Corporate Nudging - Christoph Harff - E-Book

Corporate Nudging E-Book

Christoph Harff

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Beschreibung

"Sanfte Stubser" bzw. "Denkanstöße" - sogenannte Nudges - wirken auf eingefahrene Entscheidungs- und Verhaltensmuster. In den 2000ern durch Thaler und Sunstein populär gemacht, fanden Nudging-Strategien zuerst in der Politik ihre Anwendung: Mit der Idee des "Libertären Paternalismus" machten Regierungen, wie z.B. die unter Präsident Obama, Nudges zum integralen Bestandteil einer wirksameren Kommunikation und in der effizienten Ausgestaltung von Gesetzen.​​ Mittlerweile finden die Nudging-Ansätze immer mehr Anwendung in Unternehmen: bei der Ausgestaltung von Kundenerlebnissen, im Design einer Akquise-Kampagne, bei der Umsetzung von Transformationsprojekten, bei der Unterstützung von Nachhaltigkeitsstrategien, oder in der Kalibrierung von unternehmerischen Entscheidungen im Management.​​ Durch Corporate Nudging können Unternehmen ihre eigene Entscheidungsarchitektur oder die ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beeinflussen. Die Entscheidungen werden nicht eingeschränkt, aber das Entscheidungsumfeld wird verändert und Entscheidungen maßgeblich in eine bestimmte Richtung "gestupst". Dieses Buch strukturiert die verschiedenen Nudging-Ansätze und liefert eine praxisorientierten Mischung aus wissenswerten Grundlagen sowie konkreten Beispielen aus der Unternehmenspraxis. Aus dem Inhalt - Konzeptionelle Grundlage und Anleitung für Corporate Nudges - Anwendungsschwerpunkte und Umsetzungsformen - Leitfaden zur eigenständigen Entwicklung von Nudges in Unternehmen - Konkrete Anwendungsbereiche und deren Herausforderungen - Risiken und Grenzen des Nudgings

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[5]Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum UrheberrechtImpressumAbbildungsverzeichnisTabellenverzeichnis 1 Einführung2 Nudging – Grundlagen zum Themenkomplex 2.1 Interventionen von Entscheidungen: Welche Rolle spielen Nudges dabei?2.2 Homo oeconomicus vs. Homer Simpson: Warum brauchen wir Nudges? 2.2.1 Handlungsorientierte Dimension2.2.2 Stabilitätsorientierte Dimension2.2.3 Wahrnehmungsorientierte Dimension2.2.4 Sozialorientierte Dimension2.2.5 Interessenorientierte Dimension2.3 Anwender von Nudges: Wer stupst wen und warum?3 Status quo des Corporate Nudgings3.1 Einsatzgebiete des Corporate Nudgings3.2 Warum nudgen Unternehmen?3.3 Wie wird derzeit genudged? 3.4 Integration einer Nudge Unit im Unternehmen3.5 Single Person Experts – Die Aufgaben eines Nudging-Experten3.6 Herausforderungen für Nudge-Praktiker3.6.1 Prozessorientierte Herausforderungen3.6.2 Kontextabhängigkeit eines Nudges 3.6.3 Ethische Bedenken3.6.4 Strukturelle Herausforderungen3.7 Erfolgsfaktoren des Corporate Nudgings4 Leitfaden zur Entwicklung von Nudges 4.1 Schritt 1: Beobachten4.2 Schritt 2: Herausforderung definieren4.3 Schritt 3: Ursachenanalyse des Problems4.4 Schritt 4: Design des Nudges 4.5 Schritt 5: Umsetzung eigener Nudges5 Nudging the Corporate – die unternehmensinterne Perspektive5.1 Corporate Decision Making: Nudging zur besseren Entscheidungsfindung5.1.1 Ausgangslage: Fehlentscheidungen im Corporate Management5.1.2 Typen von Managemententscheidungen5.1.3 Typische Treiber von verzerrten Entscheidungen5.1.4 Mit Nudging verzerrte Entscheidungen vermeiden5.1.5 Der richtige Rahmen für Debiasing-Nudges5.2 Corporate Transformation: Nudging zur Stärkung von Veränderungsprozessen5.2.1 Ausgangslage: Veränderung als Konstante in Unternehmen5.2.2 Transformationen als umfassende Verhaltensintervention5.2.3 Nudging Change and Transformation5.2.4 Unternehmenswerte als nachhaltiger Nudge für die Organisation5.2.5 Erfolgsvoraussetzungen von Veränderungsprozessen5.3 Corporate Innovation: Nudging zur besseren Entwicklung neuer Geschäftsideen5.3.1 Ausgangslage: Notwendigkeit und Wunsch, sich neu zu erfinden5.3.2 Innovation: Von der Idee zum Produkt zum Geschäft5.3.3 Nudging entlang des Innovationsprozesses5.3.4 Der richtige Rahmen für Corporate Innovation5.4 Corporate Sustainability: Nudging für mehr Nachhaltigkeit 5.4.1 Ausgangslage: Die »Sustainability Challenge« für Unternehmen5.4.2 Wie Unternehmen die »Sustainability Challenge« bislang annehmen5.4.3 Corporate Nudging als Instrument für die »Sustainability Challenge«5.4.4 Fallbeispiele: Corporate Nudging to Sustainability5.4.5 Empfehlungen für Nudges in der »Sustainability Challenge«5.4.6 Rahmenbedingungen für Corporate Nudging in der »Sustainability Challenge«5.5 Nudging the Corporate – weitere Einsatzgebiete 5.5.1 Nudging Arbeitssicherheit von Mitarbeitern5.5.2 Nudging Compliance5.5.3 Nudging Diversity6 Dunkle Seiten, Risiken und Grenzen des Corporate Nudgings6.1 »Nudge for Good« vs. »Evil Nudges«6.2 Nudge vs. Sludge – Nudges, die Entscheidungen erschweren6.3 Nudges, die fehlschlagen7 Fazit und Ausblick zum Corporate NudgingAnhangGlossar der im Buch verwendeten Heuristiken und BiasesLiteraturverzeichnisDanksagung StichwortverzeichnisDie Autoren
[1]

Hinweis zum Urheberrecht:

Alle Inhalte dieses eBooks sind urheberrechtlich geschützt.

Bitte respektieren Sie die Rechte der Autorinnen und Autoren, indem sie keine ungenehmigten Kopien in Umlauf bringen.

Dafür vielen Dank!

Haufe Lexware GmbH & Co KG

[4]Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Print:

ISBN 978-3-648-13738-3

Bestell-Nr. 10511-0001

ePub:

ISBN 978-3-648-13739-0

Bestell-Nr. 10511-0100

ePDF:

ISBN 978-3-648-13740-6

Bestell-Nr. 10511-0150

Prof. Dr. Christoph Harff / Dr. Christopher McLachlan

Corporate Nudging

1. Auflage, Dezember 2021

© 2021 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg

haufe.de

[email protected]

Bildnachweis (Cover): © GoodIdeas, Adobe Stock

Produktmanagement: Anne Rathgeber

Lektorat: Peter Böke, Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten. Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.

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Sollte dieses Buch bzw. das Online-Angebot Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte und die Verfügbarkeit keine Haftung. Wir machen uns diese Inhalte nicht zu eigen und verweisen lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung.

