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Beschreibung

Denkanstöße für eine veränderte Welt: Die wichtigsten aktuellen Positionen

Nichts wird danach mehr sein, wie es war – und wir werden nicht mehr dieselben sein. Die Corona-Pandemie hat uns in kurzer Zeit in eine weltumspannende Krisensituation gebracht. Jeden Einzelnen, aber auch uns alle als Gesellschaft, als Nation, als Weltgemeinschaft. Mit hoher Geschwindigkeit bilden sich momentan neue Formen des Lebens und Arbeitens, aber auch neue Ängste und Sorgen, andere Prioritäten und Werte als zuvor, neue Hoffnungen. Dieser Band versammelt die wichtigsten aktuellen Texte zum Leben während und nach der Krise und bietet spannende Impulse zum Nachdenken über das, was uns allen momentan widerfährt:

Yuval Noah Harari: Die Welt nach dem Coronavirus

Nassim Nicholas Taleb / Mark Spitznagel: Die Corona-Pandemie ist kein schwarzer Schwan

Dana Grigorcea: E come vivo? Vivo!

Bas Kast: Wie wollen wir nach Corona leben?

Abhijit V. Banerjee / Esther Duflo: Glaubt an den Staat!

Luca D’Andrea: Die Söhne von Aeneas

Thea Dorn: Es gibt Schlimmeres als den Tod. Den elenden Tod

Ulrike Draesner:Von realer Gegenwart

Gerd Gigerenzer: Corona, Sars und Schweinegrippe: Warum wir Risikokompetenz brauchen

Matthias Glaubrecht: Demographische Katastrophen der Menschheit

Stephen Greenblatt: Der Tod in Rom

Annett Gröschner: Schlendern verboten

Matthias Horx: Die Welt nach Corona

Philipp Hübl: Die Zukunft nach der Pandemie: Solidarität oder autoritärer Reflex?

Martin Korte: Einsamkeit und Angst als soziale Schmerzen, und wie wir in Zeiten der Krise noch lernen können

François Lelord: Das Schuppentier, die Katze und der kleine JungeGeert Mak: Und auf einmal sind wir an der Reihe

Annette Mingels: Wild Life

Ian Morris: Covid-19 – Antworten aus der Vergangenheit

Mareike Ohlberg: China, Corona und »wir«: Chronologie einer politischen Krise

Boris Palmer: Corona-Krise: Erst die Analyse, dann die Moral

David Quammen: Die Corona-Epidemie haben wir uns selbst zuzuschreiben

Richard C. Schneider:Die neue Freiheit

Martin Schröder: Wie schlimm ist es, zu Hause zu bleiben?

Frank Sieren: Hinab in den Maelström

Peter Spork: Alles wird gut

Reinhard K. Sprenger: Schuldloses Verschulden – Der Konflikt zwischen Gesundheit und Freiheit

Erlöse dieser Anthologie gehen an das Sozialwerk des deutschen Buchhandels, das unverschuldet in Not geratene Buchhändler unterstützt und die berufliche Aus- und Weiterbildung bedürftiger junger Buchhändler fördert.

Mit Beiträgen von Anne Applebaum, Jakob Augstein, Abhijit V. Banerjee, Nikolaus Blome, Luca d’Andrea, Thea Dorn, Ulrike Draesner, Esther Duflo, Gerd Gigerenzer, Matthias Glaubrecht, Stephen Greenblatt, Dana Grigorcea, Annett Gröschner, Yuval Noah Harari, Matthias Horx, Philipp Hübl, Bas Kast, Martin Korte, François Lelord, Geert Mak, Annette Mingels, Ian Morris, Mareike Ohlberg, Boris Palmer, David Quammen, Richard C. Schneider, Martin Schröder, Frank Sieren, Mark Spitznagel, Peter Spork, Reinhard K. Sprenger, Nassim Nicholas Taleb

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Über das Buch:

Denkanstöße für eine veränderte Welt: Die wichtigsten aktuellen Positionen

Nichts wird danach mehr sein, wie es war – und wir werden nicht mehr dieselben sein. Die Corona-Pandemie hat uns in kurzer Zeit in eine weltumspannende Krisensituation gebracht. Jeden Einzelnen, aber auch uns alle als Gesellschaft, als Nation, als Weltgemeinschaft. Mit hoher Geschwindigkeit bilden sich momentan neue Formen des Lebens und Arbeitens, aber auch neue Ängste und Sorgen, andere Prioritäten und Werte als zuvor, neue Hoffnungen. Dieser Band versammelt die wichtigsten aktuellen Texte zum Leben während und nach der Krise und bietet spannende Impulse zum Nachdenken über das, was uns allen momentan widerfährt.

Mit Beiträgen von:

Anne Applebaum, Jakob Augstein, Abhijit V. Banerjee, Nikolaus Blome, Luca d’Andrea Thea Dorn, Ulrike Draesner, Esther Duflo, Gerd Gigerenzer, Matthias Glaubrecht, Stephen Greenblatt, Annett Gröschner, Yuval Noah Harari, Matthias Horx, Philipp Hübl, Bas Kast, Martin Korte, François Lelord, Geert Mak, Annette Mingels, Ian Morris, Mareike Ohlberg, Boris Palmer, David Quammen, Richard C. Schneider, Martin Schröder, Frank Sieren, Peter Spork, Reinhard K. Sprenger, Nassim Nicholas Taleb

Penguin Verlag

Coronaund wir

Denkanstöße füreine veränderte Welt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2020 Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: total italic, Thierry Wijnberg (Berlin/Amsterdam)

Typografie und Satz: Andrea Mogwitz

ISBN978-3-641-27123-7V001

www.penguin-verlag.de

Inhalt

Anne Applebaum

Die Regierenden wittern ihre Chance

Jakob Augstein / Nikolaus Blome

Warum lassen die Leute das alles mit sich machen?

Abhijit V. Banerjee / Esther Duflo

Glaubt an den Staat!

Luca D’Andrea

Die Söhne von Aeneas

Thea Dorn

Es gibt Schlimmeres als den Tod. Den elenden Tod

Ulrike Draesner

Von realer Gegenwart

Gerd Gigerenzer

Corona, Sars und Schweinegrippe: Warum wir Risikokompetenz brauchen

Matthias Glaubrecht

Demographische Katastrophen der Menschheit

Stephen Greenblatt

Der Tod in Rom

Dana Grigorcea

E come vivo? Vivo!

Annett Gröschner

Schlendern verboten

Yuval Noah Harari

Die Welt nach dem Coronavirus

Matthias Horx

Die Welt nach Corona

Philipp Hübl

Die Zukunft nach der Pandemie: Solidarität oder autoritärer Reflex?

Bas Kast

Wie wollen wir nach Corona leben?

