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Frederick Taylor

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Beschreibung

Tod aus der Luft. Das Inferno von Coventry und seine Folgen

Am Abend des 14. November 1940 begann die Bombardierung der englischen Industriestadt Coventry durch die deutsche Luftwaffe. Innerhalb weniger Stunden wurde ein Großteil der Stadt zerstört. Der Angriff, der keinem unmittelbaren militärischen Nutzen folgte, entfachte nicht nur den britischen Widerstandswillen, er wurde auch zum Symbol einer neuen Art der Kriegführung – und zu einem Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg.

Fassungslos reagierte die britische Bevölkerung auf die Zerstörung der historischen Metropole und die Gleichgültigkeit des deutschen Gegners angesichts der zivilen Opfer. Zudem trug die Bombardierung Coventrys wesentlich dazu bei, dass die öffentliche Meinung in den USA umschlug zugunsten eines Kriegseintritts an der Seite Großbritanniens. In der Folge wurde die »Coventry-Taktik« aber auch zur Blaupause: Mit diesem Bombardement rechtfertigten die Alliierten spätere Angriffe auf deutsche Städte wie Dresden.

Frederick Taylor, einer der renommiertesten englischen Neuzeithistoriker, rekonstruiert den Angriff und seine historische Bedeutung nicht nur aus der Perspektive der beiden Kriegsparteien, er verleiht auch den Opfern des Infernos eine Stimme. Ein erschütterndes Zeitdokument – und ein Meisterwerk angelsächsischer Geschichtsschreibung.

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Am Abend des 14. November 1940 begann die Bombardierung der englischen Stadt Coventry durch die deutsche Luftwaffe. Innerhalb weniger Stunden wurden erhebliche Teile der Stadt zerstört, hunderte Todesopfer waren zu beklagen. Der Angriff, der keinem unmittelbaren militärischen Nutzen folgte, sondern ein strategischer Schachzug der Wehrmacht war, wurde zum Symbol einer neuen Art der Kriegführung – und zu einem entscheidenden Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Der renommierte Neuzeithistoriker Frederick Taylor rekonstruiert die Ereignisse nicht nur aus der Perspektive der beiden Kriegsparteien, er verleiht auch den Opfern des Infernos eine Stimme. Ein erschütterndes Zeitdokument – und ein Meisterwerk angelsächsischer Geschichtsschreibung.

Zum Autor

Frederick Taylor hat Neue Geschichte und Germanistik studiert und ist Fellow der Royal Historical Society. Seit vielen Jahren forscht und publiziert er zur deutschen Geschichte, sein Buch über die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg »Dresden. Dienstag, 13. Februar 1945« (2004) wurde ein internationaler Bestseller. Zuletzt erschienen »Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989« (2009), »Zwischen Krieg und Frieden. Die Besetzung und Entnazifizierung Deutschlands 1944–1946« (2011) sowie »Inflation. Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas« (2013).

»Frederick Taylor ist einer der klügsten Historiker, die derzeit Bücher schreiben.«

Newsweek

Frederick Taylor

COVENTRY

DER LUFTANGRIFF VOM 14. NOVEMBER 1940: WENDEPUNKT IM ZWEITEN WELTKRIEG

Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Hans Freundl

Siedler

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Die englischsprachige Ausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Coventry. Thursday, 14 November 1940« bei Bloomsbury, London/New York.

Erste AuflageNovember 2015Copyright © Frederick Taylor 2015Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Abbildung von © Keystone/Getty ImagesRedaktion: Andreas Wirthensohn, MünchenSatz: Ditta Ahmadi, BerlinKarten: Peter Palm, BerlinISBN 978-3-641-16581-9www.siedler-verlag.de

In Erinnerung an Götz Bergander, geb. 1927 in Dresden, gest. 2013 in Berlin

These houses are deserted, felt over smashed windows, No milk on the step, a note pinned to the doorTelling of departure: only shadowsMove when in the day the sun is seen for an hour,Yet to me this decaying landscape has its uses:To make me remember, who am always inclined to forget,That there is always a changing at the root,And a real world in which time really passes.

PHILIP LARKIN, »NEW YEAR POEM«

Inhalt

Einleitung

1 Wolle, Knöpfe und Zündmagneten

2 »Der Bomber kommt immer durch«

3 Boom

4 Warten auf die deutsche Luftwaffe

5 »Blitz«

6 Störangriffe

7 Knickebein

8 »Korn«

9 Die Suche nach dem Leitstrahl

10 Alarmstufe Rot

11 »Executive Cold Water«

12 »Eine wogende Masse aus Flammen«

13 Tod in den Vororten

14 Die lange Nacht geht zu Ende

15 Die gepeinigte Stadt

16 »Haben wir den Mut verloren?«

17 Die Lebenden und die Toten

18 Coventriert?

19 Trotz

20 »Gott sei Dank, ihr lebt!«

21 Resurgam

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Literatur

Personen- und Sachregister

Einleitung

Die nahezu völlige Zerstörung Coventrys im Jahr 1940 gehört zu den bekanntesten Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Tatsächlich war die historisch und industriell bedeutende Stadt in Mittelengland fast zwei Jahre lang, von August 1940 bis Juni 1942, Angriffen der deutschen Luftwaffe ausgesetzt. In dieser Zeit erlebten die 240000 Einwohner Coventrys ihren eigenen »Blitz«. Doch die vielen anderen Menschen weltweit, die bei dem Namen Coventry immer noch das Bild einer über Nacht zerstörten Stadt vor Augen haben, denken an den massiven zwölfstündigen Bombenangriff vom 14. auf den 15. November 1940. Viele wissen nicht einmal, dass die Stadt auch davor und danach bombardiert wurde und dass bei diesen anderen Angriffen mehr Bewohner umkamen als in jener Novembernacht.

