Inflation - Frederick Taylor - E-Book
SONDERANGEBOT

Inflation E-Book

Frederick Taylor

4,9
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Deutschen und das Trauma der Inflation

Die Inflation, die Deutschland zwischen 1914 und 1923 erlebte, war die dramatischste Geldentwertung, die je in einem modernen Finanzsystem stattgefunden hat. Hilflos mussten die Menschen der Weimarer Republik mitansehen, wie die deutsche Wirtschaft zusammenbrach und sich ihr Geld in Luft auflöste. Diese existenzielle Krise fügte nicht nur der jungen Demokratie nachhaltigen Schaden zu, sie sollte sich auch tief ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingraben.

Die galoppierende Inflation ließ Anfang der zwanziger Jahre die Menschen das Vertrauen in Staat und Wirtschaft verlieren, was sich für die junge Weimarer Demokratie letztlich als fatales Erbe erweisen sollte. Der Staat war in den Augen vieler diskreditiert, vor allem die Mittelschicht fühlte sich betrogen. Profitieren konnten davon die Parteien der extremen Linken und Rechten: Kommunisten und Nationalsozialisten.

Ausgehend von den Anfängen der fehlgeleiteten Geldpolitik im Kaiserreich zeigt Frederick Taylor in seinem neuen Buch eindrucksvoll, was die Inflation der zwanziger Jahre für die Menschen der Weimarer Republik bedeutete. Zugleich hebt er die Bedeutung der Hyperinflation für die deutsche Geschichte hervor. Denn die Angst vor der Geldentwertung wurde in diesen Jahren zu einem deutschen Trauma, das unsere Politik bis heute bestimmt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 593

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Frederick Taylor

INFLATION

Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas

Aus dem Englischenvon Klaus-Dieter Schmidt

Siedler

Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel The Downfall of Money. Germany’s Hyperinflation and the Destruction of the Middle Class – A Cautionary History bei Bloomsbury Publishing, London.

Erste AuflageSeptember 2013

Copyright © 2013 by Frederick TaylorCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, HamburgLektorat: Andrea Böltken, Berlin Satz: Ditta Ahmadi, BerlinReproduktionen: Aigner, BerlinISBN 978-3-641-10490-0

www.siedler-verlag.de

Für Alice

»Am Anfang missverstanden die Massen es lediglich als skandalösen Preisanstieg; erst später wurde der Vorgang unter der Bezeichnung Inflation zutreffend als der Untergang des Geldes begriffen.«

KONRAD HEIDEN, Der Fuehrer (1944)1

»Durch fortgesetzte Inflation können Regierungen sich insgeheim und unbeachtet einen wesentlichen Teil des Vermögens ihrer Untertanen aneignen. Auf diese Weise konfiszieren sie nicht nur, sondern sie tun es auch willkürlich, und während viele arm werden, werden einige in der Tat reich. Der Anblick dieser willkürlichen Verschiebung des Reichtums vernichtet nicht nur die Sicherheit, sondern auch das Vertrauen auf die Gerechtigkeit der bestehenden Verteilung des Reichtums.«

JOHN MAYNARD KEYNES, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages (1920)2

»Eine Inflation ist ein Masse-Vorgang … Man kann die Inflation als einen Hexensabbat der Entwertung bezeichnen, in dem Menschen und Geldeinheit auf das sonderbarste ineinanderfließen. Eines steht fürs andere, der Mensch fühlt sich so schlecht wie das Geld, das immer schlechter wird; und alle zusammen sind diesem schlechten Gelde ausgeliefert und fühlen sich auch zusammen ebenso wertlos.«

ELIAS CANETTI, Masse und Macht (1960)3

»Glauben Sie, die Not wird größer und größer werden. Es ist so charakteristisch, dass nicht die Spekulation, sondern gerade die gesamten ehrlichen Existenzen vernichtet werden. Der Gauner mogelt sich durch. Er steigt empor. Aber restlos zermalmt wird der anständige, solide, nicht spekulierende Geschäftsmann, der kleine unten zuerst, aber schließlich auch der ganz große oben. Bleiben jedoch wird bloß der Gauner und Schwindler unten und oben. Die Ursache liegt darin, dass der Staat selbst zum größten Betrüger und Dieb geworden ist … Ein Raubstaat!«

ADOLF HITLER(1923)4

»Der beste Weg zur Vernichtung des kapitalistischen Systems ist die Vernichtung der Währung.«

WLADIMIR ILJITSCH LENIN zugeschrieben5

1 Heiden, Der Fuehrer, S. 109.

2 Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, S. 192.

3 Canetti, Masse und Macht, S. 202 und S. 205f.

4 Hitler, »Deutschlands Leidensweg von Wirth bis Hilferding«, S. 83.

5 Lenin nach: Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, S. 192.

Inhalt

Einführung

KAPITEL 1 Auf der Suche nach dem Geld für das Ende der Welt

KAPITEL 2 Der Verlierer zahlt alles

KAPITEL 3 Vom Sieg zur Katastrophe

KAPITEL 4 »Ich hasse sie wie die Sünde«

KAPITEL 5 »Die Gehälter werden weiterbezahlt«

KAPITEL 6 Vierzehn Punkte

KAPITEL 7 Bluthunde

KAPITEL 8 Der »Diktatfrieden«

KAPITEL 9 Sozialer Friede um jeden Preis?

KAPITEL 10 Konsequenzen

KAPITEL 11 Der Putsch

KAPITEL 12 Die Erholung

KAPITEL 13 Goldlöckchen und die Mark

KAPITEL 14 Der Aufschwung

KAPITEL 15 Keine Helden mehr

KAPITEL 16 Furcht

KAPITEL 17 Verlierer

KAPITEL 18 Nachtreten

KAPITEL 19 Der Führer

KAPITEL 20 »Das ist zu teuer«

KAPITEL 21 Hungernde Milliardäre

KAPITEL 22 Verzweifelte Maßnahmen

KAPITEL 23 Alle wollen einen Diktator

KAPITEL 24 Das Fieber wird gesenkt

KAPITEL 25 Die Rettungsaktion

NACHWORT Warum ein deutsches Trauma?

ANHANG

Zeittafel

Abkürzungen

Literatur

Personenregister

Einführung

Die Ursprünge, der Verlauf und die Konsequenzen der deutschen Hyperinflation sowie die erzählerische Einordnung dieses außergewöhnlichen Phänomens in den ebenso turbulenten wie verhängnisvollen menschlichen Kontext der Welt, in der es entstand – darum wird es im Folgenden gehen. Dieses Buch handelt nicht von Ökonomie im engeren Sinn. Die Schwächen der deutschen Währung zwischen 1914 und 1924 wurzelten in den Schwächen des Landes selbst und verschärften sie. Die Darstellung enthält zwar Elemente einer ökonomischen Erklärung, ohne die sie keine reale Grundlage hätte. Zugleich aber handelt sie von Krieg, Politik, Gier, Wut, Furcht, Trotz, Verlangen und dem Schlüsselelement Hoffnung (so knapp es damals auch war) sowie davon, wie all diese Faktoren sich auf das Leben gewöhnlicher Menschen auswirkten. Das historische Geschehen erzeugte die Ökonomie, die Ökonomie brachte mehr Geschichtsträchtiges hervor, und so ging es hin und her, so Schwindel und Furcht erregend, dass dieses Karussell aus Ereignissen und Gefühlen die deutsche Selbstwahrnehmung noch prägte, als es längst zum Stillstand gekommen war. Das dürfte bis heute gelten.

Vor neun Jahrzehnten erlitt das bevölkerungsreichste, technisch fortgeschrittenste und fleißigste Land Kontinentaleuropas einen furchtbaren Rückschlag. Es hatte einen Krieg geführt und verloren, in dem es zwei Millionen junge Männer sowie riesige Gebiete und enorme Finanzmittel eingebüßt hatte. Auf Vergeltung sinnende Feinde hatten ihre Absicht bekundet, Deutschland zahlen zu lassen, und zwar nicht nur für die eigenen Kriegskosten, sondern auch für die seiner Gegner. Unterdessen waren die Erbdynastien, mächtige Symbole für Stabilität und Kontinuität, die seit tausend Jahren in Deutschland regiert hatten, von aufständischen Untertanen, die ihnen, den archetypischen Kriegsherren, verübelten, dass sie Deutschland nicht zum Sieg geführt hatten, binnen weniger Tage, ja bemerkenswert leicht, gestürzt worden.

An die Stelle der vertrauten, einst unantastbaren Repräsentanten des monarchistischen Staates waren im November 1918 parlamentarische Politiker getreten. Ungeachtet ihrer Tugenden strahlten sie weder den Glanz noch die Autorität der Aristokratie aus, so unecht beides auch gewesen sein mochte. Viele dieser Männer stammten aus kleinen Verhältnissen und übten zum ersten Mal echte Macht aus. Ihnen allen aber war bewusst, dass die Zukunft des neuen Nachkriegsdeutschlands davon abhing, dass sie Chaos in Ordnung verwandelten, Elend in Wohlstand und Demütigung in Respekt. Außerdem waren sie entschlossen, den einfachen Menschen, die in vier bitteren Kriegsjahren so viel gelitten hatten, die Aussicht auf eine bessere, sicherere Zukunft zu ermöglichen – trotz der militärischen Niederlage und der harten Forderungen der Siegernationen. Würden diese – zumeist recht durchschnittlichen – Männer jener Aufgabe gewachsen sein, die angesichts der Probleme des Landes, der Forderungen der Siegermächte und der (buchstäblich) mörderischen Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft mit »schwierig« nur unzureichend beschrieben ist?

Der Staat, den die Politiker nach der Revolution allmählich aus der Taufe hoben, wurde als »Weimarer Republik« bekannt. Denn die verfassunggebende Versammlung, die Anfang 1919 zusammentrat, hatte ihren Sitz aus Berlin in diese schöne, mitteldeutsche Kleinstadt (die am Ende des Ersten Weltkrieges rund 35000 Einwohner zählte) verlegen müssen, weil man die Sicherheit der Abgeordneten in der Reichshauptstadt wegen der dort herrschenden Gewalt und politischen Instabilität noch nicht garantieren konnte. Die Delegierten blieben in Weimar, bis sich die Lage in Berlin beruhigt hatte.

Berühmt geworden war Weimar rund 120 Jahre zuvor als Wohnort Johann Wolfgang von Goethes, der sich in seiner langen Lebensspanne (1749 bis 1832) auch als Staatsmann und Naturwissenschaftler hervorgetan hatte – trotz der Umstände womöglich kein schlechter Ort, um hier Deutschlands Neuanfang in Gang zu setzen. Die Außenwelt sollte mit dem Namen fortan jedoch nicht mehr die großen Errungenschaften der deutschen Aufklärung in Verbindung bringen, sondern die Kämpfe um die erste deutsche Demokratie und letztlich deren Scheitern. Dahinter lauerten, wie man heute weiß, der Aufstieg Hitlers und der schrecklichste Krieg der Menschheitsgeschichte.

In mancher Hinsicht war das fünfzehnjährige demokratische Intermezzo bei all seinen Problemen dennoch zukunftsweisend, und zwar nicht nur für Deutschland. Es entstand eine Konsumgesellschaft. Es gab Kinos und Geschäfte, eine lebendige und erstaunlich freie Presse sowie Sportveranstaltungen von einer Größe und Popularität, die einige Jahre zuvor, in weniger aufgewühlten Zeiten, noch undenkbar gewesen waren. Und noch während die Inflation einige Teile der Wirtschaft in Trümmer legte, verfügte Deutschland über erste Passagierfluglinien, die der Wirtschaft weltweit Chancen und den Menschen neue Vergnügungen eröffneten. Erste Rundfunksender boten den Menschen, die nicht weniger vom Alltag abgelenkt werden wollten als ihre Nachfahren im 21. Jahrhundert, eine neue Art der Unterhaltung.

Gleichwohl wurde »Weimar« wegen der nachfolgenden Geschehnisse zu einem Attribut, das den Ruch von etwas Gutgemeintem, sogar Brillantem und zugleich fatal Gespaltenem und zum Untergang Verurteiltem verbreitete: Weimarer Republik, Weimarer Kultur, Weimarer Dekadenz, Weimarer Inflation.

Dies ist der Kern der Geschichte, die hier erzählt werden soll. Sie wäre indes nur von akademischem Interesse, wenn wir ihren Nachhall nicht noch heute deutlich zu spüren bekämen. Nach sechzig Jahren politischer Stabilität und mehr oder weniger stetigem Wirtschaftswachstum wird das Nachkriegseuropa, einst ein solides Gebäude, nachgerade baufällig und steht vor einer Identitätskrise, die hässlich zu werden droht. Die Europäische Union, die einen dritten Weltkrieg unmöglich machen sollte, läuft Gefahr auseinanderzubrechen. Schneidiger Nationalismus ist wieder in Mode, und er beruft sich wenigstens zum Teil auf ökonomische Unterschiede. In weiten Teilen des Kontinents, von Budapest bis Bayonne, von Wien bis Vilnius, treiben ultrarechte Unruhestifter ihr Unwesen. Rassismus und Intoleranz machen sich in einer Art bemerkbar, die man so bösartig zuletzt in den dreißiger Jahren erlebt hat. Last but not least hat das Verebben des globalen Finanzbooms in den letzten Jahren zutage gefördert, dass das scheinbar stabile Fundament vieler europäischer Volkswirtschaften in Wirklichkeit wackelig und verfault war.

Diese Staaten des 21. Jahrhunderts haben zu viel Geld geliehen und ausgegeben. Nun sind sie genötigt, ihren Bürgern zu erklären, dass sie sich die großzügigen Sozialleistungen und öffentlichen Dienste, die diese mittlerweile für selbstverständlich halten, nicht mehr leisten können. Die Eurozonen-Union sollte die beteiligten Volkswirtschaften mithilfe einer gemeinsamen Währung harmonisieren und ins Gleichgewicht bringen. So wie die politische Union den Zweck hatte, neue militärische Konflikte zu verhindern, so war der Euro dazu gedacht, der Gefahr finanzieller Anarchie, die einige Länder in den vergangenen hundert Jahren so hart getroffen hatte, ein für alle Mal den Boden zu entziehen. Heute indes scheinen die Tage des Euros gezählt und die Zukunft des Kontinents so unsicher wie seit 1945 nicht mehr.

Es stimmt zwar, dass das Problem Europas zu dem Zeitpunkt, in dem ich dies schreibe, nicht in galoppierender Inflation besteht. Man leidet vielmehr unter der Sparpolitik, die in Schwierigkeiten geratenen Mitgliedern der Eurozone aufgezwungen wird, um die gemeinsame Währung stabil zu halten und solch eine Inflation gerade zu vermeiden. Sollten Griechenland, Spanien, Irland oder eines der anderen betroffenen Länder jedoch den Euro aufgeben und zur eigenen Währung zurückkehren – die dann wieder der Aufsicht unabhängiger Finanzminister und Zentralbanken unterstünde –, wäre höchstwahrscheinlich eine rasche Abwertung gegenüber dem Euro und anderen bedeutenden Währungen die Folge. Der Wechselkurs würde jäh abstürzen, ausländische (und einheimische) Investoren würden ihr Kapital abziehen, die Zinssätze enorm in die Höhe schnellen, was wiederum zu einer schweren Inflation und, wenn nichts unternommen würde, vielleicht sogar zu einer Hyperinflation führen könnte. Ländern, deren Wirtschaft aus dem Gleichgewicht geraten ist, kann wegen zu wenig oder zu viel Geld die Luft ausgehen.

Es gibt einen weiteren – und man könnte sagen: grundlegenden – Unterschied zwischen der Situation in den zwanziger Jahren und der heutigen Notlage. Damals war Deutschland das Enfant terrible. Europas fortschrittlichste Volkswirtschaft befand sich in einem finanziellen Chaos, und ihre Währung war praktisch nichts mehr wert – und das nach allgemeiner Ansicht allein aus eigenem Verschulden. Vor neunzig Jahren wurde Deutschland als der Bösewicht der Welt gebrandmarkt, der die finanzielle Disziplin vermissen ließ, derer sich andere Länder befleißigten. Deutschland gab Geld aus, das es nicht hatte; es verhätschelte seine Bürger mit allzu großzügigen Sozialleistungen; es entwickelte unehrliche Strategien, um Anleihegläubiger und Investoren zu betrügen; es ließ seine Wirtschaft – so wurde behauptet – absichtlich aus dem Ruder laufen, um sich seinen finanziellen Verpflichtungen zu entziehen und seine Schulden nicht zahlen zu müssen. Länder wie Großbritannien, die USA, Italien, Belgien und Frankreich drohten Deutschland Anfang der zwanziger Jahre allesamt wegen nationaler Vorbehalte mit dem Finger.

Heute, neunzig Jahre später, ist ein prosperierendes, stabiles Deutschland von schuldengeplagten Ländern umgeben, die schwankend am Rand des Bankrotts stehen und deren Geldsystem zusammenbrechen würde, sollte der Euro abgeschafft werden – mit allen Schrecken, die das zur Folge haben mag. Heute schlägt Deutschland hochmoralische Töne an. Aus Berlin hört man dieser Tage nur noch Gerede über gesunde Finanzen, strenge Sparmaßnahmen für die »bösen« Länder und darüber, dass Kredite nur unter strengsten Auflagen gewährt würden. Man hat vorgeschlagen, dass Griechenland, Italien, Portugal, Irland und die anderen Länder, die zur Rettung ihrer Wirtschaften Geld (natürlich überwiegend von Deutschland) leihen wollen, mit ihren Goldreserven dafür bürgen sollen. Mit anderen Worten: Obwohl der Euro – zum Zeitpunkt, in dem ich dies schreibe – noch existiert, will Deutschland sich mit Edelmetallen für den Fall absichern, dass es ihn eines Tages nicht mehr geben und sich die dann wiedereingeführten Währungen der Schuldnerländer als mehr oder weniger wertlos erweisen sollten. Damit sind wir nach vielen Jahren wieder bei der Kernfrage angelangt, die wir längst für gelöst hielten: Was passiert, wenn wir das Vertrauen in unser Geld verlieren?

Selbstverständlich gibt es zwischen den gegenwärtigen Störungen und der Krise nach dem Ersten Weltkrieg Unterschiede. Die Probleme der zwanziger Jahre resultierten aus der Zerstörung eines bis dato stabilen Welthandelssystems, in dessen Mittelpunkt Europa stand. Dem vorausgegangen war der ungeheuer blutige und moralisch verwerfliche Zusammenbruch des friedlichen Miteinanders im europäischen Großmachtsystem. Die heutigen Probleme sind vor dem Hintergrund einer entgegengesetzten Entwicklung zu sehen: der Herausbildung eines neuen Welthandelssystems mit Asien und dem pazifischen Raum im Zentrum, die mit dem Ende des langen, durch Kredite angeheizten Booms zusammenfällt, dessen sich der Westen seit dem Ende des Kalten Krieges in Europa und dem Friedensschluss zwischen den Großmächten erfreute. Man mag die Kriege zwischen den Großmächten für den Ruin des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich machen. Zu Beginn des 21. dürfte deren Ausbleiben entscheidend gewesen sein.

So viel zum »großen Bild«. Für den Einzelnen, die Familien und Gemeinden zählt in einer Krise jedoch nicht, welche Folgen sie für die Weltordnung hat, sondern wie sie sich auf ihr Leben auswirkt. Ob das Opfer nun ein griechischer Ingenieur ist, der durch die aktuelle Sparpolitik in die Armut gestürzt wird, ein irischer Staatsbediensteter, der sich in die Schlange im Arbeitsamt einreihen muss, ein amerikanischer Autobauer, dessen Haus gepfändet wurde, oder ein britischer Akademiker, der keine Arbeit findet: Jede Wirtschaftskrise wird auf ganz persönliche Weise erlebt. Im Deutschland der zwanziger Jahre traf es den Universitätslehrer, der, zwar hochgeachtet und gut betucht, nun mit seinem Einkommen seine Familie nicht mehr ernähren und seinen Kindern keine anständige Zukunft mehr bieten konnte; die Kriegerwitwe, deren Rente von Woche zu Woche – und am Ende von Tag zu Tag – an Kaufkraft verlor, bis sie buchstäblich nichts mehr wert war; den kleinen Handwerker oder Gewerbetreibenden, der, weil seine Geschäfte eingebrochen waren, den Dachboden nach Familienbesitz durchsuchte, wie bescheiden er auch sein mochte, um ihn zu versteigern und so die Woche zu überstehen. Bei genauerem Hinsehen ist das große Bild ein riesiges Mosaik aus mikroskopisch kleinen Szenen, in denen Millionen einsamer Menschen hart ums Überleben kämpften.

Deshalb ist im Folgenden nicht nur von Generalen, Bankiers und Politikern, sondern auch von Büroangestellten, Industriearbeitern, Witwen, Soldaten und kleinen Geschäftsleuten die Rede. Die Gesellschaft, in der sie lebten, unterscheidet sich historisch von unserer, und doch erkennen wir sie nur allzu leicht wieder.

Letzten Endes sollte der Untergang des Geldes alle mit sich reißen. Wir können nur hoffen, dass die Geschichte unserer beängstigenden Zeit ein glücklicheres Ende hat, wenn sie aus dem Abstand einiger Jahrzehnte erzählt wird.

KAPITEL 1 Auf der Suche nach dem Geld für das Ende der Welt

Vor einiger Zeit schickte mir ein Freund eine Postkarte aus Berlin. Sie hängt immer noch in meinem Arbeitszimmer. Es handelt sich um eine fast intime Aufnahme des Berliner Prachtboulevards Unter den Linden aus dem Jahr 1910.

Als diese Fotografie entstand, befand sich die Herrschaft Kaiser Wilhelms II. auf ihrem Zenit. Dem erst seit vierzig Jahren vereinigten Reich ging es dank eines sensationell schnellen Wirtschaftswachstums ausgezeichnet; es besaß, darin war man sich allgemein einig, die schlagkräftigste Streitmacht Europas und schien für die Weltmachtrolle prädestiniert zu sein. Gleichwohl zeigt die Postkarte eine entspannte Szene: Es ist Sommer; elegant gekleidete Herren spazieren mit ihren Damen den von Bäumen gesäumten Boulevard entlang oder ruhen sich auf einer Bank aus. Um einen klassischen Vergleich zu bemühen: Diese Stadt sieht nicht wie Sparta aus, sondern wie Athen. Der Anzeige einer städtischen Uhr zufolge ist es 12.30 Uhr.

Auf der anderen Seite des breiten Straßenzuges sieht man das Café Bauer, das bekannteste der Wiener Kaffeehäuser, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Berlin populär geworden waren. Vielleicht waren nicht die eleganten Berliner im Vordergrund, sondern das Café das eigentliche Motiv des Fotografen. Die Familie Bauer hatte das Café kurz zuvor an ein großes Hotelunternehmen verkauft, und es könnte sein, dass sein Aussehen aus diesem Grund noch einmal festgehalten und als Reklamepostkarte verewigt werden sollte; vielleicht wirken die Straße, das Café und sogar die Menschen deshalb so herausgeputzt. Jedenfalls vermittelt das Foto den Eindruck von Wohlstand, Gediegenheit und Optimismus. Man sieht dem äußeren Anschein nach beneidenswerte Menschen in einer beneidenswerten Stadt in einem beneidenswerten Land zu einer Zeit, als Deutschland das mächtigste, produktivste kontinentaleuropäische Land war und Europa seinerseits noch die Welt beherrschte.

© Privatbesitz des Autors

Diese Welt näherte sich, wie wir wissen, ihrem Ende. Bald sollte sie für immer der Vergangenheit angehören. Bedenkt man die günstige Ausgangslage des Landes zu diesem Zeitpunkt, ist es erstaunlich, dass es bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dauern sollte, ehe in Deutschland erneut – gleichzeitig – Solvenz, Vollbeschäftigung und Frieden herrschten.

Vier Jahre später waren die Spaziergänger verschwunden. An ihrer Stelle drängte sich eine Menschenmenge in den Straßen, um mit anzusehen, wie junge, adrett – diesmal nicht in elegante Sommeranzüge, sondern in feldgraue Uniformen und Pickelhelme – gekleidete Berliner in den Krieg marschierten. Ende Juli 1914 hatte die jüngste einer ganzen Serie diplomatischer Krisen – in diesem Fall ausgelöst vom tödlichen Attentat eines serbischen Nationalisten auf den Erben des österreichisch-ungarischen Kaiserthrons – Europa schließlich über den Rand des Abgrunds gestoßen. Das Ineinandergreifen von Bündnissen und damit einhergehenden militärischen Verpflichtungen hatte dafür gesorgt, dass ein regionales Problem sich in einen kontinentweiten Flächenbrand verwandelte. Das deutsche Kaiserreich versprach sich viel von diesem Krieg; enden sollte er in militärischer Niederlage, menschlicher Katastrophe und wirtschaftlichem Ruin.

© Bundesarchiv, Koblenz (Bild-Nr. 183-25684-0004)/o. Ang.

Ein solch schreckliches Ergebnis muss für die meisten Untertanen Wilhelms II. unvorstellbar gewesen sein. Als sie in den Krieg zogen, schien Deutschland ungemein stark zu sein. Das Reich verfügte über große Eisen- und Kohlevorkommen (viele davon in ehemals französischen Gebieten, die 1871 annektiert worden waren), eine boomende industrielle Basis, eine gut ausgebildete, fleißige Bevölkerung von rund 68 Millionen Menschen und eine gefürchtete und bewunderte Militärmaschinerie. Schon vor der Generalmobilmachung stand eine halbe Million deutscher Männer unter Waffen. Weitere Millionen an Reservisten konnten binnen weniger Wochen eingezogen und mit einem effizienten landesweiten Eisenbahnsystem, das mit Blick auf genau solche militärischen Erfordernisse um- und ausgebaut worden war, an die verschiedenen Fronten geschickt werden.

Davon wusste jeder Deutsche. Weit weniger bekannt waren die Schwachstellen (die für die Gegner des Reiches entweder gar nicht oder nur in geringerem Umfang galten). Erstens war Deutschland an das moribunde Österreich-Ungarn gefesselt, hinter dessen vergoldeter Fassade sich eine wahre Schlangengrube an zerstrittenen Nationalitäten verbarg und dessen hartnäckiges Festhalten an erst jüngst erworbenen Territorien auf dem Balkan den Krieg verursacht hatte. Durch das Bündnis mit Österreich-Ungarn war Deutschland, wie man in Berlin sagte, »an einen Leichnam gekettet«. Zweitens waren die »Mittelmächte«, wie man das Deutsche Reich und seine Verbündeten nannte, trotz der deutschen Anstrengungen, eine Marine aufzubauen, die der britischen ebenbürtig war, im Wesentlichen Landmächte, die durch eine britische Seeblockade an den Rand des Hungertodes gebracht werden konnten. Drittens besaß das kaiserliche Deutschland trotz aller Zuversicht und Kriegstüchtigkeit letzten Endes nicht genügend Geld für diesen Krieg und noch weniger Möglichkeiten, sich welches zu beschaffen.

Den Verwaltern der Reichsfinanzen war durchaus bewusst, welche Schwierigkeiten auf Deutschland zukommen würden, wenn es einen Krieg gegen die »Triple-Entente« aus Frankreich, Russland und Großbritannien beginnen sollte. Von militärischer Seite wollte der deutsche Generalstab dem Problem mit einem massiven, unbeschränkten Angriff auf Frankreich nach einem Durchmarsch durch das neutrale Belgien begegnen, um nach dessen raschem, erfolgreichem Abschluss seine ganze Kraft gegen die »russische Dampfwalze« im Osten einzusetzen. Dieser Plan war fast zehn Jahre zuvor unter dem damaligen preußischen Generalstabschef Alfred von Schlieffen ersonnen worden, und obwohl seither modifiziert, trägt er in den Geschichtsbüchern weiterhin dessen Namen. Auch die Finanzkoryphäen in der Reichsbank in Berlin – die nach der Reichseinigung von 1871 gegründet worden war, um über Geldwert und -menge der neuen Reichsmark zu wachen – hatten auf die immer unruhigere internationale Lage mit einem Geheimplan reagiert, der das Land in die Lage versetzen sollte, seine finanziellen Engpässe auf Dauer zu überwinden.

Selbstverständlich glaubte Deutschland wie alle Großmächte, die im Sommer 1914 in den Krieg zogen, es werde den Kampf rasch gewinnen. Deshalb erwartete man, dass die radikalen Maßnahmen zur Sicherung der Kriegsfinanzen lediglich kurzfristiger Natur sein würden.

Die Annahmen der Planer schienen angesichts der Erfahrungen der vergangenen hundert Jahre gerechtfertigt zu sein. Seit der Schlacht bei Waterloo, die dem zwanzigjährigen Kampf gegen Napoleon ein Ende gesetzt hatte, hatten Preußen und seine deutschen Verbündeten nie länger als einige Monate Krieg führen müssen. Zwei der drei Kriege, die der deutsche »Einigungskanzler« Otto von Bismarck während des Gewaltmarsches zur Nationenbildung (gegen Österreich und Dänemark) gewonnen hatte, dauerten nur wenige Wochen. Selbst der dritte, der mit der Niederlage Frankreichs endete, hatte sich zwar von seinem Ausbruch bis zur förmlichen Kapitulation von Paris am 28. Januar 1871 sechs Monate hingezogen, aber militärisch war er bereits in der zweiten Septemberwoche so gut wie entschieden gewesen.

Während der kaiserliche Generalstab Ende Juli und Anfang August 1914 den Schlieffenplan (mit den wohl fatalen Modifikationen) realisierte, setzte die Reichsbankdirektion die Eingriffe in das Bank- und Währungssystem in Kraft, die es Deutschland ermöglichen sollten, den Zusammenbruch der bis dato extrem offenen Weltwirtschaft lange genug zu überstehen, um den Krieg zu gewinnen.

Der erste Teil dieses finanziellen Feldzugsplans umfasste die Aufgabe des Goldstandards.

Jahrzehntelang hatte die routinemäßige Konvertibilität des deutschen Papiergeldes – das im Juli 1914 zwei Drittel der umlaufenden Geldmenge ausmachte – in solide Gold- oder Silbermünzen bedeutet, dass die Banknoten selbst kein Geld waren, sondern aufgrund ihrer Umtauschbarkeit einen realen und beständigen (Edelmetall-)Wert repräsentierten. Tatsächlich durfte die Menge des ausgegebenen Papiergeldes laut Gesetz nie zwei Drittel der umlaufenden Geldmenge übersteigen. Das letzte Drittel musste direkt durch Gold gedeckt sein – dieses Versprechen, so die Theorie, hatte den Wert der deutschen Währung und derjenigen der anderen Großmächte in den vierzig Jahren vor 1914 zu einer konkreten, fasslichen Größe gemacht.

Warum der drastische Schritt der Reichsbank, den Goldstandard aufzugeben, notwendig war, konnte jeder interessierte Beobachter ermessen, der sich damals, während Europa an der Schwelle des Krieges stand, in der Jägerstraße 34–38 aufhielt. Hier, unweit des historischen Gendarmenmarktes im Zentrum Berlins, befand sich der imposante neoklassizistische Hauptsitz der Reichsbank. Seit Anfang Juli die ersten beunruhigenden Schlagzeilen in den Zeitungen aufgetaucht waren, hatten sich überall im Land vor den Türen der Geschäftsbanken und schließlich vor denen der Reichsbank selbst – die auch Privatkundengeschäfte erledigte – lange Schlangen besorgter Bürger gebildet. Die Kriegsgefahr hatte alte Ängste in Bezug auf das Papiergeld wachgerufen und den Wunsch nach dem Handgreiflichen, Unveränderlichen verstärkt. Die Menschen wollten ihre Banknoten gegen Gold- und Silbermünzen eintauschen, die seit jeher als verlässliche Wertanlagen galten.

Als der Reichstagsabgeordnete Hans Peter Hanssen kurz vor Ausbruch des Krieges in einem Berliner Restaurant seine Rechnung mit einem Hundertmarkschein bezahlen wollte, weigerte sich der Kellner, die Banknote anzunehmen. Jeder, sagte er, wolle mit Banknoten zahlen und Münzen als Wechselgeld haben. Am nächsten Tag versuchte Hanssen in einem anderen Restaurant mit einem Zwanzigmarkschein zu bezahlen. Der Kellner war wie sein Kollege am Vortag wenig erfreut, machte sich aber auf die Suche nach Wechselgeld. Eine Viertelstunde später kam er mit leeren Händen zurück. Das Restaurant besaß keine Münzen mehr. Hanssen musste anschreiben lassen.6

Obwohl die von der Regierung gelenkte Presse die Bürger von der Solidität der Alltagswährung zu überzeugen suchte, vertrauten viele Deutsche dem Papiergeld nicht mehr. Sie wollten die Sicherheit jenes Goldes, für das die Währung angeblich stand. In den ersten Juliwochen wurden rund 163 Millionen Goldmark7 von deutschen Banken abgehoben und in heimische Sparstrümpfe gesteckt.8

Am Freitag, dem 31. Juli 1914, schloss die Reichsbank ihre Tore (die Geschäftsbanken im Land hatten den Eintausch von Gold schon drei Tage zuvor eingestellt) und öffnete sie erst am folgenden Dienstag wieder. Zu diesem Zeitpunkt hatte es keinen Zweck mehr, für Papiergeld Gold zu verlangen, denn die Bank gab keines heraus. Am 4. August wurde eine ganze Reihe von Notstandsgesetzen zu Währungs- und Finanzfragen veröffentlicht, die unter anderem die Konvertibilität von Banknoten in Gold für die Dauer des Konfliktes aufhoben. Auch die aus Silber mit einem Feingehalt von 900/1000 geprägten Münzen im Wert von einer, zwei, drei und fünf Mark wurden nicht mehr eingetauscht. Erst jetzt kam der Begriff »Goldmark« in Gebrauch, der den tatsächlichen Goldmünzenwert gemäß dem Metallgewicht bezeichnete, also fünf, zehn oder zwanzig Mark. Da bisher jede Banknote umtauschbar gewesen war und einen Goldwert repräsentiert hatte, war nur von »Mark« die Rede gewesen.

Bald war nur noch Papier- oder Fiatgeld, wie es auch genannt wird, als Zahlungsmittel im Umlauf. Fortan wurden Goldmünzen entweder von Einzelnen gehortet und so der Zirkulation entzogen, oder sie gingen in den Besitz des Staates über, der es nun darauf anlegte, seine häufig widerstrebenden Untertanen dazu zu bewegen, ihm jegliches Gold aus ihrem Besitz auszuhändigen, sei es nun in Form von Münzen oder Wertgegenständen. Nur mit Gold vermochte die Regierung im Ausland kriegswichtige Rohstoffe und Produkte zu erwerben, die es im Inland nicht gab. Vor allem aber konnte der Staat nach dem Darlehenskassengesetz, das zu dem Gesetzespaket vom 4. August gehörte, umso mehr Papiergeld ausgeben, je mehr Gold in seinen Tresoren lagerte, und so den alles entscheidenden Eindruck aufrechterhalten, die deutsche Währung wäre goldgedeckt.

Das Problem war nur, dass die Reichsbank trotz einer monatelangen Propagandakampagne für den Umtausch von Gold gegen Papiergeld (»Gold fürs Vaterland«) zum Jahresende 1914 erst zwei der fünf Milliarden im Umlauf befindlichen Goldmark hielt. Während überall im Land patriotische Bürger gehorsam ihre Gold- und Silbermünzen eingetauscht hatten, hatten sich viele andere – insbesondere in ländlichen Gebieten – als immun gegen die patriotischen Vorspiegelungen erwiesen. Sie hielten an dem Wert fest, auf den sie sich verlassen konnten, ganz gleich, wie der europäische Konflikt ausgehen sollte. Irgendwo wurde eine Menge Gold und Silber gehortet.

1915 hatte sich der Krieg in einem blutigen Patt festgefahren. Deutsche und alliierte Truppen lagen sich im Westen in einem Netz aus Schützengräben gegenüber, das sich über siebenhundert Kilometer von der belgischen Küste bis zur Schweizer Grenze erstreckte. Das Kaiserreich hatte entgegen den Erwartungen vieler Deutscher keinen triumphalen Sieg errungen, hielt aber vorteilhafte Stellungen. Bis auf einen kleinen Landstreifen hatten deutsche Truppen ganz Belgien besetzt. Die Hauptstadt Brüssel, die wichtige Hafenstadt Antwerpen (die nach über dreimonatiger Belagerung im Oktober eingenommen worden war) und das mittelalterliche Brügge sowie das reiche Industrie- und Bergbaugebiet mit den Städten Charleroi, Namur und Lüttich befanden sich in deutscher Hand. Das Gleiche galt für einen großen Teil von Nordfrankreich, einschließlich Lilles mit rund einer halben Million Einwohner und einer bedeutenden Textilindustrie; deutsche Truppen hatten die Stadt im Oktober 1914 nach verbissenem, hin- und herwogendem Kampf eingenommen.

Paris war zwar durch das »Wunder an der Marne« von der Besetzung verschont geblieben, aber zehn der 87 Départements der französischen Republik befanden sich Ende 1914 ganz oder teilweise in deutscher Hand. Auf den rund 36000 Quadratkilometern französischen Territoriums, die fast vier Jahre lang hinter der deutschen Front liegen sollten, befanden sich über die Hälfte der französischen Kohlebergwerke, zwei Drittel der Textilindustrie und 55 Prozent der Metallproduktion – das entsprach insgesamt zwanzig Prozent des französischen Bruttoinlandsprodukts.9 Kurz: Frankreichs industrielles Kernland war fast über die gesamte Kriegsdauer vom Feind besetzt, und obwohl nahezu zwei Millionen Menschen vor den vorrückenden Deutschen geflohen waren, lebten immer noch 2,25 Millionen französische Bürger unter deren Besatzungsherrschaft, die sich für sie als trostlos, einsam und hart erweisen sollte – gelegentlich sogar in extremer Weise.10

An der Ostfront stabilisierten die deutschen Truppen, nachdem sie im August 1914 in der Schlacht bei Tannenberg einen kurzen russischen Vorstoß nach Ostpreußen zurückgeschlagen hatten, zunächst die allgemeine Lage. Sie gruppierten sich um und begannen nach dem ersten Kriegswinter einen langsamen, aber unaufhaltbaren Vormarsch in die baltischen Länder und nach Russisch-Polen, das sie, einschließlich der Hauptstadt Warschau, im Laufe des Jahres 1915 weitgehend eroberten.

Während Deutschland militärisch zu diesem Zeitpunkt und noch lange danach in vielerlei Hinsicht im Vorteil war, waren seine finanziellen Aussichten nicht annähernd so günstig. Der Staat war derart erpicht auf das Gold seiner Bürger, dass er sogar Schulkinder einspannte. Sie sollten ihre erwachsenen Familienangehörigen, Nachbarn und Bekannten dazu beschwatzen, ihre Schätze zu einer »Goldankaufstelle« zu bringen, wo hilfreiche Angestellte es kaum erwarten konnten, sie von ihrer Last zu befreien und ihnen dafür leichtes Papiergeld zu geben. In einem Propagandapamphlet mit dem Titel »Die Goldsucher bei der Arbeit« wurde die fiktive Geschichte dreier Gymnasiasten erzählt, die versuchen, einen wohlhabenden Getreidehändler namens Lehmann dazu zu bringen, sich zugunsten des Reiches von seinem Goldschatz zu trennen, so dass weiteres Papiergeld im (dreifachen) Gegenwert des eingenommenen Goldes für die Kriegsanstrengung gedruckt werden konnte. Es verstand sich von selbst, dass die Schüler Herrn Lehmann »Vaterlandsverrat« vorwerfen würden, wenn er ihrer Forderung nicht nachgab.

Anfangs sträubte sich Herr Lehmann tatsächlich. Er äußerte Zweifel daran, dass die Reichsbank ihr Versprechen einhalten würde, nur so viel Papiergeld zu drucken, wie durch das erworbene Gold gedeckt wäre. Im Augenblick mochte das Gesetz dies verhindern, wandte er schlau ein, doch das Gesetz könne geändert werden. Aber die Gymnasiasten waren auf eine solche Diskussion vorbereitet. Einer von ihnen fragte Herrn Lehmann schließlich, ob er jemandem Geld leihen würde, der nicht die Mittel hätte, es zurückzuzahlen, und sei es zu einem hohen Zinssatz. Als der Kaufmann dies entschieden verneinte, ließ der junge Propagandist die Falle zuschnappen:

»Warum nimmt jedermann Papier genau so gut wie Gold, obschon doch z. B. auch ein Tausendmarkschein nichts weiter ist wie ein Papierfetzen? Weil er weiß, dass die Reichsbank im Stande ist, zu jeder Zeit dafür Gold zu geben, weil er weiß, dass das Reich ihm sicher ist. Was würde nun geschehen, wenn die Reichsbank anfinge Noten zu drucken ohne Rücksicht auf ihren Goldvorrat? Sie würde sofort das Vertrauen einbüßen. Man würde – vor allem im Auslande – die Noten nicht mehr annehmen, oder – nähme man sie doch, so würde man es machen wie jener Wucherer [der für Kredite 25 Prozent Zinsen verlangte]: Auf einen Tausendmarkschein, mit dem Sie zahlen, gäben sie nur Waren im Werte von 750 Mark oder noch weniger. Eine Mark in Papier würde nur noch 75 Pfennig gelten im Auslande; man sagt dann: die Mark hat eine niedrige Bewertung (Valuta).«11

Die Worte, die dem altklugen Jungen in den Mund gelegt wurden, sollten überzeugend klingen, und dem Propagandaspiel zufolge zeigte sich Herr Lehmann am Ende tatsächlich einsichtig. Ausschlaggebend dürfte der letzte Hinweis auf die Vertrauenswürdigkeit des Reiches gewesen sein, nämlich darauf, dass Kaiser und Reichsbank niemals etwas tun würden, was die Währung und das Wohl des gewöhnlichen Deutschen gefährden könnte. Leider war gerade dieses Argument – nehmen wir kein Blatt vor den Mund – eine Lüge.

Tatsache war, dass die Reichsbank, was die Menge des Papiergeldes anging, das sie drucken durfte, seit dem Darlehenskassengesetz vom 4. August 1914 im Grunde nicht mehr an den Gegenwert des von ihr eingelagerten Goldes als Obergrenze gebunden war. Außerdem entlastete das Gesetz die Reichsbank von der Verpflichtung, den deutschen Einzelstaaten und Kommunen Kredite zu gewähren, wie es vor dem Krieg Usus gewesen war. Anstelle dieser Kredite führte das Gesetz ein System von »Darlehenskassen« ein, die – zufälligerweise in den örtlichen Niederlassungen oder Büros der Reichsbank zu finden – den Einzelstaaten und Kommunen gegen Güter oder Schuldverschreibungen als Sicherheit Kredite mit dreimonatiger Laufzeit (die in Wirklichkeit jedoch endlos verlängert werden konnte) gewährten. Zu den akzeptierten Schuldverschreibungen gehörten von den Einzelstaaten – die zum Teil sehr klein waren – ausgegebene Schatzanweisungen und vor allem Kriegsanleihen.

So weit, so unverfänglich – jedenfalls auf den ersten Blick. Denn die Bestimmungen des Darlehenskassengesetzes enthielten einen Haken: Die Darlehenskassen waren berechtigt, Darlehenskassenscheine auszugeben, die, obwohl kein vollgültiges gesetzliches Zahlungsmittel, den Status von Banknoten hatten, fast überall als Zahlungsmittel akzeptiert wurden und neben dem von der Reichsbank ausgegebenen regulären Papiergeld bald überall zirkulierten. Die Darlehenskassenscheine gelangten unweigerlich auch in die Kassen der Reichsbank, und wenn dies geschah, erhielten sie im Unterschied zu anderen im Umlauf befindlichen halbamtlichen Scheinen gemäß dem Darlehenskassengesetz den Status von richtigem Geld, in der Fachsprache: Hartgeld. Dadurch ließ sich damit wie mit den von der Reichsbank gehaltenen Goldmünzen ihr dreifacher Wert in normalem Papiergeld generieren. Es gab daher nichts, was einen Einzelstaat oder eine Gemeinde daran hindern konnte, Kriegsanleihen als Sicherheiten für den Erwerb von Darlehenskassenscheinen zu verwenden, mit diesen dann von der Reichsbank weitere Kriegsanleihen zu kaufen, die wiederum als Sicherheit für weitere Darlehenskassenscheine einzusetzen und so weiter und so fort. Und jedes Mal vergrößerte die Reichsbank auf diese Weise den Rahmen, in dem sie Geld drucken konnte, das der Kriegsanstrengung zugutekam.

Zwar begrenzte das Gesetz vom 4. August die Menge der Darlehenskassenscheine auf 1,5 Milliarden Mark, doch schon im November 1914 wurde die Obergrenze – zeitgleich mit der Ausgabe der ersten Kriegsanleihen – auf das Doppelte angehoben. Ende 1918 waren Darlehenskassenscheine im Wert von 15,5 Milliarden Mark in Umlauf. Mehr als ein Drittel befand sich im Besitz der Reichsbank, die daher berechtigt war, auf der Grundlage dieser »Sicherheiten« vollgültige Banknoten im Wert von 15,7 Milliarden Mark zu drucken, ohne den Anschein einer »gesunden« Währung zu zerstören. Mehrere deutsche Ökonomen erkannten dies und versuchten dagegen zu protestieren. Mindestens ein Artikel wurde verboten (eigentlich zur Veröffentlichung im Januar 1915 vorgesehen, wurde er zum »Schutz der Öffentlichkeit« unterdrückt und konnte erst nach Kriegsende erscheinen). Einem anderen Experten teilte die Reichsbankdirektion mit, wenn er sich nicht zurückhalte, sei man genötigt, die Militärbehörden um Hilfe zu bitten.12

Herr Lehmann hatte mit seinem Einwand also recht und beging einen Fehler, als er sich von den aufdringlichen Jugendlichen überreden ließ, seine Meinung zu ändern und sein Gold gegen Papiergeld einzutauschen. Obwohl im Auftrag einer Regierung, die sich verzweifelt bemühte, die Mittel für die Kriegführung zu beschaffen, zu Propagandazwecken ersonnen, stand die Figur des widerstrebenden Getreidehändlers stellvertretend für Millionen realer Deutscher. Auch sie ließen sich schließlich durch offizielle Pamphlete, Politiker und patriotische Zeitungen – von den Anbietern von Kriegsanleihen ganz zu schweigen – überreden, ihre soliden Wertsachen für einen Haufen Papier wegzugeben, damit Deutschland den Krieg gewinnen konnte.

Schon wenige Jahre später sollten sie sich betrogen fühlen, ihr patriotischer Stolz sich in Wut verwandeln – eine lange nachwirkende Wut, die den Nährboden für Intoleranz und Totalitarismus bot.

6 Strachan, The First World War, Bd. 1, S. 833f.

7Rund anderthalb Milliarden Euro (im Wert des Jahres 2011).

8 Feldman, The Great Disorder, S. 32.

9 Siehe Gomes, German Reparations, S. 10f.; vgl. auch Ferguson, Der falsche Krieg, S. 247.

10 Siehe McPhail, The Long Silence, S. 36.

11 Borghorst, Die Goldsucher bei der Arbeit, S. 7, Hervorhebung im Original.

12 Feldman, The Great Disorder, S. 35f.

KAPITEL 2 Der Verlierer zahlt alles

Für die Zivilbevölkerung aller am Krieg beteiligten Länder bedeutete der Erste Weltkrieg eine schwere Zeit. Entbehrungen und Ängste machte auch durch, wer nicht unter Besatzung oder in Frontnähe lebte. Um die Millionen Männer, die im Krieg kämpften – und in riesiger Zahl starben –, sorgten sich enge Angehörige, Verwandte und Freunde in ihren wachen Stunden (und vielleicht auch in ihren Träumen). Vor allem in Deutschland und Österreich-Ungarn aber litten die Zivilisten an der Heimatfront, deren Männer weit weg in Schützengräben und auf Schlachtfeldern kämpften und fielen, nicht nur unter schwierigen oder kargen Umständen: Vom Rhein bis zur Weichsel, vom Skagerrak bis zur Donau herrschte Hunger.

Das deutsche Schifffahrtsblatt Hansa hatte bereits am 1. August 1914 vorausgesagt: Sollte Großbritannien an der Seite Serbiens, Frankreichs und Russlands in den Krieg eintreten, dann werde das einen historisch einzigartigen Zusammenbruch des Wirtschaftslebens zur Folge haben.13 Der Verfasser des Artikels sollte binnen weniger Monate recht bekommen. Trotz der riesigen Summen, die Deutschland in den Aufbau seiner Kriegsflotte gesteckt hatte, konnten seine Schiffe es nicht mit der britischen Royal Navy aufnehmen, um die Handelsrouten für deutsche Ein- und Ausfuhren während des Krieges frei zu halten.

In den ersten Kriegsmonaten erhöhte Großbritannien nach und nach den Druck auf den deutschen Handel, scheute aber vor der Verhängung einer totalen, unterschiedslosen Blockade noch zurück. Als jedoch klar wurde, dass der Krieg in absehbarer Zeit nicht auf dem Schlachtfeld entschieden werden würde, beschloss das britische Kabinett, sich über das Kriegsrecht hinwegzusetzen. Unter Verweis auf die im Februar 1915 verkündete Absicht Deutschlands, einen uneingeschränkten U-Boot-Krieg gegen Schiffe der Entente in der Nordsee zu entfesseln, verhängte London einen Bann gegen sämtliche Ein- und Ausfuhren der Mittelmächte; das galt auch für Lebensmittel und andere Güter, die über neutrale Länder wie die Niederlande und die skandinavischen Länder eingeführt wurden. Die Seestreitkräfte der Entente sollten die Blockade rigoros durchsetzen. In einer britischen Rechtsverordnung vom 1. März 1915 hieß es: »Die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs behalten sich vor, Schiffe, die Waren mit mutmaßlich feindlichem Ziel, Besitz oder Ursprung transportieren, aufzubringen und in einen Hafen zu geleiten.«14 Bis Kriegsende sowie in den anschließenden Monaten des Waffenstillstandes war der deutsche Überseehandel damit auf die Ostsee und gelegentliche Vorstöße in die Nordsee beschränkt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!