Martin Korte

Einsamkeit und Angst als soziale Schmerzen, und wie wir in Zeiten der Krise noch lernen können

François Lelord

Das Schuppentier, die Katze und der kleine Junge

Geert Mak

Und auf einmal sind wir an der Reihe

Annette Mingels

Wild Life

Ian Morris

Covid-19 – Antworten aus der Vergangenheit

Mareike Ohlberg

China, Corona und »wir«: Chronologie einer politischen Krise

Boris Palmer

Corona-Krise: Erst die Analyse, dann die Moral

David Quammen

Die Corona-Epidemie haben wir uns selbst zuzuschreiben

Richard C. Schneider

Die neue Freiheit

Martin Schröder

Wie schlimm ist es, zu Hause zu bleiben?

Frank Sieren

Hinab in den Maelström

Peter Spork

Alles wird gut

Reinhard K. Sprenger

Schuldloses Verschulden – Der Konflikt zwischen Gesundheit und Freiheit

Nassim Nicholas Taleb / Mark Spitznagel

Die Corona-Pandemie ist kein schwarzer Schwan

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in diesen Wochen sind wir alle herausgefordert, unsere Normalität, vieles, was unser Zusammenleben ganz selbstverständlich ausmacht, mit großer Dringlichkeit und völlig neu zu denken. Bei Penguin veröffentlichen die namhaftesten deutschsprachigen und internationalen Autorinnen und Autoren, und wir möchten Sie mit diesem Buch einladen, sich mit den wichtigsten und interessantesten aktuellen Positionen vertraut zu machen. Wir wollen Sie aber auch ermutigen, sich von den neuen Gedanken und Perspektiven in diesem Buch anregen zu lassen für das Leben während und nach der Krise.

Wie es zu dieser Pandemie kommen konnte und dass sie historisch keineswegs so einmalig ist, wie es sich momentan darstellt, lesen Sie bei Matthias Glaubrecht, Ian Morris, David Quammen.

Wenn Sie wissen wollen, wie dieses Frühjahr 2020 unsere Welt verändert und welche Lehren wir aus all dem für die Zukunft ziehen können, dann beginnen Sie Ihre Lektüre bei Gerd Gigerenzer, Yuval Harari, Matthias Horx, Philipp Hübl.

Welche positiven Aspekte der erzwungene Stillstand des öffentlichen Lebens womöglich doch für Sie persönlich, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes haben könnte, zeigen Bas Kast, Martin Korte, Martin Schröder, Peter Spork.

Luca D’Andrea, Thea Dorn, Ulrike Draesner, Stephen Greenblatt, Dana Grigorcea, Annett Gröschner, Annette Mingels, Richard C. Schneider schreiben in sehr persönlichen Texten – unter anderem in Südtirol, Rom, Tel Aviv und San Francisco – über ihre Erfahrungen mit dem Ausbruch der Epidemie, dem Leben im Shutdown, aber auch über ihre Wege aus der eigenen Angst.

Dass diese Krise vor allem auch als eine politische zu begreifen ist, das ist das Thema der Beiträge von Anne Applebaum, Jakob Augstein und Nikolaus Blome, Abhijit V. Banerjee und Esther Duflo, Geert Mak, Boris Palmer, Mareike Ohlberg, Frank Sieren, Reinhard K. Sprenger, Nassim Nicholas Taleb und Mark Spitznagel.

François Lelords »Märchen für den Augenblick« erzählt Ihnen und Ihren Kindern eine Geschichte darüber, was das Bewahren natürlicher Lebensräume von Wildtieren mit dem Schutz vor Epidemien zu tun hat.

Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen wünsche ich Ihnen bereichernde Lesestunden,

Britta Egetemeier

Verlegerin

Penguin Verlag, München, im April 2020

Wir danken unseren Autorinnen und Autoren, die für diese Veröffentlichung auf ihre Honorare verzichten. Corona und wir wird das Sozialwerk des Deutschen Buchhandels unterstützen. Das Sozialwerk des Deutschen Buchhandles e.V. unterstützt unverschuldet in Not geratene Buchhändler und fördert die berufliche Aus- und Weiterbildung bedürftiger junger Buchhändler.

Weitere Informationen unter www.boersenverein.de/sozialwerk.

Anne Applebaum

Die Regierenden wittern ihre Chance

Führende Politiker in aller Welt nutzen die Pandemie als Vorwand, um ihre Macht zu stärken – die Öffentlichkeit lässt sie gewähren.

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer

Am 13. März, ausgerechnet einem Freitag, war mein Mann auf einer Autobahn in Polen unterwegs, als er im Radio hörte, dass die Grenzen des Landes in 24 Stunden geschlossen würden. Sofort fuhr er rechts ran und rief mich an. Wenige Minuten später buchte ich einen Flug von London nach Warschau. Ich lebe nicht fest in Polen, aber mein Mann ist Pole, wir haben unser Haus auf dem Land und da wollte ich sein. Am nächsten Morgen herrschte gespenstische Leere im Flughafen Heathrow, nur am Gate zum Flug nach Warschau herrschte Gedränge, weil viele Menschen mit einem der letzten Flüge in ihre Heimat kommen wollten. Reisende ohne polnischen Pass oder Aufenthaltserlaubnis durften das Flugzeug gar nicht mehr besteigen. Dann wurde jemandem klar, dass die Regelung ab Mitternacht galt, und ich hörte, wie ein Steward zu zwei nicht-polnischen Fluggästen sagte: »Es ist Ihnen doch bewusst, dass Sie vielleicht nicht wieder ausreisen können, und dass Sie vielleicht für lange Zeit in Warschau bleiben müssen …«

Noch am selben Tag riefen wir unseren Sohn an, der in den Vereinigten Staaten studiert, und sagten ihm, er solle augenblicklich zum Flughafen fahren. Er hatte eigentlich vorgehabt, nach der Schließung der Universität bei Freunden unterzukommen. Nun hatte er eine halbe Stunde Zeit, um eine der letzten Maschinen nach London zu nehmen, von wo aus er weiter nach Berlin fliegen sollte. Als er am Sonntag landete, hatte Polen seine Grenze bereits für sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel geschlossen. Mit dem Zug fuhr er von Berlin nach Frankfurt an der Oder, um von dort die Grenze zu Fuß zu überqueren wie in einem Film über einen Agentenaustausch im Kalten Krieg. Er kam an Straßensperren, bewaffneten Soldaten und Männern in Schutzanzügen vorbei, die Fieber maßen. Auf der anderen Seite nahm ihn mein Mann in Empfang.

Polen war nicht das erste europäische Land, das seine Grenzen dichtmachte, und es sollte nicht das letzte bleiben. Rund ein Dutzend europäische Länder hat die Grenzübergänge ganz oder teilweise geschlossen. Nicht-Europäer können nicht mehr in den Schengen-Raum einreisen. Dabei ist keineswegs klar, ob derart drastische Maßnahmen überhaupt medizinisch sinnvoll sind: Amy Pope vom Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten, die 2014 an der Bekämpfung der Ebola-Epidemie mitgewirkt hatte, sagte mir, die Obama-Regierung habe seinerzeit erwogen, die Grenzen für Reisende aus Westafrika zu schließen; doch »Wissenschaftler haben abgeraten, weil das die Epidemie wahrscheinlich verschlimmern würde«. Wenn Grenzen ohne sorgfältige Planung geschlossen werden, kann dies die Versorgung und den Informationsaustausch gefährden, und an Flughäfen und anderen Übergängen können sich die Infizierten drängen. Grenzschließungen vermitteln den Eindruck der Entschlossenheit, doch in Wirklichkeit bewirken sie gar nichts. Als Donald Trump im Januar die Flüge aus China einstellen ließ, weckte er den irrigen Eindruck, dass das Virus damit gestoppt war. Das war jedoch falsch.