Gleichwohl stellt dieser eine Angriff für die Bewohner der Stadt bis heute eine zentrale Erfahrung dar, und er ist das Kernelement der Legende, die sich um die Stadt und ihre Rolle bildete. Dass diese Legende von der Kriegspropaganda der britischen Regierung zum eigenen dauerhaften und erheblichen Vorteil gepflegt wurde, macht das Schicksal der Stadt nicht weniger grausam – ein Schicksal, das damals besonders schockierend war, weil Bombenangriffe in der Vorstellung der Öffentlichkeit nach wie vor zumindest in gewisser Weise mit den »eigentlichen« Kampfhandlungen auf dem Boden in Verbindung gebracht wurden.

So war es Ende September 1939 im Falle der polnischen Hauptstadt Warschau gewesen, die sich im Belagerungszustand befand, als die deutsche Luftwaffe mit ihren Angriffen schreckliche Zerstörung anrichtete. Und auch als im Mai des folgenden Jahres die historische Altstadt von Rotterdam in Schutt und Asche gebombt wurde, wollten die Deutschen die niederländische Hafenstadt damit zur Kapitulation zwingen. Selbst die vereinzelten Bombenangriffe auf London in den ersten Wochen der »Luftschlacht um England« und natürlich die Angriffe auf Luftwaffenstützpunkte und einzelne Fabriken entsprachen noch dieser gängigen Vorstellung. Dass Flugzeuge feindlichen Anlagen und Einrichtungen aus der Luft Schaden zufügen konnten, stand außer Zweifel. Schon im Ersten Weltkrieg und insbesondere in den letzten beiden Kriegsjahren hatten beide Seiten solche Angriffe für legitim erachtet, obwohl sie wiederholt entsetzliche Kollateralschäden unter Zivilisten anrichteten. Allerdings hatte sich die Zerstörungskraft dieser zunächst als legitim geltenden Luftangriffe durch Fortschritte in Militärtechnik und Bewaffnung im folgenden Vierteljahrhundert enorm vergrößert (was ihre moralische Rechtfertigung eigentlich hätte erschweren müssen).

Der erste große Angriff auf Coventry durch mehr als 500 deutsche Bomber, die ein neu entwickeltes Funkpeilsystem nutzten, um ihr Ziel zu orten, stellte sowohl quantitativ als auch qualitativ eine prinzipielle Veränderung der Luftkriegführung dar und warf eine ganz grundsätzliche Frage auf: Wie viel Schaden darf sowohl zivilen als auch militärischen Zielen unterschiedslos zugefügt werden, ohne dass die angebliche Legitimität einer solchen militärischen Methode in Zweifel gezogen werden muss? Nach dem großen Angriff auf Coventry war klar, dass Luftangriffe nicht mehr nur taktischen und unmittelbaren, sondern auch strategischen und langfristigen Zielen dienten. Direkte militärische Erfordernisse, die traditionell als legitime Rechtfertigung gegolten hatten, waren dabei nicht mehr unmittelbar relevant. Welche Fabriken oder Einrichtungen konkret beschädigt wurden, war immer noch wichtig, hatte aber in einem Bombenkrieg, bei dem nicht mehr die sofortige Ausschaltung feindlicher Anlagen, sondern die langfristige Zermürbung des Feindes im Vordergrund stand, an Bedeutung verloren. Im Zuge dieser Entwicklung wurde der Schutz der Zivilbevölkerung – der schon immer ein eher zweifelhafter Grundsatz gewesen war – unvermeidlich fast völlig aufgegeben.

Der schiere Schock und die Neuartigkeit des Angriffs auf Coventry trugen zur Entstehung mehrerer Legenden bei. Die hartnäckigste lautet, die Stadt sei »geopfert« worden: Angeblich wurde auf Churchills Betreiben nichts unternommen, um die Luftverteidigung Coventrys zu verbessern, weil die unschätzbar wertvolle Tatsache, dass die Briten verschlüsselte deutsche Funksprüche lesen konnten, um jeden Preis geheim gehalten werden sollte. Durch einen solchen Funkspruch, so die Legende, war die britische Regierung im Voraus über den Angriff informiert, nutzte die Information aber nicht, um die Zerstörung Coventrys zu verhindern, weil sie fürchtete, der Feind könne dadurch erkennen, dass sein Nachrichtenverkehr entschlüsselt wurde.

Die Regierung erfuhr offenbar tatsächlich (wenn auch nur sehr kurz zuvor) von dem Angriff. Dennoch wirft die Theorie, die Stadt sei »geopfert« worden, eine ganze Reihe von Problemen auf: Zunächst einmal erfuhr die Regierung gar nicht durch entschlüsselte Nachrichten, sondern durch die klassische Geheimdienstmethode der »human intelligence« (also aus menschlichen Quellen) von dem geplanten Angriff. Zweitens wurden durchaus Maßnahmen zum Schutz der Stadt getroffen, nur waren diese weder leicht erkennbar noch erfolgreich. Drittens entschied sich die Regierung tatsächlich dagegen, Coventry vor dem Angriff zu warnen. Doch diese Entscheidung hatte höchstwahrscheinlich nichts mit »Ultra«, der ultrageheimen Entschlüsselung des deutschen Funkverkehrs, zu tun, sondern beruhte ausschließlich auf der nüchternen Abwägung zwischen dem möglichen humanitären Erfolg einer Warnung und dem Risiko einer dadurch ausgelösten Panik.

