Corporate frugal innovation: Eine fallstudienbasierte Untersuchung des Neuproduktentwicklungsprozesses - Julia Oehler - E-Book

Corporate frugal innovation: Eine fallstudienbasierte Untersuchung des Neuproduktentwicklungsprozesses E-Book

Julia Oehler

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Beschreibung

Ressourcenknappheit, Kostendruck und Trends wie z. B. die LOVOS- oder Nachhaltigkeitsbewegungen stellen Unternehmen auch in Industrienationen zunehmend vor die Herausforderung, im Kontext von Innovation nachhaltig zu agieren und mit weniger mehr zu erreichen. Frugale Innovationen verfolgen diesen Ansatz fokussierter und erschwinglicher Produkte. Julia Oehler widmet sich in ihrem Buch der Frage, wie der Neuproduktentwicklungsprozess von Unternehmen in Industrienationen gestaltet sein sollte, damit marktfähige corporate frugal innovations entstehen. Dabei beschreibt sie die Anforderungen und Erfolgsfaktoren verschiedener Prozessmodelle sowie Einflussfaktoren auf die Marktfähigkeit der corporate frugal innovations. Anhand einer qualitativen Fallstudienuntersuchung zeigt sie die wichtigsten Schritte und Anforderungen an den Neuproduktentwicklungsprozess für corporate frugal innovations. Konkrete Handlungsoptionen, um erfolgreich frugale Innovationen zu entwickeln, runden den Band ab.

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Julia Oehler

Corporate frugal innovation: Eine fallstudienbasierte Untersuchung des Neuproduktentwicklungsprozesses

Autorinnenfoto: © Philipp Jetschina

DOI: https://doi.org/10.24053/9783739882277

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

 

ISBN (Print)

ISBN 978-3-7398-0632-7 (ePub)

Inhalt

Vorwort und DanksagungAbkürzungsverzeichnis1 Einführung in die Thematik1.1 Relevanz des Forschungsthemas und Problemstellung1.2 Zielsetzung der Arbeit und Präzisierung der Forschungsfragen1.3 Forschungsmethodik und -design1.4 Aufbau der Arbeit2 Konzeptionelle Grundlagen der Arbeit2.1 Inhalte zu frugalen Innovationen2.1.1 Definitionen, Kriterien und Typen frugaler Innovation2.1.2 Forschungsfelder frugaler Innovation und ForschungsbedarfeAnwendungskontext Developed Markets (DM)2.2 Inhalte zur Neuproduktentwicklung2.2.1 Prozess als Dimension und Strömung des Innovationsmanagements2.2.2 Modelle zur Neuproduktentwicklung: Entwicklung von 1950 bis in die Gegenwart2.2.3 Marktfähigkeit von Innovationen2.2.4 Erfolgsfaktoren der Neuproduktentwicklung3 Forschungsstand zur Neuproduktentwicklung frugaler Innovation3.1 Literaturüberblick mit zentralen Ergebnissen zum NPEP für frugale Innovation3.2 Prozessmodelle3.2.1 Lehner/Koldewey/Gausemeier (2018)3.2.2 Cadeddu et al. (2019)3.2.3 Liu/Wang/Feng (2019)3.2.4 Brem et al. (2020)3.2.5 Weyrauch/Herstatt/Tietze (2020)3.2.6 Agarwal/Oehler/Brem (2021)3.3 Besondere Vorgehensweisen zur Entwicklung frugaler InnovationenLean Product Development (LPD)KreativitätstechnikenTeoria reshenija izobretatjelskich zadacz (TRIZ)Quality function deployment (QFD)AnalogieansatzDesign Thinking (DT)ZielkostenrechnungWertanalyseGeschäftsmodellprinzipien3.4 Erfolgsfaktoren der NPE frugaler Innovation4 Theoretische ErklärungsansätzeDynamic Capabilities (DC)4.2 Promotorenmodell5 Evaluation des Forschungsstandes zur Bildung der Propositionen und Bezugsrahmen der Untersuchung5.1 Propositionen und Grundzusammenhänge der Arbeit5.1.1 Propositionsraum 1: „Anforderungen/ Merkmale Prozess“5.1.2 Propositionsraum 2: „Erfolgsfaktoren“5.1.3 Propositionsraum 3: „Marktfähigkeit“5.2 Bezugsrahmen der Untersuchung6 Empirische Analyse: Fallstudienuntersuchung6.1 Qualitatives Paradigma als Rahmen der Untersuchung6.2 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen6.2.1 Fallstudienforschung und Forschungsdesign nach Yin (2018)6.2.2 Experteninterviews zur Datenerhebung6.2.3 Auswertung der Daten nach Yin (2018) und mittels qualitativer Inhaltsanalyse6.2.4 Qualitätskriterien der Arbeit6.3 Fallauswahl und Einzelfalldarstellungen6.3.1 Frugale Innovation @ Voith GmbH & Co. KGaA6.3.2 Frugale Innovation @ TRUMPF SE + Co. KG (Holding)6.3.3 Frugale Innovation @ EVUM Motors GmbH6.3.4 Frugale Innovation @ kernique – NU STEP GmbH6.3.5 Frugale Innovation @ BSH Hausgeräte GmbH7 Fallübergreifende Analyse und Anpassung des theoretischen Bezugsrahmens7.1 Diskussion Propositionsraum 1: „Anforderungen/Merkmale Prozess“Proposition 1Proposition 2Proposition 37.2 Diskussion Propositionsraum 2: „Erfolgsfaktoren“7.2.1 Erfolgsfaktoren hinsichtlich der Struktur7.2.2 Erfolgsfaktoren hinsichtlich der Methoden/Werkzeuge7.3 Diskussion Propositionsraum 3: „Marktfähigkeit“Proposition 107.4 Zusammenfassung der überprüften Propositionen8 Beantwortung der Forschungsfragen und angepasstes Modell zur NPE für corporate frugal innovation8.1 Beantwortung der Forschungsfragen8.2 Angepasstes Modell zur NPE für corporate frugal innovation9 Resümee9.1 Ergebniszusammenfassung9.2 Implikationen für die Wissenschaft9.3 Implikationen für die Praxis9.4 Limitationen der Arbeit und weiterer Forschungsbedarf9.5 SchlussbemerkungAnhangsverzeichnisAnhangLiteraturverzeichnis

Vorwort und Danksagung

Liebe/r Leser/in,

 

vor Ihnen liegt das Ergebnis einer fast vierjährigen Reise durch einen unheimlich faszinierenden und abwechslungsreichen Themenkomplex: Frugale Innovation. 2019 durch Zufall entdeckt, hat mich dieser Innovationsansatz nicht mehr losgelassen. Er erschien mir nach kurzer Einarbeitung als ideal geeignet für mein Promotionsprojekt.

 

In einem Interview wurde ich mit Bewunderung gefragt, wie jemand aus einem Industrieland auf die Idee kommt, sich mit dieser, eher den von Mangel und Knappheiten gezeichneten Schwellen- und Entwicklungsländern zugerechneten Thematik auseinanderzusetzen, da ich in meinem Alltag wohl kaum vergleichbaren Zuständen ausgesetzt sei.

Nun, Sie werden beim Lesen der Arbeit merken, dass frugale Innovationen über den Kontext von Schwellen- und Entwicklungsländern hinausgehen. Sie bieten durch ihr disruptives Potenzial auch für Industrienationen immense Chancen in Bezug auf Herausforderungen unserer Zeit. Nicht zuletzt bin ich auch persönlich, unabhängig von jeglichem ökonomischen Potenzial überzeugt, dass von frugalen Denkansätzen jeder Einzelne profitieren kann.

 

Die Erstellung dieser Arbeit war ein langer und herausfordernder Prozess. Besonderer Dank ergeht in diesem Zusammenhang an meine beiden Gutachter, Professor Dr. Michael Dowling und Professor Dr. Alexander Brem für die exzellente Betreuung. Bedanken möchte ich mich auch beim Lehrstuhlteam sowie insbesondere bei meiner ehemaligen Kollegin Dr. Yvonne Schmid, die mir in einigen anregenden Diskussionen geholfen hat, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Nicht zu vergessen sind auch die zahlreichen Interviewpartner, die neben ihrer wertvollen Zeit sehr interessante Einblicke und v. a. ihre Passion für das Thema mit mir geteilt haben und so einen wesentlichen Anteil am Ergebnis dieser Arbeit haben. Vielen Dank!

 

Besonderen Dank möchte ich aber meiner Familie und meinem Freund aussprechen, die mich auf dem langen Weg unermüdlich begleitet und unterstützt haben! Auch der Zuspruch aus meinem Freundeskreis hat über das ein oder andere Hindernis hinweggeholfen. DANKE!

Nun wünsche ich eine unterhaltsame und inspirierende Lektüre!

 

Regensburg, im Mai 2022    Julia Oehler

Abkürzungsverzeichnis

3D

dreidimensional

AFI

Advanced Frugal Innovation

AG

Aktiengesellschaft

B2B

Business-to-Business

B2C

Business-to-Customer

BMBF

Bundesministerium für Bildung und Forschung

BoP

Bottom of the Pyramid

BRICS

Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika

bzgl.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

CEO

Chief Executive Officer

COO

Chief Operating Officer

CO2

Kohlenstoffdioxid

d.h.

das heißt

DACH

Deutschland, Österreich, Schweiz

DC

Dynamic Capabilities

DIY

Do It Yourself

DM

Developed Market

DNA

Desoxyribonukleinsäure

DT

Design Thinking

EOS

Economies of Scale

et al.

et alii

EU

Europäische Union

Eurostat

Statistisches Amt der Europäischen Union

FA

Fertigungsanforderung

FAU

Friedrich-Alexander-Universität

F&E

Forschung und Entwicklung

FIO

Frugal Innovation Orientation

FIOM

Frugal Innovation Orientation to Market

FIOVS

Frugal Innovation Orientation to Value Shared

FIS

Frugal Innovation Strategy

fNPD

frugal New Product Development

GE

General Electric

ggf.

gegebenenfalls

Hrsg.

