einen starken Staat, der dies auch kontrolliert und umsetzt, voraus. Wir haben natürlich auch unter Verfassungsrechtlern bereits Diskussionen, was überhaupt im Rahmen einer solchen Krise an Freiheitsbeschränkungen zulässig und verfassungsgemäß ist. Ich halte bisher alle ergriffenen Maßnahmen für sinnvoll. Die eine oder andere Maßnahme mag über das Ziel hinausschießen, aber dafür haben wir eine funktionierende Gerichtsbarkeit, die viele dieser Maßnahmen noch überprüfen wird und gegebenenfalls auch Anpassungen fordern wird.

CMF: Welche Steuermaßnahmen können der Wirtschaft in der Krise helfen bzw. diese nach der Krise wieder in Schwung bringen?

RM: Es ist ja so, dass in dem Corona-Paket gewisse Maßnahmen vorgesehen sind, zum Beispiel Steuerstundungen, Stundungen von Vorauszahlungen und Ähnliches. Meines Erachtens reichen diese Maßnahmen in der gegenwärtigen Krise nicht aus. Man muss aus meiner Sicht den Verlustausgleich wesentlich verbessern, insbesondere einen Verlustrücktrag für die vergangenen Jahre eröffnen und das Rücktragsvolumen deutlich ausdehnen, damit die Unternehmen relativ rasch an Liquidität kommen. Auch die Mindestbesteuerung sollte ausgesetzt werden. Was immer wieder vergessen wird, ist, dass wir ja nicht nur das Geld von den Unternehmen einnehmen, sondern dass die Wirtschaft mit zahlreichen Verwaltungsmaßnahmen betraut ist. Das führt zu zusätzlichen Belastungen. Ich finde, in einer solchen Krise muss man schon überlegen, ob man die Wirtschaft nicht von diesen Dingen, zumindest vorübergehend, entlastet.

CMF: Erste Stimmen fragen, wie die enormen Ausgaben des Staates wieder ausgeglichen werden. Ist es im Moment zu früh, über die Gegenfinanzierung zu sprechen?

RM: Es werden bereits Vorschläge eines Lastenausgleiches oder einer Vermögensabgabe gemacht, aber ich finde es jetzt wirklich viel zu früh, über eine Gegenfinanzierung zu sprechen. Wir müssen doch erst einmal sehen, welches Volumen diese Maßnahmen nachher im Ergebnis haben. Können wir sozusagen diese vorübergehende Erhöhung der Staatsverschuldung als ausreichende Maßnahme abbuchen oder müssen wir hingehen und andere, schärfere Maßnahmen in Anschlag bringen? Ich halte eine solche Diskussion für verfrüht. Man kann später, wenn man einen Überblick hat, darüber diskutieren, aber nicht heute.

CMF: Eine einmalige Vermögensabgabe von fünf Prozent für Multimillionäre wurde bereits ins Gespräch gebracht. Was halten Sie von so einem Vorschlag?

RM: Das setzt erst einmal voraus, dass man weiß, was ein Multimillionär ist. Ich kenne keinen Multimillionär, dessen Vermögen nicht im Unternehmen oder in Kapitalanlagen angelegt ist, die ja nicht einfach nur dazu da sind, um Liquidität zu produzieren, sondern im Wesentlichen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Man kann natürlich der Wirtschaft noch fünf Prozent ihrer Finanzierung entziehen, wenn man meint, das wäre die richtige Maßnahme. Ehrlich gesagt halte ich das für einen etwas kurzsichtigen Vorschlag. Davon abgesehen: Wenn man eine Veränderung vornehmen und vermögende Unternehmen und Privatpersonen steuerlich höher belasten will, dann geht das auch nur unter Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes. Man muss sehr genau überlegen, wie man das umsetzt, indem man zum Beispiel die Progression erhöht. Darüber kann man diskutieren, aber von einem Schlagwort wie „5 % von Multimillionären“ halte ich gar nichts.

