Critical Incidents neu gedacht -  - E-Book

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Beschreibung

Die Arbeit mit Critical Incidents (CIs) in interkulturellen Lehr- und Trainingszusammenhängen wurde in den letzten Jahren in der interkulturellen Forschung zunehmend als essentialisierend und inhärent stereotypisierend kritisiert. Trotzdem werden CIs insbesondere in der Trainingspraxis in traditioneller Art und Weise weiterhin eingesetzt. Da es aber weder sinnvoll noch realistisch erscheint, in Forschung und Bildungspraxis auf fallbasierte Ansätze mit didaktisiertem Material bzw. nicht bearbeiteten CI-Narrationen zu verzichten, stellt sich die Frage nach innovativen Perspektiven und darauf basierenden tragfähigen Einsatzszenarien der CI-Arbeit. Vor diesem Hintergrund loten die Autor*innen dieses Bandes neue Wege des Arbeitens mit CIs aus unterschiedlichen disziplinären und theoretischen Blickwinkeln aus. Dabei ist der Gedanke leitend, anstelle des Ringens um das „richtige Verständnis“ den Diskurs offen zu halten und eine neue Diskussion über die Weiterentwicklung des Ansatzes anzustoßen. Praxisbezogene Aspekte werden dabei insbesondere in der CI-Werkstatt angesprochen: Hier haben sich die Autor*innen der Herausforderung gestellt, den eigenen CI-Ansatz an derselben vorgegebenen CI-Narration anzuwenden und damit die praktischen Implikationen ihrer theoretischen Entwürfe zu konkretisieren. Aufgrund dieser vielfältigen Zugänge zur CI-Problematik bietet der Band für Forschende, Studierende, Lehrende und Trainer*innen gleichermaßen wertvolle Impulse für die praktische wie forschungsbezogene Arbeit mit CIs.

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Seitenzahl: 380

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Beiträge

Critical Incidents als Fragmente autobiografischen Erzählens. Eine Korpusanalyse

Wie lernt man an Critical Incidents? Eine lerntheoretische Perspektive

Mehrperspektivische Analyse natürlicher Interaktionssituationen

Critical Incidents in der unterrichtlichen Praxis – von der Dekonstruktion zur Induktion

Und was, wenn keiner dabei ist?Studentische Gruppendiskussionen über Critical Incident Narrationen

“Teens do WHAT in Germany?!” YouTube-Tagebücher als Dokumentationen kritischer Interaktionssituationen?

Vom Critical Incident zur interkulturellen Case Study? Methodische Herausforderungen und didaktische Potenziale im Kontext des Fremdsprachenunterrichts

Was ist das Kritische an Kritischen Interaktionssituationen? – Critical Incidents aus kulturreflexiver Sicht

Critical Incident Method as a Research Tool: Dealing with Administrative Rules and Procedures in Germany - A Case Study

CI-Werkstatt

Die CI-Werkstatt

Wie man drüber spricht – Das Kurzinterview als Methode

Didaktisch-methodische Überlegungen zum „Taschenträger“

Interkulturalität als Deutungsperspektive

Critical-Incident-Analyse mit Hilfe des KPSI-Modells

In die Erzählung Hinein-Fragen lernen

Sprachliches Handeln als kulturelles Handeln in CI-Erzählungen

Erkennen – Verstehen – Handeln: Der „Taschenträger“ aus fremdsprachendidaktischer Sicht

Kulturreflexivität im Umgang mit dem Critical Incident (CI) „Der Taschenträger“

Rollenabgleich, Hierarchiewechsel, Intersektionalität

Der “Taschenträger“ – A Goffmanian View

Der „Taschenträger“: Eine proxemische Analyse

Autor*innen

Reihe

Doris Fetscher und Andreas Groß

Einleitung

Die Arbeit mit Critical Incidents1 (im Folgenden: CI’s) gehört zweifellos zu den etabliertesten und populärsten Instrumentarien in interkultureller Lehre und interkulturellem Training. Gleichwohl ist der Ansatz in den letzten Jahren von unterschiedlicher Seite einer weitreichenden Kritik unterzogen worden. Die Einwände betreffen zum einen die kulturtheoretische Fundierung: Auf diese Weise werde speziell durch den CI-Ansatz ein überholtes, essentialistisches Kulturverständnis aktiviert. Zum anderen wird die gängige Praxis beanstandet, das Material im Hinblick auf die damit verbundenen Vermittlungsabsichten hin zu frisieren bzw. „kundengerecht“ eingängig zu gestalten. Damit, so der Vorwurf, werde mit Hilfe von CIs entgegen der vertretenen interkulturellen Lernprogrammatik der Stereotypenbildung Vorschub geleistet.

Nun erscheint es aber weder sinnvoll noch realistisch, in der interkulturellen Lehre, der Bildungs- bzw. Trainingsarbeit sowohl auf fallbasierte Ansätze mit didaktisiertem Material bzw. nicht bearbeitete CI-Narrationen zu verzichten, da das (wie immer auch verstandene) „Interkulturelle“ an soziale Situationen gebunden ist, die für die Beteiligten oder Beobachtenden Ereignischarakter haben. Von diesen Ereignissen wird natürlich sowohl ungesteuert (in Alltagsgesprächen innerhalb und außerhalb von Lehr-/Lernsettings) als auch mehr oder weniger gesteuert (in dafür vorgesehenen Phasen von Lehr- und Trainingssettings) erzählt. In didaktischer Hinsicht würde durch einen Verzicht auf beide Formate eine wesentliche Möglichkeit vergeben, komplexe Thematiken anhand solcher Narrationen und ihrer Aufbereitung zu Fallstudien auf erfahrungs- und problemorientierte Weise zu bearbeiten.

Die Kritik am Ansatz kann überdies Anlass sein, über neue Perspektiven des Arbeitens mit CIs nachzudenken: Im Lauf der Zeit haben sich nicht nur theoretische Grundlagen verändert, sondern auch die Möglichkeiten der Materialgewinnung, -aufbereitung und -dokumentierung sowie der Einsatzszenarien, in denen mit CIs gearbeitet wird.

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen entstand 2019 die Idee eines Symposions mit dem Titel „CIs neu gedacht“. Auf Einladung der Fakultät für Angewandte Sprachen und Interkulturelle Kommunikation der Westsächsischen Hochschule Zwickau wurde im Rahmen von zwei Arbeitstreffen gemeinsam diskutiert, wie bisher ungenutzte Potentiale des Arbeitens mit CI-Narrationen in Forschung, Lehre und Training genutzt werden können. (Nachwuchs-)Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen, die teilweise schon seit vielen Jahren, teilweise erst seit kurzem mit CIs in Forschung, Lehre und Bildungsarbeit befasst sind, näherten sich während des Symposiums dem Thema mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen, Erfahrungen und methodischen Zugängen. Dabei war der Grundgedanke leitend, den Diskurs offenzuhalten bzw. zu öffnen, und zwar sowohl im Hinblick auf die kontrovers geführte akademische Auseinandersetzung als auch auf das belastete Verhältnis zwischen Forschung und (Trainings-)Praxis.

Im Zusammenhang mit dem Symposion, das die Teilnehmenden als sehr inspirierend erlebten, entwickelte sich die vorliegende Publikationsidee. Im Sinne des Grundgedankens des Symposiums war schnell klar, dass hier nicht an einen „klassischen Sammelband“ gedacht war; vielmehr sollte die Publikation den Beteiligten die Gelegenheit geben, den begonnenen Dialog auch auf schriftlicher Ebene weiterzuführen. Als besonders hilfreich erwies sich hier das Format der CI-Werkstatt: Die Autor*innen waren gleich zu Beginn der Publikationsarbeit aufgefordert, anhand eines vorgegebenen Falles den eigenen theoretischen und methodischen Zugang in knapper Form darzulegen. Die Anforderung, auf diese Weise eigene Zugänge und methodische Herangehensweisen an einer konkreten CI-Narration darzulegen, erwies sich als anspruchsvoll, aber auch als hilfreich für die Erstellung der Beiträge. Die dabei produzierten Ergebnisse wurden in einer virtuellen Austauschrunde vorgestellt und miteinander diskutiert.