Herausgeber

HVM

High Volume Markets

IAO

Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation

IP

Innovationsprozess

ITA

Innovation and Technology Analysis

JFY

Jiangsu Jinfangyuan

KMU

Kleine und Mittlere Unternehmen

KPI

Key Performance Indicator

LH

Lastenheft

LPD

Lean Product Development

m

modifiziert

MNC

Multinational Company

MSIT

multidimensionale und systematische Innovationstechnik

MVP

Minimum Viable Product

NASA

National Aeronautics and Space Administration

NC

Numerical Control

NPD

New Product Development

NPE

Neuproduktentwicklung

NPEP

Neuproduktentwicklungsprozess

OECD

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

OEM

Original Equipment Manufacturer

o.J.

ohne Jahr

o.S.

ohne Seite

PH

Pflichtenheft

QFD

Quality Function Deployment

R&D

Research and Development

RTC

Turkey, Russia, CIS, Middle East, Africa

SME

Small and Medium-sized Enterprise

TCO

Total Cost of Ownership

ToP

Top of the Pyramid

TRIZ

Teoria reshenija izobretatjelskich zadacz

TUHH

Technische Universität Hamburg

u.a.

unter anderem

USD

US-Dollar

usw.

und so weiter

v.a.

vor allem

VoC

Voice of Customer

WoM

Word of Mouth

z.B.

zum Beispiel

 

 

1Einführung in die Thematik

1.1Relevanz des Forschungsthemas und Problemstellung

„Long practised in developing nations out of sheer necessity, frugal innovation is now becoming a strategic business imperative in developed economies, where consumers demand affordable and sustainable products. […] No business leader in the 21st century can ignore the paradigm shift[…].”1

Carlos Ghosn, ehemaliger CEO Renault-Nissan

Der ehemalige CEO von Renault-Nissan, Carlos Ghosn, nennt in seinem Zitat als Handlungsmaxime für Unternehmenslenker der Wirtschaftsnationen im 21. Jahrhundert einen Paradigmenwechsel hin zu frugalen Innovationen. Auch die Literatur sieht in frugalen Innovationen mit ihren besonderen Eigenschaften ein neues (technologisches) Innovationsparadigma2 und alternatives, disruptives Innovationsmodell.3 Dieses Modell überdenkt die traditionelle Herangehensweise an Innovation, die geprägt ist von Komplexität und Wissenschaftsgetriebenheit, indem im gesamten Neuproduktentwicklungsprozess (NPEP) eine neue Art des Innovierens praktiziert wird. Der Fokus liegt dabei mehr auf sozialen und ökologischen Bedürfnissen einer Innovation und auf Symbiosen zwischen diesen Aspekten bei der angestrebten Wertgenerierung als im herkömmlichen Innovationsverständnis.4 Der Kunde mit seinen, oftmals latenten, Bedürfnissen steht im Mittelpunkt der Innovation. Kosten auf Produktebene werden insbesondere durch Ausschluss nicht essenzieller Funktionen eines Produktes als eine neue Art der Kundenorientierung radikal gesenkt.5

 

Diese Herangehensweise ist nicht zuletzt deshalb erforderlich, weil Beschränkungen (constraints) in der Umwelt wie z. B. knappe Ressourcen oftmals einen nur unzureichenden Zugang zu Produkten ermöglichen, um Grundbedürfnisse zu stillen.6, 7 Dies kann Unternehmen dazu zwingen, neue Wege zur Neuproduktentwicklung zu gehen.8Ressourcenknappheit kann sich neben einem Mangel an Produktionsmaterial und institutionellen Strukturen (z. B. Infrastruktur, Intermediäre), oder immateriellen Ressourcen, wie qualifiziertem Personal, am oberen Ende der Wertschöpfungskette, auch durch fehlende Zahlungskraft der Kunden am unteren Ende ausdrücken.9 In diesem Fall erwarten Endkunden erschwingliche Produkte, die aber dennoch ein Wertversprechen erfüllen10, was dem Verständnis einer frugalen Innovation entspricht.

 

Veranschaulicht wird dies durch die Betrachtung des Ursprungs frugaler Innovationen. Dieser liegt in Jugaad (Hindi für „making do with what one has to solve one`s problems“ oder im Unternehmenskontext „Innovationen auf den Markt bringen trotz beschränkter Ressourcen“11), als Ergebnis kreativen Problemlösens angesichts regionaler Armut und Not.12 In diesem Kontext sollen frugale Innovationen die sozioökonomischen Bedingungen von Millionen von Menschen am Bottom of the Pyramid (BoP) verbessern13, umgesetzt durch (soziales) Unternehmertum vor Ort, indem der BoP, invertiert zum bisherigen Verständnis, als Schaffer von Innovation gesehen wird.14

 

Das Konzept des BoP als Sockel der Einkommenspyramide wurde 1998/1999 eingeführt und wird seitdem von Befürwortern (z. B. London/Hart/Barney 2011) und Kritikern (z. B. Karnani 2011) diskutiert.15 Ein Literaturüberblick über die Anwendung und Entwicklung des Konzepts zeigt ein interdisziplinäres und komplexes Bild des Begriffs mit großen Unterschieden bzgl. BoP-Kontext, Initiativen und Auswirkungen des BoP-Ansatzes.16

BoP-Märkte werden dabei als Märkte verstanden, die Ressourcenbeschränkungen ausgesetzt sind17 und deren Kunden ein geringes verfügbares Einkommen18 haben.19 Folglich legen die Kundengruppen am BoP Wert auf die Erfüllung basaler Bedürfnisse wie u. a. Nahrung, Wohnen, Gesundheit und Bildung zu einem erschwinglichen Preis.20 Die Arbeitsdefinition fasst zusammen:

„BoP markets are […] defined by a resource-constrained environment and geography in which these consumers live, affecting their ability to address basic needs through products such as food, housing, healthcare and energy.”21

Im Kontext von Schwellen- und Entwicklungsländern (EM für Emerging Market(s)) verfügen BoP-Kunden über geringe finanzielle Ressourcen und technologisches Wissen bzw. Bildung, aber über eine starke Beziehung zu Religion und Kultur sowie Traditionen und feste soziale Beziehungen wie z. B. große Familien.22 Sie leben überwiegend in geografisch abgelegenen Gegenden mit wenigen institutionellen Strukturen (z. B. Infrastruktur, medizinische Versorgung, Lieferketten und Handel, Kommunikationsnetzwerke, Schutz von geistigem Eigentum) und haben beschränkten Zugriff auf Informationen.23 Zumeist werden der BoP in Indien und China aufgrund des dort geringen Pro-Kopf-Einkommens, der hohen Preissensitivität, der begrenzten Zugänglichkeit von Ressourcen und der Einstellung der Menschen, Restriktionen und Beschränkungen durch Improvisation zu lösen, als Ursprung frugaler Innovation gesehen.24 Diese Länder verfügen zur Begünstigung frugaler Innovation über ein idiosynkratisches Innovationssystem mit schwach ausgeprägter Forschung und Entwicklung.25

 

Während in EM folglich eine stark wachsende Mittelschicht mit Nachfrage nach erschwinglichen und qualitativ guten Lösungen zur Existenzsicherung, die Generierung von Arbeitsplätzen und die Erschließung des BoP als Absatzmarkt frugale Innovationen antreiben26, wurden frugale Innovationen in Industrieländern (DM für Developed Market(s)) bisher eher gemieden und mit geringer Qualität assoziiert.27 Bzgl. der Relevanz frugaler Innovationen muss man aber, wie bereits im Eingangszitat ersichtlich wird, auch diese Kategorie von Ländern in die Betrachtung einschließen. Eine Untersuchung der World Bank (2020) zur pandemiebedingten Rezession in EM und DM28 verdeutlicht die Relevanz eines neuen Innovationsparadigmas auch für entwickelte Märkte, die beispielsweise durch die Coronapandemie zu einem ressourcenbeschränkten Umfeld wurden.29 Die Pandemie trifft ganze Wirtschaftssysteme. Gesundheitssysteme kommen an ihre Grenzen, Arbeitsplätze gehen verloren, das Einkommen der Bevölkerung sinkt und damit auch die Kaufkraft. Zudem sind etablierte Märkte gesättigt und eine reine Fokussierung auf das Premiumsegment seitens der Unternehmen ist nicht länger ausreichend. Dies fordert von ebendiesen die Anwendung neuer Strategien wie z. B. die Bearbeitung von BoP-Märkten, was im Kontext frugaler Innovation erfolgt.30

 

In Industrienationen sind Treiber frugaler Innovation, neben der erwähnten Preissensibilität der Kunden, auch sich ändernde Wertevorstellungen wie ein puritanischer Lebensstil und ein steigendes Bewusstsein für nachhaltigen und erschwinglichen Konsum. Folglich fordern Konsumenten zunehmend erschwingliche, benutzerfreundliche und robuste Lösungen statt Overengineering. Hinzu kommen Kostendruck für westliche Unternehmen und starke Konkurrenz aus EM in Form von reverse innovation.31 Zusammengefasst ermöglichen frugale Innovationen die Verfolgung sozialer Ziele ohne Vernachlässigung wirtschaftlicher Ziele wie eine Optimierung der Anschaffungskosten und Gesamtkosten des Betriebs eines Produktes (total cost of ownership, TCO)32 und gelten dabei als ressourcenschonend.33 So erzielt beispielsweise IKEA seit langer Zeit hohe Gewinne mit seinem frugalen Ansatz der Möbelentwicklung.34 Agarwal/Brem (2017a) sprechen gar von einem „global phenomenon with potential of higher socio-economic impact”, v. a. in Verbindung mit Konzepten wie der Kreislaufwirtschaft.35