[9]Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Entstehung der Nudge-Agenda

Abb. 2: Einordnung des Nudge-Ansatzes in die »klassischen« Instrumente der Verhaltensinterventionen

Abb. 3: Einsatzbereiche von Nudges

Abb. 4: Charakteristika des staatlichen Nudgings

Abb. 5: Charakteristika des Corporate Nudgings

Abb. 6: Corporate Nudging: Interviewpartner aus der Praxis

Abb. 7: Impulse für das Corporate Nudging

Abb. 8: Kategorien und Techniken der Entscheidungsarchitektur

Abb. 9: Kategorien und Techniken im Corporate Nudging

Abb. 10: Leitfaden für die Entwicklung von Nudges

Abb. 11: Der Entwicklungsprozess von Nudges

Abb. 12: Das »magische Dreieck« im Entscheidungsverhalten

Abb. 13: Kontextabhängigkeit im Entscheidungsverhalten: Frequenz und Referenzpunkt

Abb. 14: Kontextabhängigkeit im Entscheidungsverhalten: kognitives System und emotionaler Status

Abb. 15: Kontextabhängigkeit von Nudging-Kategorien I

Abb. 16: Kontextabhängigkeit von Nudging-Kategorien II

Abb. 17: Kategorien und Techniken entlang des Entscheidungsprozesses

Abb. 18: Beispiele für Nudging the Corporate

Abb. 19: Typische Vertreter von Nudges

Abb. 20: Übersicht zum Praxiskapitel 5

Abb. 21: Entscheidungstypen auf Basis des Cynefin-Modells bzw. der Stacey-Matrix

Abb. 22: Spannungsfelder und Gefahrenquellen bei Managemententscheidungen

Abb. 23: Phasen im Veränderungsprozess

Abb. 24: Eisberg-Modell in Anlehnung an Goodman (1997)

Abb. 25: Unterschiede in der Führung in ambidextren Organisationen

Abb. 26: Typische Phasen in der Innovation

Abb. 27: Google Design Sprint

Abb. 28: Wirtschaftsmodelle und Nachhaltigkeit

[11]Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Gefahrenquellen und typische Bias-Vertreter

Tab. 2: Beispielaussagen zur Ursachenanalyse

Tab. 3: Ansatzpunkte für Nudges

Tab. 4: Beispiel-Nudges für bessere Entscheidungsprozesse

Tab. 5: Beispiel-Nudges in der Ideengenerierung

Tab. 6: Nudges in der Marktvalidierung

Tab. 7: Nudges in der Wachstumsphase

Tab. 8: Nudging-Strategien für Diversity und Inklusion

[13]1Einführung

Wir alle standen schon im Büroalltag vor der Entscheidung, ob wir auf dem Weg zum nächsten Meeting den Aufzug oder die Treppen nehmen sollten. Die Zeit ist wie immer knapp und bequemer ist es mit dem Aufzug allemal. Aber halt: Auf dem Weg kommen wir an den Treppen vorbei und dort befinden sich Hinweisschilder, die uns darüber informieren, wie gesund das Treppensteigen ist (»Kalorienverbrauch und Herz-Kreislauf-Aktivierung«). Das schlechte Gewissen überkommt einem und wir nehmen die Treppen. Oben angekommen empfangen uns wieder Hinweisschilder, die einem zum absolvierten »Büro-Training« beglückwünschen. Wir sind erfolgreich »genudged« worden, indem unser Entscheidungsumfeld mithilfe dieser Hinweise verändert wurde.

Diesen und anderen »Stupsern« – so die Übersetzung von »Nudges« – begegnen wir immer mehr in unserem Umfeld. Spätestens mit der Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an Richard Thaler im Jahre 2017 ist Nudging in Politik und Gesellschaft ein gängiger Ansatz geworden. Die Ursprünge des Ansatzes lagen vor allem in der Politik und der Verbesserung staatlicher Programme. In den letzten Jahren hat sich dabei Nudging als Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse fest etabliert. Fast unmerklich ist es zu einem explosionsartigen Anstieg von Nudges in unserem privaten wie beruflichen Umfeld gekommen. So sind auch die Hinweisschilder in Treppenfluren zu erklären, weil Arbeitgeber vermehrt im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) auf derartige Nudges setzen, um die Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern.

Allerdings beziehen sich diese Entwicklungen kaum auf Deutschland. Amerikaner, Briten, Australier oder Skandinavier nutzen bereits seit mehr als zehn Jahren gezielt die Möglichkeiten des Nudgings. Im deutschen Raum ist diese Technik noch wenig verbreitet – weder die Politik noch die private Wirtschaft hat sich bislang mit dem Potenzial ausgiebig auseinandergesetzt. Mit diesem Buch wollen wir dazu beitragen, diese Lücke zu schließen, indem wir die Vorzüge, Techniken und Erfahrungen des Nudgings aus der meist englischsprachigen Literatur einem deutschsprachigen Publikum in einer anwendungsorientierten Weise näherbringen.1

Die Grundlagen des Nudgings sind vielfältig. Sie liegen unter anderem in der Organisationstheorie, der Entscheidungstheorie, der Sozialpsychologie und der Verhal[14]tensökonomie (»Behavioral Economics«). Aber im Fokus steht immer unser eigenes Verhalten als Bürger, Verbraucher oder Mitarbeiter. Und die Popularität des Nudgings hängt sicherlich auch damit zusammen, dass es sich immer um uns als Individuum und seine Entscheidungen dreht. Diese Entscheidungen werden durch Nudging zwar nicht eingeschränkt, aber das Entscheidungsumfeld wird verändert. Zusätzliche Informationen (wie auf dem Hinweisschild) oder aber Voreinstellungen können unsere Entscheidungen maßgeblich in eine Richtung »stupsen«. Als Synonym für dieses Verändern des Entscheidungsumfelds wird häufig der Begriff der »Entscheidungsarchitektur« verwendet. Wir werden uns daher in diesem Buch als »Entscheidungsarchitekten« verstehen.

Nudges sollen uns also als Bürger, Verbraucher oder Mitarbeiter zu besseren Entscheidungen verhelfen. Viele dieser Nudges sind eindeutig von Vorteil – tatsächlich setzen zum Beispiel Verbraucher ihre Hoffnungen auf derartige Hilfestellungen, um ihr Konsum- oder Essverhalten nachhaltiger zu gestalten. Nudges sind jedoch aus der Sicht der Betroffenen nicht unproblematisch, weil sie vielfach durch wirtschaftliche Interessen des Produzenten oder des Arbeitsgebers getrieben sind. Dieser Umstand ist aber weder neu noch als negativ zu bewerten. Die Beeinflussung von (potenziellen) Kundinnen und Kunden durch den Produzenten ist so alt wie die Märkte selbst. Werbung und Marketing zielten schon immer darauf ab, die eigenen Produkte und Dienstleistungen für den Verbraucher so attraktiv wie möglich zu machen. Auch der Rückgriff auf verhaltenspsychologische Erkenntnisse ist nicht unbedingt neu. Die Erkenntnisse des Nudgings werden bereits seit geraumer Zeit in kommerziellen Bereichen wie User Experience Design, Marketing und Vertrieb von Produkten und Dienstleistungen angewendet. Seit einigen Jahren werden diese Erkenntnisse nur wesentlich systematischer und umfassender in unserem Wirtschaftsleben eingesetzt.

Allerdings mangelt es derzeit an Übersicht, wie und wo welche Praktiken des Nudgings in Unternehmen angewendet werden. Mit diesem Buch unternehmen wir den Versuch, die verschiedenen Ansätze und Praktiken zu strukturieren. Wir fokussieren uns darauf, wie Unternehmen des Privatsektors ihre eigene Entscheidungsarchitektur oder die ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beeinflussen können bzw. wie sie Nudges anwenden sollten (»Corporate Nudging«). Dem Leser sollte es mithilfe des Buches gelingen, die Bedeutung des Nudgings besser einzuordnen und die Grundlagen zum Themenkomplex mit Verweisen auf die einschlägige Literatur zu beherrschen. Dieses Buch besteht daher aus einer praxisorientierten Mischung wissenswerter Grundlagen sowie konkreten Beispielen, Ansätzen und Denkrastern aus der Unternehmenspraxis.

