Crossing the River - Victor Grossman - E-Book

Crossing the River E-Book

Victor Grossman

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Beschreibung

Als der US-Soldat Stephen Wechsler bei Linz in die Donau steigt, flieht er vor der Kommunistenverfolgung in den USA des Senators McCarthy. Sein Ziel ist die andere Seite des Flusses, die Welt hinter dem 'Eisernen Vorhang'. Sein neues Leben beginnt mit einem neuen Namen – Victor Grossman wird in der DDR Transportarbeiter, Kulturleiter, Dreher, Lektor, Journalist. Er arbeitet beim Democratic German Report und bei Radio Berlin International, wird Leiter des Paul-Robeson-Archivs an der Akademie der Künste. Als freischaffender Journalist berichtet er in DDR-Medien vor allem über die USA. Nach 1990 publiziert er weiter und informiert die Welt über Entwicklungen in Deutschland, auch im Rückblick auf die DDR. Victor Grossman ist und bleibt garantiert der einzige Mensch mit Diplomen von Harvard und der Karl-Marx-Universität. In diesem Buch erzählt er aus seinem Leben – in den USA, der DDR und dann in der neuen BRD. Der Blick eines US-amerikanischen DDR-Journalisten auf unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse ist spannend – und mit viel Witz geschrieben!

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Seitenzahl: 904

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Victor Grossman

Crossing the River

2014 Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund

Der Autor über das Buch

Victor Grossman über »Crossing the River«:

»Ich gebe zu, mein Buch hat eine Tendenz. Ich fand es schwierig, sie Lesern zu vermitteln, die mit der DDR nur zwei Begriffe assoziierten: Mauer und Stasi (vielleicht auch gedopte Sportler). Ich wollte zeigen, dass für die meisten Menschen in der DDR das Leben viele normale Seiten hatte, wie ich bei Besuchen in fast allen Ecken des Landes feststellte – nicht als Privilegierter oder Tourist (ich war wohl der einzige Amerikaner der Welt, der Trabant fuhr). Engagiert für den Sozialismus war ich immer, blauäugig oder gar blind jedoch nie, und so reflektiere ich in meinem Buch auch das Gute und das Schlechte in der DDR.«

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(Und nun wollen wir Sie nicht weiter beim Lesen stören…)

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Gleich vorweg:

Wem die ersten Kapitel bekannt vorkommen, der hat bestimmt mein lange vergriffenes Buch »Der Weg über die Grenze« von 1985 gelesen. Er kann die Seiten überschlagen oder sie neu genießen.

Wer sich deswegen ärgert und meint, er hat »zuviel bezahlt«, kann sich an den Autor wenden und bekommt einen Teil erstattet. Auch bietet der Verlag an, das Buch in diesem Fall zurückzunehmen.

Victor Grossman

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I. Flucht und Kindheit

Mein Leben vor meiner aufregenden Flucht war so schlecht nicht gewesen. Ohne dieses Einschreiben hätte ich wahrscheinlich ein ganz normales amerikanisches Leben geführt – oder vielleicht auch wieder nicht.

Als mich das Einschreiben erreichte, versorgte ich in einem Armeelager im bayerischen Fürth Jeep- und Lastwagenfahrer mit Ersatzteilen. Für einen technischen Idioten wie mich war das nervenaufreibend; ich war einer der wenigen Amerikaner, der nicht Autofahren konnte; einen Vergaser konnte ich kaum von einem Auspuff unterscheiden. Trotz alledem war ich guter Dinge, als ich aus meinem Urlaub in Skandinavien zurückgekehrt war, weil ich mich in Kopenhagen sehr ernsthaft in eine kleine, kecke Dänin mit einem roten Mantel ganz verliebt hatte.

War das ernst? War es ihr Ernst? Und was war mit Anna in New York – hatten die seltsamen Andeutungen in ihrem letzten Brief bedeutet, sie sei schwanger? Sollte ich versuchen, nach den zwei Jahren in der US-Army nach Dänemark zu ziehen? Und wenn nicht (was wohl wahrscheinlicher war), wie sollte ich in meiner eisig gewordenen Heimat zurechtkommen und meinen Lebensunterhalt verdienen? Es war das Jahr 1952; ich war 24 und versuchte, meinem Leben eine Richtung zu geben.

Nun kam eine Lösung quasi von selbst – knallhart, wenn nicht völlig unerwartet. Der Gefreite, der die Post austeilte, sagte mir: »Für dich ist neulich ein Einschreiben angekommen. Das musst du selbst abholen.«

Ich sah auf die Uhr; die Poststelle hatte bereits zu. Ich musste also bis morgen warten. Wer schickt mir denn ein Einschreiben? Ein Weihnachtsgruß wird es wohl im August nicht sein! War es die furchtbare Nachricht, um die ich seit Monaten bangte? Ich grübelte den Abend weiter, hörte dem unbesorgten Schnarchen meiner Zimmergenossen zu und fiel endlich in unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen musste ich erst frühstücken und den ganzen Vormittag nach zehntägigem Urlaub meinen Kampf mit der Technik wieder ausfechten – so gut es eben ging. Erst am Mittag lief ich nur allzu ahnungsvoll zur Poststelle und bekam einen großen, braunen Umschlag.

Der Brief kam von der Wehrjustizstelle, tausende Meilen entfernt im Pentagon. Ich suchte einen Ort, wo ich unbeobachtet lesen konnte, öffnete den Umschlag mit zitternden Fingern und sah sofort: meine Befürchtungen waren nur allzu berechtigt! Die Anschuldigungen standen klar und deutlich auf einer Textseite und am Ende stand ein unmissverständlicher Befehl: Am kommenden Montag hatte ich beim Militärgericht im nahen Nürnberg zu erscheinen. Heute war Dienstag. Ich wusste, dass man mir in dieser furchtbaren Zeit allerlei zur Last legen könnte; am Ende stand dann wahrscheinlich ein Militärgefängnis in Deutschland oder im berüchtigten Lager von Leavenworth in Kansas. Auch danach, wenn ich das überlebte, wären mir fast alle Zukunftschancen verbaut.

Noch war ich nicht festgenommen. Keiner meiner Vorgesetzten hatte irgendetwas zu dieser Sache geäußert. Offenbar wollte niemand mich in Handschellen nach Nürnberg bringen. Doch gewiss müsste ich diesen Brief meinem Hauptmann zeigen, schon um zu erklären, wieso ich am Montag nicht zum Dienst erscheinen könnte.

Seit drei Monaten, als ich merkte, dass irgendetwas mit mir im Gange war, ging mir eine mögliche Lösung durch den Kopf: Ich musste abhauen! Ich wollte nicht hinter Gittern landen, also musste ich fliehen! Ja, das war völlig verrückt, doch nun schien mir die Entscheidung unausweichlich. Ich schadete niemand dadurch, ich glaubte fest, weder Frau noch Kind im Stich zu lassen. Als Angeklagter oder Häftling würde ich der »Bewegung« in Amerika eher schaden als nützen. Der einzige Ausweg wäre zu fliehen; dazu zwang mich gerade meine Angst – die eisige, Herz einschnürende, paralysierende, wilde und grelle Angst der McCarthy-Ära, die sich gerade mit der Verurteilung von Ethel und Julius Rosenberg und deren drohender Hinrichtung einem Tiefpunkt näherte.

Nur eine Richtung war möglich: nach Osten. Dänemark, das ich nur kurz in Erwägung zog, war NATO-Mitglied und würde mich ausliefern. Doch schon am Montag würde ich sicher keine Chance mehr zur Flucht bekommen. Hatte man die Ausgangstellen vor mir gewarnt? Wann würde man beginnen, mich zu suchen? Wäre die Zeit ausreichend, zu einer östlichen Grenze zu gelangen? Ich wusste nur eines: Sobald ich als vermisst gemeldet wäre, würde bestimmt die Militärpolizei nach mir suchen. Ich musste also schnell handeln.

Sonntags konnten Soldaten nach dem Frühstück das Objekt verlassen und brauchten nicht vor Mitternacht zurückzukehren. Für 15 oder 16 Stunden würde ich also nicht vermisst werden. Es war zwar riskant, bis zum letzten Tag zu warten, doch musste das genügen. Nur 50 Prozent des Regiments mussten zu jeder Zeit in der Kaserne sein, doch hegten viele Soldaten gar kein Interesse für dieses so fremde Land (oder hatten geradezu Angst vor so vielen Wesen, die nicht einmal Englisch sprachen). Da stellte wohl das Weggehen kein Problem dar.