Im Falle von Polen verursachte die plötzliche und unvorbereitete Entscheidung ein furchtbares Chaos. Plötzlich waren auf der ganzen Welt polnische Bürger gestrandet, und die Regierung war gezwungen, Flugzeuge zu chartern, um sie nach Hause zu bringen. Tausende Bürger der Ukraine, Weißrusslands und der baltischen Staaten – darunter Lkw-Fahrer und Touristen, die einfach nur nach Hause wollten – steckten tagelang an der deutsch-polnischen Grenze fest und mussten ihre Notdurft in nahe gelegenen Feldern verrichten, weil die Grenzbeamten nur noch Polen ins Land ließen. Das Deutsche Rote Kreuz verteilte Essen und Decken.

Keine dieser drastischen Maßnahmen konnte das Virus allerdings aufhalten. Die ersten Infektionen waren schon Wochen zuvor aufgetreten und breiteten sich nun weiter aus. Trotz des Chaos – oder vielleicht genau deshalb – ist die Grenzschließung äußerst populär. Der Staat tut etwas. Das könnte ein Vorgeschmack auf das sein, was uns erwartet.

Diese Begeisterung für hartes staatliches Durchgreifen in Gesundheitskrisen ist nicht neu. In der Vergangenheit dienten Pandemien immer wieder dazu, die Macht des Staates zu festigen. Als die Pest 1348 in Europa wütete, schloss Venedig seine Häfen für Schiffe aus betroffenen Regionen und zwang Reisende in eine erst dreißig-, dann vierzigtägige Isolation – daher das Wort Quarantäne. Zwei Jahrhunderte später ging William Cecil, erster Minister von Königin Elizabeth I., gegen die Pest in England vor, indem er den Behörden per Gesetz erlaubte, Kranke sechs Wochen lang zuhause einzusperren. Das Pestgesetz des Jahres 1604 stellte sogar Kritik an dieser und anderen Maßnahmen unter Strafe.

Wenn Menschen Angst haben, beugen sie sich. Wenn wir den Tod fürchten, fügen wir uns in Maßnahmen, die uns Rettung verheißen, egal ob das stimmt oder nicht – selbst wenn sie uns die Freiheit rauben. In der Vergangenheit stießen solche Maßnahmen auf großen Zuspruch. Liberale, Libertäre, Demokraten und andere Freiheitsliebhaber sollten sich nichts vormachen: Sie sind bis heute beliebt.

In einigen europäischen Ländern können wir große Zustimmung für solche Maßnahmen beobachten. Italien befindet sich unter vollständigem Hausarrest. Geschäfte und Unternehmen, die nicht als lebenswichtig gelten, sind geschlossen; Straßensperren unterbinden nicht notwendige Fahrten; Parks und Spielplätze sind gesperrt. Die italienische Polizei hat zigtausend Menschen bestraft, die ohne triftigen Grund ihre Wohnung verlassen haben. Seit vergangenem Dienstag gilt in Paris eine ähnlich drastische Ausgangssperre. Bürger müssen Formulare ausfüllen, um auf die Straße gehen zu dürfen; 100.000 Polizeibeamte sollen die Einhaltung der Regeln überwachen. An einem einzigen Tag – vergangenen Mittwoch – bestrafte die Polizei viertausend Menschen, die ohne triftigen Grund die Wohnung verlassen hatten.

Das ist hart, doch viele Menschen halten diese Maßnahmen für unabdingbar. Sieben von zehn Italienern stehen hinter dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte – eine außergewöhnliche Zustimmungsrate in einem Land, das seinen Politikern sonst grundsätzlich misstraut. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat den Kampf gegen das Virus als »Krieg« bezeichnet, und auch er hat mit seiner Rhetorik und seinem harten Vorgehen die Mehrheit seiner Landsleute hinter sich gebracht.

Andere nutzen die Stimmung, um noch weiter zu gehen. Am Freitag hat die ungarische Regierung dem Parlament ein Gesetz vorgelegt, das Ministerpräsident Viktor Orbán mit Verweis auf den »Notstand« mit diktatorischen Vollmachten ausstattet. Auf unbefristete Zeit kann er sich damit über jedes beliebige Gesetz hinwegsetzen, ohne die Zustimmung der Abgeordneten einholen zu müssen; Wahlen und Volksabstimmungen sind ausgesetzt. Verstöße gegen die Quarantänebestimmungen werden mit Haftstrafen geahndet. Auch die Verbreitung von Falschmeldungen und Informationen, die »Unruhe« provozieren, gilt nun als Straftat und wird mit Gefängnis belegt. Wobei unklar ist, was unter »Falschmeldung« zu verstehen ist; der Ausdruck ist derart vage, dass jegliche Kritik an der staatlichen Gesundheitspolitik darunter fallen könnte. Das ändert nichts an der Tatsache, dass Ungarn zu den europäischen Ländern gehört, die am schlechtesten auf eine Pandemie vorbereitet sind – auch deshalb, weil die nationalistische Regierung so viele Hochschulabsolventen vergrault hat, darunter auch viele Ärzte.

Unter normalen Umständen würde die ungarische Opposition einer derart unverblümten Machtübernahme niemals zustimmen, zumal sie unter anderem dazu dienen soll, das Versagen der Regierung zu kaschieren. Doch heute stimmen viele zu, die der Regierung sonst widersprechen würden. »Alle Warnglocken sind abgeschaltet«, sagte mir der ungarische Analyst Péter Krekó. In einem Moment, in dem die Angst umgeht, will niemand als unpatriotisch dastehen oder als jemand, der die Gesundheit und Sicherheit der Ungarn gefährdet. Alle wollen glauben, dass der Staat nur ihr Bestes will.

Ein ähnlich plötzlicher Wandel ist in Israel zu beobachten, wo Benjamin Netanyahu – der trotz verlorener Wahl weiterhin im Amt ist – ein Notstandsgesetz verabschiedet hat, mit dessen Hilfe er den Korruptionsprozess gegen sich selbst hinausschieben und verhindern kann, dass das neu gewählte israelische Parlament zusammentritt, in dem die Opposition die Mehrheit hat. Institutionen und Methoden, die sonst der Verfolgung von Terroristen dienen, werden nun verwendet, um die Einhaltung der Quarantäne zu überwachen, die Bewegungen gewöhnlicher Bürger zu verfolgen und ihre Körpertemperatur und ihren Gesundheitszustand zu beobachten. Ein Teil der israelischen Bevölkerung wehrt sich gegen die neue Rolle der Sicherheitskräfte und das eigennützige Durchgreifen Netanyahus: Die englischsprachige Ausgabe der Tageszeitung Ha’aretz spricht bereits von einem »Corona-Coup«. Doch so lange in Israel die Angst umgeht, stimmt der Rest der Bevölkerung zu.