Im Anschluss beleuchten wir zunächst das Phänomen Nudging selbst (Kapitel2). Wie hat sich die Kunst der sanften Entscheidungsarchitektur als universelle Methode zur Beeinflussung menschlichen Verhaltens durch neue Anreize etabliert? Und wie unter[15]scheidet sich das Corporate Nudging von anderen Spielarten des Nudgings? Einen Schub bekam Nudging als Denkkonzept durch zwei Entwicklungen: Erstens bei der Ausgestaltung vieler Online- und Offline-Kommunikationskampagnen und Kundenerlebnissen (User Experience Design) gilt die Methode des Nudgings inzwischen als eine zentrale Kompetenz im Marketing und Vertrieb. Und zweitens bekam Nudging erhöhte Aufmerksamkeit durch die kontroverse Diskussion um den sogenannten »Libertären Paternalismus«, bei dem in den letzten zehn Jahren unter anderem die Regierungen der USA, Großbritanniens oder Australiens in der Kommunikation ihrer Politik und in der Ausgestaltung von Gesetzen und Richtlinien ebenfalls die Methode des Nudgings anwenden.

Eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung und Anwendung von Nudges ist die Kenntnis menschlichen Verhaltens und die Ursachen für unser beobachtbares Entscheidungsverhalten. Als Mitarbeiter verhalten wir uns in gewissen Situationen nur selten wie erwartet oder erwünscht – häufig auch zum eigenen Nachteil. In unserer Analyse legen wir bei weitem nicht den Maßstab eines rationalen Wirtschaftssubjektes an (»Homo oeconomicus«), sondern unterstellen lediglich eine »begrenzte« Rationalität. Ziel dieses Kapitels ist es, dem interessierten Anwender eine konzeptionelle Grundlage und Anleitung für Corporate Nudges an die Hand zu geben.

Mit dem aktuellen Status quo des Corporate Nudgings setzen wir uns in Kapitel3 auseinander. Was sind die Herausforderungen in der Praxis und welche Anwendungsschwerpunkte und Umsetzungsformen können wir aktuell identifizieren? Dazu – und zu weiteren Fragen – haben wir weltweit Expertinnen und Experten aus der Praxis befragt.

In Kapitel4 entwickeln wir für die Anwenderin bzw. den Anwender einen Leitfaden zur eigenständigen Entwicklung von Nudges in Unternehmen. Mithilfe von Denkrastern und einer Fallstudie entsteht ein praxisorientierter Rahmen, der durch fünf Checklisten abgerundet wird.

Derartig gerüstet liefert Kapitel5 eine (Potenzial-)Analyse des Corporate Nudgings innerhalb von (Unternehmens-)Organisationen. Wir zeigen auf, an welchen Stellen die Entscheidungsarchitektur von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verändert werden kann und wie bereits Nudges eingesetzt werden. Die Anwendungsbereiche werden einheitlich definiert, deren Herausforderungen jeweils skizziert und typische Ansätze mittels ausgewählter Fallstudien aufgezeigt. Dabei betrachten wir Corporate Nudging auf drei Ebenen: Der Strategie-Ebene (Corporate Decision Making), auf der Ebene von Veränderungsprozessen (Corporate Transformation, Corporate Innovation) und schließlich auf der Ebene konkreter Themen und Verantwortungsfelder (Corporate Sustainability, Compliance, Health & Safety und Diversity).

[16]Die Risiken und Grenzen des Nudgings werden in Kapitel6 beleuchtet. Denn Nudges – unsachgemäß eingesetzt – können manipulieren oder schlichtweg ungewünschte Effekte auslösen.

In Kapitel7 fassen wir unsere wichtigsten Erkenntnisse zusammen und wagen einen Ausblick, wie sich das noch junge Umfeld des Corporate Nudgings weiterentwickeln kann.

1 Wie viele andere Autoren stoßen wir bei unserem Vorhaben auf die Problematik, dass die Fachbegriffe im deutschsprachigen Raum überwiegend in Englisch verwendet werden. So auch beim »Nudging«. Zwar geben wir – wenn möglich – eine deutsche Übersetzung an, aber in diesem Buch verwenden wir ebenfalls die englischen Begriffe, weil es effizienter ist. Beispielsweise liefern Recherchen im Internet anhand der englischen Begriffe deutlich mehr Quellen und bessere Beispiele.

[17]2Nudging – Grundlagen zum Themenkomplex

In der klassischen ökonomischen Theorie wird davon ausgegangen, dass Menschen in ihrer Rolle als Bürger oder Verbraucher freie und rationale Entscheidungen treffen. Das heißt, unsere Entscheidungen beinhalten stets sämtliche zur Verfügung stehenden Informationen und optimieren unseren eigenen Nutzen.2 Allerdings zeigt sich, dass Menschen nicht nur nicht rational, sondern bisweilen auch ihren eigenen Interessen zuwiderhandeln. Ein gutes Beispiel für ein derartiges Verhalten zeigt der Gesundheitsbereich: Bewegungsmangel, unausgewogene Ernährungsgewohnheiten oder Tabakkonsum belegen die häufigen Entscheidungen wider besseren Wissens. Natürlich verfügen Verbraucher zur Genüge über Informationen, dass dieses Verhalten im Zusammenhang mit Erkrankungen wie Adipositas, Diabetes oder Bluthochdruck steht.3 Doch auch Aufklärung durch Medienkampagnen oder gutgemeinte Ratschläge genügen häufig nicht, um Verhaltensänderungen herbeizuführen. Zahlreiche Studien4 zeigen, dass eine weite Kluft zwischen dem Konstrukt »rationales Verhalten« und dem tatsächlichen Verhalten herrscht.

Das Menschenbild des Homo oeconomicus

Seit circa 1870 erklären neoklassische Ökonomen, dass Individuen bestrebt sind, nach der Nutzenmaximierung zu handeln, da eine Ökonomie am besten funktioniert, wenn wirtschaftlich effizient agiert wird. So wie Bob Kane seinen Superhelden Batman nannte und Jerry Siegel zusammen mit Joe Shuster Superman erschuf, benannten die Ökonomen ihren Helden »Homo oeconomicus«. Seine Kräfte sind die geschickte Informationsaufnahme, das Erkennen eigener Handlungsantriebe, die individuelle Präferenzformulierung, die rationale Entscheidungsgabe und das alles für die effektive Gewinnmaximierung. John Maynard Keynes suchte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesichts der Weltwirtschaftskrise neue Ansätze zur Erklärung von wirtschaftlichen Entscheidungen und wich vom normativen und idealisierten Menschenbild des Homo oeconomicus ab.

Viele Fragen blieben aber weiterhin offen: Warum fallen so viele immer wieder auf die Supersonderangebote im Lebensmittelmarkt rein, obwohl doch eigentlich alle wissen, dass die »25 % Gratis« auf dem Nutellaglas lediglich 25 % Gratishüftspeck bedeuten und fünf Pfirsiche zum Preis von dreien am Ende fünfmal intensiver auf dem Biokompost stinken? Das hat doch nichts mit Rationalität zu tun!

[18]Genau deswegen erklären Psychologen, allen voran Daniel Kahneman, die Beweggründe menschlicher Handlungen anders. Soziale Normen, Traditionen und Regeln ebenso wie die Facetten der eigenen Persönlichkeit, die eigenen Hoffnungen und Ängste formen nach ihren Annahmen unsere Entscheidungen.5 Die Erkenntnisse der (Verhaltens-)Psychologie integrierten nun Kahneman, Tversky und andere in die ökonomische Modellwelt und legten damit die Basis für die Entwicklung der Verhaltensökonomie (»Behavioral Economics«) als neuer Bestandteil des ökonomischen Theoriegebäudes. Für die sogenannte »Prospect Theory« erhielt Kahneman 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.