Zunächst musste ich zwei Briefe schreiben. Erstens an meine Eltern. Da ich schon seit dem Eintritt in die Armee Angst vor möglichen Schwierigkeiten hatte, vereinbarte ich vor meiner Abreise nach Deutschland einen Code mit meinem Vater; er liebte ja sowieso Rätsel und Denkaufgaben. Falls ein Brief von mir mit »Dear Ma and Pa« anstelle des üblichen »Mom and Dad« beginne, sollte er dann jedes dritte Wort lesen. Falls nichts daraus wurde, dann jedes vierte, fünfte, usw., solange, bis sich ein Sinn ergibt.

Schwitzend, ja knie-zitternd vor Angst ging ich in das leere Klubzimmer. Ich wollte nur schreiben, dass ich fliehen musste und sie sich um mich keine Sorgen machen sollen – und das in einem normal klingenden Brief verbergen, der keinen Verdacht erweckt. Ich erfuhr schnell wie verdammt schwierig das war; es gelang mir endlich, eine ganz kurze Botschaft bei jedem fünften Wort einzuschmuggeln, aber ob der Text normal schien, war mir alles andere als sicher. Der zweite Brief ging an Ruth in Kopenhagen; er war nicht codiert, sprach aber auch die Dinge nicht offen an. Ich sagte ihr, dass ich oft an sie dachte, aber nun fliehen muss. Lebewohl!

Während des Einschlafens überlegte ich, ob ich vielleicht einen Freund in meine Pläne einweihen sollte, Martin etwa, oder Simon. Doch als ich zwei Monate zuvor Martin andeutete, dass ich vielleicht fliehen müsste, schaute er mich entsetzt an und fragte ob ich verrückt sei; dann dürfte ich wohl nie wieder in die Heimat zurück. Er stand allerdings nicht in derselben Gefahr wie ich. Ich entschied mich, niemandem etwas zu sagen. Das war sicherer!

Am nächsten Tag benahmen sich Soldaten wie Offiziere mir gegenüber völlig normal. Mich aber konfrontierte nun die Frage, wie und vor allem wo ich die große Trennlinie überqueren könnte. In Hof, nördlich von Fürth, war sie gar nicht so weit. Doch kannte ich mich dort nicht aus. Würde mich beim Herumsuchen eine Militärpatrouille dort erwischen, wäre ich doppelt so schlecht dran!

Deutsche Kommunisten – also meine Genossen – mussten doch darüber Bescheid wissen. Könnte ich sie fragen? Ich hatte in Stuttgart, in Kopenhagen und in Bologna mit Genossen gesprochen; ob das nicht hier auch ging? Ich wusste, die Kommunistische Partei war noch nicht verboten, stand jedoch schon unter scharfem Beschuss. Dennoch musste ich es versuchen.

Am Mittwoch fuhr ich nach dem Dienst nach Nürnberg. Niemand hielt mich am Kasernentor auf; mein Ausweis wurde so oberflächlich wie immer kontrolliert. Das war wenigstens ein gutes Zeichen. Am Postamt in Nürnberg warf ich meine zwei Briefe in den Kasten, fand die Nummer des örtlichen Büros der Kommunisten und rief an. Stotternd, mit schwerem Akzent, in schlimmerem Deutsch als sonst, fragte ich, ob ich wegen eines wichtigen Problems jemanden treffen könnte, vielleicht auf dem Bahnhof. Nein, das ging nicht. Ich müsste ins Büro kommen. Ich verstand ihr Misstrauen, doch konnte ich es riskieren, gerade dorthin in Uniform zu gehen? Was sollte ich tun?

Den ganzen Donnerstag nagten an mir Zweifel, aber als ich nach Dienstschluss wieder in Nürnberg ankam, ging ich doch in die Straße, die ich auf dem Stadtplan gefunden hatte. Die Gegend war ruhig gelegen, mit einigen Wohnhäusern und Villen mit gepflegtem Rasen. In einer dieser Villen, abgetrennt von der Straße durch einen Zaun, ein eisernes Tor und etwa zehn Meter Rasen, befand sich das Parteibüro. Nebenan war ein großes Gebäude, aus dessen Fenstern man leicht hinunter- und vielleicht auch hineinschauen konnte. In den USA war ich oft gewarnt worden, dass das FBI nicht nur Telefone abhört, sondern von nebenan Besucher in Parteibüros kontrollierte (was sich Jahre später als wahr herausstellte). Meine einzige Hoffnung war, dass es länger als drei Tage dauern würde, ehe man mich identifizierte.

Ich wurde in einen spärlich-möblierten Raum mit zwei Stühlen und einem Schreibtisch gebracht. Das breit geöffnete Fenster jagte mir einen Schreck ein; von jenem Nachbarhaus aus hätte man einen perfekten Blick auf mich. Ich drehte mein Gesicht weg und begann, meine Situation stammelnd zu erläutern. Ich hatte ja keinen Beweis dafür, dass ich überhaupt in der Kommunistischen Partei war. Mitgliedsbücher gab es in den USA nicht mehr (und wenn es sie noch gäbe, hätte ich meins nie nach Europa gebracht). In New York hatte mir mein Freund Mike Gold, ein unter Linken bekannter Publizist und Autor (er schrieb den großen Roman »Juden ohne Geld«), einen kleinen Zettel als Empfehlungsschreiben für den berühmten kommunistischen Schriftsteller Louis Aragon in Paris mitgegeben. Da stand nur, dass ich ein Freund und Genosse war. Ich kam nie nach Paris, hoffte aber, dass jeder aktive Kommunist die Namen von Gold und erst recht Aragon kennen würde und mir dann Vertrauen schenken. Das Hingekritzelte, auf Englisch, mit einer eiligen Unterschrift, hätte Aragon genügt. Hier aber genügte es gar nicht. Er kenne kein Englisch, sagte mein Gegenüber.

Ich versuchte, meine Situation zu erklären. Nicht nur war mein Deutsch schlechter als sonst; ich hatte Probleme mit seinem Bayrischen. Ob er mir nur sagen könne, wie man über die Grenze käme? »Wie soll ich Ihnen helfen, ich habe ja nur ein Fahrrad!« Ich erwarte nicht, dass man mich hinüberfahre, beteuerte ich (obwohl ich gerade das innerlich gehofft hatte) – nur einen guten Rat bräuchte ich.  

Er bedauerte. Ich erinnerte so gut ich konnte an Kommunisten, denen bei der Flucht aus Nazideutschland geholfen wurde. Auch das nützte nicht. Ich begriff, dieser Mann musste befürchten, dass ich ein Provokateur sei. Und selbst wenn ich das nicht wäre, war es gefährlich, sich in irgendeiner Form in meine Fluchtpläne zu verwickeln und dabei entdeckt zu werden. Vielleicht hätte ich an seiner Stelle genauso gehandelt. Doch war ich erschüttert – und nun gänzlich auf mich allein gestellt.

Der Abend hatte gerade erst begonnen. Als ich wieder durch das schmiedeeiserne Tor ging, nervös und verzweifelt, begegnete ich einem Mann um die 30 in Lederhosen, der ein Fahrrad schob, was in Bayern im August nicht ungewöhnlich war. Er schien mich etwas anzustarren; sicherlich gibt ein US-Soldat in Uniform, der schwitzend aus dem Büro der Kommunistischen Partei stolpert, auch Anlass zum Starren! Doch dieser Mann mit der Lederhose und dem Fahrrad begann mich zu verfolgen. Gewiss nur Einbildung – doch fürchterlich!

Ich musste manches erledigen. Um niemanden zu inkriminieren, wollte ich sämtliche Briefe zerstören, was für mein fieberhaft arbeitendes Gehirn äußerst schwierig erschien. Im Camp gab es keine Öfen, auch in der Stadt wusste ich nicht, wo ich ein offenes Feuer finden könnte. So wollte ich die Briefe zerreißen und in die Gullys werfen. Nun aber glaubte ich, ich wäre ständig von dem Mann mit Lederhosen verfolgt. Von Angst getrieben, hastete ich durch die Straßen dieser einstmals schönen Stadt, nun noch voller düsterer Ruinen, und – sobald ich mich unbeobachtet fühlte, zerriss ich rasch ein paar Briefe und warf sie in den nächsten Gully.