Amerikaner sollten davon ausgehen, dass sich ihre Mitbürger nicht anders verhalten. Der Föderalismus bietet einen gewissen Schutz: Quarantäne-Bestimmungen unterscheiden sich von einem Bundesstaat zum anderen, und ihre Umsetzung obliegt nicht den Bundesbehörden, sondern der Polizei der jeweiligen Staaten. Doch der Präsident hat bereits gezeigt, dass ihm große Gesten wichtiger sind als echtes Handeln, und Grenzschließungen wichtiger als die großangelegte Produktion von Tests und Schutzmasken. Damit setzt er seine Politik der Vergangenheit konsequent fort – seine Missachtung der Gesetze, die er zum Beispiel im Ukraine-Skandal unter Beweis gestellt hat, oder seine Verachtung für die Unabhängigkeit der Justiz, wie wir sie aus den Mueller-Ermittlungen kennen. Immer wieder hat er seine Macht zu eigennützigen Zwecken missbraucht, und seine lautstarke Anhängerschaft hat ihm dafür zugejubelt. Es steht zu erwarten, dass er die kommenden Wochen und Monate der Krise nutzen wird, um wie Orbán und Netanyahu mehr Macht an sich zu ziehen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass Fox News ihn dabei unterstützt. So wie viele amerikanische Bürger. Die Zeitschrift Politico berichtet, das Justizministerium habe bereits beim Kongress angefragt, Bürger ohne Gerichtsverfahren inhaftieren zu dürfen, obwohl eine derartige Befugnis auch nicht im Entferntesten nötig ist. Abgeordnete, die sich diesen und ähnlichen Maßnahmen verweigern, sollten damit rechnen, dass man ihnen eine Gefährdung des Lebens ihrer Wähler vorwirft.

Unter einem anderen Präsidenten hätten Gesundheitspolitiker der Vereinigten Staaten bessere Optionen, könnten die Sorge der Öffentlichkeit besser kanalisieren und hätten bessere Möglichkeiten, die Gesundheit der Bürger mithilfe der Technologie zu verfolgen, ohne dazu den Rechtsstaat aushebeln zu müssen. Südkorea, eine stabile und lebendige Demokratie, nutzt Apps zur Beobachtung von Covid-19-Patienten und Menschen in Quarantäne, ohne das Parlament zu umgehen. Sema Sgaier von der Surgo Foundation, die den Einsatz von Daten und den Erkenntnissen der Verhaltensforschung im Gesundheitswesen fördert, verweist auf andere Einsatzmöglichkeiten der Technologie, etwa bei der Beobachtung von Covid-19-Hotspots, mit denen sich bestimmte Viertel oder Städte abriegeln ließen; auf diese Weise könnte man generelle Ausgangssperren vermeiden, wie viele Länder sie verhängt haben. Sie zeigen, wie sich die Überwachungstechnik transparent einsetzen ließe und Bürger die Möglichkeiten erhalten könnten, sich nach Ende der Pandemie wieder aus dem System auszuloggen.

Hier in Polen ist die Regierung weit von derart hoch entwickelten Methoden entfernt, hier greift man zu den alten Mitteln. Wir erhalten regelmäßig Anrufe von der örtlichen Polizei, die uns daran erinnert, im Haus zu bleiben: Wer aus dem Ausland kommt, wird jetzt automatisch einer vierzehntägigen Quarantäne unterstellt. Die Beamten sind freundlich. Mir ist klar, dass sie nur ihre Arbeit tun, und dass es dem Schutz der Menschen dient. Doch weder ich noch die anderen Angerufenen wissen, ob die neuen Befugnisse, die die Behörden während der Krise erhalten haben, nach dem Ende der Pandemie jemals wieder zurückgenommen werden.

Dieser Artikel erschien zuerst am 23. März 2020 unter dem Titel »The People in Charge See an Opportunity« auf der Website TheAtlantic.com. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von The Atlantic.

Anne Applebaum, geboren 1964, ist Historikerin und Journalistin.

Für ihr Buch Der Gulag (Siedler 2003) erhielt sie den Pulitzer-Preis.

Zuletzt erschienen Der Eiserne Vorhang (Siedler 2012) und Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine (Siedler 2019). Applebaum ist mit dem polnischen Autor und ehemaligen Außenminister Radek Sikorski verheiratet. Sie arbeitet als Staff Writer für die Zeitschrift The Atlantic.

Jakob Augstein / Nikolaus Blome

Warum lassen die Leute das alles mit sich machen?

Blome: Lieber Augstein, wir reden in einem Moment, in dem die Corona-Krise eher noch auf dem Vormarsch ist. Das Virus verbreitet sich in atemberaubendem Tempo über die ganze Welt. Die Regierungen sind alarmiert und reden von der »größten Bedrohung seit dem Krieg«, die IWF-Chefin nennt es die »dunkelste Stunde«. Wie finden Sie das? Angemessen?

Augstein: Das sind dramatische Formulierungen, in der Tat. Aber wenn man die Maßnahmen, die getroffen werden, rechtfertigen will, muss man so dramatisch formulieren. Unterhalb dieser Schwelle können Sie den Leuten kaum erklären, warum sie über Nacht eines großen Teils ihrer Bürgerrechte verlustig gegangen sind, warum das öffentliche Leben stillgelegt wurde, Kultur, Sport, Einkaufen – eigentlich geht nichts mehr, was unsere Gesellschaft ausmacht. Es sind sogar die Kirchen und Moscheen geschlossen!

B: Okay, das ist die taktisch-instrumentelle Erklärung des Polit-Insiders. Aber wie empfinden Sie die Rhetorik persönlich? Und natürlich die Krankheit.

A: Das hier ist kein Krieg, und es ist nicht die dunkelste Stunde der Menschheit – da fallen mir noch ein paar dunklere ein. Diese Rhetorik hat vor allem den Sinn, die Leute auf diese Maßnahmen einzuschwören. Nach allem was wir wissen, handelt es sich um eine Krankheit, die eine Minderheit der Menschen ernsthaft bedroht. Wir haben uns dazu entschlossen, zugunsten dieser Minderheit der Mehrheit sehr schwere Lasten aufzubürden. Das ist eine ehrenhafte ethische Entscheidung.

B: Komisch, mir geht es irgendwie ähnlich. Die Krankheit als solche macht mir – noch – keine Angst, ich habe bislang so gut wie keinen Infizierten im Bekannten- oder Familienkreis. Aber das Unabsehbare der ökonomischen Folgen bis hin zum Auseinanderfallen des Euro verunsichert mich sehr, da wird mir echt mulmig. Das alles reicht weit hinter den Horizont, zu dem ich heute blicken kann.

A: Können Sie sich überhaupt vorstellen, dass man nach dem Ende dieser Krise sagen dürfte: Die Regierung hat zu schnell und zu scharf reagiert? Oder werden wir gewissermaßen gezwungen sein, das alles gutzuheißen, ganz einfach, weil so viel auf dem Spiel steht?