Im Zuge des Publikationsprozesses ist eine Bandbreite unterschiedlicher überwiegend anwendungsbezogener Zugänge und Blickweisen auf die Arbeit mit CIs bzw. den CI-Ansatz entstanden, der neben den beschriebenen Problemlagen das nach wie vor vorhandene Potential des Ansatzes belegt2:

Doris Fetscher untersucht ein Korpus von 14 schriftlichen, studentischen Critical-Incident-Narrationen unter einer narratologischen Perspektive. Sie geht dabei davon aus, dass es sich bei CI-Narrationen um Fragmente autobiographischen Erzählens handelt und greift bei ihrer Analyse auf Kategorien zurück, die unter anderem für die Analyse autobiographischer Interviews entwickelt wurden. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Darstellungsverfahren CI-Narrationen zugrunde liegen, welche Darstellungsaspekte eingesetzt werden oder wie die Erzählenden sich und die „Anderen“ positionieren. Zudem argumentiert sie in ihrem Aufsatz für eine begriffliche Differenzierung zwischen CI-Anwendung, CI-Narration und CI-Storytelling. Das Fazit gibt einen Ausblick auf Möglichkeiten eines differenzierten Umgangs mit CIs in Forschung und Training.

Andreas Groß richtet den Fokus auf lerntheoretische Aspekte des Arbeitens mit CIs in organisierten Lehr- / Lernzusammenhängen. Ausgehend von der bisherigen Verwendungsgeschichte des CI-Ansatzes in der interkulturellen Bildung arbeitet er unterschiedliche Lernparadigmen und ihre Auswirkungen auf die jeweiligen Vorstellungen von und Umgangsweisen mit CIs heraus. Darauf basierend werden neuere Lern- und Bildungsdiskurse skizziert und die damit verbundenen Entwicklungspotentiale des CI-Ansatzes aufgezeigt. Der „erweiterte Möglichkeitsraum des Arbeitens mit CIs“ (S. 64) biete Anregungen für die Bildungspraxis; über eine lerntheoretisch informierte CI-Debatte könne aber auch die Kluft zwischen fach- und lerntheoretischen Diskursen verkleinert sowie ein Beitrag zur Professions- bzw. Kompetenzentwicklung interkultureller Bildungspraxis geleistet werden.

Katharina von Helmolt hinterfragt die Möglichkeiten und Grenzen traditioneller CI-Ansätze und votiert für den Einsatz aufgezeichneter natürlicher Interaktionen, „da diese den Blick auf die Kontextabhängigkeit von kommunikativem Handeln“ (S. 77) schärfen. Sie stellt ein darauf basierendes gesprächsanlaytisch fundiertes Lehr- / Lernformat vor und diskutiert an Beispielen aus der Praxis Lernchancen und didaktische Herausforderungen. Die Analyse von Audio- und Videomitschnitten basiert gemäß ihrem Ansatz in Anlehnung an Luhman auf einem Konzept von „Interkulturalität als Beobachtungsperspektive erster und zweiter Ordnung“ (S. 84): Die alltagsweltliche interkulturelle Beobachtungsperspektive erster Ordnung wird durch eine Beobachtungsperspektive zweiter Ordnung ergänzt, die das Gespräch über interkulturelle Interaktionen analysiert.

Volker Hinnenkamp setzt sich in seinem Beitrag zunächst kritisch mit einer „klassischen Definition“ (S. 94) von Critical Incidents (Brislin u. Yoshida, 1994) auseinander, die von einem festgelegten Apriori von kulturellen Wissensbeständen ausgeht. Mit Verweis auf den spatial turn in den Sozialwissenschaften betrachtet er im Folgenden aus interaktionistischer Perspektive als „CIs als zu öffnende und zu befragende Räume.“ (S. 96). Auf dieser Grundlage schlägt er eine induktive Umgangsweise mit CIs in der Interkulturellen Lehre vor: Das Verfahren, das er als „In-den-Text-Hineinfragen, Aus-dem-Text-Hinausfragen und In-die-Lebenswelt der Beteiligen-Hineinfragen“ (S. 97) bezeichnet, wird anschließend anhand zweier CIs vorgeführt und damit konkretisiert.

Im Mittelpunkt von Susanne Kleins Beitrag stehen ungesteuerte Gruppengespräche über Critical Incident Narrationen. Grundlage dafür sind Transkripte von zwei Gruppendiskussionen, die im Rahmen eines Tests der Wissensbasis NILS (Network Intercultural Learning and Sensitivity) mit Studierenden im ersten Semester aufgezeichnet wurden. Es handelt sich um Aufzeichnungen von Gesprächen über CI-Narrationen, die vorab von anderen Studierenden in die Wissensbasis eingepflegt wurden. Obgleich das Setting insgesamt natürlich didaktisch gerahmt ist, erfolgen die Gespräche in den Kleingruppen ungesteuert. Klein stellt in der Analyse dieser Gespräche die Frage, was passiert, wenn eine Auseinandersetzung mit CIs ungesteuert stattfindet: „Welche Aspekte, Themen und Kategorien werden durch die Studierenden relevant gemacht? Wie werden Kategorien verhandelt?“ (S. 111). Die Ergebnisse der Analysen werden abschließend durch Überlegungen ergänzt, wie solche Beobachtungen für die interkulturelle Lehre fruchtbar gemacht werden könnten.

Der Beitrag von Beatrix Kreß setzt sich mit der Frage auseinander, ob Beiträge in YouTubekanälen, die von den Erstellenden selbst als interkulturell markiert wurden, CIs „aufrufen“, und ob es sich bei solchen Beiträgen generell um eine spezifische Gattung im Rahmen kultureller und interkultureller Erzählungen handeln könnte. Am Beispiel von Transkripten aus entsprechenden Beiträgen fokussiert Kreß in ihrer Analyse die Perspektive sprachlicher Bearbeitungsprozesse kultureller Differenz und wie sich durch sie „[…] Be- und Verarbeitungsprozesse interkultureller Begegnungen ausgestalten“ (S. 137) lassen. Über diese Analyse hinaus gibt der Beitrag sowohl in der Einleitung als auch im Fazit zahlreiche Anregungen zur Auseinandersetzung mit den verschiedensten Medienformaten im Internet und ihrem Potenzial für einen interkulturellen Diskurs.

Francisco Javier Montiel Alafont und Christoph Vatter befassen sich mit dem didaktisch-methodischen Implikationen des CI-Einsatzes im Fremdsprachenunterricht und den Verknüpfungsmöglichkeiten mit dem Themenfeld Interkulturelle Kommunikation. Sie entwickeln ein interkulturelles Lernmodell, das „fremdsprachenspezifische Faktoren berücksichtigt und gleichzeitig den Weg für eine Progression von Critical Incidents hin zu komplexen Lernszenarien mit Case Studies / Fallstudien ebnet.“ (S. 165). Hierzu zeichnen sie die Bedeutung von CIs bzw. Fallstudien in interkulturellen Trainingskontexten nach, arbeiten Elemente interkultureller Kompetenz heraus, die für den Fremdsprachenunterricht relevant sind, und schließen methodische Überlegungen zum interkulturellen Lernen mit Critical Incidents und Fallstudien an, die auf dem Dreischritt „Erkennen – Verstehen – Handeln“ basieren.

Kirsten Nazarkiewicz stellt in ihrem Beitrag anhand des in der CI-Werkstatt vorgestellten Falles „Der Taschenträger“ dar, wie CIs auf kulturreflexive Weise bearbeitet werden können. Die Grundlage dieses Zugangs bilden drei methodologisch unterschiedlich fundierte Kulturbegriffe, die jeweils einen anderen Blick auf die geschilderte Situation, das zur Analyse notwendige Wissen und die Lern- und Lösungsprozeduren eröffnen. Ausgehend von der Überlegung, dass „das Kritische“ in Interaktionszusammenhängen auf typische Friktionen wie Erwartungsbrüche, Nicht-Verstehen und Machtasymmetrie zurückzuführen ist, kommt sie zu dem Schluss, dass CIs nicht notwendigerweise pädagogisch konstruiert sein müssen, sondern „jegliches Material kulturreflexiv analysiert, behandelt und zum Interkulturellem Lernen genutzt werden kann.“ (S. 186).