Nun übernahm ein bebrillter Mann mit Sommermantel die Aufgabe, mich zu verfolgen. Und nach ihm, wie in einem Krimi, ein Dritter. Geplagt von solchen Halluzinationen schwitzte ich, meine Knie wurden weich – ich musste aber weiter eilen! Endlich waren alle Briefe weg.

Der Bus zurück zur Kaserne fuhr einmal die Stunde. Die Wartezeit verbrachte man im Army-Club neben der Haltestelle. Ich bestellte einen Milchshake. Doch zu meinem Entsetzen sah ich meinen Kompaniechef, einen Feldwebel und einen weiteren Unteroffizier zusammen an einem Tisch sitzen. Das waren die Letzten, die ich treffen wollte. Höflichkeit und Disziplin verlangten, dass ich sie begrüße, und sie mussten mich dann einladen, den vierten Sitz zu nehmen. Aber wie konnte ich in meinem Zustand mit ihnen plaudern?! Ich setzte mich doch, wenn auch sicher recht blass. Der Hauptmann war nie ein schlechter Kerl gewesen; bis im Mai meine Schwierigkeiten begannen, war er recht freundlich – so gut das eben zwischen einem Offizier und einem einfachen Soldaten möglich war. Nun schien mir die Stimmung geradezu eisig. War es möglich, dass er nicht von meiner Situation wusste? Wohl kaum! Mindestens seit Mai, als ich auf eine andere Stelle versetzt worden war, musste er im Bilde sein. Dennoch dachte ich: Gibt es überhaupt Unmögliches in der Armee?

Und der Feldwebel? Wusste er von der Geschichte? Wussten es vielleicht alle? Gedanken wie diese rasten durch meinen Kopf, während ich versuchte, mitzuplaudern. Ich flehte inständig, dass der Bus pünktlich ankommen möge. Als er endlich da war, schaffte ich es, mich von den Dreien abzusondern. Als ich endlich im Camp im Bett lag, war ich im schlechtesten Zustand meines ganzen Lebens.

Am nächsten Tag, Freitag, traf mich ein neuer Schlag. Nachdem es monatelang so gut wie keinen Küchendienst für unsere Kompanie gegeben hatte – das machten deutsche Angestellte – verkündete der neue Plan am Wandbrett, dass ich ausgerechnet am Sonntag, dem Tag meiner Flucht, mit im Küchendienst dran sein sollte. Konnte jemand wissen, dass ich dann weg wollte? Ich hatte niemandem davon erzählt. War das nur Zufall? Oder Strafe?

Das hieß aber, dass man mich am Sonntag schon am Tor stoppen könnte, weil ich Dienst hatte. Mit den vielen Einheiten im Objekt war das unwahrscheinlich, aber vielleicht doch? Und selbst wenn ich durch die Wache käme, würde mein Fehlen in der Küche schon auffallen und, noch ehe ich eine Chance hatte, weit zu kommen, könnte die große Jagd beginnen.

Warum also nicht Samstag? Wir hatten zwar erst am Nachmittag frei, durften aber bis 1 Uhr bleiben, was mir nicht 16, doch immerhin 13 Stunden gab, bevor meine Flucht auffiele. Noch ein Vorteil war, dass der Sonntag der allerletzte Tag war, bevor ich mich stellen musste – also wirklich denkbar knapp. Ich hatte sowieso keine Wahl: Ich würde morgen fliehen.

Nun musste ich mich für eine Route entscheiden, eine schwierige, vielleicht schicksalsträchtige Frage. In Berlin, hatte ich gehört, war es damals einfach, mit der U-Bahn von West- nach Ostberlin zu gelangen. Nur war die Strecke nach Berlin lang, und es gab sicher eine Menge Kontrollen. Während meiner Ausbildung in Hessen hatte ich eine Stelle gesehen, an der der Zug nach Kassel an einem schmalen Fluss entlang fährt, mir schien er eher wie ein Bach. Es müsste möglich sein, ihn zu durchwaten. Drüben war eine große, gepflügte Fläche, das Grenzgebiet, doch letztlich wollte ich ja dort gefunden werden. Nun aber war Hessen weit. Hätte ich nur damals im Juni die Grenze überquert! Doch war damals alles gar nicht klar; ich erkannte noch keine zwingende Not.

Ich dachte an meine kurze Reise nach Wien im Winter, als ich meinen alten Freund Ray Wendrey besucht hatte. Österreich war 1952 noch in vier Besatzungszonen aufgeteilt; an der Grenze gingen Sowjetsoldaten durch die Abteile, um die Papiere von Armeeangehörigen zu kontrollieren. Meine waren damals in Ordnung gewesen, und ich war fasziniert, die Sowjetsoldaten mit ihren Pelzmützen mit dem roten Stern zu sehen. Wie in den Kriegsfilmen! Vielleicht sollte ich den gleichen Zug nehmen und sie einfach bitten, mich mitzunehmen? Aber war da nicht vorher eine amerikanische Kontrolle? Wie würden die Sowjets reagieren? War der Checkpoint in der Sowjetzone oder noch auf der USA-Seite? Es gab zu viele offene Fragen. Sollte ich bis Wien fahren, damals noch in fünf Sektoren geteilt – einer für jede Besatzungsmacht und einer, wo sich die Vier die Macht teilten? Aber auch das schien zu kompliziert, zu weit, zu sehr mit der Gefahr verbunden, bei einer der vielen Kontrollen – die ich eigentlich alle vermeiden wollte – erwischt zu werden.

Wozu ich mich letztlich entschied war wahrscheinlich die schlechteste, dümmste und gefährlichste aller Optionen. Aber es schien der Ausweg mit den wenigsten Kon­trollen zu sein. In der Nähe von Linz bildete die Donau die Grenze zwischen der amerikanischen und der sowjetischen Zone. Ich dachte, dass ich dort vielleicht so etwas wie ein Paddelboot finden könnte. Und wenn nicht, würde ich eben durch den Fluss schwimmen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die ganze Strecke von US-Soldaten überwacht wird. Und Schwimmen konnte ich; nicht schnell, aber ausdauernd, auch über lange Strecken. Das war meine Entscheidung!

Vor Monaten, als ich noch im Hauptquartier gearbeitet hatte, aber immer gerade das fürchtete, was jetzt eingetroffen war, hatte ich mehrere Formulare für Dreitagepässe mitgehen lassen. Nun füllte ich eines der Formulare aus und unterschrieb mit dem Fantasienamen eines Hauptmannes. Das müsste für die Kontrolle in Salzburg genügen. 

Welche Sachen sollte ich mitnehmen? Nach ein Uhr morgens am Sonntag, nachdem kein Soldat mehr Ausgang hat, würde meine Uniform bedeuten, dass die Militär­polizei mich sofort stoppen und mein Regiment verständigen würde, das schon an den Aufnähern auf dem Ärmel zu erkennen war. Es wäre also besser, meine Zivilkleidung mitnehmen. Deutsche und sicher Österreicher würden zwar einen GI auch in Zivil erkennen, aber vielleicht nicht alle Militärpolizisten. Dennoch hatte ich Angst. Würde man am Kasernentor meine Reisetasche durchsuchen, wäre ich aufgeschmissen, weil Zivilkleidung nur außerhalb Deutschlands und Österreichs erlaubt war. Kleidung über den Zaun zu werfen und draußen aufzulesen erschien mir ebenso heikel, weil ich dabei erwischt werden konnte. Meine Ängste waren sicherlich übertrieben, aber ich entschied mich letztlich, gar keine Zivilkleidung mitzunehmen.

Aber was sollte ich sonst mitnehmen? Meine Reisetasche war nicht verdächtig; viele Soldaten trugen eine, wenn sie das Lager verließen. Ich würde einige Stangen Zigaretten mitnehmen: zum Rauchen, zum Bezahlen, vielleicht, um Hilfe zu bekommen. Meine Briefe hatte ich bereits vernichtet, aber was sollte aus meinen Fotos werden? Mit meiner neuen, teuren Kamera aus einem Armee-Laden hatte ich Fotos von vielen Reisen gemacht; wenn sie auch keine Kunstwerke waren, sie bedeuteten mir eine Menge. Fünf Filme mit Bildern von Skandinavien und Ruth in ihrem roten Mantel waren noch gar nicht entwickelt. Also packte ich sie in eine dicht schließende Blechschachtel, zusammen mit etwa 30 Münzen aus etlichen Ländern, die ich als Souvenir gesammelt hatte.