B: Natürlich wird die Debatte kommen. Hinterher wird abgerechnet, bis hinunter in die Mitnahmeeffekte der Milliarden-Hilfen, die jetzt wie im Wettlauf der Bundesländer verteilt werden. Ich wette, es wird dann auch – wie nach der Flüchtlingskrise 2015/16 – von zeitweiligem »Kontrollverlust« die Rede sein. Aber worauf wollen Sie hinaus? Hinterher ist man doch immer schlauer.

A: Ich glaube der Vergleich mit der Flüchtlingskrise geht fehl. Die Einreise so vieler vorwiegend muslimischer Ausländer sprach damals ein ohnehin vorhandenes Ressentiment an, und dieses Ressentiment hat nachher dringend auf einer Abrechnung bestanden. Das ist heute anders. Diese Krise spaltet nicht – die Leute sammeln sich alle hinter der Fahne. Nachher wird man es als schlechten Stil ansehen, wenn jemand Kritik übt – das ist jetzt schon so.

B: Der Vergleich zur Flüchtlingskrise stimmt eben doch: In beiden Fällen hatte sich die Krise in einem kurzen Zeitraum so weit verschärft, dass sie der Staat kaum bewältigen konnte. Und bis der Staat unter öffentlichem Druck zu Kontrolle zurückfand, war eben eine ganze Zeit verstrichen. Zweitens spaltet die Corona-Krise am Ende auch: Der schwere Wirtschaftseinbruch zieht eine Nord-Süd-Spaltung der Europäischen Union nach sich und eine nationale Spaltung in Verlierer und halbwegs unbeschadet Davongekommene. Darum und wegen der schieren Milliarden-Summen, die jetzt ganz schnell bei der Hand sind, wird hinterher nach Fehlern und Verantwortlichen gesucht werden.

A: Ich finde, wir könnten damit jetzt schon anfangen.

B: Sie fanden die Reaktion der Bundesregierung von Anfang an überzogen, oder?

A: Wir haben mit einem totalen Stopp des gesamten öffentlichen Lebens reagiert – in Italien sind sogar die Fabriken und Unternehmen geschlossen worden. Ich frage mich tatsächlich, ob nicht auch weniger einschneidende Maßnahmen ausgereicht hätten. Wir haben uns beinahe vollständig dem Primat der Epidemiologie untergeordnet und die hat – zwangsläufig – ein totalitäres Weltbild: Alles, was der Bekämpfung des Virus dient, ist gerechtfertigt.

B: Naja, eine sehr spezielle Krise rückt halt sehr spezielles Wissen in den Vordergrund. Wenn es ein echter Krieg wäre, würden die Militärs das Wort führen und die Politik beraten. Der entscheidende Punkt ist für mich: In so einer Krise kann niemand genau wissen, welche Maßnahme zu welchem Zeitpunkt ausreicht. Und bei dem wenig bekannten Corona-Virus scheinen die Konsequenzen bei zu wenig und zu spätem Handeln wesentlich härter zu sein als bei zu viel und zu frühem Handeln. Also handelt die Politik lieber schnell und früh und weitreichend.

A: Darf ich Sie etwas fragen? Warum hat es beinahe niemanden interessiert, als im Winter 2017/18 in Deutschland ungefähr 25.000 Menschen an der Grippe gestorben sind?

B: Dafür gibt es ganz viele Gründe, menschliche Gründe: Wir kennen Grippe, aber wir kennen Corona nicht. Wir wissen, was eine schlimme Grippewelle anrichten kann, aber wir wissen nicht, wie viele Tote eine ungebremste Ausbreitung von Corona bringen würde. Wir wissen viel über Grippe-Impfungen und -Medikamente, aber wir haben keinen Impfstoff und so gut wie kein Medikament gegen Corona.

A: Halten Sie die größere Angst vor Corona also für eine rationale Reaktion?

B: Mindestens für rational nachvollziehbar und keineswegs für überwiegend hysterisch. Weil die Bedrohung so global und zugleich so diffus ist, wenden sich die Menschen an den Staat, an ihren Staat. Sie wollen, dass er sie irgendwie beschützt, dafür ist er da.

A: Sie erlauben aber, dass ich es für mindestens überraschend halte, dass alle Menschen sich in einen enormen Akt der Solidarität stürzen, obwohl die allermeisten von ihnen von den Maßnahmen gegen die Krankheit viel stärker bedroht werden als von der Krankheit selbst. Überall sind plötzlich lauter Altruisten, wo wir zuvor nur Selbstoptimierer wähnten.

B: Ich glaube nicht, dass Corona 80 Millionen Deutsche, schwupps, in gute Menschen verwandelt hat. Was die Leute antreibt, was vielen auch Angst macht, das ist das Gefühl von Kontrollverlust und Ausgeliefertsein. Die Geschwindigkeit der Infektion, die Bilder von den überforderten Intensivstationen, die ganze globale Verfolgbarkeit der Epidemie mündet in ein Gefühl: Ohnmacht, und zwar unabhängig von der persönlichen Gefährdung. In so einem Moment suchen die Menschen nach einer Instanz, der sie Macht und Kontrolle zutrauen. Und wenn der Staat beides dann ausübt, mit Augenmaß, geht die große, große Mehrheit erst einmal mit. Aber natürlich nur, weil die Menschen von einem einmaligen, befristeten Zeitraum der Einschränkungen und Kosten ausgehen.

A: Das finde ich interessant. Die Leute tragen die Maßnahmen also letztlich vor allem deshalb mit, weil sie unzureichend informiert sind.

B: Hä?

A: Wenn sie wüssten, dass die Krankheit für sie in der großen Mehrheit ungefährlich ist, würden sie der Obrigkeit die Gefolgschaft verweigern, oder wie?

B: Nein. Die Leute machen mehrheitlich mit, solange die Übung nicht endlos erscheint. Und weil sie nicht schuld sein wollen an der ungebremsten Ausbreitung einer Epidemie, über die man eben nicht alles weiß, weil man über diese Krankheit derzeit nur einen Bruchteil wissen kann. Ihre Frage geht ins Leere.

A: Vielleicht geht die Frage im Frühjahr 2020 ins Leere – aber sie wird im Herbst 2020 oder im Frühjahr 2021 nicht mehr ins Leere gehen. Denn dann haben wir zuverlässige Zahlen, die uns im Moment ja noch fehlen. Und ich frage mich, wie man dann die Leute in eine Solidarität mit dem Schwachen zwingen will, die so verheerende Kollateralschäden verursacht.

B: Stimmt. Nehmen wir an, die Epidemie kommt jetzt einmal unter Kontrolle, aber es entsteht einige Monate später eine zweite Welle. Dann würde trotzdem nicht noch einmal dasselbe umfassende Set von Maßnahmen angewandt. Warum? Wegen des Gewöhnungseffekts bei den Menschen, auch wenn das zynisch klingt. Corona würde beim zweiten Ausbruch weniger Angst machen, denke ich. Auch würde der Staat zurückhaltender reagieren müssen, weil er sich noch massivere wirtschaftliche Folgen einfach nicht leisten kann. Schließlich aber auch wegen des Lerneffekts: Die Politik könnte beim zweiten Mal viel genauer steuern, als sie das jetzt in der so plötzlich hereingebrochenen Krise getan hat. Noch einmal wird der gesamte deutsche Einzelhandel nicht geschlossen. Kein zweites Mal.