Agata Puspitasari Ranjabar nähert sich dem CI-Ansatz vor dem Hintergrund einer spezifischen forschungsmethodischen Fragestellung: Sie möchte anhand von CIs rekonstruieren, wie internationale Studierende bürokratische Anforderungen in Deutschland bewältigen bzw. wie es ihnen gelingt, sich das nötige Wissen dazu anzueignen. Ausgehend von einer kurzen Skizzierung des CI-Ansatzes analysiert sie transkribierte Interviews und arbeitet dabei interkulturelle Problemstellungen und Lösungsansätze der Protagonisten heraus. Bezüglich der Erhebung narrativen CI-Materials mit Hilfe offener Interviewverfahren kommt sie zum Schluss: „Working with CIs by participants‘ own representation is risky and rich at the same time“. (S. 226). Dem praktischen Problem, dass auf Grundlage mäandernder Erzählungen ein großer und komplexer Materialkorpus entsteht, stehen die Erweiterungsmöglichkeiten des CI-Ansatzes gegenüber, insofern der Bezug auf das erfahrungsbezogene Wissen die Denkweise der Erzähler*innen (bspw. in Form eines Reflexionsprozesses) in den Fokus rückt.

Mit den Beiträgen des vorliegenden Buches soll eine erste Idee vermittelt werden, in welche Richtung CIs „neu gedacht“ werden können. Es ist der Begrenzung eines solchen Unterfangens geschuldet, dass viele Fragen und Aspekte nicht beantwortet bzw. thematisiert werden konnten. Der fragmentarische Charakter des Buches ist durchaus kein Nachteil; er kann vielmehr als „Diskussionsaufforderung“ verstanden werden, die sich an unterschiedliche Zielgruppen (Studierende, Trainierende bzw. Lehrende, Forschende) richtet. In diesem Sinne freuen wir uns auf zahlreiche und interessante Rückmeldungen, die den Diskurs weiterführen.

Es ist gute Praxis, am Ende eines solchen Publikationsprozesses Dank auszusprechen. Er gilt zuerst den Autor*innen, die sich – dazu während der Coronapandemie - auf das Wagnis eines solchen kooperativen Schreibprozesses eingelassen haben. Darüber hinaus gilt ein besonderer Dank Frau Julia Jägerhuber, die uns in vielfältiger Weise eine ausgesprochen große Hilfe war und die damit sehr zum Gelingen des Bandes beigetragen hat.

 

 

Doris Fetscher und Andreas Groß

 

 

1Im Buch wird der Begriff Critical Incident auf unterschiedliche Weise formatiert: Neben der Abkürzung CI haben die Autor*innen den Begriff in englisch- und deutschsprachiger Version verwandt.

2Wir haben uns dazu entschlossen, die Beiträge in alphabetischer Reihenfolge abzudrucken, um den nichtintendierten Eindruck einer Rangordnung zu vermeiden.

Beiträge

 

 

Doris Fetscher

Critical Incidents als Fragmente autobiografischen Erzählens. Eine Korpusanalyse

Geschichten lehren uns, wie man lebt und wie man liebt.Wir wachsen mit ihnen auf und wir werden mit ihnen beerdigt.(Samira El Ouassil u. Friedemann Karig, 2021, S. 14).

 

1. Critical Incidents: Ereignis, Narration, Anwendung

Gegenstand meines Beitrags ist ein Korpus von 14 schriftlichen, von Studierenden verfassten Critical-Incident-Narrationen, die alle im selben Kontext entstanden sind (Anhang I). Dieses Korpus werde ich unter einer narratologischen Perspektive unter der Fragestellung betrachten, welche Merkmale diesen Texten gemeinsam sind und wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Dabei gehe ich davon aus, dass es sich bei CI-Narrationen um Fragmente autobiografischen Erzählens handelt und werde mich entsprechend auf Kategorien der Textanalyse stützen, die u.a. von Lucius-Hoene und Deppermann (2004) zur Analyse von autobiografischen Interviews entwickelt wurden:

 

Welche Darstellungsverfahren liegen CI-Narrationen zugrunde?

Welche Darstellungsaspekte werden eingesetzt?

Wie positionieren die Erzählenden sich selbst und die anderen Akteure?

Könnte es sich bei CI-Narrationen sogar um eine eigene Textsorte handeln?

Wie können ihre Spezifika für das interkulturelle Lernen unter Berücksichtigung eines kritischen, interaktionistischen Kulturbegriffs fruchtbar gemacht werden1?

Abschließend stelle ich dann die Frage, was es für Forschung, Lehre und Training bedeuten könnte, wenn wir Critical-Incident-Narrationen zuallererst als solche Fragmente autobiographischen Erzählens betrachten.

Dazu vorab eine kurze Begriffsklärung: In interkultureller Lehre und im Training wird in den unterschiedlichsten Formaten mit sogenannten Critical Incidents gearbeitet, wobei die Verwendung des Begriffs uneinheitlich ist und dadurch oft verwirrend wirkt. Erst in den letzten Jahren wird die Verwendung des Begriffs stärker reflektiert. Hans Jürgen Heringer zum Beispiel hat in der fünften Auflage seiner Einführung „Interkulturelle Kommunikation“ (2017) das Kapitel über Critical Incidents um das Unterkapitel 9.4 „Narrativik oder story telling“ ergänzt und dieses dem Kapitel 9.3 mit dem Titel „Didaktische Formate“ gegenübergestellt. In zwei älteren Beiträgen zur Arbeit mit CIs differenziere ich selbst zwischen „Rohfassung“ für die unbearbeitete CI-Narration und „didaktisierte Fassung“ für nachbearbeitete Versionen. (Fetscher, 2010; 2015). Im Handbuch „Methoden interkultureller Weiterbildung“ widmen Andreas Groß und Wolf Rainer Leenen den Critical Incidents als „Sonderform fallbasierten Lernens“ ebenfalls ein eigenes Kapitel (Groß u. Leenen, 2019, S. 325-386). Sie grenzen Critical Incidents darin als „relativ kurz gehaltene Beschreibungen“ ab von interkulturell relevanten Erzählungen, Geschichten oder Stories, die wiederum definiert werden als, „[…] breitere Schilderungen von Geschehnissen, die selbst erlebt, nacherzählt oder auch frei erfunden sein können und entweder schriftlich, mündlich oder in Bildern weitergegeben werden.“ (S. 335).

Neben der Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen didaktisierten Formaten („Critical Incident Technique“: Flanagan, 1954; Fiedler, Mitchell u. Triandis, 1971; Brislin, Cushner, Cherrie u. Yong, 1986 oder dem „Culture Assimilator“: Thomas, 1991) und nicht didaktisierten Formaten fällt auf, dass der Begriff „Critical Incident“ häufig sowohl für das situierte Geschehen als auch für die Ereignisnarration verwendet wird.2 Und obwohl Groß und Leenen oben nicht ausschließen, dass es sich auch um fiktive Erzählungen handeln könnte, wird in der interkulturellen Lehre doch allgemein davon ausgegangen, dass es sich um faktuale Narrationen handelt. Bei der Arbeit mit Critical-Incident-Narrationen steht dementsprechend meist die Inhaltsseite („Geschichte“ oder „story“) im Mittelpunkt des Interesses und nicht die Darstellungsseite („Erzählung“ oder „discourse“).3

Auf Grund dieser Beobachtungen möchte ich für diesen Aufsatz folgenden Begriffskomplex festlegen: Wenn es um das ephemere erzählenswerte Geschehen geht, das durch einen „Bruch“ des Gewohnten als Ereignis wahrgenommen wird, werde ich vom CI-Ereignis sprechen. Ein CI-Ereignis kann sowohl physisch (offline) als auch virtuell (online), zum Beispiel in einer E-Mail medial vermittelt, geschehen. Ein Mix aus beiden Modi ist ebenfalls möglich, wenn sich zum Beispiel im face-to-face Kontakt (offline) ein Missverständnis auswirkt, das vorher in einer E-Mail entstanden ist. Im Fall eines medial stattfindenden CI-Ereignisses kann es sich um eine verbale oder schriftliche, synchrone oder asynchrone Interaktion handeln. Gespeichert vorliegen können neben den schriftlichen Interaktionen auch kurze verbale Sprachnachrichten aus den Messengerdiensten sowie auch Kommunikation über visuelle Elemente (Emoticons, Fotos, Filme, Memes), die eine immer größere Rolle spielen. In solcher Weise gespeicherte CI-Ereignisse können „faktisch“ gut nachvollzogen werden. Vom ephemeren physischen Geschehen können wir dagegen nur durch eine Narration, im weitesten Sinn hier verstanden „als eine zeitlich strukturierte Repräsentation von Ereignissequenzen“ erfahren. Aber auch von einem medial vermittelten Geschehen kann erzählt werden oder es kann Teil einer Narration über ein komplexeres Ereignis sein. („Stell Dir mal vor, da schreibt mir der doch in der E-Mail, dass ...“) Gioxoglou und Georgakopoulou (2022) weisen in ihrem Aufsatz „A Narrative Practice Approach to Identities: Small Stories and Positioning Analysis in Digital Contexts” explizit auf die Multimodalität des storytelling (text, image, sound, and video) hin sowie auf die Beobachtung, dass sich storytelling auch zwischen Online- und Offline-Kommunikation bewegen kann (S. 243).