Eine unangenehme Aufgabe blieb noch. In Kopenhagen hatte ich zwei fortschrittliche Bücher gekauft, von Howard Fast und von Christopher Caudwell (der in spanischem Jarama fiel). Beide Bücher wollte ich schon seit Harvard lesen. Mitnehmen konnte ich sie nicht – zum ersten Male seit meiner Kindheit zerriss ich Bücher und vergrub sie in einer Mülltonne.

Eine letzte Frage fiel mir ein: Sollte ich eine kleine Abschiedsnotiz hinterlassen, vielleicht unter der Matratze, damit sie für ein paar Tage nicht gefunden wird? Ich wollte, dass meine Kameraden über die Gründe meiner Flucht Bescheid wussten und nicht die Lügen und Halbwahrheiten glauben, die man wohl über mich verbreiten würde. Ich mochte viele meiner Kameraden, hatte viel von ihnen gelernt und verstand mich gut mit ihnen, obwohl ich nie so offen sprechen konnte, wie ich es gewollt hätte. Ich wollte sie wissen lassen, dass ich weder ein Spion noch unpatriotisch war, sondern von Umständen gedrängt wurde, die außerhalb meiner Kontrolle lagen. Sie sollten nicht zu schlecht von mir denken. Aber die Angst siegte wieder, vielleicht auch etwas Klugheit. Ich ließ es bleiben.

Nun gab es nichts mehr zu tun oder zu entscheiden. Ich konnte nur noch dieselben Probleme in meinem Kopf immer wieder durchgehen und versuchen, soviel Schlaf wie möglich zu kriegen. Am Samstagmorgen warf ich ein paar Toilettenartikel und eine Landkarte in meine Tasche, mit den Zigaretten, der Blechschachtel und meiner Kamera, machte sorgfältig mein Bett, ging frühstücken und arbeitete die vier Stunden bis Mittag.

Ich schob das Einschreiben unter mein Unterhemd, steckte meine Papiere und Fotos von Anna und meiner Familie sowie den größten Teil meines Bargelds in eine Plastiktüte, die in die Hemdtasche mit Knopf kam. Meine Brieftasche hinten in meiner Hose enthielt nur meinen Ausweis, den gefälschten Dreitagepass sowie das Geld für die Fahrkarte und einen Imbiss.

Würden sie mich zwei Tage vor dem Gerichtstermin aus dem Camp rauslassen? War niemand gewarnt worden, fühlte sich die Armee so sicher? Und wenn ich es doch nach Linz schaffte, konnte ich die kräftige Donau besiegen? Oder war alles wahnwitzig? Am Freitag verließ ich ohne Schwierigkeiten das Camp und nahm den Bus nach Nürnberg. Im Bahnhof kaufte ich mir zur Tarnung eine Fahrkarte in eine nahegelegene Stadt, dann aber eine von Nürnberg nach Salzburg, gleich hinter der österrei­chischen Grenze. Im Linz müsste ich gegen 11 Uhr abends eintreffen.

MEINE KINDHEIT

Free Acres

Wie um alles in der Welt kam ich, einst der kleine, blond gelockte Sohn eines respektablen Kunsthändlers, in die Ungnade des Militärs? Die Schuld liegt hauptsächlich bei den aufregenden dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Meine allererste Erinnerung ist ein Weihnachtsbaum mit winzigen Tieren – atemberaubend für einen Dreijährigen. Doch schon meine zweite ist die von einer langen Schlange trauriger Männer, die, wie mein Vater erklärte, auf eine Portion warmes Essen warteten. Die ersten Kino-Nachrichten, an die ich mich erinnere, zeigten lachende, bärtige Arbeiter während eines Sitzstreiks bei General Motors. Und als 1936 die faschistischen Generäle um Franco in Spanien putschen wollten, von Hitler-Deutschland und faschistischem Italien unterstützt, fragte ich meinen Vater, wieso die Bösen in Spanien »Rebellen« hießen, was ja schön revolutionär klang, während man die Guten »Loyalisten« nannte, was ja eher konservativ schien. Er erklärte mir dann, dass es die Faschisten waren, die eine gewählte Regierung stürzen wollten.

Eigentlich muss Free Acres einen Großteil der Schuld auf sich nehmen, dass ich in die Bredouille kam. Mein Vater verkaufte Lithografien, Radierungen, alte Landkarten und wertvolle alte Karikaturen. Doch wie viele Leute kauften so etwas in den Dreißigern? Er musste also manchmal andere Jobs annehmen, um durchzukommen. Unsere Familie stand niemals besonders gut da während der Depression, hungern aber mussten wir nie. Nur – wir waren ständig am Umziehen: Greenwich Village, Queens, Yorkville, Upper Westside – in eine bessere Wohnung, wenn wir es uns leisten konnten, öfters aber in eine schlechtere. Doch jedes Jahr im Sommer fuhren wir die 30 Meilen nach Free Acres in den Watchung-Bergen in New Jersey. Dort wohnten etwa 85 Familien in Bungalows in einer Siedlung, die 1910 von dem Landbesitzer unter einer Bedingung gestiftet wurde: die dafür gebildete Free-Acres-Association musste an dem Single-Tax-Prinzip des Theoretikers und Politikers Henry George festhalten. Dieser Tatsache war es zu verdanken, dass die Miete sehr, sehr niedrig war und sich ein schönes, meist freundliches und kulturvolles Gemeinschaftsleben entwickeln konnte.

Jeden Morgen kamen die Free-Acres-Leute am großen Briefkasten zusammen, um ungeduldig auf die Post zu warten. Erwachsene, Kinder und Hunde trafen sich getrennt, um das Neueste auszutauschen, während drei Übersiebzigjährige auf der einzigen Bank den informellen Vorstand bildeten; sie flirteten mit jedem Mädchen, das vorbeikam, und stritten sich, wer wohl als Erster abgehen würde. Einer der drei nahm die Post an sich, sobald sie eingetroffen war, und las – mit viel Räuspern und Brille-Zurechtrücken – die Namen der Empfänger laut vor. Auffallend rosafarbene oder parfümierte Umschläge wurden passend kommentiert.

»Brown … Crawford … Murdock … Smith …« Vielleicht ein Drittel der Free-Acres-Leute waren von weißer angelsächsischer Herkunft, also »WASPs«; einige politisch eher rechts, manche eher links, manche ein wenig exzentrisch, wie die alte Frau Kissam, eine Anhängerin der Bahai Sekte, oder Brownie, stets mit Fahrrad und Rucksack, oft mit Anzeichen gelegentlichen Fastens. Einer der WASPs war Thorne Smith – ein weithin bekannter Autor mild schlüpfriger Romane, der sich leider vor meiner Zeit zu Tode trank.

»Blohm … Schade … Schulze … Zimmermann …« Unter den Deutschen waren kaum Nazis. Hitlers Bestrebungen, in aller Welt Anhänger zu finden, hatten in Free Acres wenig Erfolg. Die meisten waren unpolitisch, eher konformistisch und wollten nur »gute Amerikaner« sein. So wie Melchior Zimmermann, dessen Sprachschwierigkeiten gelegentlich für Erheiterung sorgten, wie dann, wenn er sagte: »I work in the American Can« (denn »Can« heißt nicht nur Büchse sondern auch Hintern). Erst als ich selbst in der Fremde mit einem starken Akzent auffiel, begriff ich seine Worte: »Jeder ist ein Ausländer, in jedem Land außer dem eigenen. Manche scheinen das nicht zu kapieren. Selbst wenn sie im Ausland sind, machen sie sich über die dortigen Leute und ihre Sprache lustig.« Einige der Deutschen waren Kommunisten. Chris Blohm war groß, kräftig, herzlich und liebte Kinder. Seine Beinprothese machte ihn für uns Kinder besonders interessant (und die Mütter konnten warnen: »Siehst du was passiert, wenn man Mückenstiche kratzt!«). Chris organisierte deutsche Kommunisten in New York, was wegen der gewalttätigen Nazibanden recht riskant war. Viele antifaschistische Emigranten konnten sich auf seine Hilfe verlassen. Seine Frau blieb politisch aktiv, bis sie über 90 war. Meine Mutter sah sie an einem Ersten Mai dreimal: Nachdem sie bis zum Union Square marschiert war, fuhr sie mit der U-Bahn wieder nördlich, um den Marsch noch zu verstärken.