Neben den Psychologinnen und Psychologen sehen sich auch die Marketeers, die Verkaufsförderer und die Verhaltensökonomen als »Entscheidungsarchitekten«. Weil die Menschen sich schwertun, objektiv Entscheidungen zu treffen, entstehen Verhaltensanomalien oder auch Biases. Das bedeutet, dass nicht die analytischen Denk- und Entscheidungsprozesse unser Handeln bestimmen, sondern unzugängliche Prozesse im Unterbewusstsein. Genau hier setzen die Nudges an.6 Die Nudge-Agenda beschreibt gewissermaßen angewandte Verhaltensökonomie. Der Ökonom Richard Thaler beobachtete in den 80er Jahren bei seinen Kollegen – die selbst auf Fachtagungen und in ihren Vorlesungen das Bild des Homo oeconomicus predigten – vielfach »irrationales« Verhalten. Fortan trug er seine Beobachtungen auf einer Liste zusammen und fing an, mittels Labor- und Feldexperimenten diese Anomalien in ihrer Systematik zu dokumentieren. Thalers Bemühungen wurden in der ökonomischen Wissenschaft häufig als Nestbeschmutzung empfunden, am Ende erhielt er aber 2017 ebenfalls den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Aus seinen Forschungen entstand ein immer größerer Schatz an Erkenntnissen, die Thaler – nicht ganz untypisch für amerikanische Wissenschaftler – als Berater von Regierungen und Unternehmen in die Praxis einbringen konnte. Dabei verfolgten er und sein Mitstreiter Cass Sunstein das Ziel, die Bevölkerung durch Stupser (»Nudges«) zu besseren Entscheidungen zu verhelfen.7

Im Unterschied zum Menschenbild des Homo oeconomicus verhalten sich Menschen häufig begrenzt rational und lassen sich von Emotionen, Stereotypen und kognitiven Verzerrungen leiten, wie es Kahneman (2012) in seinem Werk »Schnelles Denken, langsames Denken« beschreibt.8

[19]

Abb. 1: Entstehung der Nudge-Agenda

Dieses Verhalten wirft natürlich die Frage auf, wie eine Gesellschaft damit umzugehen hat. Tragen die Individuen allein die Verantwortung für ihr Verhalten? Oder ist die Politik in der Pflicht einzugreifen? Um bei dem obigen Beispiel zu bleiben: Ohne präventive Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit müssen wir damit rechnen, dass lebensstilbedingte Erkrankungen noch weiter zunehmen werden.

Hier kommt Nudging ins Spiel. Menschen können sich bei Alltagsentscheidungen oft unbedacht bzw. nur begrenzt rational verhalten. Sollte man sie in die (richtige) Richtung stupsen, um bessere Entscheidungen für den Einzelnen oder die Gesellschaft zu erhalten? Thaler und Sunstein (2008) bejahen diese Frage. Menschen fehlt oft nur ein kleiner Reiz, um mit dem (richtigen) Handeln zu beginnen. Dabei geht es Ihnen wie der Murmel in der Murmelbahn. Und oft ist ein kleiner Stupser viel effektiver als ein Zwang oder ein Verbot.

Nudges sind also Maßnahmen zur Beeinflussung der Entscheidungsfindung eines Individuums. Die Frage, die man sich im Rahmen eines Nudges stellt, lautet: Wie kann der Optionenraum (die Architektur der Entscheidung) so ausgestaltet werden, dass eine bessere und idealerweise bewusstere Entscheidung getroffen wird?9 Eine bessere Entscheidung ist diejenige, welche Menschen wählen würden, wenn sie über alle Informationen verfügen, wenn sie langfristig denken und handeln und wenn sie frei von den zahlreichen kognitiven Verzerrungen wären. Ein Nudge darf zudem die Entscheidungsoptionen nicht einschränken bzw. die Wahlfreiheit muss aufrechterhalten bleiben. Und Reize werden in Form von Motivation möglichst ohne finanzielle Zuwendungen gesetzt.

[20]Bei Nudges handelt es sich also nicht um Gebote und Verbote, sondern um eine verhaltensbasierte Anpassung der individuellen Entscheidungsarchitektur. Sie setzt an systematischen Verhaltenstendenzen der Menschen an, indem Nudges das Entscheidungsumfeld verändern. Gleichzeitig sollten die Entscheidungen dafür oder dagegen ohne prohibitive Kosten möglich sein.10

Definition Nudging

Unter Nudging werden Maßnahmen zur Beeinflussung der Entscheidungsfindung eines Individuums oder von Gruppen verstanden. Der Nudge darf die Entscheidungsoptionen nicht einschränken bzw. die Wahlfreiheit muss aufrechterhalten bleiben. Die Reize werden in Form von Motivation gesetzt, möglichst ohne finanzielle Zuwendungen.

Natürlich sind Nudges keine neue Form der Beeinflussung von Entscheidungsfindung. Konsumenten sind schon häufig durch Werbung beeinflusst worden. Oder Kinder werden durch ihre Eltern mithilfe von erzieherischen Methoden zu gewissen Verhaltensweisen »angeleitet«. Gleichwohl hat das Nudge-Konzept zu einer wissenschaftlich fundierteren, systematischeren und breitflächigeren Auseinandersetzung mit dem menschlichen Verhalten und der Frage geführt, was hieraus für die Entscheidungsarchitektur folgt.11

Nudges im Alltag

Auch beim Einkaufen kommen immer mehr Nudges zum Einsatz. Kennen Sie Produkte, auf denen in Form eines Ampelsystems angezeigt wird, wie gesund das Produkt ist? Das sind die überarbeiteten Versionen der Nährwerttabellen auf den Verpackungsrückseiten. Zugegeben, in Deutschland findet man das System noch nicht so oft wie in Frankreich, Belgien oder Spanien. Unternehmen wie Danone, Bofrost und Iglo machen jetzt aber den Anfang bei der Einführung in Deutschland.12 Auf ihren Produkten nudgen besagte Ampeln seitdem munter die Entscheidung von Konsumenten über ihre Produktwahl.

2.1Interventionen von Entscheidungen: Welche Rolle spielen Nudges dabei?

Nudges sind also nicht neu. Und es gibt noch andere Formen der Beeinflussung von Entscheidungen. Im Allgemeinen werden derartige Instrumente »Verhaltensinterven[21]tionen« genannt. Verhaltensinterventionen können sich in ihrer Eingriffstiefe der zu treffenden Entscheidungen unterscheiden. Die Eingriffstiefe von Nudges ist relativ gering. Wahlfreiheit, der Verzicht auf ökonomische Anreize und geringe Transaktionskosten machen Nudges zu einem relativ »sanften« Instrument (vgl. Abb. 2). Monetäre Anreize – positive wie negative – können unsere Entscheidungen dagegen tiefer beeinflussen, als es Nudges tun. Einen noch tieferen Eingriff in unsere Entscheidungen stellen Gesetze oder Verbote dar. Denn diese Verhaltensintervention begrenzen Wahlmöglichkeiten oder eliminieren sie gar komplett. Nudges können also besonders dort wirksam sein, wo tiefere Eingriffe wie Verbote zum Beispiel die Rechte von Bürgern zu sehr einschränken oder die gewünschte Zielgruppe gar nicht erreichen.13

Das Interessante an Nudges ist, dass sie auf zwei Arten ihre Wirkung als Verhaltensintervention entfalten können:14 Erstens erweitern Nudges das »klassische« Instrumentarium der Verhaltensinterventionen um eine eigenständige Entscheidungsarchitektur und beeinflussen ihre Zielgruppe unmittelbar. Zweitens können Nudges eine mittelbare Wirkung erzielen, indem sie die Wirksamkeit »klassischer« Instrumente verbessern. Auch bei ökonomischen Interventionen wie einer Steuer hängt die Wirkung nicht nur von der Höhe der Steuer ab, sondern ebenso von der Art und Weise wie über die Steuer informiert wird.

Abb. 2: Einordnung des Nudge-Ansatzes in die »klassischen« Instrumente der Verhaltensinterventionen (Quelle: In Anlehnung an Eichhorn und Ott 2019)

[22]Nudges im Alltag

Wussten Sie, dass Regierungen Verhaltensökonomen, Sozialpsychologen und Neurowissenschaftler engagieren, um gemeinsam beispielsweise an Reden, Print- und Bildmedien, Kommunikationsstrategien oder auch Gesetzgebungsprozessen zu arbeiten? Die Nudge Unit in Großbritannien oder das MindLab in Dänemark sind bereits Organisationen, die aktiv daran arbeiten, Erkenntnisse der Verhaltensökonomie in den Gesetzgebungsprozess einfließen zu lassen. So hat das dänische MindLab etwa untersucht, warum ausgerechnet jüngere Menschen ihre Steuererklärung nicht elektronisch abgeben, und herausgefunden, dass die Sprache auf den Webseiten der Finanzämter einfach zu unverständlich ist.15

Der Mensch fühlt sich im Allgemeinen relativ wohl mit den gegebenen Umständen und möchte diese nicht ändern, auch wenn sich dies – salopp ausgedrückt – als dumm herausstellen sollte. Ein Beispiel hierfür ist der spätabendliche Griff in den Kühlschrank als Handlung des überflüssigen Appetitstillens. Eine mögliche – wenn auch zunächst absurde – Verhaltensintervention wäre in diesem Fall zum Beispiel ein Verbot. Nun kann man in einem demokratischen Staat nicht einfach alles verbieten, was Spaß macht, aber weder effizient noch effektiv ist. Mit Nudges kann das gleiche Resultat erzielt werden – nämlich dass der nächtliche Griff in den Kühlschrank entfällt –, ohne aber die Freiheiten der Bürger derart einschränken zu müssen. Das macht Nudges so attraktiv.

Um dem Kind einen Namen zu geben, haben Thaler und Sunstein einen neuen Begriff geprägt: Libertärer Paternalismus. Der Grundgedanke hinter dieser kreativen Wortschöpfung ist, dass der Mensch weiterhin liberal seine eigenen Entscheidungen treffen soll, die Wahl aus seinen Entscheidungsmöglichkeiten aber paternalistisch beeinflusst wird, so dass sich der Mensch im besten Fall für die Entscheidung entschließt, die den größten Nutzen einbringt.

Nudges im Alltag

Es ist beeindruckend, wie effizient Nudging sein kann. So hat sich beispielsweise der Energieverbrauch in einer Kleinstadt in Kalifornien erst signifikant verringert, als die Bewohner von ihrer Kommune erfuhren, wie hoch ihr Energieverbrauch im Vergleich zu dem ihrer Nachbarn ist. Dabei sollte man doch meinen, dass es für eine Verhaltensänderung ausreicht zu wissen, dass ein hoher Verbrauch unserer Umwelt schadet und es nicht erst eines nachbarschaftlichen Wettbewerbs bedarf. Dieser Nachahmungseffekt funktioniert, weil Menschen sich gerne mit anderen vergleichen.

Mit ihrem Buch treffen Thaler und Sunstein (2008) auf einen Zeitgeist, der ihrer Idee schnell viel Anklang entgegenbringt. Ihre Vorstellung von Nudging – so zeigt es bereits [23]der Untertitel des Buches – zielt darauf ab, die Welt insgesamt besser zu machen. Sie liefern viele Vorschläge, wie manchmal einfache »Stupser« einige Entscheidungen im Gesundheitssystem, in der Altersvorsorge oder in der Klimapolitik verändern und damit das Leben vieler gesellschaftlicher Gruppen verbessert werden kann. Adressaten sind daher überwiegend Staaten, Regierungen oder andere (öffentliche) Institutionen. Ihre Nudge-Agenda wurde insbesondere in liberaleren politischen Lagern sehr interessiert aufgenommen. Beide Autoren konnten ihre Ideen auch in praktische Politik umsetzen, da beide für die amerikanische Regierung (Sunstein) bzw. für die britische Regierung (Thaler) direkt bzw. beratend tätig waren.

Dieser Umstand erklärt auch das ungewöhnliche Phänomen, dass es überwiegend öffentliche Institutionen waren, die als Erstes die Erkenntnisse der Wissenschaft für ihre Zwecke nutzten. Private Institutionen wie Unternehmen haben zunächst kaum Gebrauch von der »Nudge-Agenda« gemacht bzw. kaum Kenntnis davon genommen. Dieses Phänomen erklärt auch, warum die Nudge-Agenda bzw. der Libertäre Paternalismus so sehr von einer breiten und kontroversen Debatte in der Wissenschaft, der Politik und den Medien begleitet wird.

»Nudge for Good«

Der Gedanke daran, andere Menschen gezielt in die gewünschte Richtung zu »stupsen«, lässt sicherlich nicht nur Fans von Psychothrillern und Kenner der menschlichen Geschichte skeptisch werden. Je nach Blickwinkel schwingt gleich der Verdacht nach Manipulation mit, besonders wenn dies den Betroffenen nicht unbedingt bewusst ist.16 Bürger befürchten, Nudges der Regierung könnten sie unbewusst und gegen ihren Willen beeinflussen. Besonders bei ethisch kontroversen Themen und Entscheidungen wie beispielsweise der Organspende fühlen sich viele unwohl und in privaten Angelegenheiten bevormundet. Um sich vor derartigen Vorwürfen zu schützen, sollten bei der Entwicklung und dem Einsatz von Nudges einige ethische Grundsätze berücksichtigt werden. Die Diskussion über den Libertären Paternalismus ist umfangreich und kontrovers. Politik, aber auch ein Verkäufer will immer beeinflussen bzw. seine Ideen oder Produkte an den »Kunden« bringen. Dazu wurden auch in der Vergangenheit immer wieder diverse Methoden eingesetzt. Neu am Nudging ist nur, dass psychologische Erkenntnisse systematisch und subtil (manchmal auch weniger subtil) eingesetzt werden.

Als Gestalter eines Nudges müssen wir uns stets unserer Verantwortung und der Einflussnahme, die wir auf andere ausüben, bewusst sein. Ein Nudge sollte sowohl den direkt Betroffenen als auch der Gesellschaft als Ganzes dienen und darf nicht ausschließlich dafür genutzt werden, seine eigenen, persönlichen Interessen durchzusetzen. Man kann Nudges nicht pauschal verteufeln oder lobpreisen. Oftmals funktionieren sie auch bewusst. So hilft die Bereitstellung von Informationen den Menschen dabei, ganz bewusst bessere Entscheidungen treffen zu können. Auch Selbstkontroll-Nudges helfen uns, erkannte Mängel in Entscheidungsprozessen zu beheben.17 Aber: Menschen möchten nicht immer genudged [24]werden. Transparenz ist sicherlich auch hier das Zauberwort. Möchte man feste Regeln durch Nudges ersetzen, dann sollte dies für die Betroffenen ersichtlich sein. Denn nur dann kann auch öffentlich darüber diskutiert werden.

In den letzten Jahren haben sich auch vermehrt Unternehmen bzw. die Geschäftswelt mit dem Konzept des Nudgings als kommerzielles Instrument beschäftigt. In der Produktentwicklung und im Marketing sind schon immer psychologische Erkenntnisse mit eingeflossen, um die Kundenentscheidungen zu beeinflussen.18 Manchmal mehr, manchmal weniger bewusst. Neu ist allerdings, dass Nudges nun auch in anderen Bereichen eines Unternehmens bzw. dessen Tätigkeiten Anwendung finden. Neben dem bereits erläuterten staatlichen Nudging existiert zunehmend ein sogenanntes »Corporate Nudging«.19 Corporate Nudging kann an zwei verschiedenen Adressaten ausgerichtet sein: Entweder werden die Nudges zur internen Veränderung oder Verbesserung des Unternehmens selbst verwendet (»Nudging the Corporate« z. B. bei der Mitarbeiterführung, im Change-Management oder im Bereich der Compliance).

Nudges im Alltag

Unmotivierte, schlecht vorbereitete Kolleginnen und Kollegen im Meeting? Da kann man doch Abhilfe schaffen! Setzen Sie das Meeting auf 40 Minuten statt 60 Minuten an. Unter Zeitdruck, beziehungsweise einem engeren Zeitrahmen, arbeitet es sich erfahrungsgemäß viel effektiver.20 Tipp: die Aussicht auf eine kurze intensive Sporteinheit statt einer langen hilft übrigens genauso bei der Motivationsfindung! Außerdem, der Satz: »Am Ende des Meetings wird eine kleine Feedbackrunde über das Dokument im Anhang durchgeführt« kann bei der Vorbereitungsmotivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahre Wunder bewirken.21

Nudges finden auch auf der kommerziellen Ebene in der Interaktion mit den Kundinnen und Kunden Anwendung, also zum Beispiel bei der Generierung von Erträgen (Vertrieb, Marketing) oder der Verbesserung der Kundenerlebnisse (UX). Insoweit lässt sich ein nach außen zum Kunden gerichtetes Nudging auch als »Nudging the Customer« bezeichnen (vgl. Abb. 3).22

[25]

Abb. 3: Einsatzbereiche von Nudges (Quelle: Eigene Darstellung)

2.2Homo oeconomicus vs. Homer Simpson: Warum brauchen wir Nudges?23

Schon Herbert Simon (1957) stellte fest, dass das menschliche Gehirn gar nicht in der Lage ist, alle relevanten Informationen zu verarbeiten. Simon prägte daraufhin den Begriff der begrenzten Rationalität. Kognitive Kapazitäten sind knapp bemessen, Entscheidungen basieren demnach häufig nicht auf allen relevanten Informationen. Stattdessen werden Entscheidungen lediglich mit dem Ziel befriedigender Lösungen getroffen. Dieser Mangel an Informationen und ihrer Verarbeitung kann allerdings zu fehlerhaften Entscheidungen führen.

Informationsverarbeitung unseres Gehirns

Pro Sekunde werden etwa 11 Millionen Sinneseindrücke in unserem Gehirn verarbeitet. Allerdings kann das menschliche Gehirn nur etwa 40 davon bewusst wahrnehmen. Die rigide Selektion an bewussten Informationen ist ein Schutzmechanismus, weil das Gehirn sonst überbelastet wäre. Die übrigen Wahrnehmungen, Bilder oder Gedanken sind im Unterbewusstsein abgespeichert und können leider nicht jederzeit abgerufen werden. Diese Relationen machen schnell deutlich, dass viele – wenn nicht alle – Entscheidungen nicht auf Basis vollständiger Informationen bzw. auf Basis der Verarbeitung aller Informationen getroffen werden (können).

Entscheidungsprozesse können fehlerhaft sein – bedingt durch sogenannte »kognitive Verzerrungen«. Verursacht werden diese Verzerrungen im Entscheidungsprozess wiederum durch Vereinfachungen und Daumenregeln. Je komplexer ein Problem, desto komplexer die nötigen Lösungen. Menschen fällt es beispielsweise schwer, riskante [26]oder unsichere Fragestellungen richtig ab- und einzuschätzen. In diesen Situationen substituieren laut Kahneman (2012) Menschen häufig in Entscheidungsprozessen die komplexe Analyse (oder die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten) durch simplere Regeln und vereinfachen damit die Lösung. Das Resultat sind sogenannte »Heuristiken« oder mentale Abkürzungen. Ein Beispiel ist die Stimmungsheuristik (»Mood heuristic«).24 In einer Umfrage wurden Studierende als Erstes gefragt, wie glücklich sie sind. Im Anschluss folgte die Frage, wie viele Verabredungen sie in letzter Zeit hatten. Beide Fragen korrelierten nicht miteinander. Wurden jedoch die Fragen in umgekehrter Reihenfolge gestellt, ergab sich ein vollkommen anderes Bild. Beide Fragen korrelierten hochgradig miteinander. Offensichtlich »nutzten« die Befragten die Frage nach den Verabredungen, um die recht komplexe Frage nach dem Glücksempfinden schnell und einfach zu beantworten. Sie vereinfachten damit die zweite Fragestellung, indem sie die Anzahl der Verabredungen als Substitut für ihre Stimmung einsetzten. Eine regelmäßige Anwendung dieser Heuristiken kann jedoch zu den oben genannten Verzerrungen in der Entscheidungsfindung führen. Grundsätzlich sind diese »Biases« weder irrational noch problematisch. Aber sie können zu systematischen Fehlurteilen führen.25

Eine wichtige Rolle spielen zudem Automatismen und Reflexionen im Denkprozess. Kahneman (2012) bezeichnete dies als »schnelles Denken« und »langsames Denken«.26 Häufig fallen Entscheidungen schnell und intuitiv. Hierbei denken zum Beispiel Verbraucher nicht lange nach, sondern entscheiden spontan und unreflektiert über Käufe. Geradezu automatisch. Beispielsweise lächeln Menschen spontan, wenn sie von Mitmenschen angelächelt werden. Deutlich seltener treffen sie ihre Entscheidungen dagegen langsam und bewusst. Bei komplexeren Fragestellungen (»Wie viel ist 43 mal 74?«) oder bei außergewöhnlichen und seltenen Ausgaben (z. B. Autokauf) entscheiden sie dagegen kontrolliert und rational. In diesen Situationen können sie sich weniger auf gewohnte Situationen oder ihre Intuition verlassen. Daher beschäftigen sich Verbraucher mit einem Autokauf intensiver und schenken dem Entscheidungsprozess deutlich mehr Aufmerksamkeit.

Schnelles Denken ist dagegen häufig mit sogenannten Daumenregeln und Heuristiken verbunden. Um schnell und spontan entscheiden zu können, bedienen sich Menschen dieser Hilfsmittel. Evolutionär war bzw. ist es eine Notwendigkeit, dass die vielen Entscheidungen des Alltags schnell und effizient getroffen werden können. Gigerenzer (2008) nennt sie »Bauchentscheidungen« und zeigt auf, dass diese Art der Entscheidungen häufig sehr gut sind (und unter Umständen auch zu besseren Ergebnissen führen können als »langsames Denken«). Allerdings – und hier liegt die Crux – wäre in manchen Situationen ein langsameres bzw. bedächtigeres Vorgehen besser gewesen.

[27]Dadurch kann es zu systematischen Verzerrungen kommen, die zum Beispiel der eigenen Gesundheit, der finanziellen Lage oder der Umwelt schaden können.

Das kognitive System muss sich also mit einer Reihe von psychologischen Phänomenen herumschlagen, die einerseits systematisch auftreten und anderseits im Entscheidungsprozess im Wege stehen kann. Die Auflistung dieser Phänomene ist inzwischen sehr umfangreich und geht weit über ein handhabbares Maß für Praktiker hinaus. Für das Corporate Nudging ist es daher hilfreich, diese Phänomene zu filtern und in Gruppen einzuteilen. Die Einteilung orientiert sich an fünf verschiedene Dimensionen, die im beruflichen bzw. geschäftlichen Umfeld von Bedeutung sein können.27 Die hier aufgezeigten Heuristiken und Biases sind eine subjektive Auswahl des breiten Spektrums an derartigen Phänomenen, die in den verwendeten Gruppierungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Im Glossar am Ende des Buches finden Sie eine umfangreichere Auflistung aller Heuristiken und Biases – inklusive einer kurzen Erläuterung –, die in diesem Buch erwähnt werden.28

2.2.1Handlungsorientierte Dimension

In dieser Dimension werden psychologische Phänomene zusammengefasst, die für Aktivität sorgen. Dies ist im unternehmerischen Kontext grundsätzlich positiv zu bewerten. Allerdings können das Niveau der Aktivitäten oder die Aktivitäten selbst möglicherweise (zu) wenig durchdacht sein. Typische Vertreter sind unter anderem

Selbstüberschätzung (Overconfidence Bias): Die Selbstüberschätzung beschreibt die Tendenz, eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten zu überschätzen. Komplexe Kontexte begünstigen die Neigung zur Selbstüberschätzung, wohingegen weniger facettenreiche Situationen die Tendenz verringern.Optimistische Voreingenommenheit (Optimism Bias): Die optimistische Voreingenommenheit resultiert aus der Überzeugung von Individuen, dass ihnen selbst im Gegensatz zu anderen Personen weniger Negatives widerfahren wird.Zeitinkonsistente Diskontierung (Hyperbolic discounting): Beträge sowie Gewinne werden aufgrund ihres zeitlichen Horizontes differenziert bewertet (diskontiert). Bei einer zeitinkonsistenten Diskontierung kann sich die Reihenfolge der Bewertungen im Zeitablauf ändern, so dass bereits getroffene Entscheidungen kurzfristig zugunsten anderer Optionen revidiert werden.[28]Planungsirrtum (Planning fallacy): Der Planungsirrtum beschreibt die Tendenz, dass Individuen dazu neigen, die benötigte Zeit für die Erledigung einer Aufgabe zu unterschätzen. Sie agieren zu optimistisch und planen für bevorstehende Projekte einen oftmals zu geringen Zeithorizont ein.

2.2.2Stabilitätsorientierte Dimension

Trägheit oder die Abneigung gegenüber Veränderungen sind immer wieder zu beobachtende menschliche Eigenschaften. Für die stabilitätsorientierte Dimension werden hier einige der wichtigsten Phänomene dargestellt:

Status-quo-Effekt: Menschen neigen dazu, bei einem Verhalten oder einem Produkt zu bleiben, auch wenn der Aufwand eines Wechsels gering und der Nutzen groß ist. Dieser Effekt ist bei hoher Komplexität der Entscheidung größer als bei einfachen Entscheidungen. Default-Regeln nutzen diese Neigung.Prokrastination: Dieser Begriff bezeichnet das zeitliche Hinausschieben von Entscheidungen oder Verhaltensänderungen und damit eine Fokussierung auf die Gegenwart. Durch diese Gegenwartstendenz werden langfristige Kosten, aber auch potenzieller Nutzen, nicht bzw. zu wenig in die Entscheidung einbezogen. Hyperbolische Diskontierung der Zukunft und mangelnde Selbstkontrolle führen systematisch zu »Kurzsichtigkeit« bei Entscheidungen.Verlustaversion: Mögliche Verluste werden in ihrer Bedeutung deutlich höher gewichtet als mögliche Gewinne. Der Referenzpunkt oder »Anker« – oft der Status quo in der Politikgestaltung – spielt eine zentrale Rolle, ebenso die Anfangsausstattung, über die das Individuum verfügt (siehe auch Endowment-Effekt und Anker-Effekt).Versunkene-Kosten-Falle (Sunk Cost Fallacy): Die Tendenz, weitere Ressourcen in ein bestehendes Projekt zu investieren, selbst wenn die Fortsetzung höhere Kosten als Nutzen aufweist. Individuen neigen dazu, an bestehenden Konzepten festzuhalten, da ein anfängliches Investment getätigt wurde und dieses nicht mehr amortisiert werden kann. Es handelt sich demnach um versunkene Kosten. Besonders anfällig für diese kognitive Verzerrung sind Situationen, in denen bereits viele Ressourcen aufgewendet wurden, die verwendeten Ressourcen nicht zum Erfolg geführt haben und die Individuen vor der Entscheidung stehen, das Projekt aufrechtzuerhalten oder es zu beenden.

2.2.3 Wahrnehmungsorientierte Dimension

Die Wahrnehmung von Menschen bestimmt zum großen Teil ihr Verhalten und ihre Entscheidungen. Einige Phänomene bewirken, dass Zusammenhänge wahrgenommen werden, die es so gar nicht gibt. Hier eine Auswahl der bekanntesten Phänomene:

[29]Framing: Die inhaltliche Darstellung von Informationen beeinflusst Entscheidungen enorm. Es ist beispielsweise entscheidend, ob eine Entscheidungssituation so dargestellt wird, dass Gewinne realisiert (»Gewinnframe«) oder aber Verluste vermieden werden können (»Verlustframe«). Beim Framing-Effekt wird die Entscheidungsfindung von der Art und Weise beeinflusst, wie Fakten präsentiert werden.Salienz: Lebendige und auffällige Informationen haben größeren Einfluss als abstrakte. Salienz (d. h. Sichtbarkeit, Auffälligkeit) fördert Aufmerksamkeit und damit informierte Entscheidungen. Je einfacher und verständlicher die Information, desto eher wirkt sie verhaltensleitend.Bestätigungs-Bias: Unrealistischer Optimismus entsteht durch das Überschätzen des Eintretens von guten Ereignissen im Vergleich zu schlechten. Beim sogenannten Bestätigungs-Bias neigen Individuen dazu, die Gültigkeit ihrer früheren Einstellungen und Erwartungen zu überschätzen.Verfügbarkeitsheuristik: Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses wird deutlich höher eingeschätzt, wenn es (irgendwo) kürzlich eingetroffen und damit salient ist.Rekognitionsheuristik: Es handelt sich um eine Urteilsheuristik, durch die Individuen in Entscheidungssituationen bereits bekannte Objekte gegenüber unbekannten favorisieren. Wiedererkannte Objekte lösen ein Gefühl der Vertrautheit aus, wodurch die Entscheidung simplifiziert und beschleunigt wird.Bestätigungsfehler (Confirmation Bias): Innerhalb der Entscheidungsfindung sowie Evaluation bevorzugen Individuen Informationen, die den eigenen Überzeugungen entsprechen. Der eigenen Sichtweise widersprechende Informationen werden demnach häufiger vernachlässigt. Diese Neigung resultiert aus dem menschlichen Bestreben, Hypothesen bestätigen zu wollen.

2.2.4Sozialorientierte Dimension

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Seine Entscheidungen berücksichtigen daher auch immer den sozialen Kontext, in dem er entscheidet. Soziale Normen und das Verhalten anderer Menschen spielen eine zentrale Rolle – vor allem in Bezug auf Lebensstil, Gesundheit und Risikoverhalten. Verhalten und Einstellungen von anderen können Informationskaskaden auslösen. Die Sorge um die eigene Reputation ist eng mit der Befolgung von sozialen Normen verbunden. Die soziale Dimension greift daher Phänomene auf, die im Kontext von sozialer Harmonie oder Konflikt stehen. Hier nun drei der wichtigsten Vertreter:

Herdenverhalten: Individuen tendieren dazu, sich an den Entscheidungen vorheriger Personen zu orientieren und diese zu imitieren, so dass es zu herdenähnlichem Verhalten kommt. Herdenverhalten kann in alltäglichen Entscheidungssituationen sowie verstärkt auf Finanzmärkten beobachtet werden.[30]Gruppendenken: Entsteht innerhalb von Gruppensituationen, in denen Individuen dazu neigen, sich der »allgemeinen« Meinung der Mehrheit anzuschließen, obwohl die eigene Sichtweise möglicherweise konträr ist.Sonnenblumen-Effekt (Sunflower Management): In Gruppensituationen neigen Individuen dazu, ihr Denken und Handeln an die Ansichten des Gruppenführers anzupassen. Sie verhalten sich folgsam, teilen ihre Gedanken selten mit der Gruppe und zeigen ein passives Verhalten. Der Sonnenblumen-Effekt geht häufig mit Innovations- sowie Kreativitätsverlusten innerhalb der Gruppe einher.

2.2.5 Interessenorientierte Dimension

Innerhalb dieser Dimension treten Phänomene auf, die auf Konflikte in der Incentivierung oder in der Interessenwahrnehmung hinweisen. Daneben können verzerrte Wahrnehmungen von früheren Entscheidungen und zu emotionale Verbundenheit einen Einfluss auf das (Eigen-)Interesse des Einzelnen haben. Drei typische Vertreter:

Fehlausrichtung individueller Anreize (Misaligned individual incentives): Die individuelle Zielsetzung erfolgt anhand eigener Vorstellungen, Erwartungen sowie Anreizen. Zielsetzungen einzelner Individuen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen weisen keine kontinuierliche Kompatibilität mit den allgemeinen Gruppenzielen auf, so dass sich in Gruppenprozessen, Entscheidungsverzerrungen sowie ungünstige Ergebnisse entwickeln können.Rückschaufehler (Hindsight Bias): Die Tendenz, Ereignisse sowie Ergebnisse im Nachhinein als vorhersehbar beziehungsweise als vorhergesehen einzustufen. Individuen sind der fehlgeleiteten Überzeugung, den Ausgang des Geschehens bereits vorher geahnt zu haben. Durch die neuen Erkenntnisse rücken vorherige Einschätzungen in den Hintergrund, was zu dieser Urteilsverzerrung führt.Heiß-kalte Empathielücke (Hot-cold empathy gap): Emotionale Zustände lassen sich in »kalte« und »heiße« Phasen unterteilen, die eine entscheidende Rolle im Entscheidungsverhalten einnehmen. Befinden sich Individuen in einer »kalten« Phase, ist ihr Verhalten weniger von Emotionen geprägt und kann demnach als rationaler eingestuft werden. In einer »heißen« Phase dominieren intensive Emotionen das menschliche Verhalten. Das Hot-cold empathy gap erschwert es Individuen, ihr Verhalten exakt zu prognostizieren, da Verhaltensprognosen auf Basis der momentanen emotionalen Verfassung getroffen werden und demnach von rationalen Entscheidungen abweichen können.

Diese Fülle an Heuristiken und Biases ist deshalb so beeindruckend, weil jedes einzelne Phänomen systematischer Natur ist. Sie kommen in stärkerer oder schwächerer Intensität in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen systematisch zum Tragen. Die Kenntnis von diesen kognitiven Prozessen ist die Grundlage für eine Analyse der Entscheidungsarchitekturen, die mithilfe von Nudges verändert werden sollen. Gelingt es, [31]die Dimension oder gar einzelne Phänomene als Ursache für das zu beobachtbare (Entscheidungs-)Verhalten herauszuarbeiten, können mit passenden Nudges die Entscheidungsarchitekturen zum Beispiel von Mitarbeitern oder Kunden verändert werden.

2.3Anwender von Nudges: Wer stupst wen und warum?

Der Einsatz von Nudges ist – wie bereits erwähnt – zuerst durch Regierungen und andere öffentliche Einrichtungen initiiert worden. Zu den Vorreitern zählen die Regierungen der USA sowie Großbritanniens. Das britische Behavioural Insights Team (BIT), meist als »Nudge Unit« bezeichnet, war die erste Regierungseinrichtung, die sich mit der Umsetzung von verhaltensökonomischen Erkenntnissen befasste.29 Inzwischen hat sich das BIT als Unternehmen etabliert, das Organisationen im In- und Ausland berät und unterstützt. Auch in anderen Ländern werden Behörden zunehmend auf das Potenzial der Verhaltensökonomie aufmerksam und sehen Nudging als günstige, aber effektive Alternative zu Gesetzen und Verordnungen. So hat inzwischen auch Deutschland die Verhaltensforschung entdeckt, um »wirksam zu regieren«.30 Der World Development Report Mind, Society and Behaviour 2015 (World Bank Group 2014) gibt wohl den umfassendsten, länderübergreifenden Überblick über die Auswirkungen menschlichen Verhaltens auf die Entwicklung einer Region oder eines Landes. Der Bericht basiert weitgehend auf den Vorarbeiten und Erfahrungen des BIT und anderer Forscher und Organisationen, die von der Verhaltensökonomie inspiriert sind.

Das »klassische« Nudging entspricht also einem Nudging von »Staats wegen« (vgl. Abb. 4). Das staatliche Nudging gibt es in zwei Ausprägungen: Erstens soll der bereits erwähnte Libertäre Paternalismus Menschen dabei unterstützen, ihre Ziele zu erreichen. Hintergrund ist eine (vermutete) Interessengleichheit zwischen Regierung und Bürgern. Der Staat hilft demnach seinen Bürgern, die richtigen Entscheidungen zu treffen.31 Dieser unmittelbare Einfluss auf die Entscheidungsarchitektur entspricht am ehesten dem Entgegenwirken des erwähnten Marktversagens durch begrenzt rationale Entscheidungen.

Beispiel: Organspende

Das Thema Organspende wird immer wieder in vielen Gesellschaften breit und emotional diskutiert. Zuletzt wurde in Deutschland eine neue Regelung vereinbart. Organspende ist ein beliebtes Beispiel für den Libertären Paternalismus. Denn grundsätzlich gehen wir in unseren Gesellschaften davon aus, dass ein funktionierendes Organspendesystem im Interesse [32]aller ist. Eine Umsetzung ist aber nicht immer einfach, weil es häufig an potenziellen Spendern mangelt. Faktisch kommt es – trotz einer sehr guten Infrastruktur im Gesundheitssystem zwischen Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen – nur zu wenigen Organspenden. Sie decken den tatsächlichen Bedarf an Spenden nicht ab, so dass es zu langen Wartezeiten und Todesfällen kommen kann. Obwohl in der Bevölkerung die Zustimmung zur Organspende hoch ist, kann es dennoch zu wenige Spender geben. Eine mögliche Ursache liegt in der Trägheit der Bürger. Wenn das Organspendesystem eine aktive Teilnahme der Spender voraussetzt (das sogenannte Opt-in-Modell), dann stellt diese vom Bürger selbst vorzunehmende Eintragung in eine Spenderdatenbank möglicherweise schon ein schwerwiegendes Hindernis dar. Stattdessen kann das System auf eine sogenannte Opt-out-Lösung setzen. Hier werden zunächst alle Bürger automatisch Mitglied der Spenderdatenbank. Jeder Bürger kann sich aber aktiv gegen eine Teilnahme entscheiden und sich aus der Datenbank austragen lassen. Der Optionenraum der Bürger wird also nicht verändert, aber die Entscheidungsarchitektur wird auf den Kopf gestellt. So verhält es sich zum Beispiel bei der Organspende in Österreich: Per Standardeinstellung werden alle Bürgerinnen und Bürger automatisch zu potenziellen Organspendern, solange sie sich nicht aktiv dagegen entscheiden. In derartigen Opt-out-Systemen ist die Spenderanzahl in der Regel deutlich höher.

Abb. 4: Charakteristika des staatlichen Nudgings