A: Ich bin gespannt, ob wir aus dieser Krise etwas lernen werden. Mir fallen auf Anhieb ein paar Sachen ein: Man sollte zum Beispiel endlich Airbnb verbieten, weil dieses Unternehmen viele Städte zerstört und den Wohnraum dort unerschwinglich macht. Man sollte endlich die Pflegeberufe und all die anderen, die in Wahrheit unsere Gesellschaft aufrechterhalten, so bezahlen und wertschätzen, wie sie es verdienen. Ihnen ist auch aufgefallen, dass die »systemrelevanten Berufe«, für die es auch bei geschlossenen Schulen Kinderbetreuung gab, nicht Banker und Konzernchefs waren, sondern Krankenschwestern und Polizisten. Und natürlich ist diese Krankheit auch eine Krankheit des Kapitalismus.

B: Ihr Ernst? Diese Krankheit tötet da mehr Menschen als nötig, wo der Staat schlecht regiert ist. Wo starke Männer so getan haben, als könnten sie das Virus mit ihren populistischen Geschwätz bannen oder leugnen. Oder dort, wo der Kapitalismus die Staaten und die Mittelschicht noch nicht reich genug gemacht hat, als dass sie ein gutes Gesundheitssystem vorhalten können.

A: Noch im vergangenen Jahr hat die Bertelsmann Stiftung dem deutschen Gesundheitssystem vorgeworfen, dass es ineffizient und aufgebläht ist – die Studie ist nicht sehr gut gealtert, würde ich sagen. Aber das ist ja nur ein Beispiel: Corona könnte eine Gelegenheit sein, Bereiche der öffentlichen Vorsorge, wie Gesundheit, Transport oder Post, endlich vom falschen Profit- und Effizienzdenken zu befreien.

B: Oh Mann, Augstein, Ihre feuchten Träume möchte ich haben. Wollen Sie Corona instrumentalisieren? So wie die AfD für dauerhaft geschlossene Grenzen, die Umweltschützer für Reiseverzicht oder Bernd Ulrich für veganes Leben an sich? Sie können doch nicht die Intensivbetten für eine solche Tsunami-Welle von schweren Infektionen Jahr um Jahr vorhalten. Die Qualität des deutschen Systems zeigt sich darin, dass es Zugang für alle garantiert und im Handumdrehen von knapp 30.000 auf 40.000 Intensiv-Betten aufstocken kann.

A: Sie werden nicht bestreiten, dass der Staat ein ganz hübsches Comeback in dieser Krise erlebt, oder?

B: Natürlich ist das so, dafür ist er ja da und dafür zieht er reichlich Steuern ein. Beziehungsweise: Dafür hat er in Deutschland ordentlich gewirtschaftet, was Sie und Ihresgleichen all die Jahre als »Fetisch Schwarze Null« diffamiert haben. Deutschland kann jetzt Schulden machen, weil es jahrelang keine Schulden gemacht hat. Sie sagen, dass die Beschränkungen der Bürgerfreiheiten so schnell wie möglich wieder zurückgenommen werden müssen. Bravo, das sehe ich genauso, ich schließe nur die Interventionen des Staates ins Wirtschaftsleben natürlich mit ein. Ich sehe aber eine ganz andere Veränderung in der Gesellschaft, von der ich sogar hoffe, dass sie Bestand hat.

A: Welche?

B: Mein Eindruck ist, dass die Krise bestimmten Werten und Zusammenhängen neue Bedeutung verschafft, die einem eher konservativ Eingestellten wie mir näher liegen als Ihnen. Die Krise hat zum Beispiel ganz viele Menschen sich auf ihre Familie besinnen lassen. Es ist nun einmal das stärkste Band, das Menschen verbinden kann, und das gefällt Konservativen mehr als Linken. Daneben ist der Nationalstaat wieder der allein maßgebliche Bezugsrahmen des politischen Handelns und aller Erwartungen an dieses Handeln. Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich sagen: Haha, Corona macht konservativ.

A: Interessant. Offenbar halten Sie Solidarität für eine konservative Eigenschaft. Meinetwegen. Anders als für Sie macht die für mich aber nicht an der Grenze halt. Die Deutschen müssen in der Corona Krise lernen, dass sie ihrer Verantwortung für Europa nicht entkommen. Wir können es uns nicht leisten, die Italiener im Stich zu lassen.

B: Allein weil so viele Grüne und Linke »Familie« und »Nationalstaat« nicht gerade im Banner tragen, sind es konservative Begriffe, das können Sie doch nicht wegdefinieren. Die Leute holen ihre in alle Welt ausgeflogenen Kinder heim, weil sie eine Familie sind. Die Leute schauen nicht nach Brüssel, das für diese Gesundheits-Krise auch gar nicht zuständig ist. Sie schauen sich die Rede der Bundeskanzlerin im Fernsehen an, Merkel-Müdigkeit hin oder her.

A: Diese Krise zeigt doch, was für eine ungeheure europapolitische Versagerin unsere Kanzlerin ist. Wenn die Deutschen nicht jeden europapolitischen Fortschritt in den vergangenen Jahren gebremst hätten, wäre diese Krise anders verlaufen. Die Grenzschließungen, die das Leben so vieler Menschen erschwert haben, wären aus rein seuchenpolitischer Sicht gar nicht nötig gewesen. Hier hat schlicht ein gemeinsames Vorgehen gefehlt. Statt dessen haben wir einen Kompetenzwirrwarr – in Europa, und sogar innerhalb Deutschlands, wo jedes Bundesland gemacht hat, was es will! Sie reden von gelungenem Krisenmanagement und einer starken Kanzlerin, ich sehe einen Flickenteppich aus unkoordinierten Maßnahmen. Corona muss ein europäischer Weckruf werden.

B: Bei aller Kritik im Detail, und trotz manchem irren Wettlauf um die härteste Maßnahme zwischen den Bundesländern: Gesundheitsschutz ist am besten, wenn er geografisch möglichst nah am Problem entschieden wird. Das könnte Brüssel nicht leisten und soll es auch nicht. Subsidiarität, mein Lieber, das steht in jedem dritten Absatz der EU-Verträge.

A: Ich wusste nicht, dass Ihr Virus nicht nur an der deutsch-französischen Grenze haltmacht, sondern auch an der zwischen Berlin und Brandenburg, die haben auch nicht dieselben Regeln. Was Sie Subsidiarität nennen, ist Chaos.

B: Wenn Sie beklagen, dass die Zentrale der Europäischen Union in Brüssel nicht das Corona-Kommando übernommen hat, überfordern Sie sehenden Auges die EU und lassen sie damit unnötig schlecht aussehen. Die Zeit der EU wird kommen, wenn es um den wirtschaftlichen Wiederaufschwung geht. Darum glaube ich auch, dass die Deutschen gut daran täten, einem einmaligen, begrenzten Corona-Bond zuzustimmen, bei dem, ja, gemeinschaftlich gehaftet wird. Die Italiener sind und bleiben Haushalts-Hallodris, aber an Defizit und Schulden jetzt ist ein anderer Virus schuld: Corona.