»Heyman … Wolf … Klatzke … Gold …« Viele in Free Acres waren, wie wir, jüdisch. Auch darunter gab es viele Variationen: Bohemiens, aufrechte Bourgeoise, ein paar Konservative und wesentlich mehr Linke – ein oder zwei Trotzkisten, meist aber Kommunisten.

Uns Kinder interessierte weniger die Nationalität oder politische Einstellung, sondern eher ob die Leute freundlich waren oder einen bissigen Hund hatten. Eine Familie machte auf mich einen bleibenden Eindruck. Florence Gitnick, genannt Flo, stammte von einer wohlständigen, deutsch-jüdischen Familie ab, war scharfzüngig und voller Energie. Step – russisch-jüdischer Abstammung – war eher sanftmütig. Jeden Sommer schufen sie ein neues Mario­nettenstück, das sie im Winter in Schulen aufführten: Tom Sawyer, Pinocchio, Der Prinz und der Bettelknabe. Der Künstler Bill Crawford, einer der ›Drei Weisen‹ vom Briefkasten, schnitzte die Köpfe, Flo war für die Kleider und Texte verantwortlich und Step arbeitete an der Szenerie und Requisiten – wie eine kleine Pfeife für Tom Sawyer, aus der richtiger Rauch kam. Für mich gab es nichts Schöneres. Flo und Step liebte ich auch, weil sie mit mir wie mit einem Erwachsenen sprachen, zum Beispiel 1936, als ich acht Jahre alt war: »Wer ist für Euch der beste Kandidat?« habe ich wohl eines Tages gefragt. »Was denkst du?« war ihre Antwort. »Letztlich vielleicht doch Roosevelt?« sagte ich. »Und warum nicht Earl Browder?« »Nun, genaugenommen, bin ich auch für die Kommunisten«, entgegnete ich: »Aber vielleicht sollten wir Roosevelt deshalb unterstützen, damit Landon nicht gewinnt.« »Du willst also den unterstützen, der während der Depression anordnete, Schweine und Weizen einfach zu vernichten und Milch in Flüsse zu kippen, um die Preise hochzuhalten, während Menschen hungerten?« »Aber wäre Landon nicht noch schlimmer?« »Wenn die Leute immer nur das kleinere von zwei Übeln wählen, anstatt die kleine Partei, die vielleicht irgendwann die Übel abschafft, wird diese kleine Partei nie größer werden«, sagte Step.

Unser kleiner, weißer Bungalow, auf drei Seiten von Ulmen und Eichen umgeben, hatte zwei halboffenen Veranden, geschützt durch Mückennetz, das New Jerseys Riesenmücken nie ganz gewachsen war. Die winzige Küche hatte zwei Kerosinkochplatten und eine Spüle mit kaltem Wasser für den Abwasch, zum Zähneputzen, und zum Schrubben kleiner Jungen. Strom gab es nicht. Ich erinnere mich noch allzu gut an das Plumpsklo mit seinen Spinnennetzen und dem durchdringenden Geruch – und dass ich nachts lieber nur zum Unkraut lief. Dagegen war der Kamin aus grobem Stein eine Quelle größter Freude. Mit seiner Wärme, seinem Rauch und den knisternden Holzscheiten inspirierte er viele Tagträume. Ähnlich begeistert war ich von unseren Abenden am runden Eichentisch mit der Kerosinlampe in der Mitte. Wir lasen, spielten Karten oder Gesellschaftsspiele wie ›Anagramms‹ oder ›Guggenheim‹. Die herumschwirrenden Insekten waren meistens schon alte Freunde.

Meine Mutter hatte für diese Spiele (und später auch bei ›Scrabble‹) eine außergewöhnliche Begabung, aber sie war auch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Alte jüdische Tradition verlangt, dass Töchter in der Reihenfolge ihres Alters vergeben wurden. Da es aber schien, als wollte niemand ihre älteren Schwestern haben, kletterte sie die Feuertreppe herunter, um tanzen zu gehen, sie arbeitete im Ersten Weltkrieg mit Frauenteams auf dem Lande, nahm dann Kurse an der Kunsthochschule, wo sie meinen Vater kennenlernte, und dann heiratete, als er vom Krieg in Frankreich zurückkehrte. Niemals zufrieden mit einem Leben als Hausfrau, arbeitete sie als Sozialarbeiterin für ein Waisenhaus. Sie hatte immer mehr Energie als wir Männer in der Familie. Im Theater zog sie uns von den billig gekauften Plätzen in die besten freigebliebenen Parkettplätze; in Restaurants schickte sie jedes Gericht, das nicht zu ihrer Zufriedenheit war, zurück. »Musst du immer so ein Theater veranstalten?« fragte mein sanftmütiger Vater. »Wenn man das nicht macht, kriegt man immer die schlechtesten Plätze, den schlechtesten Tisch und das schlechteste Essen.« »Aber musst du dich denn so laut und oft beschweren?« fragte er.

Meine Mutter kochte vorzüglich, aber machte nie gern Hausarbeit. Sie liebte Kaffee, Kuchen, allerlei Delikatessen und führte einen endlosen Kampf mit ihrem Gewicht, was das Retuschieren von Fotos mit Bleistift einschloss. Sie machte mich mit vielen Büchern – von ›Babar‹ bis ›Ditte Menschenkind‹ – bekannt. Mein Vater bevorzugte solche Krimis, wo es dem aufmerksamen Leser ermöglicht wird, vor dem Schluss selbst den Mörder zu erkennen. Ebenfalls liebte er Schach und Spiele wie ›20 Fragen‹. Und wenn jemand etwa am Abendbrottisch fragte, »Ratet mal, wen ich heute getroffen habe?« sagte er: »Nicht sagen! Lass mich dreimal raten.« Erstaunlich oft hatte er damit Erfolg. Von meinen Eltern habe ich wohl eine Vorliebe für gutes Essen, den Schnurrbart meines Vaters und eine andauernde Liebe für Kreuzworträtsel.

Mein Bruder Walt, sechseinhalb Jahre älter als ich, war in Free Acres dafür bekannt, dass er einmal in ein Fass mit roter Farbe stieg, um Indianer zu spielen, aber auch als »der Junge, der Würmer und Raupen isst«. Er weihte mich allerdings in sein Geheimnis ein: Er kaute Gras und tat nur so, als ob er eine Raupe (»Einen Wurm? – Niemals!«) in den Mund stecken würde, warf sie aber heimlich weg. Nachdem er eine Weile mit Begeisterung auf dem Gras herumkaute, spuckte er es aus – seine Zuschauer analysierten die grüne Masse nie. Ich sonnte mich im Schein solcher Kunststückchen genauso wie in seinen Tramp­abenteuern. Jahre später sagte er mir, dass er auf mich neidisch war – ich habe das nie gespürt und war immer stolz auf ihn. Meine Cousine Helen, deren Mutter sehr früh gestorben war, lebte auch, so oft es ging, bei uns. Das Landleben war neu für sie; einmal sagte sie: »Ich habe ein so niedliches schwarz-weiß Kätzchen hier gesehen«. Das war aber das Stinktier, das friedlich unter unserem Haus wohnte. Sie hatte Glück!

Um uns herum lebten viele Tiere: Mäuse hatten den Dachboden gewählt, Frösche und Laubzikaden sangen uns in den Schlaf und die Zikaden zirpten ihren ewigen Streit – »Katy-did, Katy-didn’t«. Am Tage waren Drossel, Kardinal und Blauhäher die Nachbarn. Wenn wir großes Glück hatten, flog mal eine rot-schwarze Scharlachtangare wie ein flammender Blitz vorbei – ein Moment der atemberaubenden Schönheit amerikanischer Natur.

Eine Plage war andererseits der Gift-Efeu. Überall im Walde und auf Wegen machte er sich breit. Die kleinste Berührung verursachte einen juckenden Ausschlag; das Gesicht meines Vaters begann anzuschwellen fast sobald er den Efeu nur roch. Diese gehässige Pflanze sowie die schöne Vogelart, die ja in Europa nicht vorkommen, schienen für mich wie eine Art Widerspruchssymbol für meine Heimat. »Gift-Efeu und Scharlachtangare« wollte ich ursprünglich dieses Buch betiteln.