 

Auch wenn folglich der Ursprung des Konzepts frugaler Innovationen in den Schwellen- und Entwicklungsländern36 liegt, steigt mittlerweile auch in den Industrienationen das Interesse am Thema.37 Qualitativ hochwertige frugale Innovationen gelten somit als neue Wachstumsquelle38, wie eine Studie von Roland Berger bzw. Knapp et al. (2017) zeigt.39 Auch auf politischer Ebene (nationale und europäische Förderprojekte) und seitens der Praxis (siehe Erfolgsbeispiele IKEA und Dacia Logan) steigt das Interesse an der Thematik. Nachhaltigkeit und die Einsparung von Ressourcen gelten neben der Adäquatheit im Hinblick auf Wertewandel, konjunkturelle Abkühlung und demografische Entwicklung als weiteres Potenzial frugaler Innovationen, die einen kreativen Umgang mit Ressourcen, die Erschließung neuer Märkte und die Vereinfachung von Produkten ermöglichen.40 Insbesondere die Neuproduktentwicklung (NPE) als Form der Innovation gilt gerade in schnelllebigen und wettbewerbsintensiven Märkten als Erfolgsfaktor für das Überleben von Unternehmen.41 Die bisherigen Ausführungen zeigen die Relevanz von Neuproduktentwicklung und v. a. frugalen Innovationen zum Aufbau eines nachhaltigen Wettbewerbsvorteils für Unternehmen in DM.

 

Wenngleich Potenziale bekannt sind, fehlen Orientierungspunkte für eine langfristig erfolgreiche Umsetzung.42 Dabei erfordern frugale Innovationen aufgrund ihrer Eigenschaften eine an den sozioökonomischen Kontext angepasste, strukturierte Herangehensweise43, woraus sich auch wegen ihrer hohen Relevanz der Bedarf für weitere Forschung auf diesem Gebiet erschließt.44 Unter Ressourcenbeschränkungen zu operieren erfordert es, Innovation, Produkte und Geschäftsmodelle anzupassen, neue Fähigkeiten innerhalb des Unternehmens und bei den Mitarbeitern auszubilden, sowie eine neue Sichtweise auf Konsumenten als aktive Gestalter statt bedürftige Empfänger einzunehmen.45 Die Entwicklung frugaler Innovationen als bestimmte Form der Innovation beeinflusst die Art, wie NPE organisiert und kontrolliert wird, was auch die Prozesse betrifft.46 Da sich bisherige Forschung überwiegend mit den Eigenschaften und der definitorischen Abgrenzung frugaler Innovation beschäftigt hat47, gibt es zur Prozessfrage bisher nur wenig akademische Literatur.48 Hier setzt die vorliegende Arbeit an, wie das folgende Kapitel zur Zielsetzung sowie den Forschungsfragen darlegt.

1.2Zielsetzung der Arbeit und Präzisierung der Forschungsfragen

Ziel dieser Arbeit ist es, den Neuproduktentwicklungsprozess marktfähiger corporatefrugal innovations in einem Modell ganzheitlich abzubilden. Corporate bedeutet hierbei, dass die frugale Innovation das Ergebnis eines formalen und strukturierten Vorgehens zur NPE ist, was zumeist im Kontext von Unternehmen bzw. auch DM der Fall ist (Details und Unterschiede zu grassrootsfrugal innovations siehe Kapitel 2.1.1, Tabelle 6). Verschiedene Forschungsaufrufe, wie Tabelle 1 zeigt, benennen als Forschungslücke, dass bisher lediglich einzelne Methoden und Ansätze für den NPEP frugaler Innovationen in der Literatur besprochen werden. Es existieren aber, v. a. für den Kontext von DM, kein ganzheitliches Modell oder ein Prozess zur Entwicklung marktfähiger corporatefrugal innovations.

Forschungsaufruf

Quelle

“However, it is challenging to develop frugal innovations, especially for firms in developed markets.”

Weyrauch/Herstatt (2016), S. 12

“What is the process by which frugal innovation occurs?“

Ratten (2019), S. 11

“[…] frugal innovation is about redesigning the whole development process to eliminate unnecessary costs and build resourceful and easy-to-use solutions.”

Agarwal/Chung/Brem (2020), S. 138

“Additionally, the (re-)definition of the production network structure and processes based on heterogeneous capabilities can contribute to the optimization of the final solution in terms of cost, quality and time to market.”

Belkadi et al. (2016), S. 590

“[…] the process dimension and exploration of aspects such as resourcefulness (doing more with less), focus on “core features” or being user driven (user friendly, intuitive, accessible etc.) in other context (beyond BOP) did not receive much attention.”

Agarwal/Brem (2017a), S. 39

“Moreover, it makes sense at this point to examine in greater detail which features of frugal innovation could facilitate marketing.”

Dressler/Hüsig (2019), S. 263

„[…] derzeitige Geschäftsstrukturen und Unternehmenspraktiken in Deutschland wenig förderlich für die Entwicklung frugaler Innovationen sind.“

Kalogerakis/Tiwari/Fischer (2017), S. 6

“Frugal innovation rethinks how products are developed and how innovating is defined. […] It is, however, inevitable to obtain more insights in the underlying development patterns, tools and procedures to receive a generalizable picture on how frugal innovations can be systematically developed.”

Brem et al. (2020), S. 1f.

“Especially the scaling potential for production and the commercialization of the product are of great interest.”

Brem et al. (2020), S. 13

Tabelle 1:

Auszug an Forschungsaufrufen zur Fragestellung der Arbeit1

Der Erkenntnisgewinn dieser Arbeit liegt in der Aufstellung eines Entwicklungsprozesses für marktfähige corporatefrugal innovations, also frugalen Innovationen, die im Kontext eines Unternehmens entstehen.2 Dieser umfasst im Sinne der Ganzheitlichkeit auch die Einbindung verschiedener Promotoren und der Umwelt im Allgemeinen. Hierbei wird basierend auf den Forschungsaufrufen anhand von Fallstudien von Unternehmen und damit evidenzbasiert insbesondere erforscht, welche Prozessphasen es gibt, welche Erfolgsfaktoren (z. B. Unternehmensgröße, Verteilung von Verantwortlichkeiten/Rollen, Einfluss des Managements und des Innovationssystems, Kultivierung eines frugalen Mindsets) eine Rolle spielen, welche Methoden Anwendung finden und was die Marktfähigkeit3 der corporatefrugal innovation ausmacht. Besonderheiten der NPE frugaler Innovationen werden hierbei ebenfalls herausgearbeitet. Die erarbeiteten Propositionen unterstützen die künftige Implementierung frugaler Innovationen.

Aus der beschriebenen Problemstellung und dem damit einhergehenden Forschungsbedarf erschließt sich folgende Leitfrage4 der Dissertation:

Wie sollte der Neuproduktentwicklungsprozess von Unternehmen für marktfähige corporatefrugal innovation gestaltet sein?

Dies soll anhand folgender Forschungsfragen, welche die dringlichsten Fragen darstellen und Voraussetzung für eine fokussierte Datensammlung sind5, in der vorliegenden Arbeit beantwortet werden:

Wie sieht der Prozess zur Entwicklung von corporatefrugal innovation bei Unternehmen in Industrienationen aus? Gibt es Besonderheiten im Prozess für die Entwicklung frugaler Produkte?

Welche Erfolgsfaktoren spielen eine Rolle bei der Entwicklung von corporatefrugal innovation?

Welche Methoden werden im NPEP für corporatefrugal innovation eingesetzt?

Wie können corporatefrugal innovations in Industrienationen marktfähig werden?

Die Arbeit bewegt sich entsprechend ihrer Ziele an der Schnittstelle zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung. Zum Zweck der Grundlagenforschung soll sie sowohl zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beitragen als auch praxisrelevante Befunde liefern.6

Der wissenschaftliche Beitrag der Arbeit besteht, wie für Nascent Theory Research üblich, darin, eine Theorie zu liefern, die die Grundlage für weitere Forschung bildet.7 Durch die Verbindung der beiden Themengebiete „frugale Innovation“ und „Neuproduktentwicklung“ im Rahmen dieser Arbeit können als Beitrag für die Wissenschaft bisher getroffene Annahmen überprüft und neue Erkenntnisse über Schlüsselentscheidungen sowie über Vorgehen und Instrumente zur Bereitstellung marktfähiger, frugaler Produkte für Unternehmen innerhalb einzelner Prozessschritte generiert werden. Bestehende theoretische Ansätze werden somit angepasst und weiterentwickelt.

Gestaltern des Neuproduktentwicklungsprozesses fehlen oftmals effektive und effiziente Methoden, um Forschungsergebnisse in die Praxis umzusetzen.8 Trotz ihrer zunehmenden Bedeutung für Unternehmen in Industrienationen9 fehlt in der Praxis bisher eine strukturierte Vorgehensweise zur Entwicklung frugaler Innovationen und es bestehen lediglich Empfehlungen narrativer Art. Für die unternehmerische Praxis, insbesondere das Innovationsmanagement, ist daher v. a. die strukturierte Aufbereitung der Anforderungen und Erfolgsfaktoren des Produktentwicklungsprozesses für frugale Innovationen relevant für eine erfolgreiche Umsetzung. Es resultieren aus dieser Arbeit Handlungsoptionen für Ansätze zur Neuproduktentwicklung marktfähiger corporatefrugal innovations und nötiger innovationsfördernder Kompetenzen.