Geht es um die narrative Rekonstruktion des erzählwürdigen Geschehens und damit Ereignisses, spreche ich von CI-Narration und geht es schließlich um ein nachbearbeitetes und didaktisiertes Format einer CI-Narration, dann werde ich parallel den Begriff CI-Anwendung gebrauchen. In Bezug auf die CI-Narration werde ich zwischen dem CI-Storytelling und der CI-Narration unterscheiden. Als CI-Storytelling bezeichne ich die mündliche, ephemere Narration eines CI-Ereignisses, wie sie oft in Trainingssituationen, aber auch im Alltag stattfindet. „CI-Narration“ möchte ich für ein wie auch immer konserviertes empirisch nutzbares, nicht didaktisierend nachbereitetes Datenmaterial verwenden, um das es in diesem Beitrag gehen wird. Dabei muss noch ergänzt werden, dass der Erhebungskontext oder Entstehungskontext von CI-Narrationen transparent gemacht werden muss, da innerhalb von didaktischen Settings auch von einer „didaktischen Kontaminierung“ der CI-Narrationen oder des CI-Storytellings ausgegangen werden muss. Für die Analyse, sowohl aus Forschungs- als auch aus Trainingsperspektive, ist also sowohl der Kontext, in dem die CI-Narration entstanden ist, sowie das Medium, in dem die CI-Narration vorliegt, ganz entscheidend, denn es macht einen großen Unterschied, ob die CI-Narration in Form eines Vlogs (siehe Kreß in diesem Band), eines Audioformats, eines Eintrags in eine Webanwendung (Fetscher u. Klein, 2020), eines virtuellen Portfolios(Berkenbusch u. Fetscher, 2013) oder einer handschriftlichen Aufzeichnung in einem Tagebuch vorliegt. Einen Sonderfall stellen Transkripte von CI-Narrationen dar (siehe v. Helmolt in diesem Band), die ich dann zu den CI-Anwendungen zählen würde, wenn sie für didaktische Zwecke erstellt wurden.

Da es sich bei Erzählungen generell um subjektive und kulturgebundene Rekonstruktionen von Ereignissen handelt, sollte die Frage, wer eine CI-Narration oder eine CI-Anwendung in welchem Format, zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Zweck verfasst hat, gerade auch in Trainings immer transparent gemacht und dadurch die Diskursebene mit reflektiert werden.4

2. Critical Incidents in der Trainingspraxis

Die Idee zu diesem Beitrag kommt aus der Trainingspraxis. In Trainings wird sowohl mit CI-Anwendungen als auch mit CI-Storytelling sowie mit CI-Narrationen gearbeitet. Im klassischen Sinn der CI-Anwendungen schaffen es „gute“ CI-Narrationen, aus denen eine kulturbedingte Irritationen gut herausgearbeitet werden kann, häufig, in die CI-Narrations- bzw. Anwendungssammlungen des oder der Trainer*in aufgenommen zu werden und werden unter Umständen jahrelang in Trainings immer wieder verwendet.5 Ich habe selbstkritisch in meiner Arbeit beobachtet, dass ich, häufig aus Zeitmangel, automatisch immer wieder dieselben, „bewährten“ CI-Narrationen heranziehe und konnte dies auch bei Kolleg*innen feststellen.6

Beobachten kann man zudem, dass sich, ganz ähnlich wie beim Phänomen „der Geschichten aus der Yucca-Palme“7, in Trainingskreisen besonders spektakuläre CI-Narrationen in leicht veränderten Versionen und unterschiedlichen Angaben zur Herkunft verbreiten und damit eine Art Eigenleben entwickeln.

In den letzten zwanzig Jahren haben sich neben den klassischen Anwendungs-Formaten zahlreiche Verfahren der Bearbeitung von CI-Narrationen etabliert, die nicht mehr ausschließlich kulturbedingte Irritationen fokussieren und deren Ziel es ist, einen differenzierteren Blick auf die situative Komplexität von irritierenden Interaktionen zu fördern.8

Werden in Trainingssettings CI-Narrationen erhoben, entstehen selbstverständlich auch mündliche und schriftliche Geschichten, die den oben genannten „klassischen“ Anforderungen nicht entsprechen, die also nicht „mit ausreichendem Wissen über die beteiligten Kulturen plausibel gedeutet werden können“ (Heringer, 2017, S. 226) oder die erzähltechnisch keine Spannung erzeugen bzw. Überraschung bieten.

Mit welcher Art von Narrationsmaterial haben wir es dann in der Trainingspraxis eigentlich zu tun, wenn wir CI-Narrationen erheben? Ab wann betrachten wir eine CI-Narration als eine CI-Narration? Sind die von den Teilnehmenden eingebrachten Erzählungen unterschiedlich „nützlich“ für das interkulturelle Lernen? Muss man ein in einem bestimmten Setting erhobenes Korpus in seiner Gesamtheit betrachten, und die Rollen- und Gruppendynamiken in einem Training mitberücksichtigen? Wie kulturgebunden ist die Art und Weise, wie wir erzählen? Und wie kulturgebunden ist unsere Vorstellung von interkultureller Lehre, wenn wir zum Beispiel als Lernziele Selbst- und Metareflexion, das Aufdecken von natürlichem Ethnozentrismus sowie das Infragestellen explizit ethnozentristischer Haltungen formulieren oder ganz einfach erwarten, dass Teilnehmende von Ereignissen berichten, in denen sie selbst oder andere „gar nicht gut wegkommen“, weil sie vielleicht handlungsunfähig waren, die Situation falsch eingeschätzt hatten oder fehlendes Wissen offenbar wird. Im „Taschenträger“ in der CI-Werkstatt wird dies sehr deutlich. Die Frage, ob in einem Lehr- und Lernsetting mit negativen Darstellungen oder kritischen Reflexionen über sich selbst und andere gearbeitet werden kann, ist sicherlich kultursensibel und muss von den Trainierenden vorausschauend mit reflektiert werden.

3. Das Korpus

Das hier vorgestellte Korpus (Anhang I) wurde am 16.01.2020 im Seminar Einführung in die interkulturelle Forschung an der Westsächsischen Hochschule Zwickau mit Studierenden aus dem ersten Semester (im Alter von 18-21 Jahren) im B.A. Studiengang Languages and Business Administration (LBA) erhoben9. Susanne Klein bezieht sich in ihrem Beitrag in diesem Band ebenfalls auf CI-Narrationen aus diesem Korpus und beschreibt den Kontext der Erhebung, deren vorrangiges Ziel ein Test der Wissensplattform NILS (Network Intercultural Learning and Sensitivity) war, ausführlich in Kapitel 2.1.10

In das Thema Critical Incidents wurden die Studierenden in einer Unterrichtsstunde über das bereits oben zitierte Kapitel zu Critical Incidents aus Heringer (2017) eingearbeitet. Mit einem kritischen lebensweltlichen Kulturbegriff waren sie aber noch nicht konfrontiert worden. Für den Test der Plattform erhielten die Studierenden die Aufgabe, wenn möglich, ein selbst erlebtes CI-Ereignis zunächst in Kleingruppen zu erzählen und dieses dann in Einzelarbeit als schriftliche Narration in die Plattform einzupflegen. Die vorliegenden Texte wurden direkt aus der Plattform kopiert und lediglich offensichtliche Tippfehler zur besseren Lesbarkeit korrigiert. Die Plattform stellt ein eigenes Eingabefeld für den Titel der Geschichte bereit, so dass die Studierenden auch dazu angehalten wurden, sich einen Titel für ihre Geschichten auszudenken. Mit diesen Titeln schaffen die Studierenden natürlich einen spezifischen Fokus auf ihre Geschichte und geben damit womöglich auch eine Lesart vor oder erzeugen zumindest eine gewisse Erwartung bei den Lesenden. Im Rahmen dieses Aufsatzes kann auf diesen wichtigen Aspekt nicht detailliert eingegangen werden, es wird aber darauf verwiesen, dass in einigen Fällen der Titel einen Hinweis auf eine Metareflexion der jeweiligen Ereignisse gibt. Die Reihenfolge, in der ich die Texte behandle, entspricht der Reihenfolge, in der sie in der Plattform zum angegebenen Datum aufgeführt wurden. Die Angaben in den Feldern zu den Kategorisierungen (siehe Fußnote 10) ziehe ich für die Analyse der Texte nicht heran, da die Kategorisierung erst nach der Textproduktion erfolgte. Ich gehe davon aus, dass die Vorstellung, die die Studierenden zum Zeitpunkt der Erhebung von einer CI-Narration hatten, vor allem durch die „klassischen“ Beispiele im Text von Heringer (2017) geprägt waren. Mit dem Kategorisierungssystem der Plattform setzten sie sich erst in der Testsituation auseinander.