Free Acres hatte einen großen, abschüssigen Anger, auf dem wir mit wirbelnden Armen, schreiend, lachend und den süßen Geruch des Grases einsaugend, nach unten kullerten. Es gab Plätze für Bogenschießen, Tennis und Baseball. Und ein Schwimmbecken; zwei Seiten waren betoniert, eine Seite war Sandstrand. Die Vierte war nur Erde – dort wohnten Frösche und Kaulquappen. Es kam auch mal vor, dass sich eine Wasserschlange durch den Pool schlängelte. Sie bissen nie. Und wenn ab und zu ein Blutegel festbiss, bezahlte uns der Doktor dafür einen Cent pro Stück. Wir verbrachten dort jeden Nachmittag bis wir von den erstaunlich weittragenden Stimmen unserer Mütter oder von den Vätern, die von der Arbeit zurück waren, zum Abendbrot geholt wurden. Es war das wundervolle, sorglose, barfüßige Leben eines Huckleberry Finns – oder zumindest eines Tom Sawyers.

Eines Sommers beschlossen unsere Freunde Flo und Step Gitnick und andere Nonkonformisten von Free Acres, sich der Freikörperkultur zu widmen. Weil so etwas für die meisten Amerikaner zwar amüsant aber sehr, sehr tabu war, sprach man davon nur mit dem Codenamen »Uncle Sol«. Etwa 30 Leute trafen sich eines Sonntags auf einer schönen Lichtung in einem entfernten Wald. Für mich als Sechsjährigen war diese Fülle von großen Hintern und Brüsten zwar überwältigend aber nicht schockierend. Meine schamhafte Cousine Helen blieb allerdings im Umkleidezelt. Bevor wir aber mit dem Volleyball beginnen konnten, musste zuerst die Wiese gehauen werden. Leider gehörte die aber schon den vielen Bienen, bei denen wir gar nicht willkommen waren! Und was für eine breite Auswahl an Angriffszielen sie nun hatten! Ein Arzt war unter uns, der mit Enziantinktur half, die schlimmsten Schmerzen zu lindern – und ich werde die Ansicht der überall mit großen lila Flecken versehenen Erwachsenen nie vergessen. Am nächsten Sonntag meinten die Götter es wieder nicht gut mit uns. Während heftigen Regens mümmelten wir nackt und freudlos an unseren Sandwiches in einer ehemaligen Blockhütte der Boy Scouts. Uncle Sol besuchten wir nie wieder.

Damals hatten wir keine Elektrizität, also kein Radio, kein Fernsehen, Facebook oder Twitter. Free Acres machte sich daher das eigene Kulturleben: Amateurvorträge, Tanzabende (auch mit Volkstänzen wie den Virginia Reel), jeden Sommer »Wasserkarneval«, die Kinder in Kostümparade, dann Wassersprünge, Schwimmwettkämpfe, viele Wassermelonen und Kolbenmais. Auch jeden Sommer Schauspiele für Kinder und Jugendliche, Stücke im Freilichttheater, mit einfachen Holzbänken vor dem Hintergrund des Waldes. Da gab es ›Sommernachtstraum‹, ein ernstes Stück von Clifford Odets über den Widerstand gegen die Nazis, auch die ›Trial by Jury‹ vom beliebten englischen Operettenteam Gilbert und Sullivan. Dabei hatten wir nach der Generalprobe ein Lagerfeuer und leider warf irgendein Dummkopf Holzstämme von Gift-Efeu hinein. Der Rauch trägt das Öl  … Nach dem Motto »The Show must go on« spielten wir trotzdem, aber etliche trugen große Verbände und unser Star, der den Richter spielte, konnte sich dabei nie hinsetzen!

Am besten war immer der Shischkebab-Abend. Wir rösteten die Fleischspieße und oft uns selbst am großen Lagerfeuer (ohne Efeu) und dann, als es runterbrannte, sangen wir Lied nach Lied bis in die frühen Morgenstunden.

Bei der Geschäftsversammlung am letzten Sonntag des Monats hatte jede Familie eine Stimme. Wenn möglich fand sie im Freien statt, dann ab und zu unterbrochen, zur Freude von uns Kindern, durch schreiende Babys oder streitende Hunde. Auch unter den Beratenden gab es öfters Streit: wenn die dürre Frau Kissam meinen Onkel Samuel beschimpfte und dabei den Regenschirm herumschwang und ihn dadurch zum Stottern brachte – da hatten wir Kinder wieder einen Genuss. Doch auch wenn wir den gewichtigen Debatten meist nicht folgten, wir lernten dabei »Robert‘s Rules of Order«, die festen Regeln für alle USA-Versammlungen.

Vier von uns Elfjährigen beschlossen, auch etwas für die Gemeinschaft beizutragen: eine Zeitung. Meine Aufgabe war es, Interviews durchzuführen – zuerst mit Mr. Murdock, einer vom Triumvirat bei der Postausgabe. Als Witwer kam er plötzlich zu Reichtum und reiste in die Tropen und zur Hudson Bay (um, wie er mir in strengem Vertrauen verriet, ein Klima zu finden, wo er nachts nicht so oft aufstehen musste). Einmal, in nördlichen Wäldern, wollte er spazieren gehen; die dortigen Holzfäller gaben den Rat, falls er einem Grizzlybär begegne, dem Biest tief in die Augen zu schauen und ihn so zu hypnotisieren. Als er aber wirklich einen Bären traf, so erzählte er mir, war der Bär schneller und schaute ihm zuerst tief in die Augen. Trotz seiner 82 Jahre schaffte er bis zum Lager die 4-Minutenmeile!

Als Nächstes war Michael Gold dran, der das Buch »Juden ohne Geld« über die Lower East Side in New York verfasst hatte und für die kommunistische Zeitung »Daily Worker« schrieb. Mike, dem die Attacken von Krankheit, Not und vielen Gegnern anzusehen waren, wollte nicht viel über seine Vergangenheit erzählen. »Während des Ersten Weltkrieges zogen wir nach Mexiko«, sagte er nur. Erst viel später erfuhr ich, dass er als Chefredakteur der renommierten linken Zeitschrift »Masses« im Ersten Weltkrieg vor Repressionen nach Mexiko flüchten musste. Er sagte auch nichts von seinen Mühen, das Leben der Anarchisten Sacco und Vanzetti zu retten oder vom Welttreffen führender Schriftsteller. Doch seine sanftmütige, freundliche Art und seine charmante Frau aus Paris beeindruckten mich zutiefst. In Mikes Haus war es auch, dass ich zum ersten Mal die bewegenden Poster aus dem spanischen Bürgerkrieg sah, oft mit den spanischen Worten »No pasarán« (»Sie werden nicht durchkommen!«) darauf.

Freitags, nachdem die Leute Bücher aus der Bibliothek für die Woche ausgesucht hatten, trafen sie sich zum »Forum.« Es gab hitzige Debatten über Politik und die große Krise. Einmal auch über ein Sex-Thema, doch Genaueres weiß ich nicht, denn durch die Fenster oder den Kamin konnten wir Kinder leider nichts hören. Einmal sprach Mike Gold nicht über Politik, sondern über den Poeten Walt Whitman, damals noch kontrovers, weil er über Intimes schrieb und seinen Gedichten Reim und Metrum fehlten. Manche verschmähten ihn als unverständlich und abs­trus. Eine Debatte wurde erwartet. Ich saß vorn mit meinen elfjährigen Co-Redakteuren; einer war der Sohn des schärfsten Whitman-Gegners. Nachdem Mike einige Verse gelesen hatte sprach er mich, seinen Interviewer, direkt an: »Das Gedicht verstehst du doch, nicht wahr?« Um ehrlich zu sein, meine Gedanken waren dabei schon woandershin gewandert. Doch konnte ich Mike im Stich lassen? »Ja, klar.« Wie konnten meine Freunde sich dazu bekennen, weniger klug als ich zu sein? Auch sie versicherten also, das Gedicht verstanden zu haben. Das Gelächter, das mit meiner Antwort bereits begonnen hatte, stieg erst richtig an, als der Sohn des Whitman-Gegners die Position seines Vaters unterminierte.

Obwohl die Stürme der Welt sich in den späten Dreißigern immer weiter verschärften, ging die Krise in den USA ein wenig zurück. Die Regierung vergab billige Kredite zum Häuserbau und in Free Acres wurden die Regeln über bauliche Verbesserungen gelockert. Ölheizungen ergänzten Kamine, Elektrizität ersetzte Kerosinlampen und Wasserspülungen die Hinterhäuschen. Immer mehr Leute kauften Autos, was lange Einkaufsmärsche unnötig machte, wie auch manchen Spaziergang. Allmählich kam es zu einer gewissen Verbürgerlichung; es entstand eine Kluft zwischen den Reicheren und Ärmeren. Dann organisierte man ordentliche »Ferienspiele« für uns Kinder. Das war nicht schlecht, doch »geregelt«. Unsere barfüßige Huckleberry-Finn-Lebensweise, unser Garten Eden, war für immer vorbei.