1.3Forschungsmethodik und -design1

In der bisherigen Forschung existieren erste Untersuchungen und Ansätze zur Neuproduktentwicklung für frugale Innovationen.2 Darauf aufbauend soll in dieser Arbeit ein umfassendes Rahmenwerk für den Neuproduktentwicklungsprozess frugaler Innovationen entwickelt werden.

 

In Anlehnung an Edmondson/McManus (2007) besteht das Forschungsprojekt aus den vier Elementen theoretische Vorarbeit, Forschungsfragen und -design sowie dem Beitrag zur Literatur, welche aufeinander abgestimmt sind und sich gegenseitig verstärken, wie aus Abbildung 1 hervorgeht.3

Hierzu werden zunächst anhand einer strukturierten Auswertung bisher in Fachartikeln und anderen Dokumenten publizierter Erkenntnisse im Theorie-Verständnis von Hage (1972)4 Forschungslücken abgeleitet sowie anschließend ein theoretischer Bezugsrahmen für die Arbeit gebildet. Als Vorstufe der Theoriebildung ermöglicht dieser einen Abgleich zwischen neuem und in der Literatur vorhandenem Wissen und trägt zum Verstehen von Zusammenhängen bei.5 Die inhaltlichen Schwerpunkte der Literaturauswertung liegen dabei auf den Forschungsgebieten „frugale Innovation“ und „NPEP“, die umfassend und kritisch dargestellt werden. Des Weiteren werden Propositionen formuliert. Wirkungszusammenhänge innerhalb des Bezugsrahmens werden durch die Theorie der dynamischen Fähigkeiten und durch das Promotorenmodell erklärt.

Abbildung 1:

Elemente des Forschungsprojekts im Detail6

Das gebildete Rahmenwerk und die daraus abgeleiteten Propositionen werden anschließend mithilfe einer empirischen Untersuchung analysiert. Im Rahmen der Feldforschung, die reale Probleme in realen Unternehmen anhand von Originaldaten untersucht7, wird bei der Nascent Theory Research für die Datenerfassung und -analyse v. a. mit qualitativen Methoden gearbeitet.8 Daher werden in dieser Arbeit Fallstudien nach Yin (2018) erstellt, die nach einer, an das theoretische Sampling angelehnten, Replikationslogik ausgewählt werden.9 Der Prozess zur Neuproduktentwicklung für corporatefrugal innovations soll dabei auf Unternehmensebene die Untersuchungseinheit sein. Neben explorativen Experteninterviews mit offenen Fragestellungen, um immanente Strukturen und Zusammenhänge darzustellen, werden hierzu Dokumente analysiert. Die Daten werden mittels qualitativer Inhaltsanalyse und Codierung ausgewertet. Die Propositionen und der theoretische Bezugsrahmen, die zuvor auf Basis der Literatur und der Forschungsfragen entwickelt wurden, können anhand der Fallstudien überprüft werden.10 Als Interviewpartner fungieren bei der Feldforschung v. a. Mitarbeiter von Unternehmen. Für die Fragestellung der Dissertation eignen sich aufgrund ihres Expertenwissens Personen, deren Unternehmen frugale Produkte im Portfolio haben und die dort mit Entwicklungsaufgaben betraut sind.

Ziel des methodischen Vorgehens ist die Beurteilung der Propositionen und des theoretischen Bezugsrahmens sowie die Beantwortung der Forschungsfragen basierend auf der gesammelten Evidenz und dem theoretischen Vorwissen aus dem Literaturüberblick, was zur Ableitung von Handlungsoptionen führt.11

1.4Aufbau der Arbeit

Ein research act besteht nach Denzin (1978) aus einer Reise von der Theorie, über die empirische Welt, wieder zurück zur Theorie.1 So sieht der idealtypische Ablauf eines Forschungsprojekts vor, dass zunächst ein Verständnis für das Forschungsproblem zu schaffen ist. Im Anschluss sollen basierend auf bestehenden Forschungsergebnissen, gewonnen aus einer Sichtung der Literatur, zum Forschungsproblem Forschungsfragen sowie ein konzeptionelles Rahmenwerk gebildet werden. Dieses besteht aus allen wichtigen Variablen in Relation zueinander. Anschließend werden diese Inhalte im Forschungsdesign mit der Sammlung und Analyse der Daten verbunden und zuletzt werden die Ergebnisse für den wissenschaftlichen Diskurs veröffentlicht.2

In Anlehnung an Denzin (1978) gliedert sich die vorliegende Dissertation daher in einen theoretischen Teil als Basis für die Empirie, eine empirische Untersuchung bestehend aus Datensammlung und -analyse und die Zusammenführung von Theorie und Empirie mit dem Ziel, schlüssige Erklärungen zu finden und so die Forschungsfragen der Arbeit zu beantworten.3

Tabelle 2 illustriert den Aufbau der Arbeit.

Einführung

Kapitel 1:

Relevanz des Themas, Zielsetzung der Arbeit, Forschungsfragen

Theorie

Kapitel 2:

Inhalte zu frugalen Innovationen und zur Neuproduktentwicklung

Kapitel 3:

Forschungsstand zur Neuproduktentwicklung frugaler Innovation

Kapitel 4:

Theorie der dynamischen Fähigkeiten, Promotorenmodell

Kapitel 5:

Aufstellen der Propositionen und des theoretischen Bezugsrahmens

Empirie

Kapitel 6:

Beschreibung der Methodik, Fallauswahl, Einzelfalldarstellungen

Kapitel 7:

Fallübergreifende Analyse, Anpassung des theoretischen Bezugsrahmens

Fazit

Kapitel 8:

Beantwortung der Forschungsfragen, Anpassung des Modells

Kapitel 9:

Ergebniszusammenfassung, Implikationen für Theorie und Praxis, Limitationen, Forschungsbedarf, Schlussbemerkung

Tabelle 2:

Aufbau der Arbeit4

Nach den einführenden Worten zur Relevanz der Thematik, den Forschungsfragen, der Zielsetzung der Arbeit und dem methodischen Vorgehen in Kapitel 1 werden in Kapitel 2 zunächst frugale Innovationen als besonderes Innovationsparadigma eingeordnet und definiert. Neben der Entwicklung des Paradigmas stehen v. a. die Eigenschaften frugaler Innovationen, bisherige Forschungsfelder, Forschungsbedarfe und der Anwendungskontext DM im Fokus. Als Grundlage der Untersuchung des Entwicklungsprozesses frugaler Innovationen werden dann zunächst der Prozess als Strömung des Innovationsmanagements und anschließend Theorien zum Neuproduktentwicklungsprozess betrachtet. Besondere Aufmerksamkeit im NPEP erhalten dabei die Frage der Marktfähigkeit einer Innovation sowie die Erfolgsfaktoren der NPE.

Kapitel 3 führt die Arbeit dann mit einem Überblick bisheriger Vorgehensweisen sowie Erfolgsfaktoren zur Entwicklung frugaler Innovationen fort und vereint somit die beiden thematischen Schwerpunkte aus den Kapiteln 2.1 und 2.2.

Gegenstand des Kapitels 4 sind theoretische Erklärungsansätze der Arbeit.

In Kapitel 5 folgt eine kritische Evaluation des Forschungsstandes sowie die Aufstellung der Propositionen und des theoretischen Bezugsrahmens der Untersuchung zur Beantwortung der Forschungsfragen.

Kapitel 6 erläutert detailliert das methodische Vorgehen und Forschungsdesign der Arbeit. Darauf folgen die Einzelfallanalysen der durchgeführten Fallstudien.

In Kapitel 7 werden die Ergebnisse fallstudienübergreifend im Hinblick auf die Propositionen analysiert.

Kapitel 8 beantwortet darauf basierend die Forschungsfragen und zeigt ein angepasstes Modell zur NPE für corporatefrugal innovation.

Die Arbeit schließt in Kapitel 9 mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse, ihrem Beitrag für Wissenschaft und Praxis sowie Limitationen der Arbeit und einer Skizzierung des weiteren Forschungsbedarfs.

2Konzeptionelle Grundlagen der Arbeit

In diesem Kapitel werden anhand eines narrativen Literaturüberblicks die Schlagwörter der Themenstellung als konzeptionelle Grundlagen der Arbeit eingeführt, da ihre Kenntnis anhand von Arbeitsdefinitionen und dem Hintergrundwissen eine wichtige Basis für die Beantwortung der Forschungsfragen und die Theoriebildung darstellt.1 Nach Ausführungen zu Definition, Kriterien, Typen und Forschungsstand zu frugalen Innovationen (Kapitel 2.1.1 mit Kapitel 2.1.3) (Innovation aus Ergebnissicht)2, folgt eine Darlegung des Hintergrunds und Forschungsstandes zum Neuproduktentwicklungsprozess (Kapitel 2.2.1 mit Kapitel 2.2.4) (Innovation aus Prozesssicht).3

2.1Inhalte zu frugalen Innovationen

Um die für das Verständnis der Forschungsfragen nötigen Grundlagen zu vermitteln, beleuchtet das Kapitel zunächst Definitionen, Kriterien und Typen frugaler Innovation (Kapitel 2.1.1), bevor ein Blick auf Forschungsfelder und Forschungsbedarfe (Kapitel 2.1.2) geworfen wird. Das Kapitel schließt mit einer Betrachtung frugaler Innovation im Anwendungskontext DM (Kapitel 2.1.3).