CMF: Es gibt ja das Gebot „Der Staat hat kein Recht, Steuern zu erfinden“. Würde eine solche Abgabe unter Steuererfindung fallen?

RM: Wenn man die Steuerprogression anhebt, dann würde das nicht unter Steuererfindung fallen. Im Übrigen muss man sagen, die Vermögenssteuer steht nach wie vor in Artikel 106 des Grundgesetzes. Es ist nicht so, dass eine Vermögenssteuer etwas ist, was jetzt aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht stattfinden kann. Da geht es mehr um die Frage, wie kann überhaupt eine Vermögenssteuer ausgestaltet sein. Das Bundesverfassungsgericht hat sie als „Soll-Ertragsteuer“ definiert; das heißt, sie muss aus den Erträgen gezahlt werden können und soll den Bestand des Vermögens nicht angreifen.

CMF: In der Vergangenheit gab es ja oft Ansätze zur Steuerreform. Bietet diese Krise auch eine Chance, eine solche Steuerreform einzuleiten?

RM: Krisen sind immer ein Anlass für umfassende Reformen gewesen. Das hat man auch nach dem Ersten Weltkrieg gesehen. Unser heutiges Steuersystem basiert im Grunde genommen auf einem Kraftakt aus den Jahren 1919/20, als die Steuerordnung völlig neu gestaltet worden ist. Die Gemeinden sehen jetzt auch, wie schwierig es ist, ihre Haushalte mit der Gewerbesteuer zu finanzieren. Die erste Maßnahme wäre für mich die Gewerbesteuer, diesen Fremdkörper im Vergleich mit anderen Staaten, abzuschaffen und in eine neue, wirtschaftskraftbezogene Steuer für die Kommunen umzuwidmen. Dafür gibt es bereits viele Vorschläge. Ich bin sehr hoffnungsfroh, dass diese Krise auch Anlass und Anstoß sein kann, Strukturreformen im Steuerrecht umzusetzen.

CMF: Viele EU-Staaten, allen voran Italien, Spanien und Frankreich, fordern die Einführung von Corona-Bonds, eine gemeinsame EU-Schuldenaufnahme, um finanziell schwer angeschlagene Staaten mit Geld zu versorgen. Andere Mitgliedstaaten, zum Beispiel Deutschland, sind dagegen. Wie stehen Sie zu dieser Diskussion?

RM: Diese Diskussion um die Corona-Bonds, die ja im Grunde genommen nichts anderes als die Fortsetzung der Diskussion um die Eurobonds ist, war immer ein Spaltpilz in der EU. Viele Mitgliedstaaten wie Deutschland und die Niederlande lehnen dies ab, weil sie keine Vergemeinschaftung von Schulden wollen und weil sie die Verantwortlichkeit der einzelnen Mitgliedstaaten gewahrt wissen wollen. Es gibt natürlich den Vorschlag, dies über den European Stability Mechanism (ESM) zu machen. Der ESM hat das Problem, dass die Ausschüttung dieser Gelder teilweise an sehr rigide und strikte Vorgaben gebunden ist. Dazu wären wir in der gegenwärtigen Situation überhaupt nicht in der Lage. Ich würde vielleicht einen anderen Weg vorschlagen. Ich glaube, wir haben bei Griechenland gesehen, dass wir ernsthaft darüber nachdenken müssen, Ländern mit dramatischer Haushaltslage wie jetzt Italien und Spanien Finanzmittel zukommen zu lassen, die sie in eigener Verantwortung und ohne externe Kontrolle verwenden können. Natürlich nicht uferlos, aber doch in einem gewissen Umfang. Möglich wäre so etwas wie ein Corona-Fonds, vergleichbar vielleicht mit einem Strukturfonds auf europäischer Ebene, in den Mitgliedstaaten nach ihrer wirtschaftlichen Kraft einzahlen. Dann sagt man eben ehrlich: „Wir stellen dieses Geld zur Finanzierung dieser Krise vorübergehend auch als verlorenen Zuschuss zur Verfügung“. Das darf natürlich nur ein begrenztes Volumen haben, aber ich frage mich, ob das nicht eine ehrlichere und eine solidarischere Aktion wäre.