Meine jüdischen Wurzeln

Solange mein Vater beim berühmten Theater Provincetown Playhouse arbeitete, wohnten wir in Greenwich Village, wo die ärmsten Autoren und Maler manchmal die größten waren – und davon stets selbst überzeugt. Meine Eltern kannten etliche davon, wie zum Beispiel Joe Gould, einen undurchschaubaren Dichter, der sich mit kostenlosen Brötchen und Ketchup aus einem Automaten-Restaurant über Wasser hielt. Meine Mutter rief manchmal: »Rasch, über die Straße, da kommt Joe!« Falls wir zu langsam waren, kostete uns das eine Stunde und eine kleine »Anleihe« für die große Sache der Literatur. 1934 zogen wir in die West-90er-Straße; ich wurde in Schule Nr. 9 eingeschult. Im Jahre danach bekam mein Vater eine halbe Etage für seine Kunstdrucke im renommierten Putnam-Buchladen und wir mieteten ein halbes Haus im vorörtlichen Queens, gleich neben einem großen Feld, was für mich und meine junge Hündin Flip ideal war. Dort schickten meine Eltern auch mich auf eine jüdische Sonntagsschule, wie die meisten jüdischen Eltern, damit ich etwas von unseren Traditionen lerne. Aber die hebräischen Gesänge verwirrten mich, genauso wie die Bibelgeschichte von Hesekiel, welche wir als Hausaufgabe illustrieren sollten. Nicht verstehend, wie Friedhofsknochen wieder zusammenwachsen könnten, zeichnete ich Suppenknochen, wie mein Flip sie gemocht hätte. Als mein hastiges Kunstwerk verschmäht wurde, weigerte ich mich, jemals wieder dort hinzugehen und verspielte so die Gelegenheit, mir das überlieferte Wissen und die Geschichte von 4000 Jahren anzueignen.

Die Eltern meiner Mutter kamen aus Estland, damals im Zarenreich. Ihr Vater hatte eine kleine Gerberei besessen, bis ihn der Zar in seiner Armee haben wollte – für den Rest seines Lebens. Mein Großvater zog es vor, nach Amerika auszuwandern – mit großen Hoffnungen und einer immer größeren Familie. Legendär war, dass er einmal, sich im Sessel zurücklehnend, einem seiner Kinder zurief: »Komm mal her, Jungchen! Wie heißt du denn?« Er investierte sein Geld in drei Häuser, hat aber die Feuerwehrleute und die anderen Beamten nicht ordentlich bestochen und wurde daraufhin an den Rand des Ruins getrieben. Bei einer Reparatur in einem der Häuser fiel er von der Leiter. In einem fand seine Witwe Trost: ihre drei Söhne konnten sich als Juwelier, Zahnarzt und Lehrer selbstständig machen und bald mithelfen. 

Meines Vaters Vater war in Odessa in eine Verschwörung gegen den Zaren verwickelt, vielleicht mit dem Jüdischen Bund. Er wurde festgenommen, wurde aber irgendwie freigekauft und zog mit seiner unterwegs geheirateten Frau nach Dänemark und dann in eine Kleinstadt in Connecticut östlich von New York. Er war ein gelehrter Mann, der sich mit Jiddisch, Hebräisch, Englisch und weiteren Sprachen beschäftigte. Er begann, mir Hebräisch für meine Bar-Mizwa beizubringen, starb aber, als ich gerade drei Buchstaben gelernt hatte. (Das »L« erkenne ich heute noch in der Fluglinie El Al). Sein Tod machte es nun endgültig: keine Bar-Mizwa, keine Seder-Feste mehr, keinen Religionsunterricht. Ich merkte dennoch, dass durch die jüdische Geschichte drei Berufsrichtungen sich besonders stark entwickelt hatten: Kunst und Musik, Jura und das Geschäftsleben und, als dritte, die rebellische Aufsässigkeit. Meine Großmutter, die 98 Jahre alt wurde, fragte: »Was willst du werden? Arzt, Lehrer, Rechtsanwalt?« Meine Mutter zog Musik, Kunst oder das Schreiben vor. Ich neigte eher zur Rebellion. Manche Freunde meinten, eine Bindung zur jüdischen Kultur und Religion schütze gegen Antisemitismus, auch gegen jene sprachlichen Beleidigungen, die manche als »unwichtige Überbleibsel« abtun, die aber beleidigend und auch schmerzhaft sein können. Ich wohnte oft in jüdischen Wohngegenden, litt also selten darunter und fand andere Abwehrtaktiken. Meine Eltern sprachen Jiddisch – aber nur wenn wir Kinder sie nicht verstehen sollten. Das Jüdisch-Sein wurde in meinem Leben nie ausgeprägt, manche Aspekte der so alten Kultur habe ich nur begrenzt mitbekommen; manches von ihrer Schönheit empfinde ich noch heute mitunter angenehm doch nur sehr leise, etwa wie das Glockengeläut einer fernen Kirche.

Briefmarken und die Probleme der Welt

Das vornehme Putnam-Buchgeschäft musste schließen und wir mussten daher unser Haus im Stadtteil Queens nach einem Jahr verlassen. Unsere neue Wohnung war auch schön, mit Blick auf die Palisades-Klippen auf dem anderen Hudson-Ufer. Ich ging nun auf meine dritte Schule und fand neue Freunde. Einer davon war Allen, ein heller Junge, der mich in das Briefmarken-Sammeln einführte. Dadurch lernte ich sämtliche Länder der Erde kennen, von Antigua bis Zanzibar, noch als die meisten Kolonien waren. Wir hassten die Marken mit Hitler und Hakenkreuzen genauso wie die schönen italienischen Kolonialausgaben von Cyrenaica, liebten aber die dreieckigen sowjetischen Sportausgaben oder die sowjet-ungarischen Marken von 1919 mit Engels und Gyorgy Dosza, dem Führer des Bauernaufstandes von 1514, der mit glühend-heißer Krone, Thron und Zepter hingerichtet wurde.

Musik wurde nun auch wichtig. Samstags fuhr ich nach Greenwich Village zum Cello-Unterricht. Das tägliche Üben war oft eine Qual; manchmal biss ich aus Verzweiflung in den Hals des Cellos. Mein ältlicher Lehrer dürfte ab und zu heimlich dasselbe getan haben. Obwohl ein großartiger Musiker, zwang ihn die damalige Not, sich mit hoffnungslosen Kindern wie mir abzuplagen. Trotz aller Misstöne waren schon unser Kinderorchester, ja, die ganze Atmosphäre der Musikschule, wo Tonleitern und Akkorde sich aus vielen Unterrichtsräumen ergossen, alle Mühen und Tränen wert.

Den Sommer 1937 verbrachte ich im Camp Manumit, wo wir Stadtkinder vormittags zum ersten Mal das Obstpflücken, Unkrautjäten, Schafscheren und Hühnerrupfen kennenlernten. Danach hatten wir viel Zeit zum Baden, aber auch für Bildhauerei und Linolschnitt mit einer guten Kunstlehrerin. Sogar die Holzwerkstatt machte mir als Doppelt-Linkshänder Spaß dank dem geduldigen Lehrer Ben Himmel, einem jüdischen Flüchtling aus Polen. Abends las er uns Geschichten vor – »Der Leuchtturmwächter« von Henryk Sienkiewicz habe ich nie vergessen. Mich hatte der alte Kommunist besonders gern, wohl weil ich mich weigerte, mit Zinnsoldaten zu spielen. Samstags machten die Gruppen Picknick, und als Ben beim Wandern Violine spielte, ähnelte er sehr einer Chagall-Figur – oder einem äußerst gütigen Rattenfänger von Hameln. 