2.1.1 Definitionen, Kriterien und Typen frugaler Innovation

Entwicklung des Konzepts frugaler Innovation

Wenn auch der Begriff der frugalen Innovation neu und das Verständnis sehr vielfältig ist1, so basieren sie auf Theorien, Bewegungen und Fähigkeiten, die lange zuvor aufkamen. Als Beispiele von den 1960ern bis heute lassen sich z. B. appropriate technology, open innovation, nachhaltige Entwicklung, Etablierung des Internets und steigende Konnektivität sowie Technologietransfer von DM in EM nennen.2

 

Hinsichtlich der Entwicklung des Konzepts definieren Tiwari/Herstatt (2020) über die Zeit und wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Veränderungen hinweg vier Wellen der Frugalität:3 So prägte die Idee von Frugalität schon seit jeher Philosophen und Religionen in der Forderung eines gemäßigten Lebensstils. In der Wirtschaft propagierten Adam Smith und Alfred Marshall das Konzept (Frugality 1.0).

Mit wirtschaftlichem Wachstum nach der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre, der Konsumorientierung in Industrienationen und einem steigenden Wettbewerb verwässerte das Konzept zunehmend aus Angst vor einer Hemmung des Aufschwungs. In der Neuzeit adressierten das Thema neue Autoren aus den Organisationswissenschaften und ein neues Publikum aus der Geschäftswelt.4 So erfolgte bei Schumacher (1973) mit der Bewegung der intermediate und später appropriate technology eine Wiederbelebung von Frugalität. Drucker (2002) proklamierte, dass eine wirksame Innovation einfach und fokussiert sein muss, d. h. auf einen spezifischen, klaren und sorgfältig gestalteten Anwendungsfall ausgerichtet.5 Auch Henry Ford’s Fließband und die lean processes der Japaner sind Beispiele frugaler Innovation.6 Zeitgleich mit dem Aufkommen neuer Managementphilosophien wie lean management bei Toyota entstand 1987 der Brundtland Bericht Our common future der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung an die Vereinten Nationen. Darin wurde erstmalig der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ definiert und so die weltweite Diskussion über Nachhaltigkeit initiiert, was als weiterer Treiber wirkte.7 Da die negativen Folgen eines unbeschränkten Konsums auf die Umwelt aber noch nicht so offensichtlich wie heute waren und die frugalen Produkte aus den EM den Kunden in DM nicht angemessen schienen, sondern gar billig und von geringer Qualität, ebbte auch diese zweite Welle wieder ab (Frugality 2.0).8

Durch das Internet und Open Innovation-Ansätze wurden Forschung und Entwicklung (F&E) und Wertschöpfungsketten globaler. Die Erschließung neuer Märkte und Marktsegmente wurde interessanter.9 In den 2000ern erstarkten dann Schwellen- und Entwicklungsländer wie z. B. die BRICS. Die wachsende, oftmals finanzschwache Mittelschicht fragte Produkte, die bisher nur in unzureichender Qualität, überentwickelt oder gar nicht vorhanden waren, nun mit fokussierten Funktionen und zu erschwinglichen Preisen nach. Da dort auch eigene F&E durchgeführt wurde10, war die reine Imitation von Innovationen (exnovation11) überholt.12 So etablierten sich in EM kosteneffektive Produkte mit good enough Qualität.13 Eine zunehmende Sättigung bestehender Märkte in DM feuerte diese Entwicklung an. Außer Acht gelassen wurde zu dieser Zeit die Gefahr des Rebound-Effekts frugaler Innovation und auch Umweltaspekte spielten nur eine untergeordnete Rolle, weshalb auch die dritte Welle abebbte (Frugality 3.0).14

Nachdem der ehemalige CEO von Renault-Nissan, Carlos Ghosn, bereits 2006 mit frugal engineering den Entwicklungsansatz des Tata Nano beschrieb15, wurden frugale Innovationen als „Erfindung der Geschäftswelt“16 zunächst 2010 in der Wirtschaftspresse erwähnt. The Economist schrieb, dass frugale Innovationen robust und einfach zu nutzen sein müssen und dies nicht nur die Umgestaltung eines Produktes meint, sondern der gesamte Produktionsprozess inklusive Geschäftsmodell betroffen ist.17 Besonderen Auftrieb erfuhr das Thema seither aufgrund vieler Trends wie Nachhaltigkeit, LOVOS-Bewegung18, „Feature-Müdigkeit“ in den DM oder wirtschaftlicher Rezessionen.19 Die Forderung einer holistischen Sichtweise von Innovation, die neben ökonomischen auch soziale und umweltbezogene Aspekte beachtet, gibt außerdem Nährboden für das Thema.20 Mit einer eigenen Zeitschrift (Journal of Frugal Innovation), einer eigenen Konferenz (InnoFrugal), Forschungsinstituten (z. B. Center for Frugal Innovation der TUHH21 oder Frugal Innovation Hub an der Santa Clara University in Kalifornien22), Stanford’s Design School Extreme Affordability-Trainings und zunehmend mehr Tracks und Beiträgen auf etablierten Konferenzen wie der R&D Management-Konferenz fasst das Thema in der Wissenschaft Fuß. Auch die praktische Seite etabliert sich anhand einiger Start-ups, die frugale Produkte herstellen, aber auch anhand globaler Unternehmen, die ihr Produktportfolio umstellen, zusehends.23 Die Institutionalisierung des Themas zeigt: Frugalität wird wieder zu einem universellen Wert.24 Die vierte Welle (Frugality 4.0) steht unter dem Motto „choice to be frugal“ sowie „affordable green excellence“ und das Konzept schwappt in die DM über.25

Definition frugaler Innovation

Gemäß Oslo Manual ist eine Innovation „a new or improved product or process (or a combination thereof) that differs significantly from the unit’s previous products or processes and that has been made available to potential users (product) or brought into use by the unit (process).“1 Hierin zeigt sich, dass viele Formen von Innovation (Produkt, Service, Prozess im Sinne von Veränderungen, wie Produkt/Service erzeugt werden) existieren und sich auf einem Kontinuum zwischen totaler Neuheit und Imitation bewegen sowie unterschiedlichen Einfluss ausüben.2 Im Gegensatz zur Invention als Idee und technischer Entwicklung von neuen Produkten ist Innovation die Anwendung in Märkten mit dem Ziel der Wertgenerierung.3 Die Prozessperspektive dient als Ausgangspunkt für spätere Betrachtungen in der Arbeit.

 

In der Literatur zeigen sich verschiedene Definitionen von Innovation.4 Eine umfassende Definition, die auch der Studie von Cadeddu et al. (2019) zugrunde liegt5, wird für diese Arbeit gewählt:

„Innovation is: production or adoption, assimilation, and exploitation of a value-added novelty in economic and social spheres; renewal and enlargement of products, services, and markets; development of new methods of production; and establishment of new management systems.”6

Diese Sichtweise bezieht das ökonomische und das soziale Spektrum, sowie die Etablierung neuer Methoden und Managementsysteme mit ein. Auch der Aspekt der Vermarktung ist enthalten. Dies alles bietet ideale Anknüpfungspunkte für die Theorie der frugalen Innovationen und die Forschungsfragen dieser Arbeit, da neue Methoden und eine Marktfähigkeit in der Literatur bisher unzureichend betrachtet wurden. Dabei weisen frugale Innovationen die Herausforderung auf, potenzielle Kunden, die vorher „Nicht-Kunden“ waren, zu erreichen.7

 

Im Lateinischen bedeutet frugalis „einfach, bescheiden, nicht üppig“.8 Das englische Wörterbuch umschreibt die Bedeutung mit „being prudent in saving; the lack of wastefulness“.9 Im Kontext von Innovation heißt dies Bedürfnisse zu stillen, ohne von Ressourcenknappheit oder institutionellen Beschränkungen behindert zu werden.10 Frugale Innovation reagiert auf diese Beschränkung und verwandelt Knappheiten in Vorteile11, ganz im Sinne von „Innovation happens where need meets opportunity.“12Frugale Innovation gilt folglich als Konzept bzw. Innovationsstrategie für Produkte oder Dienstleistungen sowohl im B2B-, als auch im B2C-Bereich13, in einem ressourcenbeschränkten Umfeld.14

Primär werden frugale Innovationen daher in und für EM entwickelt15, wie aus Tabelle 3 anhand der Unterschiede frugaler zu konventionellen Innovationen hervorgeht. Während herkömmliche Innovationen für DM auf den neuesten Technologien in Premiumqualität basieren, top-down entwickelt werden und unzählige Funktionalitäten anbieten16, offerieren frugale Innovationen ein anderes Wertversprechen für ihre Zielmärkte17, da diese Märkte vielerlei Arten von Beschränkungen aufweisen.18

Merkmale

Frugale Innovation

Konventionelle

Innovation

Treiber

Was wirklich gebraucht wird

Was schön zu haben wäre

Prozess

Von unten nach oben

(aufwärts)

Von oben nach unten

(abwärts)

Zentrale

Eigenschaften

Funktionalität –

Robust, leicht, anpassungsfähig, einfach

Attraktivität und Design

Vorkommen

Sich entwickelnde und wachsende Märkte

Entwickelte Märkte

Tabelle 3:

Unterscheidungsmerkmale frugaler Innovation zu konventioneller Innovation19

Eine vergleichbare Gegenüberstellung findet man bei Schanz et al. (2011) zwischen Low cost-high tech und High-end Innovationen. Erstere sind zur Kosteneinsparung basierend auf Standardtechnologien funktional an eine spezifische Zielgruppe in EM angepasst, sodass sie ebenfalls einfach, gut wartbar, robust und preisgünstig sind.20High-end Innovationen, die hauptsächlich in DM kreiert und vertrieben werden, sind teuer, multifunktional und weisen neueste Technologien auf.21

 