CMF: Sie haben jetzt ein wichtiges Wort genannt: „solidarisch“. Die Solidarität ist eines der Kernelemente der EU.

RM: An Solidarität hat es in den letzten Wochen gemangelt. Ich habe nie die Kritik an den Grenzschließungen verstanden, weil ich das eigentlich nur als Fortsetzung der Kontaktbeschränkungen sehe, die wir auf nationaler Ebene haben. Aber das Verbot, Hilfsgüter in die am schwersten betroffenen Staaten zu senden, das hat mich doch sehr irritiert. Wenn Sie sehen, wie die Menschen in Italien sterben, und dann sie damit zu konfrontieren, dass sie weder Atemmasken noch Schutzanzüge bekommen, das tut schon weh, und das tut auch diesen Staaten weh.

CMF: Ein ganz anderes Thema – Sie als Präsident des Bundesfinanzhofs führen jetzt eine sehr wichtige Institution unseres Landes durch diese Krise, was sind dabei die größten Herausforderungen?

RM: Wir sind in einem Spagat. Einerseits müssen wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen. Das bedeutet, dass wir alle Maßnahmen ergreifen müssen, um so wenig Kontakt wie möglich zu haben. Auf der anderen Seite sind wir dazu verpflichtet, Rechtsschutz zu gewähren.

CMF: Die Gerichte sind wichtig für unser Land.

RM: Das ist richtig. Die Gerichte müssen auch weiter funktionsfähig bleiben. Dass es natürlich in dieser Umstellungsphase gelegentlich zu Verzögerungen kommen kann, damit müssen wir leben. Die Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit aber ist gewährleistet – im Übrigen in allen Ländern und allen Gerichten, mit denen ich in Kontakt bin.

CMF: Wird sich unsere Gesellschaft durch die Krise verändern? Was ist Ihre größte Befürchtung, und was ist Ihre größte Hoffnung?

RM: Meine größte Befürchtung ist, dass wir tiefgreifende, strukturelle Schäden im Umgang der Menschen miteinander und in unserer Wirtschaft haben. Ich kann mir eigentlich keine schlimmere Situation vorstellen, als dass zum Beispiel der gesamte Automobilsektor einen dramatischen, langfristig nachhaltigen Schaden erleidet, weil das die Stütze unserer Wirtschaft ist. Wenn diese Bereiche wegbrechen, dann stehen wir vor einer extrem schwierigen Situation. Die größte Hoffnung ist eine große gelebte Solidarität. Ich erlebe in vielen Bereichen, dass die Menschen sich gegenseitig unterstützen. Wenn man dann weiter denkt, muss man anerkennen, wie wichtig die Fortschritte in der Digitalisierung sind. Wir erleben auf diesem Gebiet gewaltige Sprünge, weil die Menschen nun darauf angewiesen sind. Wenn das noch durch ein Digitalministerium begleitet werden würde, das diese Dinge sinnvoll strukturiert, fördert und weiterbringt, dann würden wir auf diesem Gebiet wirklich Fortschritte machen. Wenn das dann noch in einer schönen Steuerreform münden würde, wäre ich glücklich.

Zu diesem Thema:

Gespräch 5: Monika Schnitzer

Gespräch 15: Stefan Korioth

4. Schlechtwetterzeiten als Herausforderung für die Insolvenz: Solidarität als Grundvoraussetzung

Corinne M. Flick im Gespräch mit Christoph G. Paulus, Professor (a.D.) für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht sowie Römisches Recht der Humboldt-Universität zu Berlin, am 8. April 2020

Corinne Michaela Flick: Herr Paulus, Ihr Thema ist das Insolvenzrecht und das schon seit Jahren. In der gegenwärtigen Krise, die wir durch Corona erleben, tritt dieses Gebiet möglicherweise in den Vordergrund. Was hat Insolvenzrecht mit der gegenwärtigen Krise zu tun?

Christoph G. Paulus: