Corona – Des Rätsels Lösung? - Martin Sprenger - E-Book

Corona – Des Rätsels Lösung? E-Book

Martin Sprenger

4,0

Beschreibung

Zwei Jahre Corona-Pandemie liegen hinter uns. Niemand blieb verschont. Kein Land, keine Altersgruppe und auch kein Bereich unserer Gesellschaft. Der Public-Health-Experte Martin Sprenger hat im Mai 2020 sein Tagebuch "Das Corona Rätsel" im Seifert Verlag veröffentlicht. Jetzt, zwei Jahre später, ist es Zeit zurückzuschauen. Zu evaluieren, mit welchen Einschätzungen er richtig und mit welchen er falsch lag. Offen und ehrlich unterzieht er seine damaligen Aussagen und Prognosen einem Faktencheck. Egal ob es um die Entwicklung des Infektionsgeschehens, Erkrankungsrisiken, die Wirkung von Maßnahmen, die psychosozialen Folgen für Kinder, die Risikokommunikation oder die Rolle der Politik und der Medien geht. Auch in seinem zweiten Buch verknüpft er politische Entscheidungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und gesellschaftliche Entwicklungen zu einem Gesamtbild. So ist das Buch nicht nur eine Aufarbeitung der Pandemie, sondern auch eine Dokumentation des aktuellen Wissens. Hinterher sind alle klüger. Aber der Weg vom Irrtum bis zur Erkenntnis ist entscheidend.

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CORONA – DES RÄTSELS LÖSUNG?

FAKTENCHECK EINER PANDEMIE

MARTIN SPRENGER

unveränderte eBook-Ausgabe

© 2022 Seifert Verlag

1. Auflage (Hardcover): 2022

ISBN: 978-3-904123-67-9

ISBN Print: 978-3-904123-56-3

Umschlaggestaltung: Markus Haralter, UnionWagner, Wien

Umschlag-Grafik: Umschlag-Grafik: Davor Kujundzic, auf Basis einer Illustration von CDC/Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAMS

Editorische Notiz:

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde auf ein strenges Gendern verzichtet. Auch wurden mitunter auftretende Wiederholungen mit Rücksicht auf die Authentizität der Tagebuch-Auszüge und der integrierten Artikel des Autors belassen.

Sie haben Fragen, Anregungen oder Korrekturen? Wir freuen uns, von Ihnen zu hören! Schreiben Sie uns einfach unter [email protected]

www.seifertverlag.at

facebook.com/seifert.verlag

INHALT

Vorwort

1. Wie alles begann …

2. Die Co-Existenz von ­Bakterien, Viren und Menschen

3. Versuche, die medizinisch-­virologische ­Perspektive zu erweitern

4. Die Public-Health-­Perspektive – eine kurze Einführung

5. Datenchaos vom ­Anfang bis zum Schluss

6. Strategien und Maßnahmen

7. Die vergessenen Gesundheitsziele

8. Die Pandemie als soziales Ereignis

9. Kinder und Jugendliche

10. Pflege

11. Die vermeintliche Überlastung der Krankenversorgung

12. Der unsichtbare Eisberg in der COVID-Versorgung

13. Damoklesschwert Long-COVID

14. Die Macht der Medien

15. Das Dilemma der Wissenschaft

16. Testen, Testen, Testen

17. Die unsichtbaren Genesenen

18. Die Politisierung von Impfungen

19. Wie geht’s weiter?

20. Epilog am Obersinger

Anmerkungen

VORWORT

Seit der Veröffentlichung meines Tagebuchs zur Corona-Pandemie im Seifert Verlag sind fast zwei Jahre vergangen. Viele meinen, während dieser Zeit hat ein »Jahrhundertereignis« stattgefunden. Ich sehe das noch immer nicht so. Dazu steht der Menschheit in diesem Jahrhundert noch viel zu viel bevor. Mit Sicherheit war und ist die Corona-Pandemie aber ein außergewöhnliches Ereignis. Sowohl in Bezug auf das Erkrankungs- und Sterbegeschehen als auch in Bezug auf die Reaktion darauf und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen.

Viele Dinge, die vor zwei Jahren noch undenkbar schienen, wurden Wirklichkeit. Mit einer vorher noch nie wahrgenommenen Klarheit wurden globale, europäische, nationale und regionale Strukturschwächen offengelegt. Aber auch auf der menschlichen und sozialen Ebene wurden Facetten sichtbar, die ansonsten gut verborgen werden. Schneller als das Virus infizierte die Angst Gesellschaften und Individuen und führte zu Verschiebungen von Wahrnehmung, Moral und Ethik, demokratischen Werten und Normen und von vielem mehr. Für unerschütterlich gehaltene Fundamente unserer Lebensweise bröckelten. Dies alles erfolgte mit einer Geschwindigkeit, dass einem beim Betrachten schwindlig wurde. Auch die Wissenschaft fand lange keinen festen Boden und schlingerte durch das Geschehen, auf der Suche nach Daten und Informationen, um wieder Halt und Sicherheit zu erlangen. Diese erschienen aber nur zaghaft und widersprüchlich, waren voller Rätsel und Fragen. Keine guten Voraussetzungen, um erfolgreich durch eine Pandemie zu kommen.

Ich habe mich bemüht, meine Einschätzungen und Aussagen aus dem Frühjahr 2020 einem Faktencheck zu unterziehen. Die unterschiedlichen Themenfelder wie Datenbasis, Strategien und Maßnahmen, Risikokommunikation und -management, die Folgen für Kinder und Jugendliche, Fragen der Ungleichheit, des sozialen Zusammenhalts oder die Rolle der Politik und der Medien werden in einzelnen Kapiteln behandelt. Das heutige Wissen, die aktuelle Studienlage dienen als Referenzpunkt. Damit wird nicht nur meine eigene Lernkurve sichtbar, sondern auch die der Wissenschaft, der Medien und der Politik. Meine Perspektive ist eine gesundheitswissenschaftliche. Sie hat vor allem die soziale Dimension der Pandemie im Blick, betrachtet diese als ein gesamtgesellschaftliches Ereignis. Während die Zukunft der Pandemie ungewiss in der Glaskugel flimmert, ist ihre Vergangenheit gut dokumentiert und nachlesbar. Trotzdem ist jede Auswahl subjektiv, meine gesundheitswissenschaftliche Wahrnehmung auch geprägt von Subjektivität. Verzerrt durch meine Ausbildung, meine Privilegien, mein wissenschaftliches und privates Umfeld und vieles mehr.

Ich möchte mich an dieser Stelle herzlich bei Maria Seifert bedanken, die erneut den Impuls zum Schreiben gegeben hat. Ein großer Dank gilt auch meinen Eltern, die mich zu einem kritischen, fröhlichen, neugierigen und jegliche Rangordnung ablehnenden Menschen gemacht haben. Ihnen verdanke ich die Liebe zur Natur, den Respekt vor anderen Meinungen, aber auch meine Furchtlosigkeit vor den »Mächtigen«, deren Nacktheit sie immer schon erkannt haben. Devot zu sein habe ich nie gelernt, es war aber aufgrund meiner behüteten wie wilden Kindheit, meiner guten Ausbildung und meinem Privileg der Unabhängigkeit auch niemals notwendig. Ich bedanke mich bei all den Menschen, die ich in meinem Leben kennen und lieben lernen durfte. Viele von ihnen sind kantige, schrullige und bunte Charaktere, Freigeister und lebensbejahend. Keiner von ihnen hat in den letzten zwei Jahren den Boden unter den Füßen verloren. Sie sind der wahre Schatz, den ich gefunden habe. Der größte davon ist meine Familie, die ich spät, aber umso bewusster genießen darf.

Wenn man so will, war dieses Vorwort der erste Faktencheck. Es gleicht dem vom Mai 2020. Manche Dinge ändern sich eben nicht. Menschen kann man so schnell nicht umkrempeln. Zumindest nicht die bodenständigen, realitätsverbundenen. Gute Freundschaften haben auch in Krisenzeiten Bestand. Wie befürchtet, hat aber die Angst weite Bereiche der Gesellschaften infiziert. Angst vor Arbeitslosigkeit, sozialem Ausschluss, der Zukunft, aber natürlich auch vor Krankheit und Tod. Die Verschiebung von Wahrnehmungen hat akrobatische Dimensionen und die Moral der Politik neue Tiefpunkte erreicht. Selbst die Ethik hat rote Linien überschritten, und so mancher demokratischer Wert ist verloren gegangen. Vieles in den letzten Monaten war irrational, schwer nachvollziehbar und unverständlich. Auch das macht Angst. Manches war klar und heilsam. So wie der erste Schritt am frühen Morgen in den Bergen.

Interessenkonflikt:

Bei der Einreichung jeder wissenschaftlichen Publikation, am Beginn jedes wissenschaftlichen Vortrags steht die Offenlegung der eigenen Interessenkonflikte. Die etwas sperrig klingende Definition lautet: »Interessenkonflikte sind definiert als Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen oder Handeln, welches sich auf ein primäres Interesse bezieht, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst wird.«

Hier also meine Interessenkonflikte in Bezug auf dieses Buch. Ich habe in den letzten zwei Jahren keinen einzigen Cent Honorar für ein Interview oder einen Medienauftritt erhalten. Wenn eine Anreise mit dem Zug notwendig war, habe ich einen Spesenersatz beantragt. Nach einer nächtlichen Fernsehsendung habe ich mehrmals einen Shuttle-Dienst in Anspruch genommen, um am nächsten Tag diverse Vereinbarungen einzuhalten. Die einzige entgeltliche Zuwendung betrifft einen Artikel für die Zeitschrift »Pragmaticus«. Für alle anderen veröffentlichten Artikel habe ich kein Honorar erhalten. Keine der oben angeführten Tätigkeiten hatte einen Einfluss auf das Geschriebene in diesem Buch.

Warum dieses Buch

In unserer Welt

gibt es so viele Weichmacher,

Aufmacher, Schlaumacher,

Kleinmacher, Schlankmacher,

finden wir überall

Angstmacher, Sorgenmacher,

Krankmacher, Dummmacher

und so

wenig

Mutmacher.

(Kristiane Allert-Wybrianietz, 1987,

aus: »Dem Leben auf der Spur«)

1

WIE ALLES BEGANN …

Am 6. April 2020 führt Armin Wolf in der ZIB2 ein langes Interview mit dem damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz. Nach 15 Minuten zitiert mich Wolf mit den Worten: »Aber der Public-Health-Experte Martin Sprenger von der Uni Graz [sic!], Mitglied im Corona-Expertenbeirat, sagt heute in einem Interview mit Addendum, er versteht die Ausgangsbeschränkungen im Freien überhaupt nicht, weil wenn man dort genügend Abstand hält, kann man sich praktisch nicht infizieren. Deshalb hält er alle Einschränkungen der Bewegung im Freien, das Schließen von Parks und Wandergebieten, für falsch und nicht nachvollziehbar. Wie begründen Sie es?« Kurz antwortet: »Ich begründe es gar nicht, es ist ja nicht meine Meinung, es ist legitim, dass jemand diese Meinung vertritt, ich habe eine andere.«

Für mich war dieses Interview im Rückblick ein Schlüsselereignis, das mich nicht nur zum »falschen Experten«, sondern auch zu einer öffentlichen Person gemacht hat. Wobei es nicht nur die Erwähnung meines Namens in der ZIB2, sondern vor allem die Reaktion darauf war, die vieles verändert hat. Kurz hat vermutlich nach der Sendung mit seinem Mann für PR und Kommunikation im Kanzleramt, Gerald Fleischmann, gesprochen, und dieser hat wohl wiederum ein paar WhatsApp-Gruppen aktiviert. Was dazu geführt hat, dass ich unter anderem von zwei Rektoren und dem damaligen COVID-Sonderbeauftragten im Gesundheitsministerium Clemens Martin Auer via E-Mail nette Post bekam. Letzterer meinte: »Danke, dass Sie das von Anfang so deutlich und klar zum Ausdruck gebracht haben. Net wirklich hilfreich, von der Bande hereinzukeppeln, werter Herr Kollege!«

In meinem Buch »Das Corona-Rätsel«1 habe ich diese Episode und alles, was danach kam, ausführlich beschrieben. Eine Woche vorher, am 30. März, eskaliert der Ex-Kanzler vollkommen unnötig und sagt bei der Pressekonferenz:2 »Das Virus rottet sich nicht von allein aus« und »wirkliche Normalität gibt es erst wieder, wenn wir das Virus besiegt haben.« Wenn das nicht gelinge, gebe es nicht mehr viele Maßnahmen, die man treffen könne, dann seien wir bald am Ende der Fahnenstange angelangt. In der ZIB-Spezial am Abend eskaliert er weiter: »Die Wahrheit ist aber, dass die schweren Zeiten noch vor uns stehen. Die Zeit, in der die Intensivstation überlastet ist, die Zeit, in der mehr Menschen behandelt werden müssen, als vielleicht behandelt werden können. Wir werden in allen europäischen Ländern eine Überforderung der medizinischen Kapazitäten erleben« und: »Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist.«

Der Ex-Kanzler hat die Ebene der Sachpolitik eindeutig verlassen. Vier Tage vorher war er bei einer Taskforce-Sitzung anwesend, bei der alle Daten auf eine positive Entwicklung, auf ein baldiges Ende der ersten Infektionswelle hindeuteten. Meine Vermutung ist, dass er nach der erfolgreichen Abwendung der Bedrohung erkannt hat, dass er diese Krise politisch nutzen muss. In den Meinungsumfragen hat er absolute Spitzenwerte erreicht. Vielleicht haben ihn Victor Orbán oder Benjamin Netanjahu daran erinnern müssen, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall setzt Kurz ab sofort auf eine Eskalation der Angst. Obwohl, nur zwei Wochen später, zu Ostern, da feierte er die Wiederauferstehung. Das war der Beginn der »Message Control«.

Für mich waren das genug Gründe, die Corona-Taskforce am 7. April so unkompliziert zu verlassen, wie ich ihr fünf Wochen zuvor beigetreten bin. Ich hatte keine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben oder Interessenkonflikte offenlegen müssen. Ich hatte kein Honorar und keinen Spesenersatz erhalten. Die unerwartet heftige Reaktion des »System Kurz« und die Einschüchterungsversuche führten aber auch dazu, dass ich mich im Sinne einer paradoxen Reaktion von nun an vermehrt öffentlich zu Wort meldete. Trotz meiner Abneigung gegen soziale Medien eine eigene Facebook-Seite einrichtete und zwei Jahre lang dort alles teilte, was ich interessant fand. Ob das rückblickend klug war, darüber bin ich mir selbst noch nicht im Klaren. Zu schweigen war aber auch keine Option.

Zwei Jahre später wissen wir, dass meine damaligen Aussagen vollkommen korrekt waren. Das Risiko, sich mit SARS-CoV-2 im Freien zu infizieren, ist extrem gering, vor allem wenn die Luft in Bewegung ist und ein gewisser Abstand eingehalten wird.3 Im April 2021 hat sich die Gesellschaft für Aerosolforschung in einem offenen Brief an die deutsche Bundesregierung gewandt, in dem steht:4»Wir müssen uns deshalb um die Orte kümmern, wo die mit Abstand allermeisten Infektionen passieren – und nicht unsere begrenzten Ressourcen auf die wenigen Promille der Ansteckungen im Freien verschwenden.« Mitte Februar 2022 stellt die Virologin Dorothee von Laer fest: »Ansteckungen draußen sind eine absolute Rarität.«5

Drei Tage vor meiner namentlichen Erwähnung in der ZIB2 am 3. April 2020 kontaktierte mich der Journalist Michael Fleischhacker. Einen Tag später haben wir ein langes Gespräch geführt, das am 6. April in der Online-Ausgabe der Rechercheplattform Addendum unter dem Titel »Es geht viel mehr, als uns die Politik weismachen will« veröffentlicht wurde.6

Gleich zu Beginn des Interviews mache ich folgende Aussagen: »Diese Pandemie bzw. die Erkrankung COVID-19 ist medizinisch, auf der Behandlungsebene betrachtet, ein Chamäleon. Schwer zu diagnostizieren. Viele asymptomatische Verläufe, viele unterschiedliche Leitsymptome. Auf einer Public-Health-Ebene, und damit auch in der politischen Betrachtung, ist diese Pandemie eher wie ein Wollknäuel. Da gibt es drei Stränge, die ineinander verwoben sind, die man gemeinsam betrachten, aber auch entwirren muss.

Erstens das Pandemiegeschehen selbst, das durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2 verursacht wird. Dieses temporär erhöhte Erkrankungs- und Sterbegeschehen bei zumeist hochbetagten und schwer vorerkrankten Menschen kann unsere Krankenversorgung und intensivmedizinische Versorgung überlasten. Das ist der erste Teil des Wollknäuels.

Der zweite Strang betrifft die Frage: Was passiert in einem Gesundheitssystem im COVID-19-Modus mit Menschen, die akut krank werden oder chronisch krank sind? Die Versorgung dieser Menschen ist ja nicht ausgesetzt, die muss ja trotzdem passieren, aber sie wird mit Sicherheit anders ablaufen als sonst. Zum Beispiel wurden elektive Eingriffe verschoben, die Krankenhäuser sind zurückhaltender bei der Aufnahme, die Fachärzte schwerer erreichbar, Therapeuten haben geschlossen, und die Angst vor Infektionen hat die Distanz zwischen Ärzten und Patienten vergrößert. Die Wege durch das Gesundheitssystem haben sich verändert, sind noch komplizierter, dauern noch länger, und mit Sicherheit kommt es dadurch zu gefährlichen Verläufen, vielleicht sogar Todesfällen. Nachdem dort aber derzeit niemand hinschaut, läuft das unter dem Radar der Öffentlichkeit.

Und dann gibt es noch einen dritten Strang in diesem Geschehen. Alle Maßnahmen, die wir da setzen, haben Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Arbeitslosigkeit, Stress, Zukunftsängste beeinflussen die Gesundheit und bewirken eine Zunahme der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit. Die ärmeren Menschen und Familien in unserer Gesellschaft trifft diese Pandemie am stärksten. Mit der Public-Health-Brille versuche ich, das Big Picture nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist schwierig, aber es ist, glaube ich, notwendig.«

Auch in diesem Buch versuche ich, das »Große Ganze«, die Zusammenhänge nicht aus dem Auge zu verlieren. In den folgenden Kapiteln möchte ich aber auch meine im Jahr 2020 getätigten Aussagen kritisch hinterfragen. Als Grundlage dient mein im Seifert Verlag erschienenes Buch »Das Corona-Rätsel«.7 Dieses hatte ähnlich wie ein Tagebuch einen chronologischen Aufbau. Es beginnt mit dem 2. Februar und endet mit dem 20. Mai 2020. Ganz am Ende steht: »Mein Tagebuch ist nicht die ganze Wahrheit, nicht einmal ein Bruchteil davon. Es ist ein kleiner, subjektiver Einblick in die Geschehnisse der letzten drei Monate, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht hilft es den Lesern, so wie mir, die Chronologie der Ereignisse besser zu verstehen. Erst im Rückblick wird klar, welche Entscheidungen wann, wie und warum gefallen sind. Natürlich hätte ich auch meine Fehleinschätzungen und Fehlberechnungen noch detaillierter schildern können. Aber es ging mir nie um eine Abrechnung, weder mit mir selbst noch mit anderen. Was deutlich werden sollte, ist meine eigene Lernkurve, aber auch die der Wissenschaft, der Medien und der Politik. Die vielen offenen Fragen und ungelösten Rätsel.«

Jetzt, fast zwei Jahre später, ist es Zeit, zurückzublicken und zu versuchen, ein paar dieser Fragen aus einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive zu beantworten. Ganz nach dem Motto: »Hinterher sind immer alle klüger.« Denn nur wenn hinterher wirklich alle klüger sind, und somit etwas gelernt haben, können wir zukünftige ähnliche Herausforderungen besser bewältigen, uns auf die nächste Pandemie vorbereiten. Deshalb ist es so wichtig zurückzuschauen, kritische Fragen zu stellen, Entscheidungen zu evaluieren, vergangene Geschehnisse besser zu verstehen. Bevor ich aber die Besonderheiten einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive beschreibe, wollen wir am Beginn die Beziehung von Viren und Menschen etwas genauer betrachten.

2

DIE CO-EXISTENZ VON ­BAKTERIEN, VIREN UND MENSCHEN

Viren hat es auf dieser Erde schon viele Milliarden Jahre vor den ersten Urmenschen gegeben, die vor etwas über zwei Millionen Jahren in Ostafrika lebten. Das Sapiens, das Kluge und Verständige, gesellte sich erst vor zirka 300.000 Jahren zum Homo, dem Menschen. Fest steht, Viren wird es auch noch lange geben, nachdem der letzte Mensch in seine Bestandteile zerfallen ist, aufgehört hat, der Entropie zu trotzen.

In ihrem Buch »Das Virus in uns« beschreiben die Gesundheitsjournalisten Kurt Langbein und Elisabeth Tschachler, wie Viren als raffinierte Überlebenskünstler die Evolution von uns Menschen und unsere Erbinformation, die DNA, geprägt haben: »In unserem Körper gibt es hundertmal mehr Viren als menschliche Zellen, und unser Erbgut wird von Viren maßgeblich mitgestaltet: Immerhin zur Hälfte besteht das menschliche Erbgut aus Viren oder genauer aus Virenresten.«1

Als vor etwas über 10.000 Jahren die Menschen sesshaft wurden, begannen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, kam es auch erstmals zu großräumigeren Infektionsgeschehen, sogenannten Epidemien. Ausgelöst durch Bakterien und Viren, die nun begannen, zwischen Tieren und Menschen zu wechseln. Je größer die Ansiedelungen wurden, je enger die Menschen mit Tieren zusammenlebten, und je mobiler sie wurden, desto gravierender wurden diese Ausbrüche. Von den Rindern erbten wir die Tuberkulosebakterien, die Pocken- und andere Viren. Schweine und Enten bescherten uns das Grippevirus, Pferde die Rhinoviren, und auch mit den Hunden teilen wir uns über 60 Krankheitserreger. Mit tierischen und menschlichen Fäkalien verunreinigtes Wasser war und ist in manchen Ländern auch heute noch ein nie versiegender Brunnen für Infektionskrankheiten. Jahrhundertelang wurden diese »Seuchen« als Strafe der Götter verstanden. Dementsprechend drastisch fielen auch die Maßnahmen aus. Betroffene Personen wurden ausgegrenzt, gefoltert, gekreuzigt, verbannt, verbrannt oder auf andere Art und Weise als »Schuldige« bestraft. So ging es Tausende von Jahren.

1676 beschrieb der Holländer Antoni van Leeuwenhoek in Berichten an die Königlich Wissenschaftliche Gesellschaft in London seine Beobachtungen von Bakterien, die er mithilfe eines selbstgebauten Mikroskops gemacht hatte. Es folgten 200 Jahre, in denen diese Beschreibungen immer detaillierter wurden. Der Zusammenhang zwischen Bakterien und Infektionskrankheiten blieb jedoch unentdeckt. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Naturwissenschaft in dieser Zeit ungemein viele Fortschritte gemacht hat. Noch bis weit in das 19. Jahrhundert lehrten die »Miasmotologen« an den medizinischen Hochschulen, dass Verunreinigungen und Gifte, die aus dem Erdreich aufsteigen, die Ursache der vielen Seuchen sind. Erst durch die Forschungen von Robert Koch und Louis Pasteur bekamen die »Kontagionisten« die Oberhand, und zwischen 1870 und 1880 bewiesen sie, dass Bakterien ursächlich für viele Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Syphilis, Cholera, Typhus verantwortlich waren. Die von Pasteur und Koch initiierte mikrobiologische Revolution begründete auch die neue Wissenschaft der Immunologie.2

Nachdem die Menschheit 200 Jahre auf Bakterien gestarrt hatte, ohne den Zusammenhang mit Krankheiten zu erkennen, wurde nun dem Feind der Kampf erklärt. Forschung, Politik und Medien versprachen, dass bis Ende des 19. Jahrhunderts alle Infektionskrankheiten besiegt sein werden. Es kam anders. Erst 1928 entdeckte Alexander Fleming zufällig die antibakterielle Wirkung von Penicillin. Seine Publikation im »British Journal of Experimental Pathology« blieb jedoch unbeachtet. Zehn Jahre später stießen drei amerikanische Forscher auf Flemings Forschungen. Nach 70 Jahren Hilflosigkeit hatte das Zeitalter der Antibiose begonnen, und der Menschheit stand erstmals ein wirksames Mittel zur Behandlung von bakteriellen Infektionen zur Verfügung. Weitere sollten folgen. Heute wiederum, über 70 Jahre später, sind es vor allem die multiresistenten Krankenhauskeime, die uns vor große Probleme stellen. Und das Mikrobiom, das ist die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die den Menschen oder andere Lebewesen besiedeln, hat uns gelehrt, dass ein Leben ohne sie nicht möglich wäre.

Das »Human Microbiom Project« hat uns gezeigt, dass wir mehr Bakterien in und auf uns haben, als wir eigene Körperzellen besitzen. Das entspricht einem Gewicht von ein bis zwei Kilogramm. Schon weniger kennen das »Humane Virome Project«, das fast wöchentlich spannende neue Erkenntnisse liefert.3 So sind zum Beispiel auch gesunde Menschen immer von unzähligen Viren und Makrophagen besiedelt. Ein Gramm Kot enthält bis zu hundert Millionen Viren.4 Unser Immunsystem hat gelernt, damit mehr oder weniger erfolgreich umzugehen. Es finden sich fast immer Herpesviren, Humane Papillomaviren (HPV) oder Adenoviren in verschiedenen Körperregionen.5 Und wer glaubt, dass zumindest die Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit frei von Viren ist, muss dank moderner Sequenzierungsmethoden umdenken.6

Was lernen wir daraus? Bakterien, Viren, Makrophagen und andere Einzeller sind omnipräsent im lebendigen (Öko)System Mensch. Die Grenzen zwischen lebensbedrohlich pathogen, nicht-pathogen und lebensnotwendig sind unscharf. Dank moderner Diagnostik werden wir immer etwas finden, auch wenn wir gar nicht danach gesucht haben. Menschen infizieren sich ständig mit Bakterien und Viren, immer und immer wieder. Die meisten viralen Infektionen finden asymptomatisch, also ohne Anzeichen einer Erkrankung, statt. Viele verlaufen mild, zum Beispiel mit Erkältungssymptomen wie Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Manche verlaufen schwer, und einige führen sogar zum Tod. Zu einer viralen Infektion kann sich eine bakterielle Superinfektion dazugesellen, und das Immunsystem schwächende Medikamente können eine Infektion begünstigen.

Aktuell stehen der Menschheit zirka 50 antiviral wirkende Substanzen zur Verfügung.7 Bei HIV, Herpes und anderen Infektionen können damit gute Erfolge erzielt werden. Aber auch bei der chronischen Hepatitis C sind die Heilungschancen inzwischen auf über 90 Prozent gestiegen. Trotz dieser Fortschritte können viele virale Infekte nur symptomatisch, also nicht ursächlich behandelt werden. Bleibt somit vor allem die Strategie der Prävention, der Vermeidung von viralen Infektionen, zum Beispiel mit Hygienemaßnahmen oder Impfungen. Schon Pasteur experimentierte erfolgreich mit Impfungen gegen die Tollwut. Der Begriff »Vakzine« geht aber zurück auf den Landarzt Edward Jenner, der Rinderherden schon am Ende des 18. Jahrhunderts erfolgreich gegen Kuhpocken geimpft hat (vacca die Kuh). Die Kinderlähmung (Poliomyelitis) war vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gefürchtete Erkrankung. Geändert hat sich das erst, als der Amerikaner Jonas Salk einen Impfstoff entwickelte. 1952, kurz nach der Freigabe, überraschte Salk die Öffentlichkeit mit seiner Antwort auf die Frage, wem das Patent gehöre: »Nun, den Menschen würde ich sagen. Es gibt kein Patent. Könntest du die Sonne patentieren lassen?«8

In den letzten Jahrzehnten wurden unzählige wirksame Impfstoffe entwickelt. Die allermeisten haben einen Patentschutz, und gar nicht so wenige gehören zu den umsatzstärksten Arzneimitteln auf dieser Welt. Moderne Impfungen sind für die großen Pharmafirmen aber nicht nur ein großes Geschäft, sondern in der Medizin und Prävention unverzichtbar. Sie gehören zu den größten Errungenschaften der Menschheit. Trotzdem ist »Zero-Infektion«, also eine Welt ohne Bakterien und Viren und durch sie hervorgerufene Erkrankungen, eine Illusion auch in reicheren Ländern. Das Immunsystem von uns Menschen hat sich in den Tausenden von Jahren unserer Umwelt, und zu der gehören auch Bakterien und Viren, sehr gut angepasst. Die Komplexität und genaue Funktionsweise des Immunsystems bleibt jedoch in vielen Bereichen ein Mysterium. Es gibt noch immer viele Fragen, die es zu klären gilt. Zwar hat sich das Verständnis von Faktoren, die unser Immunsystem stärken, und jenen, die es schwächen, deutlich verbessert. Aber was genau da im Kopf, dem Darm, auf der psycho-immunologischen Ebene und zwischen dem lebendigen System Mensch, dem Mikrobiom und Virom abläuft, ist noch in weiten Bereichen unerforscht. Dazu gehört auch die Frage, warum sich das Immunsystem plötzlich gegen den eigenen Körper richtet und Autoimmunerkrankungen auslöst.9

In ärmeren Ländern gehören Infektionskrankheiten zum Alltag. Trotz präventiver Möglichkeiten und wirksamer Medikamente versterben daran täglich zirka 14.000 Kinder, bevor sie fünf Jahre alt werden. Das sind zirka 5,2 Millionen pro Jahr. Sie versterben an HIV, Malaria, Tuberkulose, Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen. Zusätzlich sind im vergangenen Jahr etwa 900.000 Kinder im Alter zwischen fünf und 14 Jahren gestorben. Insgesamt also 6,1 Millionen Kinder unter 15 Jahren.10 Ein enormer Verlust an Lebensjahren. Im reichen Mitteleuropa sind solche Ereignisse inzwischen extrem selten. Für hochbetagte und immunschwache Menschen sind bakterielle Infektionen in Form von Krankenhauskeimen und saisonalen Erkältungsviren aber noch immer eine große Gefahr.

Influenza- und andere saisonale Viren sind seit vielen Jahrzehnten ein immer wiederkehrendes Ärgernis. Mit der Globalisierung, dem Flugverkehr und der internationalen Reisetätigkeit hat sich die Verbreitung dieser Viren noch einmal beschleunigt. Infekte der oberen Luftwege sind heute in Europa einer der Hauptgründe für Krankenstände, und Infekte der unteren Luftwege, die sogenannten Pneumonien, sind verantwortlich für viele Todesfälle. Nichtsdestotrotz scheinen sich unsere Gesellschaften mehr oder weniger mit Infektionskrankheiten arrangiert zu haben, nehmen den Schaden, den sie anrichten, mehr oder weniger zur Kenntnis. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass globale Infektionsgeschehen, sogenannte Pandemien, oft nur zu wenigen gesellschaftlichen Reaktionen geführt haben.11

Vor zwei Jahren wussten viele Menschen überhaupt nicht, dass Coronaviren existieren. Beschrieben wurden sie erstmals in den 1960er Jahren, als die britische Virologin June Almeida eine mit dem Elektronenmikroskop gemachte Aufnahme veröffentlichte.12 Insgesamt sind sieben humanpathogene Coronaviren bekannt (Stand März 2022). Neben SARS-CoV-1, SARS-CoV-2 und MERS-CoV gibt es noch vier endemische Coronaviren: die beiden Betacoronaviren HCoV-HKU1, HCoV-OC43 und die beiden Alphacoronaviren HCoV-NL63 und HCoV-229E. Sie zählen zu den über 200 saisonalen Erkältungsviren, die vor allem im Herbst und Winter aktiv sind. Sie verursachen 5 bis 30 Prozent aller akuten respiratorischen Erkrankungen13 und sind je nach Virensaison für bis zu 30 Prozent der Todesfälle in Alten- und Seniorenheimen verantwortlich.14 Schwere Verläufe gibt es aber auch bei immunsupprimierten Personen, zum Beispiel nach Transplantationen. Die meisten von uns infizieren sich in der frühen Kindheit vor allem mit den beiden Coronaviren HCoV-NL63, HCoV-OC43 und bauen so eine langanhaltende Immunität auf, die durch Re-Infektionen immer wieder gefestigt wird.15 Nach der kurz anhaltenden Aufregung rund um SARS-CoV-1 und MERS-CoV hat die Menschheit Coronaviren wieder vergessen und akzeptierte mehr oder weniger stillschweigend den Schaden, den diese Viren Jahr für Jahr verursachen. Aber dann, Ende 2019, kam das neue Corona-Virus SARS-CoV-2, und alles wurde anders, vollkommen anders.

Das Auftauchen von SARS-CoV-2 und die dadurch ausgelöste Pandemie setzte in jeder Beziehung vollkommen neue Maßstäbe. Noch nie in der Geschichte der Menschheit wurde versucht, ein Infektionsgeschehen mithilfe milliardenfach durchgeführter, hochsensitiver Tests in Echtzeit abzubilden und auf Dashboards darzustellen. Noch nie wurde tagtäglich mehrmals in allen Medien über die Anzahl der täglich positiv getesteten Personen, die Belegung von Krankenhäusern und das Sterbegeschehen berichtet. Wobei das Internet und die sozialen Medien diese Informationsflut noch einmal exponentiell ansteigen ließen. Eine Antwort auf die Frage, ob SARS-CoV-2 schon länger zirkuliert als vermutet,16 aus einem Labor in Wuhan stammt, von Fledermäusen auf den Menschen übertragen wurde oder eine ganz andere Genese hat, werden wir vielleicht nie erhalten.17 Nach der Wuhan-Variante gab es in jedem Fall die Alpha- (B.1.1.7, UK), Beta- (B.1.351, Südafrika), Gamma- (P.1, Brasilien), Delta- (B.1.617.2, Indien), Lambda- (C.37, Peru) und Omikronvariante (B.1.1.529, Südafrika) mit vielen Subvarianten und potentiell weiteren Mutationen.

Die Zukunft ist ungewiss. Niemand weiß, wie es mit SARS-CoV-2 weitergeht. Aber es gibt viele Hypothesen. Die Zero-COVID-Strategie von Australien und Neuseeland ist gescheitert. In beiden Ländern hat sich eine gewisse Ratlosigkeit breitgemacht, und die Strategie von China gibt auch nach den Olympischen Spielen Rätsel auf. Wo ziehen wir in Zukunft bei Kindern die Grenze zwischen einem harmlosen Schnupfen und einem Infekt, der eventuell für andere Menschen bedrohlich sein könnte? Wie gehen wir in Zukunft im Krankenversorgungs- und Pflegebereich mit Infekten um? Gelingt uns nach dieser Pandemie überhaupt jemals wieder ein sachlicher und unaufgeregter Umgang mit Infektionskrankheiten?

Bevor ich ganz am Ende dieses Buches versuche, ein paar dieser Fragen zu beantworten, müssen wir zuerst einmal die jüngste Vergangenheit, die letzten beiden Jahre, analysieren. Ich mache dies aus der Public-Health-Perspektive. Also mit jener gesundheitswissenschaftlichen Brille, durch die ich die Pandemie konsequent betrachtet habe. Diese spiegelte sich auch in meinen zahlreichen Interviews. Von Anfang an hatten die Medien Probleme mit dieser Sichtweise, die nicht nur medizinisch-virologische Aspekte, Krankheiten und Risiken thematisiert, sondern stattdessen die Determinanten von Gesundheit, die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen, Fragen zur gesundheitlichen und sozialen Ungleichheit, zum sozialen Zusammenhalt oder andere aus einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive wichtige Aspekte beleuchtet.

3

VERSUCHE, DIE MEDIZINISCH-­VIROLOGISCHE ­PERSPEKTIVE ZU ERWEITERN

Vor zwei Jahren, Ende April 2020, hat der ORF-Journalist Christian Körber ein langes Interview mit mir geführt. Dabei ging es unter anderem um Exit-Szenarien, die Beachtung der Verhältnismäßigkeit aller Maßnahmen, die Herausforderungen im Pflegebereich, die psychosozialen Folgen für Kinder und Jugendliche, aber auch um die fehlende Datenbasis und die vielen noch offenen Rätsel.

Aus meiner gesundheitswissenschaftlichen Sicht hatte die Pandemie schon damals drei Hauptmerkmale:1»Erstens seien die Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen am meisten bedroht. EU-weit seien dort bis zu 50 Prozent der Todesfälle zu verzeichnen. Zweitens seien Kinder indirekt sehr stark betroffen: Hierzulande gehe es um eingeschränkte Bildungschancen und andere Auswirkungen der Quarantäne. Sprenger verweist auch auf die globale Dimension und auf UNO-Studien, wonach 300 Millionen Kinder wegen des Coronavirus ohne Schulessen von Hunger bedroht sind. Drittens würde die Krise die soziale Ungleichheit gewaltig zunehmen lassen. Das sehe man schon im kleinen Rahmen: Akademiker würden eher ins Homeoffice wechseln, ihre Kinder hätten eher Laptops. Geringverdiener bekämen die Krise viel stärker zu spüren, ihre Kinder hätten weit geringere Chancen, den versäumten Unterricht zu kompensieren. Und Sprenger rechnet damit, dass die Pandemie Reiche reicher und Arme ärmer machen wird. Dafür sorge schon die Situation an der Börse und auf dem Immobilienmarkt.«

Vor einem Jahr, im April 2021, kontaktierte mich Christian Körber erneut. Heraus kam folgendes Gespräch, in dem ich erneut versuchte, die medizinisch-virologische Perspektive um eine gesundheitswissenschaftliche Sichtweise zu erweitern:2

Wir haben ziemlich genau vor einem Jahr lange über SARS-CoV-2 und die Pandemiebekämpfung gesprochen. Seitdem ist sehr viel passiert. Was hat Sie in den vergangenen Monaten am meisten überrascht?

Im positiven Sinn die vielen Wissenschaftler, die sich nicht auf eine Schwarz-Weiß-, Falsch-Richtig-Zeichnung der Politik und Medien eingelassen haben, sondern weiterhin die akademische Debatte und den interdisziplinären Diskurs suchen. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass wir Wissenschaftler ständig streiten. Wir verstehen uns gut – auch wenn wir unterschiedliche Ansichten haben. Weil wir als Wissenschaftler die Debatte gewöhnt sind, bleibt die gegenseitige Wertschätzung erhalten. Wenn die wissenschaftliche Meinung gleichgeschaltet ist, dann ist auch die Lernkurve flach.

Und überrascht hat mich natürlich auch das unglaubliche Engagement vieler Menschen in unterschiedlichsten Bereichen unserer Gesellschaft. Diesen großartigen Initiativen hätten wir – auch etwa auf Pressekonferenzen, aber ohne politische Instrumentalisierung – mehr Bühne geben müssen, damit sie andere »infizieren«, um es ihnen nachzumachen. Die besten Ideen entstehen Bottom-up und nicht Top-down. Man hätte in den Grätzeln, Gemeinden und Tälern als Lokalpolitiker Gesprächsrunden initiieren können, um das Miteinanderreden, den Diskurs zu fördern, und damit den psychosozialen Schaden kleinzuhalten. Da kommen die Leute ins Gespräch, die gut durch die Pandemie kommen, und die, denen das nicht so gut gelingt. Und dort beginnt dann auch gegenseitige Unterstützung, der Austausch von Ideen.

Und negativ?

Im negativen Sinn diese einmalige Politisierung eines Erkrankungsgeschehens, die daraus resultierende Spaltung der Gesellschaft und die Rolle, die die Medien dabei spielen. Dann ist alles in Richtung Krankheitsorientierung gerutscht. Plötzlich gab es nur mehr eine eindimensionale Betrachtung des pandemischen Geschehens im Sinne des virologisch-medizinisch-mathematischen Imperativs. Und alles, was nicht in das Narrativ dieser Politisierung passte, wurde beiseite gewischt. Das förderte die Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft. Das zeigte sich auch in der Impfstrategie: Da ist der Impfstoff noch nicht einmal zugelassen, reden Landespolitiker schon von Impfpflicht und zerstören damit Vertrauen. Dann gibt es politische Appelle, die Europäische Arzneimittelbehörde solle bei dem und dem Impfstoff doch schneller die Freigabe veranlassen. Das ist Politisierung, und die zerstört Vertrauen. Und wenn Vertrauen bei einem so sensiblen Thema wie Impfungen zerstört ist, dann tut man sich mit der Impfkommunikation natürlich auch schwer.

Welche großen Themen spielten in den vergangenen Monaten in den Debatten aus Ihrer Sicht eine zu geringe Rolle?

Ein Thema ist vor 14 Monaten erstaunlicherweise fast vollkommen von der Bildfläche verschwunden, und das ist die Gesundheit. Die Frage »Was erhält Menschen gesund?« spielte plötzlich genauso keine Rolle mehr wie die Prinzipien der Gesundheitsförderung, die Kriterien für gute Gesundheitsinformation oder Maßnahmen zur Steigerung der Gesundheitskompetenz. Auch die zehn österreichischen Gesundheitsziele, die eigentlich bis zum Jahr 2032 den Handlungsrahmen für eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik bilden sollten, gerieten in Vergessenheit. Dabei wären sie perfekt geeignet, um zu helfen, eine Gesellschaft bestmöglich durch eine Pandemie zu führen. Eine Gesundheitsorientierung wurde durch eine Krankheitsorientierung, eine Pathologisierung der Gesellschaft, ersetzt. Auch in den Medien. Als Gesundheitswissenschaftler ist das für mich eine Katastrophe: Ein Jahr Pathologisierung der Gesellschaft hat uns krank gemacht. Ständig risikoorientiert zu denken, den anderen Menschen als Bedrohung wahrzunehmen, macht krank. Wir müssen uns nach dem Ende der Pandemie um das kümmern, was uns gesund erhält: Soziale Beziehungen, Bewegung, arbeiten gehen können, um Geld zu verdienen, sozialer Zusammenhalt, also eigentlich normal laufende Routinen in einer Gesellschaft.

Was von Anfang an klar war, aber ebenfalls vollkommen vergessen wurde, ist die soziale Dimension der Pandemie, eine Pandemie ist auch immer ein soziales Ereignis. Dabei ist das Infektionsrisiko sozial ungleich verteilt, weil sich Menschen in prekären Wohn- und Arbeitsverhältnissen einfach leichter infizieren, aber auch das Erkrankungsrisiko ist sozial ungleich verteilt. Ärmere Menschen sind häufiger chronisch krank, häufiger übergewichtig, gehen später zum Arzt, erhalten später eine Impfung, sind schlechter informiert usw. Aber auch die Nebenwirkungen der Maßnahmen sind sozial ungleich verteilt. So sind ärmere Menschen häufiger von Arbeitslosigkeit und Delogierung bedroht oder betroffen. Diese mangelhafte Berücksichtigung der sozialen Faktoren hat sich leider negativ auf das Management der Pandemie ausgewirkt und viele Schäden unnötig verstärkt, aber auch den Erfolg vieler Maßnahmen deutlich geschwächt. Die Missachtung der sozialen Dimension der Pandemie hat zur Folge, dass die Verhaltensprävention, die Verhältnisprävention und die Risikokommunikation darunter leiden. Und dann bleibt der Erfolg der Eindämmungsstrategie, Schutzstrategie und Folgenminderungsstrategie immer unter den Möglichkeiten. Man hätte die Sozialwissenschaften, aber auch andere Sichtweisen frühzeitig miteinbeziehen müssen.

Es geht dabei eigentlich um gesunde Lebensjahre. Das wird auch mein Thema der nächsten Jahre sein, und wir werden dann auch datenbasiert sagen können, um wie viel mehr gesunde Lebensjahre durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als durch Covid-19 verloren gegangen sind. Die Pandemie laufen zu lassen war ja nie eine Option. Es geht immer um die Minimierung des direkten und indirekten gesundheitlichen, psychosozialen und wirtschaftlichen Schadens. Es geht um ein smartes Risikomanagement. Wie auf der Behandlungsebene muss auch bei gesellschaftlichen Interventionen der Nutzen größer sein als der Schaden, die erwünschte Wirkung größer als die unerwünschten Nebenwirkungen. Es geht um Verhältnismäßigkeit. Würde man einer Therapie zustimmen, bei der man nur auf die Wirkung achtet und die Nebenwirkungen vollkommen egal sind? Nein, man wird immer schauen, dass man die Wirkung maximiert und die Nebenwirkungen minimiert. Das ist Teil des professionellen Handelns, nicht nur in der Medizin.

Und gerade wenn man aus »unserer« Bubble der Privilegierten hinaus in prekäre Lebenswelten schaut, gingen und gehen dort viele gesunde Lebensjahre verloren. Viele Kinder und Jugendliche wurden mittel- und langfristig geschädigt und ihre Biografien massiv beeinflusst, etwa weil Schulkarrieren jetzt anders und schlechter verlaufen. Oder weil sich die Rahmenbedingungen durch Arbeitslosigkeit der Eltern geändert haben. Viele Kinder und Jugendliche haben, von Übergewicht rede ich jetzt gar nicht, auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, früher Alkohol- oder Tabakprobleme oder eine chronische Krankheit zu entwickeln. Die Folgen sieht man wahrscheinlich erst in weiter Zukunft, wenn man dann wohl gar nicht mehr sieht, dass das mit dem Pandemiejahr zusammenhängt. Faktum ist, die Pandemie hat die bestehenden gesundheitlichen und sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft weiter vergrößert. Erst in den vergangenen Wochen hat sich der Aspekt in Studien und in Medienberichten deutlicher niedergeschlagen.

Im Frühjahr 2020 war bei den Maßnahmen das geflügelte Wort von »Hammer and the Dance« in aller Munde. Schon damals sagten sie, das »Tanzen« werde schwierig. Das Modell ist bald von der Bildfläche verschwunden. Sind wir noch immer beim »Hammer«? Sehen Sie – international – Vorbilder, die es geschafft haben, auch zu »tanzen«?

Die Dynamik der Pandemie hält sich an kein Drehbuch, und schon gar nicht an den Taktstock der Politik. Europa hat es anfangs versäumt, das Virus erfolgreich einzudämmen. Inzwischen ist es endemisch, Europa ist in einen Flickenteppich von unterschiedlichen Strategien und Maßnahmen zerfallen. Es gibt keine einheitliche Vorgangsweise. Alle Länder wurschteln sich irgendwie durch die Pandemie. Manche besser, manche schlechter. Nein, Tanzen würde ich das in Europa schon lange nicht mehr nennen. Am ehesten schaffen das noch die skandinavischen Länder. Es ist müßig, in weit entfernte Länder zu schauen, da es schwieriger ist abzuschätzen, ob und um welchen Preis dort getanzt wird. Da achtet man weniger auf Datenschutz und auch Freiheitsrechte.

Wie sehen Sie das Verhältnis von Politik und Wissenschaft in der Pandemie?

Natürlich hatte es auch die Politik nicht leicht: Man hat unterschiedliche – auch wissenschaftliche – Meinungen im Raum schweben, muss dann aber politische Entscheidungen treffen, und diese auch verkünden. Das ist auch legitim so. Politiker sind gewählt. Wissenschaftler können nur beraten, Empfehlungen geben, dürfen aber auch Kritik üben. Ich glaube, in der Pandemie sind die unterschiedlichen Rollen von Wissenschaft und Politik auch schlecht kommuniziert worden, da hätte man mehr daraus machen können. In skandinavischen Ländern war das anders, die haben große Gesundheitsbehörden wie das Institut für Public Health in Oslo mit über 1.500 Mitarbeitern – und die Politik folgt diesen Empfehlungen meistens. Auch diese Institutionen sind nicht perfekt und unfehlbar. Aber in Skandinavien wurde die Pandemie nicht so politisiert und nicht so polarisiert. Die Gesellschaften sind mehr im Kollektiv geblieben und nehmen das eher als gemeinsame Aufgabe wahr, da möglichst gut durchzukommen. Auch beim Thema Schule und Kinder, das in Österreich stark aufgebauscht, politisiert und emotional diskutiert wurde und wird, blieben sie gelassen. Natürlich spielt die Schule eine Rolle im Infektionsgeschehen, aber keine besonders große, zumindest bei den unter Zwölfjährigen. Die skandinavischen Länder haben daher auf Basis von Studien die Kinder möglichst in Ruhe gelassen.

Die zunehmende Polarisierung spiegelt sich ja auch in der Haltung der Bevölkerung zur Pandemie und zu den Maßnahmen wider. Auf der einen Seite gibt es schon seit Langem jene, die die Maßnahmen scharf kritisieren und dazu neigen, das Virus zu verharmlosen. Auf der anderen Seite hat sich vor einiger Zeit die Zero-Covid-Fraktion herausgebildet, die mit einem harten Lockdown dem Infektionsgeschehen ganz den Garaus machen will. Wie sehen Sie diese Positionen?

Ich halte Extreme immer für gefährliche Strategien. Und Zero-Covid ist ein Extrem. Das andere Extrem wäre es, dem Infektionsgeschehen freien Lauf zu lassen. Zero-Covid war vielleicht in Wuhan noch ein Thema. Rein theoretisch gedacht, wäre es im Frühjahr 2020 in einem sehr gut vorbereiteten und gemeinsam agierenden Europa möglich gewesen. Was für ein Aufwand dann bis heute notwendig gewesen wäre, diesen Status quo ähnlich wie in Singapur und Hongkong zu erhalten, sprengt meine Vorstellungskraft.

Aber in einigen Ländern wurde das ja gemacht oder zumindest versucht.