Die Forschung gibt aufgrund der Interdisziplinarität des Themas mit Bezug zu den Fachbereichen Wirtschaft, Management, Entwicklung und Engineering22 verschiedene Definitionenfrugaler Innovation, die sich in diversen Kontexten entwickelt haben.23 In Wellen der Frugalität folgten auf die produktorientierten Definitionen (2012/2013), welche die Produkteigenschaften und Charakteristika frugaler Innovation diskutieren, die markt-/prozessorientierten Definitionen (2014/2015), welche als Erweiterung Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Formen ressourcenbeschränkter Innovation untersuchen. Sie sehen frugale Innovation als Prozess und betonen Ressourcenbeschränkungen im Entstehungskontext frugaler Innovation als Treiber zur Bedürfnisbefriedigung am BoP. Zuletzt sehen die Vertreter der kriterienorientierten Definitionen (2016/2017) in regional ausgerichteten Definitionen eine Limitation24 und proklamieren eine Rückbesinnung auf die Ursprünge des Konzepts. Die Erarbeitung klarer Kriterien erlaubt eine Objektivierung des Forschungsfelds. Folglich lässt sich eine Klassifizierung in frugal und nicht-frugal transparent begründen.25 Auch ermöglicht sie eine Übertragung frugaler Innovation von EM auf DM und die Abgrenzung von anderen Innovationskonzepten. Rao (2017) folgt diesem Gedanken und definiert, basierend auf dem Fortschritt in Wissenschaft und Technologie, Advanced Frugal Innovation (AFI).26 In neueren Publikationen werden frugale Innovationen auch als Mindset verstanden, also eine kognitive Orientierung, die den Status quo hinterfragt und nachfolgend die Aufgabenausführung beeinflusst, indem es Managern gelingt z. B. ihre Strategie auch auf kostensensitive Kunden auszudehnen.27 Zusammengefasst können frugale Innovationen als Mindset, sozio-ökonomische Auswirkung, Prozess/Geschäftsmodell oder Ergebnis in Form eines Produktes oder Services interpretiert werden.28

Kriterien frugaler Innovation

Eigenschaften frugaler Innovation im Sinne der Kriterienorientierung werden in Quellen entweder explizit genannt (z. B. Beispiele oder Definitionen) oder lassen sich aus Publikationen ableiten, die frugale Innovation mit anderen Innovationsarten vergleichen.1 Viele Produkteigenschaften entstammen dabei dem Engineering und gliedern sich in preisbezogene (z. B. Verkaufspreis) und nicht-preisbezogene Faktoren (z. B. Zuverlässigkeit, Anpassungsfähigkeit im Einsatz, Leistung, einfache Handhabung und Wartung).2 Eine literaturbasierte Untersuchung von Agarwal/Brem/Grottke (2014) von Merkmalen eines Produktes für EM identifiziert über die Analyse der semantischen Ähnlichkeit der in der Literatur gesammelten Eigenschaften und eine anschließende Clusteranalyse acht Charakteristika (siehe Tabelle 4), deren Bedeutung anschließend durch eine Expertenbefragung unter Produktmanagern großer Unternehmen im Gesundheitsbereich evaluiert wurde. Eine Folgestudie der Autoren im Jahr 2018 untersucht anhand des indischen Gesundheitswesens dann die Einschätzung der Eigenschaften bzw. Produktanforderungen bei Kunden und Produktmanagern, wobei die meisten untersuchten Eigenschaften übereinstimmend für wichtig gehalten wurden.3

Eigenschaften

Beschreibung

Kostengünstig

Ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, d. h. Qualität (kein Luxus) zu Preisen, die für BoP-Kunden erschwinglich sind

Einfallsreich

Mit weniger mehr erreichen, minimaler/geringstmöglicher Ressourceneinsatz in der Produktentwicklung

Einfach zu benutzen

Auf den Menschen zugeschnittenes, intuitives Design, das wenige bis gar keine Vorkenntnisse oder Schulungen zur Nutzung erfordert

Nachhaltig

Umweltfreundlich, Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Umwelt

Problemorientiert

Bottom-up-Ansatz, bei dem zunächst das Problem betrachtet und dann eine geeignete Lösung entwickelt wird, zugeschnitten auf den Kunden statt technologie- oder produktorientiert

 

Schnörkellos

Vereinfachung, Suche nach Mindestanforderungen und funktionalen Anforderungen, die den Zweck erfüllen

Schnelle Markteinführung

Rechtzeitige Markteinführung, schnellere Bereitstellung unter Berücksichtigung aller Prozessschritte von der Herstellung bis zum Versand

Bahnbrechend

Schaffung neuartiger, kreativer Lösungen, die den bestehenden Markt aufbrechen und zur Entstehung eines völlig neuen Marktes beitragen

Tabelle 4:

Eigenschaften frugaler Innovation4

Gemäß der Studie sind Kosteneffektivität, einfache Handhabung und Problemzentrierung die wichtigsten Eigenschaften5, was deckungsgleich zu den empirischen Untersuchungsergebnissen von Weyrauch/Herstatt (2016) ist. Sie bilden basierend auf einer umfassenden Literaturanalyse und Interviews neun Eigenschaften frugaler Innovation heraus, aus denen sie drei Hauptmerkmale ableiten:6

 

Substanzielle Kostenreduktion: Darunter fallen ein geringerer Kaufpreis und Kosten im Produktlebenszyklus (z. B. Materialkosten, Betriebs- und Entsorgungskosten, Wartungs-bzw. Reparaturkosten) verglichen mit konventionellen Produkten.7 Während Weyrauch/Herstatt (2016) mit Verweis auf fehlende Literatur keinen absoluten Schwellenwert einer substanziellen Kostenreduktion nennen, sondern von einer Preisreduktion um mindestens ein Drittel bzgl. vergleichbarer, am Markt verfügbarer Produkte reden8, vergleicht Rao (2013) die Preise von frugalen Innovationen mit herkömmlichen Produkten und Services. Basierend auf einer Internetrecherche bildet sich eine Spannweite von 58-97% Preisreduktion mit einem Durchschnitt von 80 %.9 Dies ist keine repräsentative Stichprobe, aber ein Anhaltspunkt, wobei erschwingliche Preise im BoP-Kontext immer unter dem Preis liegen, den ToP bezahlt.10

 

Fokus auf Kernfunktionalitäten: Frugale Innovationen sind fokussiert auf für den Endkunden essenzielle Funktionen. Dies spart Material und finanzielle Ressourcen und macht das Produkt nutzerfreundlich, was den Nutzengewinn für die (zumeist) Erstnutzer steigert.11

 

Optimales Leistungsniveau: Frugale Innovationen sind verlässlich, robust und erfüllen Qualitätsstandards, ggf. auch basierend auf neuen Technologien. Ein genaues Verständnis, welches Leistungsniveau (z. B. bzgl. Eigenschaften wie Geschwindigkeit, Kraft, Haltbarkeit im Sinne von durability und Genauigkeit) und welche Qualität tatsächlich gefordert werden, ist die Basis für eine optimale Ausrichtung. Es kann aber vorkommen, dass frugale Innovationen auch ohne Overengineering mehr leisten als High-end Innovationen (z. B. Hupe für indischen Verkehr muss lauter und robuster sein als in deutschen Premiumautos).12

 

Eine Synthese bestehender Diskussionen bzgl. der Eigenschaften frugaler Innovationen ergibt acht Eigenschaftskategorien frugaler Innovation, die die genannten Hauptmerkmale beinhalten und weiter ausdifferenzieren, wie Tabelle 5 zeigt.

Eigenschaftskategorie

Definition

Bezeichnungen in Literatur

Reduzierung auf Kernfunktionalitäten

Reduktion und Konzentration auf Kernfunktionalitäten und essenzielle Funktionen für Effektivität der frugalen Innovation

functional, concentration on core functionalities, compact design, minimalist features, design that focuses on basic functionality, modest, good enough, quick and effective, limited functionality, only the functionalities that are truly essential

Kostenreduktion aus Kundensicht

Substanzielle Reduzierung des Anschaffungspreises und/oder der Total Cost of Ownership der frugalen Innovation für den Kunden

affordable, low cost, low price, affordability, substantial cost reduction, reducing the cost of ownership, increasing the affordability power of the buyer, affordable prices, avoiding needless costs, cost advantage, low-cost solution, cost-effective, economical, cost-reduced compared with premium counterparts, adapted to BoP’s affordability price-point

Geringerer Ressourceneinsatz für Unternehmen

Reduzierung der Herstellungskosten oder des Materialeinsatzes für die frugale Innovation seitens des Unternehmens

constrained resources, lower costs, low cost, minimize the use of material and financial resources in the complete value chain, reducing cost, resource scarcity, reduces material use, scarcity of raw materials, resource saving

Lokale Problemlösung

Abstimmung der Innovation auf lokale Kundengruppe und/oder Aufbau einer lokalen Unternehmensinfrastruktur im Zielmarkt

local, targeted, localized solution, local entrepreneurship, use of local resources

Robustheit

Anpassung des Produktdesigns an Umweltbedingungen des Zielmarkts und/oder der Produktionsstätte

robust, ruggedization

Hohe Qualität

Optimiertes Leistungsniveau durch Konzentration auf gewünschte Funktionalitäten

exceeding quality standards, high quality, performance level, quality is a function of the needs of local customers

Benutzerfreundlichkeit

Einfache Handhabung und intuitives Design der frugalen Innovation

ease of use, user friendly, easy to use, simplification, adaptable, practical

Nachhaltigkeit

Produktentwicklung und Herstellung unter Beachtung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit

sustainable manner, sustainable, powered by renewable resources, environmentally sustainable and lean practices, green marketing objectives, sustainable, sustainability, robust, easy to maintain

Tabelle 5:

Eigenschaftskategorien frugaler Innovationen13

Auch wenn diese Kriterien zur Abgrenzung frugaler Innovation von anderen Innovationsarten nützlich sind, so weisen sie auch Schwachstellen zur Kategorisierung frugaler Innovationen auf, da sie nur teilweise operationalisiert werden können.14 Denn trotz gegebener Übereinstimmungen in diversen Definitionen bzgl. einiger Kriterien15 gilt es zu beachten: Das Verständnis und die Definition frugaler Innovation wird stark von Kontextfaktoren wie z. B. den wirtschaftlichen Bedingungen und der Kultur im Zielmarkt beeinflusst.16 So basieren die zitierten Studien auf Untersuchungen im Kontext der EM. Wie ersichtlich wurde, unterscheiden sich bereits innerhalb der EM die Anforderungen an frugale Innovationen und so auch ihre Eigenschaften. In entwickelten Märkten kommen außerdem weitere Treiber frugaler Innovationen wie z. B. Werte und Lebenseinstellungen hinzu. Der Entwicklungsstand und auch die Kaufkraft der Kunden unterscheiden sich hier wesentlich. Daher sollten die Kriterien unabhängig von bestimmten Zielmärkten formuliert werden.17 „Frugality should have new features in a developed world!“18

Ein Literaturüberblick bestätigt diese Unabhängigkeit, indem er zeigt, dass sich neben den bereits erwähnten vier Wellen über die Jahre eine qualitative Verschiebung in der Definition frugaler Innovationen ergeben hat. Statt sie als Innovation für das untere Segment eines Massenmarktes zu sehen, sollten sie als globales, breiter ausgerichtetes Phänomen mit potenziell größeren, sozio-ökonomischen und ökologischen Auswirkungen gesehen werden.19 Für diese Arbeit, die ihren Fokus auf Unternehmen aus DM richtet, erfolgt daher eine Anpassung der Kriterienfrugaler Innovation. Innerhalb der Kostendimension sollte aus der Perspektive des Unternehmens von Kosteneffektivität und aus Sicht des Kunden von wertorientierter Preisgestaltung (die Balance aus Kosten, Preis und Wertversprechen als Maxime) gesprochen werden. Die Konzentration auf Kernfunktionalitäten entspricht im Kontext der DM der Bestrebung nach einer einfachen Handhabung von Produkten und die Dimension der Leistung schließt neben der reinen Produktleistung im Anwendungskontext auch Service, Markenbildung und Produktpositionierung ein. Zur Realisierung der frugalen Innovation ist auch die Nutzung fortschrittlicher Technologie denkbar.20 Bzgl. der Leistung unterteilen Winkler et al. (2020) ferner das Kriterium von Weyrauch/Herstatt (2016) und definieren second-degree frugal innovation als neue Kategorie frugaler Innovation in einem anderen Umfeld. Da eine Innovation per Definition eine ökonomische Optimierung der Wissensverwertung ist und somit Erfolg auf dem Markt mit sich bringt21, dieser Erfolg aber stark von den lokalen Marktbedingungen abhängt, beschreiben sie neben der technischen „product-related performance“ (wie sie auch im ursprünglichen Modell vorkommt), die „user-related performance“ (bzgl. Markt oder Nutzer) als Indikator für Erfolg einer frugalen Innovation, insbesondere in DM. Ist das Leistungsniveau zu hoch oder zu niedrig, so gilt dies infolge auch für die Kosten. Die strategische Passung mit Markt und Kunden als Kontextfaktoren ist somit in DM noch wichtiger.22

Daraus resultiert für diese Dissertation folgende Arbeitsdefinition frugaler Innovation, deren Komponenten sowie ihr Zusammenspiel in Abbildung 2 grafisch veranschaulicht werden:

Frugale Innovationen sind neue Produkte oder Dienstleistungen, die im gesamten Lebenszyklus von der Entwicklung, über die Produktion, die Vermarktung bis zur Entsorgung mit einem minimalen Ressourceneinsatz (materiell, finanziell und personell) auskommen (Kosteneffektivität) und eine hohe Qualität bzgl. Produktleistung, Produktpositionierung und Service aufweisen. Die Gesamtbetriebskosten stehen im Verhältnis zu den aus Sicht der Zielkundengruppe wertgenerierenden Merkmalen, namentlich Nachhaltigkeit (ökonomisch, ökologisch, sozial), Lokalitätsbezug (Abstimmung auf lokale Kundengruppen, Aufbau lokaler Infrastruktur), Robustheit (Sicherheit) und Benutzerfreundlichkeit (Reduzierung auf Kernfunktionalitäten, einfache Handhabung). Als Bezugspunkt für die optimale Ausprägung der Merkmale dienen als Kontextfaktoren die Umweltbedingungen (wirtschaftlich und kulturell) im Zielmarkt.23

Abbildung 2:

Komponenten der Arbeitsdefinition frugaler Innovation24

Durch die Relativierung des Preises als Verhältnis und der Kontextabhängigkeit der Leistung erfüllt die Definition die geforderte Unabhängigkeit von konkreten Attributen, geografischen Gebieten und Einkommensgruppen wie dem BoP. Um den Bedürfnissen der Kunden gerecht zu werden, wird ein Produkt auf die Essenz eines Problems für einen spezifischen Markt zu optimalen Kosten mit minimalem Materialeinsatz unter Einhaltung von Qualitätsstandards und gesetzlichen Normen ausgerichtet – in EM und woanders, für jedes Segment der ökonomischen Pyramide.25 Sie wird auch der Tatsache gerecht, dass sich frugale Innovationen auf eine große Bandbreite innovativer Lösungen beziehen, von sozialen Lösungen im Non-Profit-Bereich, über Entrepreneure im ländlichen Raum in EM, bis hin zu hochstandardisierten Neuproduktentwicklungen von MNC, ausgerichtet auf preissensitive B2B- und B2C-Kunden.26 Die Neuheit der frugalen Innovation kann sich auf die Anwendung, das verwendete Material (recycelt oder leicht ersetzbar), das Geschäftsmodell oder eine technische Funktion beziehen. Insgesamt haben alle Funktionen der Innovation eine wertsteigernde Funktion für den Kunden.27

Für das korrekte Managen einer Innovation muss man ihre Natur genau verstehen.28 So fordert die Literatur eine Begriffsabgrenzung frugaler Innovation von anderen Innovationsarten wie Jugaad und Gandhian oder constraint-based innovation29, da die Überlappung mit anderen Konzepten den Forschungsfortschritt verlangsamt.30 Gemeinsam ist allen Konzepten, dass sie Innovationen beschreiben in EM, aus EM und für EM.31

Typen frugaler Innovation

Innerhalb frugaler Innovation erfordern verschiedene Arten verschiedene Mittel und Neuproduktentwicklungsprozesse, um diese zu generieren. Dabei beeinflusst der Zielmarkt im Wesentlichen die Eigenschaften der frugalen Innovation1 und die Kenntnis über Spezifika ist Voraussetzung für die Wahl der passenden Vorgehensweise. Ein wesentlicher Unterschied besteht, wie die folgende Tabelle 6 zeigt, zwischen corporate und grassrootsfrugal innovations.2

Corporatefrugal innovation

 

Grassrootfrugal innovation

Profitable Marktchance, die ein Unternehmen nutzen möchte (top-down)

Entstehungskontext

Problemlösungsidee eines individuellen Erfinders als Teil der Zielgruppe (bottom-up)

Ökologische, ökonomische Nachhaltigkeit durch Economies of Scale (EOS) wegen geringer Gewinnmargen

Hauptmotivation

Keine Gewinnerzielungsabsicht, primär soziale und ökologische Nachhaltigkeitsbestrebung, Wahrnehmung eines Problems als Ideentrigger

Komplex, ressourcenintensiv, Nutzung eines ausgearbeiteten Entwicklungsprozesses, F&E-Teams, etablierte F&E-Strukturen nutzen

Entwicklungsprozess

Einfach, ressourcenbeschränkt, improvisierter Prozess ohne standardisierte Methoden, Nutzung von Wissen und Erfahrung der Gemeinschaft, maker movement, DIY, trialand error mit vielen Prototypen, keine/kaum Unterstützung durch formale Institutionen

Massenproduktion

Produktion

Einzelstücke/Kleinserien, Skalierung und Institutionalisierung über Netzwerke möglich, z.B. Honey Bee Network in Indien

Einhaltung bestimmter (markenspezifischer) Qualitätsstandards

Qualität

Gut genug für Zielgruppe und ihre lokalen Bedürfnisse, kein bestimmter Qualitätsstandard, kein Fokus auf Optik, Design und Marketing

Zusammenarbeit mit Kunden und gutes Verständnis der Bedürfnisse der Zielkunden, F&E-Teams

Erfolgsfaktoren

Externer Input, crowd-design, WoM und Peer-to-peer Marketing, Distribution durch ad-hoc Verkäufe des Innovators

Kannibalisierung zu High-end Produkten, Markenschäden bei Qualitätsproblemen

Herausforderungen

Skalierung, Qualität, unstrukturierter Markteintritt

Tabelle 6:

Gegenüberstellung der Arten frugaler Innovation3

Der Entwicklungsprozess frugaler Innovation steht dabei im Fokus dieser Arbeit. Brem/Wolfram (2014) zeigen anhand eines dreidimensionalen Rahmenwerks, dass bzgl. „Grad der Strukturierung“ und „Organisation/Komplexität“ grassrootsfrugal innovation als intuitiver Improvisationsansatz durch die teilweise Nutzung von Netzwerken als Kommunikationsplattform deutlich weniger strukturiert ist als der Ansatz der corporatefrugal innovation. Dieser bewegt sich, u. a. bedingt durch den Transfer von Wissen und weil die Erreichung von Spillover-Effekten ein Mindestmaß an Austausch zwischen den Beteiligten erfordert, im mittleren Bereich, was Albert/Hüsig (2019) in ihrem Radardiagramm bestätigen. Erste dokumentierte, replizierbare Prozessansätze finden sich dazu bereits.4