Hartnäckige Legenden sind häufig Folge großer Katastrophen, und ganz besonders gilt das für verheerende Bombenangriffe. Wie ich bei den Recherchen für mein Buch über die Bombardierung Dresdens erleben musste, ist es sehr schwer, solchen Geschichten zu widersprechen, wenn sie sich erst einmal im kollektiven Bewusstsein der Überlebenden festgesetzt haben. Dabei spielt ohne Zweifel der desorientierende Schock solcher Ereignisse eine Rolle. Sie brechen über das friedliche Alltagsleben ziviler Opfer herein, von denen die meisten zuvor keine Erfahrungen mit den Schrecken des Krieges gemacht haben. Tatsächlich können die Überlebenden es als unverschämt und sogar als beleidigend empfinden, wenn ein Historiker eine alternative Darstellung vorlegt.

Genau wie die Bewohner Dresdens waren auch die Menschen in Coventry durch das gleichmäßige Tempo des modernen Lebens mit seinen als selbstverständlich erachteten Sicherheiten und seiner scheinbaren Vorhersehbarkeit kaum auf die Zerstörung vorbereitet, die so plötzlich vom Himmel kam. In früheren Jahrhunderten waren Städte wenigstens über den Anmarsch des Feindes informiert und hatten Zeit, sich psychisch und physisch auf den Angriff einzustellen. Auch konnten sie sich natürlich auf Kapitulation oder Flucht vorbereiten. Demgegenüber gab es im modernen Luftkrieg für den einzelnen Zivilisten keinen solchen Trost, wie schwach auch immer er sein mochte; die Zerstörung, die ein Bombenangriff anrichtete, erfolgte augenblicklich und war fürchterlich. Es ist immer faszinierend und aufschlussreich, wenn auch grausam, sich mit den Empfindungen vom Krieg heimgesuchter Menschen zu befassen. Und im Falle von Zivilisten ist dies aus den oben erwähnten Gründen besonders interessant.

Ich selbst bin in den 1950er Jahren in anständigen, aber bescheidenen Verhältnissen am Rand einer wohlhabenden englischen Stadt aufgewachsen und erlebte einen Schock des Wiedererkennens, als ich die vielen lebendigen Berichte betroffener Bürger aus der Innenstadt und den Vorstädten Coventrys las. Das mit einem Schlag unterbrochene Leben, das sie schildern, gleicht bis auf ein paar unwesentliche Details dem meiner frühen Kindheit in einem Nachkriegsengland, das vor der nahezu universellen Ausbreitung des Fernsehens und des Autos und vor der Wir-hatten-es-noch-nie-so-gut-Konsumgesellschaft dem England vor dem Krieg noch sehr ähnlich war.

Es geht in diesem Buch deshalb nicht nur um eine Stadt, die von den neuen und immer verheerenderen Errungenschaften der Militärtechnik heimgesucht und verwüstet wurde. Solche Städte gab es viele in Europa und, mit zunehmender Dauer des Krieges, insbesondere in Deutschland. Es geht auch um eine Lebensweise, eingefangen im Augenblick ihrer Auflösung. Als traditionsreiche, historisch bedeutsame Stadt und als schnell wachsende Boomtown der Rüstungsindustrie war Coventry ein ganz besonderer und seltener Ort. Tatsächlich sollte es nach dem Krieg trotz seiner Zerstörung noch ein weiteres Vierteljahrhundert eine florierende Stadt bleiben, bis hinter den chronischen Symptomen der britischen Industrie die tödliche ökonomische Krankheit sichtbar wurde, die sich so lange dahinter verborgen hatte. Eine Eigenschaft freilich, die Coventry besessen hatte und deren es sich nach dem 15. November 1940 nicht mehr rühmen konnte, war die, »eine wirklich alte und malerische Stadt« zu sein. Dies sind die Worte J. B. Priestleys, des bekannten britischen Schriftstellers, der Coventry 1933 besuchte – in dem Jahr also, in dem Adolf Hitler an die Macht kam. »Ich wusste, dass es eine alte Stadt ist«, schrieb er, »dennoch war ich überrascht, wie viel aus der Vergangenheit in stolz ragendem Stein und geschnitztem Holz noch in der Stadt erhalten war.«1

Obwohl die modernen Stadtplaner die besten Absichten verfolgten, wurde Coventry nach dem Krieg zum Inbegriff brutaler und seelenloser Sanierung, eine Entwicklung, die die Schrecken von Coventrys »Blitz« noch verschärfte.

Im November 2015 ist es 75 Jahre her, eine mehr als biblische Lebensspanne, dass Coventry die schlimmste Nacht des beinahe zweijährigen Martyriums erlebte, das die Stadt der barbarischsten militärischen Erfindung des 20. Jahrhunderts verdankte: der Bombardierung aus der Luft. In den Jahrzehnten seit jener Nacht haben wir die ohne Pilot fliegende Bombe, die Rakete, die Atom- und die Wasserstoffbombe bekommen. Und jetzt auch noch die computergesteuerte Drohne: Ihre »Piloten« sitzen vor einem Computerbildschirm, Hunderte oder gar Tausende Kilometer von ihren Opfern entfernt. Einst trotzten Männer der Flak und den Nachtjägern des Feindes, um Tod und Verderben auf ihre Mitmenschen herabregnen zu lassen. Sie riskierten ihr Leben, und oft verloren sie es auch. Dieser Umstand sorgte vielleicht für ein Mindestmaß an moralischer Ausgewogenheit. Das Ergebnis jedoch ist gestern wie heute das Gleiche: Tod aus der Luft, plötzlich und gnadenlos für Zivilisten und Soldaten, Schuldige und Unschuldige, Junge und Alte ohne jeden Unterschied. Bei allem, was unschuldige Menschen seither Schlimmeres – und viel Schlimmeres – heimgesucht hat, ist und bleibt Coventry dafür ein warnendes Beispiel.

1 Wolle, Knöpfe und Zündmagneten

Insbesondere in Nordeuropa dürfte es kaum eine Stadt von historischer Bedeutung geben, deren Frühzeit man mit Nacktheit in Verbindung bringt. Bei Coventry ist das der Fall.