4. CI-Narrationen als szenisch-episodische oder berichtend-beschreibende Fragmente autobiografischen Erzählens

Bei meiner Analyse gehe ich davon aus, dass es sich bei CI-Narrationen, ob mündlich, schriftlich oder konzeptionell mündlich, grundsätzlich um interaktive sozio-historische und kulturgebundene Handlungsformen handelt. Dannerer (2016, S. 15) verweist auf Gülich und Hausendorf sowie auf Labov und Waletzky und stellt in seiner Definition von „Erzählung“ die rekonstruierende Verbalisierung von Ereignissen in den Vordergrund, wobei auf eine Unterscheidung zwischen mündlichen und schriftlichen Texten verzichtet wird:11

Gülich / Hausendorf (2000: 373) definieren das Erzählen als eine (sprachliche) Handlung, die aus einer Diskurseinheit besteht, in der die „[…] verbale Rekonstruktion eines Ablaufs realer oder fiktiver Handlungen oder Ereignisse, die im Verhältnis zum Zeitpunkt des Erzählens zurückliegen oder zumindest […] als zurückliegend dargestellt werden. In vielen Fällen werden Erzählungen aber nicht nur als verkettete Ereignisse aufgefasst, sondern als zusätzlich durch bestimmte Strukturelemente definierte Texte. Auch hier stammt eine klassische Unterscheidung von Labov & Waletzky (1967 / 1997): Orientierung – Komplikation – Evaluation – Lösung – Coda. (Dannerer, 2016, S. 15).

Die Kulturgebundenheit der Handlungsform Erzählung kann hier nicht ausführlich hergeleitet werden, betrachtet man jedoch die Erzählschemata, die im Deutschunterricht in der Schule im Rahmen der Erlebniserzählung unterrichtet werden, sind die oben genannten Strukturelemente deutlich wiedererkennbar.12 Diese finden sich auch im synoptischen Überblick und Vergleich der Darstellungsverfahren des autobiografischen Erzählens bei Lucius-Hoene und Deppermann (2004, S. 156-157) (Siehe hierzu Anhang II). In ihrem Buch „Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews.“ Gehen die Autoren dabei selbstverständlich von mündlichen Erzählungen aus, die transkribiert vorliegen. Eine Abgrenzung zu schriftlichen Narrationen erfolgt eindeutig nur bezüglich der literarischen Erzählung. Sie bezeichnen ihr Forschungsfeld der life-stories oder self-narrations als: „Solche Lebensgeschichten oder lebensgeschichtlichen Fragmente, in denen der Erzähler selbst als handelnde und erleidende Person im Mittelpunkt steht.“ (Lucius-Hoene u. Deppermann, 2004, S. 21).“ Weiter unten wird das autobiografische Erzählen dann definiert als: „das Erzählen von Selbsterlebtem, das über die Erzählsituation hinaus biografische Bedeutung hat und in dem die erzählende Person etwas für sie Wichtiges im Hinblick auf sich selbst, ihre Erfahrung und ihre Weltsicht ausdrückt (vgl. Kinde, 1993, S. 20-21).“ (Lucius-Hoene u. Deppermann, 2004, S. 21).

Bezüglich des autobiographischen Erzählens werden schriftliche und mündliche Narrationen also nicht kategorisch voneinander abgegrenzt, obwohl natürlich die Interaktionsprozesse, die den jeweiligen Textproduktionen zugrunde liegen, völlig unterschiedlich sind.13 Für eine erste Annährung an das Material gehe ich davon aus, dass zentrale Strukturelemente, die von Lucius-Hoene und Deppermann herausgearbeitet wurden, auch auf schriftliche autobiographische Texte angewendet werden können. Eine deutliche Abgrenzung dagegen erfolgt gegenüber fiktiven literarischen Texten. Auch in der Literaturwissenschaft wird eine entsprechende Unterscheidung getroffen. Autobiografien, Tagebucheinträge, Schulaufsätze und Ähnliches werden im Gegensatz zu literarischen, fiktiven Kunstformen als Gebrauchstexte oder Gebrauchsformen bezeichnet. Hierzu würden dann auch die schriftlichen CI-Narrationen14 zählen, die zu Trainingszwecken in einem entsprechenden Kontext entstanden sind. Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang aber doch die Nähe von „typischen“ CI-Anwendungen zur literarischen Form des Schwanks, die für die Herleitung der Kulturgebundenheit des Formats von Interesse sein kann. Vergessen wir nicht, dass CI-Narrationen und CI-Storytelling in Trainings immer einen großen Unterhaltungswert haben und die Erwartungen, die das Publikum an eine gute Geschichte stellt oder die der Erzählende dem Publikum bzw. den Lesern unterstellt, selbstverständlich die narrative Produktion beeinflussen. Vogt (1973, S. 286) gibt folgende Definition:

Die kurze Erzählung (vor allem in Prosa) einer komischen Begebenheit aus dem Volksleben, die meist als spielerisch-kämpferische Konfrontation zweier verschieden situierter bzw. qualifizierter Figuren strukturiert ist. (Knecht und Herr, Laie und Kleriker, pfiffiger Student und einfältiger Bauer, Verführer und Naive usw.) Stofflich stehen realitätsgebundene, derbe Konfliktsituationen im Mittelpunkt […], die entbundene Komik ist stofflich-situativ, kaum je intellektuell (vgl. dagegen den Witz und die Anekdote). Sprachlich-strukturell ist jedoch auch der Schwank wie diese beiden Formen durch die linear-straffe Zuspitzung des Geschehens mit witzigem, überraschendem – oft plötzlich umschlagendem Schluss (Pointe) geprägt. Der eingipflige Grundtypus folgt dem Schema: ein Einfältiger wird betrogen. Im komplizierteren Revanche-Typus überlistet der zuerst Betrogene seinerseits den Betrüger.

5. Analyse

Zur Analyse meines Korpus stütze ich mich zunächst auf die von Lucius-Hoene und Deppermann (2004) erarbeiteten Darstellungsaspekte szenisch-episodischer und berichtender Darstellungsverfahren (Anhang II). Das chronikartige Darstellungsverfahren, das in autobiographischen Interviews ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, findet für CI-Narrationen keine Anwendung. In einem zweiten Schritt konzentriere ich mich auf die Darstellung der Selbst- und Fremdpositionierung ebenfalls nach Lucius-Hoene und Deppermann (2004) und Giaxoglu und Georgakopoulou (2022), sowie Bamberg (2012).

Lucius-Hoene und Deppermann (2004, S. 196) beschreiben Positionierung als „denjenigen Aspekt der Sprachhandlungen, mit denen Interaktanten sich soziale Positionen und Identitäten zuweisen.“ Im Kontext Interkultureller Kommunikation ist die Fremd- und Selbstpositionierung von besonderem Interesse. Werden zur Positionierung kulturelle Kategorien herangezogen und falls ja, welche und wie werden diese Kategorien jeweils zueinander in Relation gesetzt bzw. verhandelt? Finden sich in den autobiografischen Fragmenten Spuren von Aushandlungen innerer Konflikte, durch die sich kritische Situationen ja gerade auszeichnen? Giaxolou und Georgakopoulou (2022, S. 241) beziehen sich auf Bamberg (2012, S. 104-105), der davon ausgeht, dass Selbstdarstellung und Positionierung vor allem durch das Aushandeln folgender Dilemmata geprägt sind:

 

constancy and change: how one’s sense of self balances moment by moment on a continuum of no change at all to radical change.

uniqueness und conformity: how tellers negotiate the degree of their sameness to or difference from others; and

agency and construction: how tellers navigate their sense of self as actor or undergoer on a continuum of low versus high agency.

 

Diese Kategorien werden ergänzt durch Fragen nach kritischen interkulturellen Kategorien wie „Ethnozentrismus“, „Ethnisierung“, „Kulturalisierung“, und „Stereotypisierung“. Am Beispiel der ersten CI-Narrationen „An der Bushaltestelle“ und „Unordnung interkulturelle WG“ möchte ich die Anwendung dieser Kategorien zunächst ausführlicher erproben, um mich dann in verkürzter Form dem restlichen Korpus zuzuwenden.

5.1 „An der Bushaltestelle“

An der Bushaltestelle

Nach einer Einkaufstour in der Stadt wollte ich den Bus wieder zurück zu meiner Unterkunft nehmen. Ich lief zu der Bushaltestelle, an der mein Bus normalerweise abfuhr und stellte mich neben das Haltestellenschild, ich war noch vollkommen allein. Da ich noch 10 Minuten zu warten hatte, schaute ich mir meine Nachrichten auf dem Handy an und blendete das Geschehen um mich herum vollkommen aus. Als ich wieder von meinem Handy aufschaute, hatte sich eine Schlange von 5 Personen neben mir gebildet, die alle in einer Reihe standen. Da ich den Bus schon kommen sah, machte ich mich bereit um einzusteigen. Der Bus hielt kurz vor mir und ich wollte gerade als Erste einsteigen, da zog mich ein älterer Mann aus der Schlange neben mir grob am Arm zurück und sagte mir, ich soll mich hintenanstellen. Überrumpelt stellte ich mich hinten in der Schlange an, die noch länger geworden war und stieg fast als Letzte ein. Ich war wütend über das respektlose Verhalten des Mannes, der mich zurückgezogen hatte, da ich doch die Erste war, die an der Haltestelle gewartet hatte.

5.1.1 Darstellungsaspekte szenisch-episodischer Erzählungen

Bei der CI-Narration „An der Bushaltestelle“ handelt es sich um eine szenisch-episodische Darstellung. Die von Lucius-Hoene und Deppermann (2004, S. 156-157) aufgelisteten Darstellungsaspekte markiere ich in meiner Analyse zur besseren Veranschaulichung kursiv.

Die erzählte Zeit in der CI-Narration „An der Bushaltestelle“ umfasst grob geschätzt vielleicht 20 Minuten. Die Orientierung als Teil der narrativen Binnenstrukturierung erfolgt im ersten Satz. Dann beginnt die Ereignisdarstellung, die zunächst einen eher berichtenden Charakter hat. Die Ereignisverkettung baut einen Spannungsbogen bis zur Ankunft des Busses auf und führt zu einem deutlich erkennbaren Höhepunkt oder „Skandalon“ als Teil der Komplikation, die auf einem Planbruch basiert. In der Komplikation werden die Ereignisse detaillierter und dramatisierender geschildert, nahezu isochron: Der Bus kommt, die Erzählerin15 bereitet sich vor, will als Erste einsteigen, wird dann zurückgezogen. Hier fallen Erzählzeit und erzählte Zeit fast zusammen. Im vorletzten Satz wird die Isochronie wieder aufgelöst. Wir wissen nicht, wie lange das Warten dann dauert. Dieser vorletzte Satz beinhaltet auch das Resultat der Komplikation, nämlich „ich stieg fast als Letzte ein“. Dann folgt im letzten Satz eine sehr emotional wertende Coda, „ich war wütend über das respektlose Verhalten des Mannes“ mit einem moralisierenden und Empathie-heischenden Nachsatz „da ich doch die Erste war (…)“.

5.1.2 Positionierung als Identitätszuweisung

In der CI-Narration „An der Bushaltestelle“ findet die Selbstpositionierung gleich im ersten Satz statt. Wir erfahren, dass E. in der Stadt, in der sie sich aufhält, in einer Unterkunft lebt, die aber nicht in der Stadt liegt. Sie hat eine Einkaufstour unternommen und ist nun auf dem Rückweg zur Unterkunft. Sie weiß, wo der Bus abfährt. E. stellt sich als selbständig, mit den Örtlichkeiten vertraut und sozial über das Handy vernetzt, dar. Sie ist in der Lage, sich so in das Handy zu vertiefen, dass sie ihre Umgebung völlig ausblenden kann. Dann tauchen weitere Akteure, fünf Personen, neben ihr auf, deren räumliche Positionierung „eine Schlange […] die alle in einer Reihe standen“ über einen Pleonasmus stark betont wird. Ihre uniquenessbetont E. dadurch, dass sie erst gar nicht die Frage stellt, ob sie vielleicht auch ein Teil dieser Schlange neben ihr sein könnte oder sollte. Hier wird sehr deutlich, wie Positionierung als räumlich-soziale Handlung narrativ realisiert werden kann.

Die Handlung des älteren Mannes, der zunächst Teil der Schlange war, wird als „grob“ bezeichnet. Seine Äußerung wird im Präsens und indirekter Rede wiedergegeben. Indem E. sich nun als „überrumpelt“ darstellt, spricht sie dem Mann eine nicht legitime Autorität zu. Der Schlusssatz wiederholt diese Einschätzung. Der Mann ist respektlos, und E. wäre im Recht gewesen. Nachdem E. aber überrumpelt wurde und ihr Recht nicht durchsetzen konnte, bleibt ihr nur die Wut. Von einer Person mit „high agency“ wird E. zu einer „undergoerin“.

Sowohl für ihre Selbstpositionierung als auch für die Fremdpositionierung werden keinerlei kulturelle Kategorien relevant gemacht, wie überhaupt in der gesamten CI-Narration.16 Auch ihr Alter erwähnt E. nicht. Letzteres kann auch dem Erhebungskontext geschuldet sein, denn E. hat die Geschichte ja eben noch den anderen Studierenden mündlich erzählt, die natürlich das Alter von E. kennen. Auch gibt es keine retrospektive Evaluation des Ereignisses bzw. reflektierende Passagen.

Wir haben es mit einer klassischen eingipfligen Erlebniserzählung zu tun. Positionierung, Komplikation und Resultat sind miteinander verflochten. Es handelt sich um ein einmaliges Ereignis, das sehr kompakt eingeführt wird, dabei einem klaren dramaturgischen Plan folgt. Die CI-Narration entspricht den „klassischen“ Anforderungen an eine CI-Anwendung nicht nur in Bezug auf den Spannungsaufbau und die fehlende Explikation für den Vorfall, sondern auch insofern, als die Ursache für das kritische Moment auf unterschiedliche Verhaltensroutinen (Einsteigen in den Bus) in einem bestimmten Kontext zurückgeführt werden kann. Aus der Perspektive des älteren Mannes erscheint auf diesem Hintergrund das Verhalten von E. grob unhöflich. Inwieweit dies die Handlung des älteren Mannes rechtfertigt, müsste aber sicherlich diskutiert werden.

5.2 „Unordnung interkulturelle WG“

Die folgende CI-Narration entspricht einem berichtend-beschreibenden Darstellungsverfahren. Die ausführlichere Analyse beschränke ich hier aus Platzgründen auf diesen Aspekt und äußere mich zur Positionierung nur sehr verkürzt.

 

Unordnung interkulturelle WG

Ich wohne in einer WG zusammen mit zwei Chinesen die ein Auslandsaufenthalt hier in Deutschland haben. Somit teilen wir uns eine Küche. Weder auf Deutsch noch auf Englisch ist es einfach mit Ihnen zu kommunizieren. Oft sagen sie Ja obwohl sie eine Frage nicht verstanden haben. Die verlassen die Küche immer total chaotisch und dreckig, dass es für mich total eklig ist darin zu kochen. Das Geschirr und gekochte Essen steht meistens mehrere Tage offen rum und die Herdplatte und der Boden ist voller Essensreste. Anfangs versuchte ich mit Ihnen darüber zu reden. Ich ging Punkte wie Putzplan etc. an. Doch sie verstanden es nicht bzw. gingen dem aus dem Weg. Nun traue ich mich nicht mehr etwas zu sagen, weil ich der Neuzugang bin und zahlenhaft unterlegen bin. Außerdem ist die Kommunikation sehr unangenehm. Ich versuche nun Signale zu senden, in dem ich den Müll extra in den Flur stelle, so dass sie ihn mit runternehmen. Oder ich stelle ihr Geschirr extra offen bei Seite hin, dass sie es endlich abwaschen. Ich hoffe das ändert sich die nächsten Wochen…

Lucius-Hoene und Deppermann (2004, S. 160) schreiben über die Funktion solcher Verfahren in autobiographischen Erzählungen:

[Sie haben] die wichtige Funktion, den Ereignisraum des Geschehenen auszugestalten und sprachlich die interessierenden Aspekte der „Welt“ des Erzählers zu konstruieren und zu charakterisieren. So können diese deskriptiven Objekte oder Weltfragmente z.B. Lebensräume, Milieus, Orte, Szenarien, Personen, Beziehungen, Erfahrungen, Gefühle oder Verhaltensweisen sein; […] Beschreiben wird so zum Akt des „world-making“. Wir erfahren welche Bestimmungsausschnitte eines Weltausschnitts für ihn wesentlich sind, welche Assoziationen er damit verbindet und bei der Hörerin aufzurufen sucht, und in welcher Beziehung diese Aspekte zueinanderstehen.

Die ersten drei orientierenden Sätze dieser CI-Narration könnten auch die Einleitung zu einer szenischen Darstellung sein. Aber dann wird mit „oft“, „immer“, „mehrere Tage“ in eine berichtende Darstellung übergeleitet. Die Dauer der erzählten Zeit umfasst mehrere Tage bis geschätzt einige Wochen. Der Konflikt im „Weltfragment“ WG-Küche wird als Dauerzustand beschrieben. Eine gewisse narrative Binnenstruktur ist aber zu erkennen. Auf die Orientierung folgt die Schilderung des Dauerkonflikts, dann wird mit der Aufzählung der Maßnahmen zur Konfliktlösung mit dem Resultat „Nun traue ich mich nicht mehr etwas zu sagen“ in eine neue Konfliktphase übergeleitet. Es gibt einen ausleitenden Satz, in dem eine Hoffnung formuliert wird. Der Ausgang des Konflikts bleibt jedoch offen.

Die weitgehend berichtend und beschreibende Erzählung verfügt doch über eine minimale Binnenstruktur.17 Es fehlt aber der Spannungsaufbau, der Höhepunkt als Planbruch, das Überraschungsmoment, die eine klassische CI-Anwendung sonst auszeichnen. Wir haben es im Grunde genommen mit „Unordnung interkulturelle WG“ mit einer Zusammenfassung zahlreicher Critical Incidents zu tun. Im Gegensatz zu den von Lucius-Hoene und Deppermann (2004) für die berichtenden Darstellungsverfahren benannten Kategorien der Zeit- und Erlebensperspektive und der Ereignisdarstellung können wir hier nicht feststellen, dass deutlich rückblickend und vom Resultat her erzählt wird, da der Konflikt noch offen ist und sich die Erzählende noch immer in der Konfliktsituation befindet. Aus Trainings sind mir derart strukturierte CI-Narrationen sehr geläufig, vor allem wenn es um Dauerkonflikte am Arbeitsplatz geht.

Bezüglich der Positionierung kann hier eine Veränderung der Selbstwahrnehmung (change) von „high agency“ zu einer „zahlenmäßig unterlegenen“ Position beobachtet werden, wobei durchaus eine strategische Handlungsfähigkeit erhalten bleibt. Die Abgrenzung (sameness versus difference) gegenüber „den Chinesen“ erfolgt im gesamten Text über zahlreiche negative Zuschreibungen.

6. Zusammenfassende Analyse des Korpus (Tabelle Anhang III)

6.1 Darstellungsformate und narrative Dynamik

Die 14 schriftlichen CI-Narrationen des Korpus sind durchschnittlich ca.7,5 Zeilen lang18, wobei die längsten Texte 11,5 Zeilen und der kürzeste nur etwas mehr als zwei Zeilen umfasst. Die erzählte Zeit bewegt sich im Rahmen von einigen Sekunden („Begrüßung Kuss“) bis zu mehreren Wochen, wobei bei den berichtend-beschreibenden Formaten in vier Fällen eine genauere Rekonstruktion nicht möglich ist. Die deutlicher szenisch-episodischen Formate umfassen eine durchschnittliche erzählte Zeit zwischen ca. 15 Minuten und einigen Stunden.

Vier CI-Narrationen („An der Bushaltestelle“, „Wecker stellen“, „But I like you“ und „Georgische und Deutsche Arbeitsmoral“) lassen sich am eindeutigsten dem szenisch-episodischen Darstellungsformat zuordnen. Sechs weiter CI-Narrationen können ebenfalls auf Grund der Darstellung eines einzelnen Ereignisses als szenisch-episodisch bezeichnet werden („E instead of I“, „Handynutzung“, „Spanische Kroketten“, „Begrüßung Kuss“, „Wer bezahlt?“, „Geschäftserlebnis mit Chinesen“). Diese sechs Texte sind jedoch im Stil entweder eher berichtend-beschreibend verfasst („Wer bezahlt?“ und „Geschäftserlebnis mit Chinesen“) oder enthalten metareflexive Passagen vom Resultat her, so dass sich kein dramatischer Spannungsbogen aufbaut. („E instead of I“, „Spanische Kroketten“, „Begrüßung Kuss“). Der kürzeste Text „Handynutzung“ stellt in seiner Komprimiertheit eine Ausnahme dar. Hier verbirgt sich das CI-Ereignis in einem reinszenierenden Zitat einer indirekten Rede.

Die restlichen vier CI-Narrationen können eher einem berichtend-beschreibenden Darstellungsformat zugeordnet werden. Dabei fallen in „Unordnung interkulturelle WG“ und „Französische Austauschstudentin“ die stark emotionalen, wertenden und moralisierenden Passagen auf. „Sprachbarriere Mexiko“ und „Fremde“ sind weniger emotional ausgestaltet. Diese letzten beiden CI-Narrationen beziehen sich nicht in erster Linie auf die bzw. den Erzählenden, sondern auf die Eltern (in „Sprachbarriere Mexiko“) und „einen Kumpel“ (in „Fremde“). Dabei positionieren sich die Erzählenden nicht als unbeteiligte, sondern als beteiligte Beobachter. In allen anderen CI-Narrationen sind die Erzählenden auch Akteure, wobei ergänzt werden muss, dass es sich bei „But I like you“ und bei „Geschäftserlebnis mit Chinesen“ um Nacherzählungen handelt. In letzterem Fall geht dies nicht aus dem Text, sondern nur aus den Kategorisierungen in der Wissensbasis hervor. In sieben Narrationen sind die Erzählenden alleine mit den Ereignissen konfrontiert. In den anderen sieben Narrationen stellen sie sich als Teil einer Gruppe dar, wobei lediglich in „E instead of I“ die Handlungen des Vaters (er buchstabiert) als relevant für den Ereignisverlauf dargestellt werden. In „Sprachbarriere Mexiko“ und „Französische Austauschstudentin“ ist die Darstellung der sprachlich inkompetenten Eltern jeweils ein wichtiges Element der Selbstpositionierung.

In den Synopsen der Darstellungsverfahren bin ich nicht näher auf die Orientierungen eingegangen, die in allen 14 CI-Narrationen sehr komprimiert in einer bis zwei Zeilen erfolgen und in allen Texten ausreichend explizit auf die Ereignisverkettung vorbereiten. Dabei beinhalten Elemente der Orientierung häufig bereits Aspekte der Fremd- und Selbstpositionierung, wie zum Beispiel der Ausdruck „Roadtrip“ in „E instead of I“, der coolness und Sprachkompetenz suggeriert. Dabei fällt auch ein Phänomen auf, das ich mit „bedingter Kulturalisierung“ bezeichnen möchte. Ich verstehe darunter die zum Zweck der Orientierung verwendeten nationalen Verortungen, die noch nicht automatisch in eine kulturalisierende Zuschreibung von Eigenschaften führen, wie die 14 Beispiele zeigen.

6.2 Selbst- und Fremdpositionierung

Im Überblick ergeben sich trotz dieses verkürzten Blicks folgende interessante Resultate: Lediglich in „An der Bushaltestelle“ erfahren wir weder durch eine explizite noch implizite Zuschreibung etwas über die „Herkunft“ der beteiligten Personen. Explizite Zuschreibungen nationaler Kategorien finden wir dagegen in „Unordnung interkulturelle WG“, „Wecker stellen“, „But I like you“, „Fremde“, „Französische Austauschstudentin“, „Geschäftserlebnis mit Chinesen“ und „Georgische und Deutsche Arbeitsmoral“. Indirekte Zuordnungen zu nationalen Kategorien finden sich in allen anderen CI-Narrationen. In keiner der CI-Narrationen werden diese Zuordnungen infrage gestellt oder reflektiert19.

In vier CI-Narrationen haben wir es mit explizit negativen Fremdpositionierungen zu tun („An der Bushaltestelle“, „Unordnung in interkultureller WG“, „Wecker stellen“, „But I like you“ und „Französische Austauschstudentin“.) Interessanterweise handelt es sich dabei auch um die CI-Narrationen mit expliziten nationalen Zuschreibungen (außer „Fremde“, wo es zwar eine wertende Äußerung über die „geschlossenere“ deutsche Gesellschaft gibt, die ich jedoch nicht als eindeutig negativ verstehe). Auch sind es genau diese vier CI-Narrationen, in denen die Kommunikation als gescheitert dargestellt wird. „Handynutzung“ stellt eine Ausnahme dar. Es ist die einzige CI-Narration des Korpus, in der ein institutionelles hierarchisches Verhältnis abgebildet wird. Die narrative Verarbeitung reflektiert die asymmetrische Kommunikationssituation. In „E instead of I“ und „Spanische Kroketten“ wird von einer interaktiven Klärung der sprachlichen Missverständnisse berichtet. In „Begrüßung Kuss“ und „Fremde“ finden sich metareflexive Passagen, in denen Empathie und Perspektivenwechsel zum Ausdruck gebracht werden. „Wer bezahlt?“ und „Geschäftserlebnis mit Chinesen“ bleiben bei der beschreibenden Darstellung und in „Sprachbarriere Mexiko“ und „Georgische und Deutsche Arbeitsmoral“ wird im ersten Fall eher implizit und im zweiten Fall explizit von einer Solidarisierung mit den jeweiligen „Gegenspielern“ erzählt, die in beiden Fällen eher positiv dargestellt werden. Eine Ausnahme ist wiederum „Handynutzung“. Hier wird deutlich gemacht, dass das Fehlverhalten der Schüler autoritär durch die Lehrenden aufgelöst wird, wobei die Darstellung der Lehrenden indirekt negativ realisiert wird.

Bezüglich der Selbstpositionierungen finden sich in folgenden CI-Narrationen mit negativen Fremdpositionierungen („An der Bushaltestelle“, „Unordnung interkulturelle WG“, „Handynutzung“, „Wecker stellen“) eindeutige Darstellungen des Verlusts der Handlungsfähigkeit (undergoer). In „Interkulturelle WG“ und „Weckerstellen“ erfolgt darauf eine Darstellung einer neuen Handlungsstrategie. Dies unterscheidet sich von Erzählungen über Change-Prozesse, die durch Einsicht oder Erkenntnis und in Interaktion mit den „Gegenspielern“ zu einer neuen Handlungsfähigkeit führen („E instead of I“). In „But I like you“ wird zunächst die Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit beschrieben, dann erfolgt ein Change-Prozess und die Schilderung, dass die Handlungsfähigkeit wieder zurückgewonnen wurde. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten von metareflexiven Passagen und dem Maß, in welchem Handlungsunfähigkeit dargestellt wird. Die reinen „undergoer-Narrationen“ enthalten keine metareflexiven Passagen. Die Darstellung von eingeschränkter Handlungsfähigkeit findet sich auch in „Französische Austauschstudentin“ und „Geschäftserlebnis mit Chinesen“. In „Sprachbarriere Mexiko“ und „Französische Austauschstudentin“ wird die positive Selbstdarstellung durch die Darstellung der sprachlichen Inkompetenz der Eltern verstärkt.

Allen CI-Narrationen ist gemeinsam, dass sie zunächst von einer positiven Selbstdarstellung ausgehen, mit der Einschränkung, dass in der Nacherzählung „Geschäftserlebnis mit Chinesen“ kein erzählendes Subjekt identifiziert werden kann. Die Änderungen im Selbstbild zwischen „constancy“ and „change“ (hier im weiteren Sinn) werden vielfältig dargestellt und stehen deutlich im Zusammenhang mit Differenzkonstruktionen als Teil von Selbst- und Fremdpositionierung. Besonders deutlich zu sehen ist dieses Zusammenspiel in „Georgische und Deutsche Arbeitsmoral“.

Erstaunlich ist, dass neben den „bedingten Kulturalisierungen“, die oben als Teil der Orientierung erwähnt wurden, keine Kulturalisierungen oder Ethnisierungen in den Texten zu finden sind. Lediglich in „Begrüßung Kuss“ und „Fremde“ finden sich kulturalisierende und stereotypisierende Explikationen. Stereotypisierungen werden in „Georgische und Deutsche Arbeitsmoral“ und „Sprachbarriere Mexiko“ dem georgischen Freund und den Hotelangestellten in den Mund gelegt. Perspektivenwechsel werden lediglich in vier CI-Narrationen indirekt dargestellt („E instead of I“, „Begrüßung Kuss“, „Fremde“ und „Georgische und Deutsche Arbeitsmoral“). Eine Reflexion des eigenen Verhaltens oder der eigenen Verhaltensroutinen findet sich nur in den Narrationen, in denen auch Perspektivenwechsel indirekt thematisiert werden. In „Spanische Kroketten“ wird deutlich vom Erzählzeitpunkt aus reflektiert, ebenso in „Fremde“, in „E instead of I“ eher vom Resultat her. In den anderen Narrationen sind die Reflexionen Teil der Ereignisnarration. In „Unordnung in interkultureller WG“ findet zwar ein Nachdenken über das Verhalten „der Chinesen“ statt, dieses wird jedoch nicht in Beziehung zum eigenen Verhalten gesetzt. Aus diesem Grund spreche ich hier von „eingeschränkter Reflexion“.

7. Fazit

Das Korpus spiegelt meines Erachtens ein sehr realistisches Bild von unterschiedlichen CI-Narrationstypen wider, die man erfahrungsgemäß im Rahmen eines interkulturellen Trainings oder der interkulturellen Hochschullehre erhalten wird, wenn man dazu auffordert, von einem interkulturellen Ereignis zu erzählen und in das Thema mit typischen Beispielen aus der Literatur (hier Heringer, 2007) einführt. Auf den ersten Blick entsprechen „An der Bushaltestelle“ und „But I like you“ am ehesten dem Narrationstypus, den wir aus CI-Anwendungen kennen. Beide sind szenisch-episodisch, verfügen über einen Spannungsbogen und ein Resultat, das aber die Auflösung der Gründe für den Konflikt nicht mitliefert. Beide könnten mit kulturell bedingten Unterschieden in Verhaltens- und Höflichkeitsroutinen weitgehend erklärt werden. „Handynutzung“, „Begrüßung Kuss“, „Fremde“, „Geschäftserlebnis mit Chinesen“ und „Georgische und Deutsche Arbeitsmoral“ müssten wohl überarbeitet werden, um z.B. im klassischen Format eines Culture Assimilator eingesetzt werden zu können. Aber was machen wir mit „E instead of I“, „Spanische Kroketten“, „Wecker stellen“, Sprachbarriere Mexiko“ und „Französische Austauschstudentin“? Wie würden wir mit diesen Texten in der Lehre oder einem Training umgehen, da es hier doch vordergründig nur um Probleme der sprachlichen Verständigung geht und wir es in „Sprachbarriere Mexiko“ und „Französische Austauschstudentin“ gar nicht mit einer Ereignisschilderung, sondern eher mit einer Zustandsbeschreibung zu tun haben? Wären diese dann gar keine oder nur „schlechte“ CI-Narrationen?

Würde man dem Grundgedanken des autobiographischen Erzählens folgen, wäre die Antwort auf diese Frage ganz einfach: Alle CI-Narrationen, die im Rahmen eines interkulturellen Trainings oder in der Interkulturellen Lehre und bei entsprechender Narrationsaufforderung entstehen, sind CI-Narrationen, weil die Erzählenden die jeweiligen Ereignisse auf diesem Hintergrund für erzählwürdig empfunden und entsprechend relevant gemacht haben. Wie aus der Analyse des Korpus ersichtlich wurde, weisen die Narrationen darüber hinaus mindestens insofern auch gemeinsame formale Merkmale auf, als sie in sehr verdichteter Form Orientierung sowie Selbst- und Fremdpositionierung in Relation zueinander setzen. Ob es sich bei CI-Narrationen um eine eigene Textsorte handelt, müsste anhand weiterer Korpora untersucht werden. Dabei sollten schriftliche, mündliche und multimediale Texte gleichermaßen berücksichtigt werden und auch Alltagserzählungen aus nicht didaktischen Settings miteinbezogen werden. Aus der Sicht eines autobiographischen Ansatzes rückt diese Frage allerdings in den Hintergrund.