A: Lassen Sie mal die Hallodris weg, das ist deutscher Hochmut, den nun wirklich niemand braucht. Aber was die Bonds angeht, da stimme ich Ihnen zu. Sehen Sie, die Krise eint auch zwei alte Streithähne wie uns.

Jakob Augstein, geboren 1967, ist seit 2008 Verleger der Wochenzeitung Der Freitag. Nikolaus Blome, geboren 1963, war bis Herbst 2019 stellvertretender Chefredakteur der Bild. Er diskutiert wöchentlich mit Jakob Augstein auf Phoenix in der Sendung Augstein und Blome über ein aktuelles Thema.

Abhijit V. Banerjee / Esther Duflo

Glaubt an den Staat!

Die Corona-Krise führt vor Augen, wie wichtig es ist, dass Bürger ihren Regierungen vertrauen. Das ständige Gerede von schlechter Politik schadet nur

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Kommt es wie jetzt zu einem massiven Ausbruch von Infektionskrankheiten, sind Regierungen am Zug. Ihre Behörden können Einschränkungen des öffentlichen Lebens anordnen. Komplette Städte können unter Quarantäne gestellt werden, um auf diese Weise die Ausbreitung einer Krankheit zu verhindern. In China wurden in den letzten Monaten ganze Regionen isoliert, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Auch in Italien und weiteren Ländern gehen die Behörden inzwischen ähnlich rigoros vor.

Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, in der die Bürger darauf vertrauen, dass Maßnahmen zur Bekämpfung der Krankheit ergriffen werden, die ärztliche Versorgung von Erkrankten sichergestellt wird und die wirtschaftlichen Folgen der Epidemie gemildert werden, wenn der Konsum zurückgeht und auf der ganzen Welt Lieferketten zusammenbrechen.

Aus all diesen Gründen ist das Vertrauen der Bürger in ihre Regierungen von größter Bedeutung. Bei einer Pandemie müssen die Bürger darauf vertrauen können, dass die Anordnungen der Behörden begründet, angemessen und sinnvoll sind. Andernfalls werden sie sie nicht befolgen. Die Bürger müssen davon ausgehen können, dass die »Hände waschen«-Empfehlung nicht bloß ein Spruch ist, der sie – in Abwesenheit von Impfstoffen und wirksamen Behandlungsmöglichkeiten – in Sicherheit wiegen soll. Sie müssen darauf vertrauen, dass sie im Krankheitsfall umgehend professionell behandelt werden. Sie müssen überzeugt sein, dass die Krise ohne bleibende Beeinträchtigungen der Wirtschaft vorübergehen und nicht zu einer nachfrageinduzierten Rezession führen wird.

Es ist nicht leicht, dieses Vertrauen während einer Epidemie aufrechtzuerhalten. Selbst in China, wo Kritik nicht geduldet wird und die Regierung stolz auf ihre Handlungsfähigkeit verweist, hat das Vorgehen der Behörden in Wuhan für Unmut gesorgt. In den Vereinigten Staaten (und in geringerem Maß vielleicht auch in Europa) wird das deutlich schwieriger sein, weil die Menschen wenig Vertrauen in den Staat haben.

Seit Ronald Reagan wird den Amerikanern gebetsmühlenartig gepredigt: »Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem.« Und das glauben die Leute. Einer Studie von 2015 zufolge sind nur 23 Prozent der Amerikaner bereit, dem Staat »immer« oder »fast immer« zu vertrauen. 59 Prozent offenbarten eine negative Einstellung zum Staat.

Warum wird dem Staat so viel Misstrauen entgegengebracht? Das hat fraglos historische Gründe. In Amerika herrscht eine Ideologie der Eigenverantwortung, auch wenn dies seit vielen Jahren weitgehend eine Chimäre ist. Die Staaten, deren Bürger besonders stolz sind auf ihre Autonomie, sind zugleich besonders abhängig von Subventionen aus Bundesmitteln. Mississippi, Louisiana, Tennessee und Montana, allesamt Zentren staatsferner Republikaner, führen die Liste der Empfänger von Zuschüssen aus Washington an. Es hat aber auch mit Misstrauen gegenüber den Eliten zu tun – staatliche Programme gelten als Ausdruck einer elitären Politik, die jedermann fördert, nur nicht die hart arbeitenden (männlichen?) Weißen.

Das Gerede von staatlicher Misswirtschaft, das von Ökonomen gern angestimmt wird, bringt uns nicht weiter. Wer vor Wirtschaftswissenschaftlern auf staatliche Eingriffe zu sprechen kommt, wird unweigerlich Hohngelächter ernten. Milton Friedman, der Generationen von Ökonomen beeinflusst hat, zumal solche, die rechte Positionen vertreten, schrieb: »Die großen zivilisatorischen Leistungen sind nicht in Amtsstuben erdacht worden.« Und er fügte hinzu: »Einstein hat seine Theorie nicht auf Anweisung eines Beamten entwickelt.« Ein seltsames Argument, denn Einstein war in seinen frühen Jahren Angestellter des Eidgenössischen Patentamts in Bern, und hätte er seine Theorie nicht veröffentlicht, wäre er ein Paradebeispiel für vergeudete Steuergelder.

Viele Ökonomen, vielleicht sogar die meisten, sind der Ansicht, dass staatliche Anreize nie richtig funktionieren und staatliche Eingriffe daher, obschon oft notwendig, meist schlecht durchgeführt werden. Aber schlecht bezogen worauf? Das Problem ist, dass es für viele Dinge, für die der Staat zuständig ist, keinen Ersatz gibt – obwohl viele Regierungen natürlich mehr tun, als sie tun sollten, etwa eine Fluglinie betreiben wie in Indien oder eine Zementfabrik wie in China. Dies wird besonders deutlich in Gesundheitskrisen, wie wir sie aktuell erleben. Wenn ein Tornado hereinbricht, wenn Ureinwohner ärztlich versorgt werden oder Branchen schließen müssen, gibt es meist keine »Marktlösung«.

Aufgabe des Staates ist es nicht zuletzt, Probleme zu lösen, die realistischerweise niemand anderes lösen kann. Um Verschwendung von Steuergeldern nachzuweisen, muss man zeigen, dass die gleiche Sache anders und besser organisiert werden kann. Tatsächlich kann aber nicht bewiesen werden, dass die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen zu weniger Misswirtschaft oder zu einem verbesserten Angebot geführt hat.

Vergleiche zwischen privaten und öffentlichen Angeboten der gleichen Dienstleistung fallen sehr gemischt aus: In Indien sind Privatschulen billiger, aber die Schüler schneiden genauso schlecht ab wie Schüler an staatlichen Einrichtungen. Private Vermittlungsagenturen für Langzeitarbeitslose in Frankreich sind schlechter als staatliche Arbeitsämter.