Die Geschichte ist wohlbekannt:1 Im 11. Jahrhundert ergriff Lady Godiva, die Frau des Grafen Leofric von Mercien (dem Teil des angelsächsischen England, der sich in der Mitte des Landes erstreckte), für die Untertanen ihres Mannes Partei, als diese gegen ihre erdrückende Steuerlast protestierten. Daraufhin sagte der Graf vermutlich im Scherz, er werde die Steuern aufheben, wenn sie nackt durch die Stadt Coventry reite. Sie war einverstanden, ließ jedoch verkünden, kein Bürger dürfe ihr bei dem Ritt zuschauen. Die Bewohner der Stadt respektierten den Wunsch ihrer tugendhaften Lady, als diese durch die Stadt ritt, wobei ihre Blöße angeblich von ihren langen goldenen Haaren bedeckt war. Nur ein junger Mann konnte seine Neugier nicht zügeln, bohrte ein Loch in seine Haustür und spähte hinaus. Er wurde angeblich mit Blindheit geschlagen und erhielt den Spitznamen Peeping Tom, ein Ausdruck, der heute noch als Schimpfwort für Voyeure benutzt wird. Der Graf wiederum hielt Wort und verringerte die Steuerlast – einer der Gründe, warum der Geschichte ein Hauch von Legende anhaftet.

Die Legende selbst entstand offenbar erst 200 Jahre später, im 13. Jahrhundert, und ist trotz ihres Alters ziemlich sicher erfunden (insbesondere das Element des Peeping Tom, das vermutlich noch viel jüngeren Ursprungs ist). Lady Godiva selbst jedoch hat definitiv existiert, wenngleich der Name eine Latinisierung des im angelsächsischen England sehr häufigen weiblichen Vornamens »Godgifu« (Gottgegebene) ist. Die offenbar für ihre Frömmigkeit und Schönheit berühmte Frau entstammte einer angesehenen Familie aus dem Westen Merciens und besaß selbst sehr viel Land. Sie spendete großzügig an die Kirche, gründete mehrere religiöse Einrichtungen und überlebte nicht nur ihren Ehemann Leofric, sondern offenbar auch die Eroberung Englands durch die Normannen, die gegen Ende ihres Lebens stattfand.

Es ist nicht sicher, ob Coventry im 11. Jahrhundert selbst nach damaligen Maßstäben schon eine richtige Stadt war. Der einzige dezidierte Hinweis besteht darin, dass Godiva und ihr Mann 1043 dort ein Ordenshaus gründeten: eine reich ausgestattete Priorei, die der Gottesmutter Maria geweiht war. Um das Kloster herum, das wie die meisten mittelalterlichen Gründungen nicht nur religiöses, sondern auch wirtschaftliches Zentrum war, begann die Bevölkerung zu wachsen. Im Domesday Book (1086) ist Coventry mit einer Bevölkerung von weniger als 300 Personen verzeichnet, aber vielleicht war aus bürokratischen Gründen das damals schon bestehende weitere Stadtgebiet darin nicht enthalten, wenn es überhaupt ein solches gab.2 Im 14. Jahrhundert jedoch war Coventry zweifellos eine wichtige befestigte Stadt geworden, ein Bischofssitz mit Kathedrale und Priorei, einem blühenden Markt und einer Bevölkerung von 5000 bis 10000 Einwohnern. Damit war es die viertgrößte Stadt des gesamten Königreichs England, übertroffen nur von Bristol, Norwich und London.3

Ein wichtiger Grund für das schnelle Wachstum der Stadt und den daraus resultierenden Wohlstand war der Fluss Sherbourne. Er floss mitten durch die Stadt und bildete dort einen großen See, an den heute noch das Stadtviertel Bablake und die historisch bedeutende Bablake-Schule erinnern. Fluss und See lieferten Wasser und Wasserkraft für Mühlen und andere Betriebe. Auch Brenn- und Bauholz war, insbesondere im nahe gelegenen Forest of Arden, reichlich vorhanden. Der charakteristische rote Sandstein Coventrys wurde unweit der Stadt in den Steinbrüchen Whitley und Cheylesmore abgebaut. Gutes urbares Land und eine ausgedehnte Allmende, die eine hervorragende Schafweide abgab, waren in der Umgebung reichlich vorhanden. Auch war Coventry dank seiner Lage in Englands Mitte und seiner Nähe zu den ehemaligen Römerstraßen Watling Street und Fosse Way, die im Mittelalter immer noch wichtige Verkehrswege darstellten, ein idealer Standort für den Handel.

Die Stadt wurde in ihrer Geschichte wiederholt als eine Art Boomtown klassifiziert. Als handwerkliches Zentrum wurde sie erstmals im 14. Jahrhundert für ihre Textilfärberei bekannt (ein Handwerk, für das der Fluss sehr wichtig war). Konkret wurde sie der bekannteste Produzent eines hochwertigen und waschechten azurblauen Farbstoffs, den man aus den Blättern von Färberwaid (Isatis tinctoria) herstellte. Im Hochmittelalter wurden die teuren »coventryblau« gefärbten Stoffe nach ganz Europa exportiert und brachten der Stadt großen Reichtum. Die Gewinne waren so groß, dass die genaue chemische Zusammensetzung des Farbstoffs offenbar ein streng gehütetes Geheimnis blieb. Ein Buch mit englischen Sprichwörtern aus dem 17. Jahrhundert bringt die Stadt mit dem Ausdruck »true blue« (waschecht) in Verbindung. Der komplette Eintrag lautet: »true as Coventry blue« (waschecht wie Coventryblau).

Auch heute, da der Wollhandel längst einer fernen Vergangenheit angehört, ist der berühmte Farbstoff noch fest im Gedächtnis der Stadt verankert: durch das himmelblaue Trikot der örtlichen Fußballmannschaft, deren Spieler bis heute »Sky Blues« genannt werden.

Coventry wurde im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit eine Stadt der gut bestückten Kirchen. Die »Three Spires«, die hohen Kirchtürme von St. Michael’s, Holy Trinity und Christ Church, beherrschten die Silhouette der Stadt und wurden ihr berühmtes Wahrzeichen. Zugleich jedoch blieb sie auch immer ein Ort der praktischen Arbeit und des Handwerks. Im englischen Bürgerkrieg war sie eine Hochburg der Parlamentarier. Im August 1642 verteidigte eine Streitmacht aus Bürgern Coventrys und Soldaten des Parlaments die Stadt erfolgreich gegen eine Belagerung der Royalisten. Danach stand Coventry fest aufseiten des Parlaments und später des Lordprotektors Oliver Cromwell. Tatsächlich ist die Wendung »jemanden nach Coventry schicken«, also ihn absichtlich zu meiden oder zu ignorieren, vielleicht von der einsilbigen Art abgeleitet, mit der die Bürger der Stadt damals Royalisten behandelten, die das Pech hatten, dort als Gefangene zu landen. Als Strafe für diese Haltung ließ Karl II. nach der Wiederherstellung der Monarchie im Jahr 1660 die teure und prestigeträchtige, mehr als drei Kilometer lange Stadtmauer Coventrys schleifen. Nur ein paar Sandsteintore und kurze Mauerabschnitte blieben erhalten.

Allerdings brauchte eine englische Stadt ohnehin keine Mauern mehr, als nach dem Tod Karls II. und seines Nachfolgers Jakobs II. zu Beginn des 18. Jahrhunderts das »Zeitalter der Freiheit« anbrach. Im Jahr 1707 wurden England und Schottland vereinigt. Es war höchste Zeit, dass das neu konstituierte Großbritannien reich wurde und mit ihm Coventry. Nach dem Niedergang des Färbergewerbes Anfang des 16. Jahrhunderts hatte die Stadt, jedenfalls im Vergleich zu ihrem früheren Wohlstand, eine magere Zeit erlebt. Nun jedoch wurde die Mischung aus protestantischem Nonkonformismus, harter Arbeit und häuslicher Tugend, die die Stuart-Könige so erzürnt hatte, zum Antrieb für ihren erneuten Aufstieg.

In Coventry hatte es schon vor dem Bürgerkrieg etwas Seidenweberei gegeben, und zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich dort, nicht zuletzt dank des Knowhows aus Frankreich geflohener Hugenotten, die Bandweberei etabliert. Im Jahr 1705 wurde der Seidenweber William Bird Bürgermeister. Das Gewerbe wuchs schnell, wozu auch der Bau eines zusätzlichen Wasserwegs beitrug, der die Stadt auf der einen Seite mit Birmingham und auf der anderen Seite mit Oxford verband. Auch eine nördliche Verbindung zum Trent and Mersey Canal wurde gebaut. Schon bald war die Bandweberei die tragende Säule im Wirtschaftsleben der Stadt. Nach den Napoleonischen Kriegen besaß sie etwa 5000 Handwebstühle und etwa 3000 Webmaschinen, und etwa 10000 Einwohner lebten von dem Gewerbe. Vierzig Jahre später, als die Stadt eine Bahnverbindung besaß, mit der ihre Waren noch schneller überall im Land auf den Markt gebracht werden konnten, war ihre Zahl auf 25000 gestiegen.

Im 18. Jahrhundert erlebte Coventry zudem ein weniger spektakuläres, aber umso zukunftsträchtigeres Wachstum des Uhrmachergewerbes und wurde neben dem Londoner Stadtteil Clerkenwell und neben Prescot in Lancashire zu einem Zentrum dieses präzisen, hohe Anforderungen stellenden Handwerks. Bis zur Mitte des Jahrhunderts waren in Coventry mehrere Tausend hoch spezialisierte Arbeiter mit der Produktion von Uhren beschäftigt. Die Blütezeit des Gewerbes war allerdings relativ kurz. Ab 1880 begannen amerikanische und schweizerische Hersteller die Fabriken in Coventry zu unterbieten, doch dank der Uhrenherstellung verfügte es nun über ein Reservoir an hoch qualifizierten Arbeitern, für das es berühmt wurde. Dieses Arbeitskräftepotenzial war lebenswichtig für die neuen Maschinenbaubetriebe, die die Uhrmacherei schon bald ersetzten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebte die Produktion von Nähmaschinen und Fahrrädern eine Blüte.

Dann, 1897, wurde in Coventry der erste britische Personenkraftwagen hergestellt. Er lief mit dem Dieselmotor, den Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach in Deutschland entwickelt hatten, und wurde unter dem Namen Daimler vertrieben. Schon 1907 war die Fahrrad- und Autoindustrie mit etwa 5400 ausschließlich männlichen Arbeitern (einem Viertel der arbeitenden Bevölkerung Coventrys) der bei Weitem größte Arbeitgeber der Stadt.4 Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde Coventry berühmt für seine Motorräder, Autos und Werkzeugmaschinen und schließlich auch für seine Flugzeugindustrie. Singer, Daimler (mit seinem deutschen Patent), Triumph (übrigens von den deutschen Einwanderern Moritz Schulte und Siegfried Bettmann gegründet), Standard, Alvis, Humber, Armstrong Siddeley und Rootes entwickelten sich allesamt zu international bekannten Automarken. Außerdem erwarb sich Coventry einen Ruf als Produktionszentrum für Ketten (Antriebsketten für Fahrräder, Motorräder und andere Motorfahrzeuge).

Im Jahr 1901 hatte die Stadt knapp 70000 Einwohner, das heißt, die Einwohnerzahl hatte sich im Lauf des vergangenen Jahrhunderts vervierfacht.5 Viktorianische und edwardianische Vorstädte, vorwiegend mit Reihenhäusern, breiteten sich rasch um den historischen Stadtkern und seine unmittelbare Umgebung herum aus. In diesem Kernbereich hatten sich 100 oder 150 Jahre zuvor die alten Handwerksmeister niedergelassen. Sie betrieben oft Werkstätten im obersten Stock ihrer Häuser, die man in Coventry als »Top Shops« bezeichnete. In allen Dächern waren Oberlichter eingebaut, die den Beschäftigten mit ihrem zusätzlichen Licht die präzise und sehr feine Arbeit erleichterten. Coventry wurde bekannt dafür, dass seine Fabriken, Werkstätten und Wohnhäuser gemischt nebeneinanderlagen.

Selbst als im 20. Jahrhundert die neue Maschinenbauindustrie expandierte, blieb diese Struktur erhalten. Mehrere wichtige Werke der Autoindustrie lagen sehr nahe am Stadtzentrum. Die Vorstädte wuchsen rasch weiter. Dabei gruppierten sich die Häuser der Arbeiter um die Auto-, Werkzeugmaschinen- und Flugzeugwerke. Selbst die Seidenindustrie, die nicht mehr das Hauptgewerbe der Stadt, aber immer noch wichtig war, brachte sich auf den neuesten technischen Stand, als 1904 in der äußeren Vorstadt Foleshill die Courtaulds Silk Works gebaut wurden. Sie sollten später die ersten britischen Kunstfasern, darunter auch Nylon, herstellen.

Laut dem Zensus von 1911 hatte die Bevölkerung der Stadt innerhalb nur zehn Jahren um weitere 50 Prozent zugenommen und bestand nun aus 106349 Einwohnern. Dann kam der Erste Weltkrieg. Die europäische Katastrophe brachte Millionen Menschen Leid und Tod, aber Coventry und vielen anderen Industriezentren beider Kriegsparteien verschaffte sie beispiellosen Reichtum. Die Konsumgüterindustrie der Stadt ließ sich leicht auf Rüstungsproduktion umstellen. Man produzierte nun Schusswaffen, Munition und Militärfahrzeuge und, ab 1916, auch Flugzeugmotoren für den Krieg.

Bald gab es in der Stadt mehr Arbeit, als man bewältigen konnte. In Radford, drei Kilometer nördlich des Stadtzentrums, befand sich ein großer Flugplatz. Die kleine Motorenfabrik White and Poppe in der Vorstadt Whitmore Park stellte nun massenweise Munitionskomponenten wie Zündkapseln und Granathülsen her und erhöhte die Zahl ihrer Arbeitskräfte von 350 im Jahr 1914 auf 12000 bei Kriegsende.6 In Red Lane, etwa fünf Kilometer nördlich des alten Stadtzentrums, expandierten die Ordnance Works so rasch, dass die große Siedlung Stoke Heath gebaut wurde, um die neuen Arbeitskräfte unterzubringen. Insgesamt waren 1918 in Coventry etwa 60000 Arbeitskräfte in der Rüstungsproduktion tätig. Die Hälfte davon waren Neuankömmlinge.7

Der kriegsbedingte Boom kam nicht nur den Fabrikbesitzern und Aktionären zugute. Durch den Arbeitskräftemangel stiegen auch die Löhne der Arbeiter. Frauen, die zuvor hauptsächlich in der Textil- und Seidenindustrie oder als Hausbedienstete gearbeitet hatten, kamen nun in die Munitionsfabriken, wo ihre Arbeit deutlich besser bezahlt wurde. Dies erregte nicht nur den Neid der Arbeiter in der weniger begünstigten, oft unter den Prioritäten der Kriegszeit leidenden Konsumgüterindustrie, sondern auch das Missfallen »höherer« Schichten. So berichtet ein Chronist jener Zeit:

In den vornehmen Salons kursierten zahllose Geschichten über hohe Löhne, Zügellosigkeit und revolutionäre Neigungen bei den Männern und darüber, wie die mit dem Füllen von Granaten beschäftigten »Guinea Girls« [die Haut der Frauen nahm durch den Sprengstoff die Farbe von Guineagold an] ihr Geld an großartige Pianos verschwendeten, die sie nicht spielen konnten.8

Ähnliche Ressentiments gegen die angeblich nichtsnutzigen und unpatriotischen Munitionsarbeiter, die so mit Geld überschüttet wurden, dass sie es kaum schnell genug ausgeben konnten, waren auch in Deutschland gang und gäbe.9

Im Ersten Weltkrieg wurden in ganz Großbritannien, besonders aber in Mittelengland und vor allem in Coventry sehr viele Fabriken gebaut und zahlreiche neue Arbeitskräfte eingestellt. Der schon vor dem Krieg in der Stadt ansässige Maschinen- und Anlagenbau war gut auf den Wandel eingestellt, den die schnelle Modernisierung Großbritanniens mit sich brachte. Außerdem konnte er nach dem Krieg wieder schnell auf Friedensproduktion umstellen: von Militärfahrzeugen und militärischer Ausrüstung auf Autos für die Mittelschicht und alle Arten von Konsumgütern, darunter die profitablen neuen Elektrogeräte. Das bedeutete, dass Coventry den Konjunktureinbruch unmittelbar nach dem Krieg zwar durchaus spürte, aber von den heftigen Verwerfungen verschont blieb, die die Schwerindustrie, den Schiffsbau und den Kohlebergbau trafen.

Das daraus resultierende Gefühl, gegen den Niedergang in anderen, traditionelleren Bereichen der britischen Volkswirtschaft gefeit zu sein, hielt sich sogar in den 1930ern noch, als die Weltwirtschaftskrise in Nordengland und Schottland weite Gebiete wirtschaftlich ruinierte und eine Flucht aus den alten Kernregionen der industriellen Revolution auslöste. Demgegenüber wuchs die Bevölkerung Coventrys nach einem kleinen Einbruch durch das Ende der Kriegsproduktion von 128000 Einwohnern im Jahr 1921 auf 220000 Einwohner bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Allein zwischen 1936 und 1938 nahm die Einwohnerzahl um fast 20000 Menschen zu. Von den Neuankömmlingen kamen viele aus von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten Regionen wie Wales oder Irland.

Coventry war schon seit dem 19. Jahrhundert ein beliebtes Ziel für irische Auswanderer, doch nun kamen mehr als je zuvor. Die Unabhängigkeit hatte Wirtschaft und Gesellschaft in Irland nämlich nicht die strahlende Zukunft gebracht, die die Helden des Unabhängigkeitskriegs versprochen hatten, sondern klerikalistischen Stillstand. Coventry dagegen wurde durch den enormen, vor allem durch Einwanderer verursachten Bevölkerungszuwachs nach Ansicht vieler Beobachter irgendwie unpersönlich. Eine Boomtown steht immer unter dem Verdacht, dass es ihren Einwohnern nur ums Geld geht. Wie J. B. Priestley 1933 schrieb, war der junge Mann, der ihn nach seiner Besichtigung des Daimler-Werks »ins Hotel zurückbegleitete […] nicht aus Coventry und mochte die Stadt nicht«.

Die historische Butcher Row, die der Schriftsteller J. B. Priestley 1933 mit dem mittelalterlichen Nürnberg verglich; vier Jahre später ließ der Stadtrat sie abreißen.

© SSPL/Getty Images

Hierin stimmte er völlig mit dem ersten Portier des Hotels überein, der auch nicht aus Coventry war – vielleicht gibt es überhaupt keine Leute, die aus Coventry sind – und der mich auf meine Frage nach der Möglichkeit, den Abend unterhaltsam zu verbringen, höchst ironisch abschlägig beschied.10

Priestley war generell nicht gerade begeistert über das, was er vielleicht die »Seele« des Coventry der 1930er Jahre genannt hätte. Dennoch fand er die Industrie der Stadt eindrucksvoll und ihr Stadtzentrum überraschend attraktiv, weil es die Fähigkeit Coventrys spiegelte, im Lauf der Jahrhunderte die Gewerbe zu wechseln und dennoch immer »wieder hochzukommen«:

In der Innenstadt fand ich noch reichlich Überreste der Messerklingen-, Tuch-, Knopf-, Uhren- und Bänderperioden verstreut und jetzt sonderbar vermischt mit Lyons Teegeschäften, billiger Konfektion, wohlfeilen Läden, Mützengeschäften und Lautsprechern. Coventry ist wirklich eine alte und malerische Stadt. Da ist die St. Michael’s Cathedral, St. Mary’s Hall, die Ford- und Bablake-Spitäler, die Metzgergasse und der alte Schulhof. Man lugt um eine Ecke und erblickt Fachwerk- und Giebelhäuser, vor denen der zweite Akt der Meistersinger spielen könnte. Tatsächlich könnte man hier in Coventry die Meistersinger aufführen oder verfilmen.11

Das war jedoch nicht der Grund, warum Coventry 1933 so ein florierender Ort war, sondern:

Diese malerischen Reste des alten Coventry sind belagert von einer Armee von Zahnrädern, Bolzen, Hämmern, Schrauben, Drillbohrern und Drehbänken, denn in einem dichten Ring liegen um diesen alten Mittelpunkt Auto- und Fahrradfabriken, die Fabriken von Werkzeug- und elektromagnetischen Maschinen und die Elektrizitätswerke. Jenseits davon sind wieder ganz neue Stadtviertel, wo die Mechaniker, die Monteure, die Dreher und die Heizer in sauberen Reihenhäusern aus Backstein wohnen, ihr Bier in riesigen neuen Wirtshäusern trinken und mit ihren Frauen in riesige neue Kinos gehen.12

Es gab noch einen weiteren Grund für den plötzlichen Bevölkerungszuwachs der Stadt in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Die von den Konservativen dominierte Regierung von Premierminister Neville Chamberlain (dem Spross einer Industriellen- und Politikerdynastie aus Birmingham) beschloss 1936, dass es angesichts der aggressiv nationalistischen Regierung in Deutschland notwendig sei, die vernachlässigte Rüstungsindustrie Großbritanniens zu stärken. Dies traf insbesondere auf die Lieferanten der Luftwaffe zu, von der erwartet wurde, dass sie in jedem neuen Krieg eine entscheidende Rolle spielen würde.

In der Folge bot die Regierung Maschinenbaufirmen, die bereit waren, die für eine starke Royal Air Force (RAF) notwendigen Flugzeuge, Flugzeugmotoren, Waffen, Instrumente und Ersatzteile zu produzieren, Subventionen und Kredite für den Bau neuer Werke an. Diese neuen quasistaatlichen Betriebe wurden als »Schattenfabriken« bezeichnet und mussten von den jeweiligen Privatunternehmen streng getrennt gehalten werden. Tatsächlich wurden sie zwar von mächtigen Privatunternehmen auf Honorarbasis gemanagt und waren angeblich frei von Eingriffen der Regierungsbürokratie ins Alltagsgeschäft, blieben aber letztlich im Besitz des Staates. Über die Prioritäten wurde in London entschieden, die Produktion wurde von Regierungsvertretern überwacht.

In Coventry spiegelt sich die große Aufrüstungskampagne nach 1936 in der Beschäftigungsstatistik, die eine dramatische Verlagerung in den Rüstungsbereich zeigt:13

Branche

1932

1938

Maschinenbau

4165

8937

Eisenguss

1420

1989

Elektrogeräte

4935

3093

Fahrzeuge und Flugzeuge

29658

41825

Elektrische Kommunikationstechnik

41

6376

Metallverarbeitung

4932

5919

Zwischen 1914 und 1918 hatte sich die Stadt zu einem der größten Rüstungszentren Großbritanniens entwickelt. Und 1938, als vermutlich eine Mehrheit der Briten bereits damit rechnete, dass das Land bald wieder Krieg führen müsste, bereitete sich die Stadt auf eine ähnliche Rolle in dem kommenden Konflikt vor.

Im Ersten Weltkrieg war die Waffen- und Munitionsproduktion in Coventry auf Hochtouren gelaufen, während sich das alte Europa zerfleischt hatte. Da die Stadt weit im Landesinneren lag, waren ihre Arbeiter vor Angriffen sicher gewesen. Die Deutschen unternahmen ein paar Versuche, Coventry mit ihren in großer Höhe fliegenden Zeppelin-Luftschiffen zu bombardieren. Da jedoch die neu gegründete deutsche Luftwaffe über keine Zielortungssysteme verfügte, waren die Besatzungen der Zeppeline offenbar nicht in der Lage, es zu finden. Daran hatte sich nichts geändert, als ab 1916 eine neue Flugabwehrmunition produziert wurde, die Explosivstoffe mit Phosphor kombinierte. Die neue Brandmunition, die zufällig in einer Werkstatt in der Spon Street im historischen Stadtzentrum von Coventry erfunden wurde, machte die Kriegszeppeline so verwundbar, dass sie als wirksame Kriegswaffe praktisch keine Rolle mehr spielten.14

Jeder neue Krieg war jedoch anders als der vorherige, und dieser Tatsache war sich die Mehrheit der britischen Bevölkerung nur allzu bewusst. Die kriegswichtigen Fabriken und die umliegenden Wohngebiete mit ihren Arbeitskräften würden diesmal für einen neuen Schrecken der Jahrhundertmitte anfällig sein: den Langstreckenbomber mit seiner tödlichen Nutzlast.

2 »Der Bomber kommt immer durch«

Tatsächlich starben in Coventry schon eine Woche vor Kriegsausbruch die ersten Zivilisten durch eine Bombe.

Am Freitag, dem 25. August 1939, wurde vor dem bekannten Eisenwarengeschäft Astley’s in Broadgate, dem Zentrum von Coventry, ein Transportfahrrad mit einer fünf Pfund schweren Bombe im Gepäckträger abgestellt. Sie explodierte um 14.32 Uhr.

Da Freitag Markttag war, waren im Stadtzentrum viele Menschen unterwegs. Durch den Anschlag wurden fünf Passanten getötet, zwölf wurden schwer verletzt, mehr als vierzig brauchten medizinische Hilfe.1 Zwei der Opfer waren Verkäufer, die gerade Mittagspause machten: Die 22-jährige Elsie Ansell wurde so zugerichtet, dass sie nur noch anhand ihres Verlobungsrings identifiziert werden konnte. Sie hatte im September heiraten wollen. John Arnott, mit sechzehn das jüngste Todesopfer, arbeitete in einem nahe gelegenen Zeitungsladen der WH-Smith-Kette. Er war allen Aussagen nach ein fröhlicher junger Mann. Zeitungsberichte beschrieben ihn als »jungen Lockenkopf, der eine Brille trug und Tausende von Menschen aus Coventry mit Zeitungen und Zeitschriften versorgt haben muss«. Rex Gentle, ein 33-jähriger Waliser, war erst seit zwei Wochen in Coventry und arbeitete ebenfalls bei WH Smith, allerdings als Aushilfe für die Sommerferien. Er hatte seine Mittagspause extra verlegt, um sie mit Arnott zu verbringen. Auch er war verlobt und wollte bald heiraten. Gwilym Rowland, ein 50-jähriger Straßenkehrer, machte in Broadgate gerade seine Arbeit, als die Bombe losging. James Clay, das älteste Opfer, war als ehemaliger Präsident der Coventry Co-operative Society ein bekannter Mann in der Stadt. Der rüstige 81-Jährige arbeitete immer noch Teilzeit als Buchhalter. Er hatte mit einem alten Geschäftskollegen in einem Café in der Gegend zu Mittag gegessen, war aber früher gegangen, weil er sich unwohl fühlte. Nach der Explosion berichtete der Freund Reportern, sie hätten seit sechs Jahren regelmäßig in dem Café zu Mittag gegessen und es zum ersten Mal nicht gemeinsam verlassen.2

Man ging sofort davon aus, dass die Irish Republican Army, die sich schon seit acht Monaten »im Krieg« mit Großbritannien befand, den Anschlag verübt hatte. Die wurde inzwischen von einer Gruppe von Hardlinern unter Sean Russell beherrscht und hatte verkündet, sie werde einen neuen »Feldzug« gegen die britischen »Besatzer« in Nordirland eröffnen, der sich auch auf Großbritannien erstrecken sollte. Die Operation wurde unter der Bezeichnung S-Plan (S für Sabotage) bekannt. Die Führung der erteilte neuen und bereits bestehenden Gruppen in England den Auftrag, Sabotageakte gegen öffentliche Versorgungsbetriebe und Einrichtungen durchzuführen. Dabei kamen meistens Spreng- und Brandsätze zum Einsatz, wobei Letztere oft als Pakete mit der Post verschickt wurden. Außerdem wurden Brände gelegt und Telefonleitungen gekappt.

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