Bzgl. „Ausrichtung auf EM“ als Zielmarkt für Neuproduktentwicklung und Vertrieb weisen frugale Innovationen eine beidseitige und damit internationale Perspektive auf.5 Bzgl. „Nachhaltigkeit“ ist corporatefrugal innovation weniger auf soziale Nachhaltigkeit ausgelegt als grassroots-Ansätze6, wenngleich die Auswirkungen frugaler Innovation auf Nachhaltigkeit in der Literatur grundsätzlich kontrovers diskutiert werden. Fazit der Diskussion ist, dass Nachhaltigkeit kein inhärentes Merkmal frugaler Innovation ist, sondern eine ergänzende Eigenschaft.7

Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie eine klar definierte, preissensitive Kundengruppe ansprechen und die Produkteigenschaften auf deren wesentliche Bedürfnisse ausrichten. Dabei können, falls gewünscht, auch Funktionen der Innovation über den aktuellen Status quo hinausgehen. Ihr Preis ist verglichen mit konventionellen Lösungen geringer. Für beide Ansätze gelingt die Einsparung von Kosten maßgeblich durch die Rekonstruktion von Produkten (z. B. Reduzierung von Merkmalen, Design, Material) und Prozessen, sodass frugale Innovationen auch für preissensitive Kundengruppen erschwinglich werden.8 Im Hinblick auf die Kernfunktionalität der Innovation erfolgt dabei keine Reduzierung der Leistungsfähigkeit oder Qualität.9

 

Die Erforschung auf Ebene des Unternehmens ermöglicht es, auf einer praktikablen Basis und nicht zu abstrakt (z. B. auf Ebene einer Branche) Strukturen und Systeme zu beleuchten, die Innovation in einem Unternehmen ermöglichen.10 Im Fokus dieser Dissertation stehen daher corporatefrugal innovations, da hierzu bisher wenig über die Entwicklung bekannt ist und Bedarf an weiteren Studien z. B. zu innovationsförderlichen organisationalen Strukturen und Maßnahmen, ebenso wie zu NPE-Prozessen besteht11, wie das folgende Kapitel darlegt.

2.1.2 Forschungsfelder frugaler Innovation und Forschungsbedarfe

Bei der Identifikation themenrelevanter Literatur zeigt sich, dass im Themengebiet frugaler Innovation viele häufig zitierte Artikel aus nicht- oder halbakademischenQuellen stammen, z. B. Berichte von Unternehmensberatungen oder Regierungsorganisationen.1 Aufgrund ihrer hohen Relevanz für das Forschungsfeld wurden auch diese weniger wissenschaftlichen Quellen bei der Bearbeitung des Themas konsultiert.2 Die akademischenQuellen, die maßgeblich über den Regensburger Katalog, in einschlägigen Datenbanken (EBSCO Host, ABI/ProQuest Central, Google Scholar, Scopus, Science Direct, AIS Electronic Library, ISI Web of Science), sowie über das Schneeballprinzip gesucht wurden, bestehen aus konzeptionellen Artikeln, Reviews und wissenschaftlichen Fallstudien. Suchbegriffe waren u. a. basierend auf bisherigen Literatursuchen frugal innovation, frugal innovations, frugal engineering, frugal.3 Publiziert sind die untersuchten Artikel sowohl in etablierten als auch in neuen Journals, wie z. B. dem Journal of Frugal Innovation, in Büchern sowie Arbeits- und Konferenzpapieren. Neben englischer Literatur wurde auch deutsche und französische Literatur betrachtet, um nicht aufgrund der Sprache Ausschlüsse wichtiger Artikel und Beiträge zu verursachen. Was das Veröffentlichungsdatum betrifft, beginnen die Beiträge im Jahr 2000. Erst ab diesem Jahr entstehen moderne frugale Ansätze.4 Besonders stark entwickelt hat sich die Literatur dann ab 2012 mit einem Hoch in 2016.5

 

Da es aktuelle Literatur Reviews und bibliometrische Analysen zu frugalen Innovationen gibt6, wurden diese als zentrale Quellen identifiziert und gesichtet.7 Sie wurden erst deduktiv anhand der verwendeten Theorien, methodischen Ansätze und thematischen Aspekte strukturiert, um einen Überblick über den Stand der Forschung zum Thema zu erhalten und dann induktiv durch weitere Literaturquellen aus dem Forschungsfeld ergänzt.8

Hossain (2018) zeigt in einem Überblick englischsprachige Literatur zu frugaler Innovation auf und vergleicht das Konzept mit anderen Innovationskonzepten.9 Bhatti/Ventresca (2012) betrachten in ihrer Untersuchung verschiedene, mit frugaler Innovation verwandte Konzepte. Sie schlussfolgern, dass es keine theoretisch fundierte Definition und kaum konzeptionelle Modelle gibt. Vielmehr entsteht die terminologische Verwirrung aus den verschiedenen Perspektiven auf (frugale) Innovation: Vom Artefakt her, von der Wertschöpfungskette her, vom Mindset her oder aus einer Prozessperspektive.10 So existieren in Zusammenhang mit frugaler Innovation bisher Strategien zum Redesign von Produkten11, zur Rekonfiguration von Wertschöpfungsketten12 oder dem Umbau ganzer Ökosysteme13.14

Pisoni/Michelini/Martignoni (2018), die 113, seit 1990 in wissenschaftlichen Journals, publizierte Artikel untersuchten und anschließend ihre Ergebnisse durch Experteninterviews validierten15, systematisieren das Forschungsfeld frugaler Innovation in vierStrömungen, die sich auch in den erwähnten Publikationen und bei Brem et al. (2020)16 erkennen lassen:

Definition, Herkunft und Evolution frugaler Innovation: Dazu halten die Autoren fest, dass sich trotz der vorhandenen Übereinstimmungen zwischen den Definitionen17 eine Entwicklung des Konzepts erkennen lässt (Details s. Kapitel 1.1 und 2.1.1). Bisherige Literatur beschäftigt sich zumeist auf konzeptionelle und weniger auf quantitative Weise mit dem Verständnis des BoP, Quellen, Theorien, Definitionen, und Abgrenzungen frugaler Innovation zu anderen ressourcenbeschränkten Innovationskonzepten.18

Ökosystem frugaler Innovation und Hauptakteure: In ressourcenbeschränkten Umgebungen haben das Ökosystem und seine Akteure für Innovationen eine große Bedeutung. Rahmenwerke für Innovation dienen als wichtiges Tool, um frugale Innovationsansätze zu verstehen (Details s. Kapitel 2.1.1 und 3.2). Auch das Ökosystem und die Akteure frugaler Innovation werden beleuchtet.19

Innovationsprozess (IP): Hier stehen Treiber frugaler Innovation, Eigenschaften und Erfolgsfaktoren des NPEP für frugale Innovationen sowie organisatorische Belange im Fokus (Details s. Kapitel 3).20

Implementierung und Diffusion frugaler Innovation: Diffusionsstrategien stehen neben der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Innovation und Geschäftsmodell im Fokus. Auswirkungen einer Innovation sowie die Bedeutung frugaler Innovation für bestimmte Sektoren werden untersucht.

Folglich behandeln bisherige Diskussionen zu frugaler Innovation strategische, technologische und organisatorische Themen.21

 

Bisher wurden frugale Innovationen hauptsächlich im Kontext von EM mit Fokus auf den BoP untersucht und angewendet, wo sie mit ihrer speziellen Herangehensweise an Innovation als erfolgreich gelten, um den Markt zu beherrschen.22 Ein Großteil der BoP-Bevölkerung befindet sich in EM, weshalb Fälle aus Südostasien, Afrika und Lateinamerika bisher im Fokus der Fachliteratur standen und nur wenige vom BoP in anderen EM oder in DM handeln.23 Mittlerweile geht die Forschung zu frugalen Innovationen darüber hinaus und betrachtet auch DM, die ähnlich zu den BoP-Märkten in EM auch über preissensible Kunden verfügen. Studien zur Anwendung von BoP-Strategien und frugaler Innovation in entwickelten Ländern sind rar und ihr Potenzial für diese Märkte wird nur allmählich gehoben.24

 

Dabei fällt auf, dass im Kontext frugaler Innovation bisher nur wenige Theorien untersucht wurden: die Theorie der Ressourcenabhängigkeit (Bezugspunkt: Wettbewerb um knappe Ressourcen), die Diffusionstheorie (Bezugspunkt: Distributionskanäle und Logistik, Fließrichtung von Innovationen), die Theorie der disruptiven Innovation, die Institutionentheorie und die Netzwerktheorie (Bezugspunkt: neue Art der Institutionen für frugale Innovation nötig) gelten als wichtig oder fanden bereits Anwendung in der Erforschung frugaler Innovation. Die meisten Untersuchungen entfallen auf den Geschäfts- und Management-Kontext, sowie Überschneidungen zu Engineering, Sozialwissenschaften, Medizin, Volkswirtschaft und Entscheidungslehre.25 Im Rahmen der Theoriearbeit wurden des Weiteren keine Funde zu theoretischen Erklärungsansätzen zur Entwicklung frugaler Innovationen im Sinne neuer Produkte gemacht. Dies deckt sich mit der Feststellung, dass bisherige Untersuchungen zu frugaler Innovation sich aus einer ex post-Betrachtung (ends) z. B. mit der Frage nach einem „Warum“ und der Untersuchung individueller Produkte und Services, Definitionen, dem Ökosystem und der Implementierung und Diffusion dem Thema gewidmet haben. Weniger ausgeprägt sind ex ante-Betrachtungen (means), die das „Wie“ im Sinne eines Entwicklungsprozesses frugaler Innovation analysieren.26