Ein Grund für die Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen ist die verbreitete Annahme, überall herrsche Korruption. Die Vorstellung von Beamten, die auf Kosten der Steuerzahler ein bequemes Leben führen, finden viele Menschen empörend. Aber sie steht, wie auch immer begründet, oft im Mittelpunkt politischer Kampagnen. Die These lautet: Wenn es nur den nötigen politischen Willen gäbe, könnte Korruption beseitigt werden. Das ist natürlich nicht ganz falsch – wie kann Korruption verschwinden, wenn der Staatschef höchstpersönlich in einem Korruptionssumpf steckt?

Die Vorstellung, Korruption ließe sich allein mit gutem Willen beseitigen, geht an der Realität vorbei und verkennt unsere Möglichkeiten, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Eben weil der Staat Dinge tut, für die sich der Markt nicht interessiert, kann er empfänglich für Korruption werden. Nehmen wir nur die Bußgelder für Umweltverschmutzung: Der Verursacher würde einem Mitarbeiter der Umweltbehörde sofort einen Anteil des Bußgelds zustecken, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Wäre es da nicht besser, wenn ein profitorientiertes Privatunternehmen die Bußgelder eintreibt? Wahrscheinlich nicht, da die Firma ja möglichst viel Gewinn machen will. Wie das Beispiel der sogenannten Steuerpacht zeigt, bei der ein Staat Steuern und Bußgelder von Privaten einziehen lässt, besteht hier das Risiko, dass dann auch jene Bürger zur Kasse gebeten werden, die gar nicht abgabepflichtig sind.

Ein anderes Beispiel ist die Situation der Krankenhäuser in der gegenwärtigen Corona-Krise. Es könnte sehr verlockend für Klinikdirektoren sein, einer reichen, aber minderschwer erkrankten Person für Geld Zugang zur Behandlung zu verschaffen. In diesem Fall geht es um Rationierung. Sobald ein Gut rationiert wird, besteht die Versuchung, sich den Zugang einfach zu erkaufen, wie die jüngsten Skandale in amerikanischen Krankenhäusern zeigten. Nur ein sehr starker Staat kann das unterbinden.

Ganz allgemein kann man sagen, dass wir uns dem Diktat des Marktes oft nicht beugen, weil wir uns von sozialen Vorstellungen leiten lassen. Es gibt keine reine Marktlösung für das Einziehen von Bußgeldern. Und in der Notaufnahme muss jeder versorgt werden, weil wir wollen, dass die Bedürftigsten behandelt werden und die Ausbreitung der Krankheit gestoppt wird. Sobald aber jemand nach Marktgesetzen vorgeht, entsteht die Versuchung, es mit den Regeln nicht so genau zu nehmen. Da es Aufgabe des Staates ist, regulierend in den Markt einzugreifen, ist der Kampf gegen staatliche Korruption selbst bei besten Absichten eine endlose Anstrengung.

Deshalb ist es oft unfair, Beamte und Politiker als unfähige Dummköpfe oder korrupte Widerlinge abzustempeln, woran Ökonomen vermutlich nicht ganz unschuldig sind. Oft ist es sogar ausgesprochen schädlich.

Erstens führt es dazu, dass jeder Vorschlag, den Staat zu stärken, auf sofortige Ablehnung stößt, selbst wenn der Staat, wie im heutigen Amerika, offensichtlich gebraucht wird. In den Vereinigten Staaten ist das Vertrauen gegenüber Staatsbediensteten außerordentlich gering. Nur 26 Prozent der von uns Befragten bekundeten »einiges« oder »großes« Vertrauen in den Staat (Ökonomen schneiden übrigens nicht viel besser ab). Das erklärt vielleicht, warum so wenige glauben, der Staat könne die Lösung sein.

Zweitens wirkt sich das auf die Personalsituation im Staatsdienst aus. Ein gut funktionierender Staat braucht qualifizierte Mitarbeiter. Angesichts des schlechten Rufs, den der Staat in den Vereinigten Staaten hat, ist eine Beamtenlaufbahn für talentierte junge Leute aber nicht sonderlich attraktiv. Wir sind in mehr als zwanzig Jahren Lehrtätigkeit keinem einzigen Studenten begegnet, der eine Tätigkeit im Staatsdienst anstrebte. Das kann zu einem Teufelskreis führen: Wenn nur Minderbegabte in den Staatsdienst gehen, haben wir am Ende einen schwachen Staat, für den niemand arbeiten will. In Frankreich dagegen genießt der Staatsdienst höchstes Ansehen. Die Besten und Klügsten machen dort Karriere. Vor allem in Krisenzeiten sind kompetente Leute unerlässlich.

Drittens: Wenn angenommen wird, dass die meisten Beamten entweder käuflich oder faul (oder beides) sind, liegt es nahe, ihnen keine Entscheidungsgewalt zu übertragen – und auf diese Weise jedwedes Engagement zu verhindern und engagierte Leute abzuschrecken. Das wirkt sich unmittelbar auf die Handlungsmöglichkeiten von Staatsdienern aus. In Pakistan zeigte sich jüngst bei einem Experiment, dass Einkaufsleiter in Krankenhäusern und Schulen, denen etwas mehr finanzieller Spielraum zugestanden wurde, für Artikel des täglichen Bedarfs günstigere Preise aushandeln konnten. Das führte zu enormen Einsparungen von Steuergeldern.

Vor allem aber hat das Mantra vom korrupten und unfähigen Staat genau jene abgestumpften Bürger hervorgebracht, die, ob in Amerika, Russland oder Israel, auf Berichte von massiven Amtsvergehen gewählter Politiker nur mit einem Achselzucken reagieren. Die Leute haben im Grunde gelernt, nichts anderes zu erwarten, und es interessiert sie auch nicht mehr. Die Gewöhnung an Korruption in kleinem Maßstab ist der Nährboden für Bestechlichkeit in großem Maßstab.

Niemand weiß, wie sich die aktuelle Corona-Krise entwickeln wird. Wenn wir sie hinter uns gelassen haben, sollten wir uns daran erinnern, wie wichtig ein funktionierender Staat ist. In wirklich schweren Zeiten sind wir darauf angewiesen. In Krisen wie der gegenwärtigen werden wir den Preis für die unablässige Verunglimpfung des Staates und seiner Institutionen bezahlen. Damit in Notzeiten ein gut regierter Staat für uns da ist, müssen wir in normalen Zeiten einen solchen Staat fordern und auch erwarten.

Der Beitrag erschien auf Deutsch ursprünglich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. März 2020.

Esther Duflo ist Professorin für Armutsbekämpfung und Entwicklungsökonomie am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Abhijit V. Banerjee ist Professor für Volkswirtschaftslehre, ebenfalls am MIT. Die Autoren wurden 2019 mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Gemeinsam veröffentlichten sie die Bücher Poor Economics. Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut (Pantheon Verlag) und zuletzt 2019 Gute Ökonomie für harte Zeiten (Penguin Verlag).

Luca D’Andrea

Die Söhne von Aeneas

Aus dem Italienischen von Susanne Van Volxem