Mit einem Freund ging ich zum Lagerleiter um ein emotionales Bühnenstück über den Spanischen Bürgerkrieg vorzuschlagen. Er sagte zu, lud dann alle interessierten Kinder ein, um (taktvoll) gemeinsam ein neues Stück zu erarbeiten, immer nach dem Vorlesen der neuesten Nachrichten aus Spanien. Unser Stück, das wir spielten, ohne ein Wort aufzuschreiben, war sicher naiv, doch vielleicht nicht falsch – über Francos Putsch, wie ein Erzbischof ihn in der Kirche unterstützte, wie man dagegen kämpfte, warum Hitler und Mussolini mitmischten und wie Menschen aus vielen Ländern hinfuhren, um Franco zu stoppen. Das Stück hatte ein Happy End; 1937 waren wir noch optimistisch. Im ersten Akt spielte ich einen Bauern, im zweiten einen Freiwilligen und im dritten Hitler – so böse ich konnte. Vom Publikum, den anderen Kindern und den Eltern, erhielt mein Freund den größten Beifall; beim Kostümwechsel verlegte er kurz ein Stück und rannte aufgeregt über die Bühne als Mussolini ohne Hosen!

Dann im Herbst konnten wir die teure Miete nicht mehr bezahlen, brachen den Mietvertrag und zogen in eine billige Wohnung nahe der 125. Straße. Bis das verjährte, fürchtete mein Vater eine Gerichtsvorladung; an der Tür durfte ich also niemandem sagen, dass er zu Hause war. Nein, während der Weltwirtschaftskrise hungerten wir nie, doch die Sorgen müssen meine Eltern viele Nerven gekostet haben. Vielleicht wegen dieser Drohung blieben wir im September 1938 im Haus eines Nachbarn in Free Acres, also begann ich das siebte Schuljahr auf einer benachbarten Dorfschule. Als ich zum ersten Mal ins Klassenzimmer trat, war ich geschockt; über die Jahre hatte ich vier Semester übersprungen und nun stand ich inmitten von großen Jungen und drallen 14-jährigen Mädchen, Dorfkinder, fast alle mit italienischen Vorfahren. Ungläubig fragte mich die Lehrerin, wie alt ich sei. Ich sagte zaghaft »zehn« und die ganze Klasse brach in Gelächter aus. Einer warnte dann in der Pause: der Stärkste, Johnny Carbo, mache »aus allen Neuen Hackfleisch«. Antisemitismus war damals unter Katho­liken weit verbreitet, und Free Acres galt rings he­rum als ein »Tummelplatz für radikale Juden«. Abends bat ich mit Tränen, dass wir nach New York zurückkehren.

Doch für meine Mitschüler vom Lande verkörperte ich die Großstadt – einige waren noch nie in New York, das nur 30 Meilen entfernt war. Die Mädchen fanden mich süß und mit meinem Vorrat an schmutzigen Witzen konnte ich die Jungen gewinnen. Also fand ich mich doch zurecht. Nur mit der Körpererziehung haperte es. Ich lernte zwar schnell den bisschen Drill, mit rechts und links Marschieren und dergleichen, doch beim Baseball ließ ich die anderen ängstlich vor. Die Geschichtslehrerin mochte mich Interessierten. Ich und meine tschechische Mitschülerin Natalie durften im Lehrerzimmer Hitlers brüllender, drohender Rede zuhören, in der er die Annexion des Sudetenlandes bekanntgab. Das war, nachdem Großbritanniens Neville Chamberlain den Todesstoß für die Tschechoslowakei als »Frieden in unserer Zeit« pries – also »München«. Ich weiß noch wie Natalie weinte. Ich glaube nicht, dass Mussolinis Propaganda bei den italienischen Schülern auf viele offene Ohren fiel; die meisten interessierten sich kaum für die Politik. Doch es waren solche Geschehnisse, die vier Jahre später die meisten dieser Jungen in den Krieg zwangen.

Meine Eltern hatten aber vom Landleben wohl die Nase voll und fanden Wege, ihre Situation so zu verbessern, dass wir in die Stadt zurückzogen. Da weinte ich fast so sehr wie bei unserer Ankunft. In der kurzen Zeit hatte ich Snobismus abgebaut, mich mit Dorfmenschen zu verstehen gelernt und erfahren, wie freundlich, ja wunderbar, Italiener sein konnten. Sogar der große, furchteinflößende Johnny Carbo war mein Freund und Beschützer geworden.

Die Dalton School und der II. Weltkrieg

Wir zogen in eine mehr als bescheidene Wohnung – fünfter Stock ohne Fahrstuhl – in der Ost-88.-Straße. Nun versuchte meine Mutter, mich auf der Dalton-Schule, einer exklusiven Privatschule, kostenlos unterzubringen. Wenn meine Mutter etwas wollte, bekam sie es fast immer; ab dem 1. Januar konnte ich also in einer Schule anfangen, die ein Schwimmbecken, eine moderne Turnhalle, eine Bühne, schöne Labors, ein Kunstkabinett, eine große Bibliothek sowie Schüler mit reichen und berühmten Eltern hatte. Sie war nach Lord Dalton benannt; nach seinem System (das man auch in der Sowjetunion anfangs probiert hatte) bekam jeder Schüler monatlich ein Heft mit vielen Aufgaben: Unterrichtstunden, Hausaufgaben, Labor- und Kunststunden. In einem Diagramm vermerkten die Lehrer, was erledigt wurde. Dadurch sollten wir zu Eigeninitia­tive und Selbstdisziplin erzogen werden. Ich ewig Undisziplinierter hinkte damit immer hinterher, doch dennoch lernte ich sehr viel von den ausgezeichneten Lehrerinnen.

Nur mit Sport hatte ich wieder Kummer. Unterwasserschwimmen, meine einzige Fähigkeit, stand nicht im Lehrplan. Beim Basketball konnte ich weder dribbeln noch den Ball in den Korb bekommen; immer wurde ich als trauriger Letzter für eine Mannschaft ausgewählt. Baseball war nicht besser. Vor dem herbstlichen Football hatte mir mein Bruder die Regeln erklärt, also wusste ich wenigstens, wohin ich rennen sollte, was eigentlich jeder amerikanischer Junge längst wissen müsste. Da sich einem anrennenden Quarterback entgegenzuwerfen weniger Geschick als nur Mut erforderte, war ich wenigstens nicht immer derjenige, der alles schlecht machte.

Einen Großteil meiner Bildung verdanke ich dem lebenslustigen Dave Ringer, mit seinem roten, kurz geschnittenen Haar, der mich anregte, Sherlock Holmes zu lesen und mit ihm beim Lernen von Tiergedichten des Iren Padraic Colum zu wetteifern. Wir hatten beide Interesse für Zoologie und kannten bald jedes Tier im Bronx-Zoo – fast mit Vor- und Nachnamen. Manchmal, versteckt hoch oben hinter dem Korbbrett, schauten wir hinab auf die schwitzenden Ballspieler während Dave etwa fragte: »Was war wohl hier, bevor die Welt begann?« Oder: »Wo endet das Universum? Was kommt dahinter?« Solche Fragen waren viel interessanter als Basketball. Manche Themen waren weniger abstrakt. Er war 14, ich war erst zwölf, doch debattierten wir fachmännisch über die wachsenden Brüste der Schülerinnen. Da oben versteckt waren wir doch Männer von Welt.

Mein Hauptproblem war noch nicht Sex sondern Geld. Manchmal luden mich Klassenkameraden zu sich nach Hause ein – in was für Häusern sie lebten! Ein Apartment an der Park Avenue hatte eine ganze Batterie von Bediensteten, sogar einen Butler. Ich versuchte allerdings, mich so zu benehmen, als hätte ich schon immer eine Fingerschüssel benutzt. Dave brachte mich zu einem fünfstöckigen Sandsteingebäude, genau wie unseres – nur dass wir zweieinhalb Zimmerchen bewohnten und seine Familie das ganze Haus. Nach der Geburtstagfeier einer Schulkameradin, die in zwölf Zimmern stattgefunden hatte, brachte uns der Chauffeur nach Hause. Aus Furcht, dass die Anderen unser Mietshaus sehen könnten, bat ich, mich an der Ecke absetzen zu lassen. Doch sein Auftrag war, mich bis nach Hause zu bringen. Ich hatte Glück; es war spät, mein Vater hat es riskiert, die Haustür in Hausschuhen und Bademantel zu öffnen, also schien es doch, dass uns das ganze Haus gehörte! Diese Sorge begleitete mich, trotz allem, was die Eltern sagten, bis zur zwölften Klasse.

Mein Mangel an Reichtum hieß aber nicht, dass ich mit meiner Meinung hinter dem Berg hielt. Ein Hauptpunkt, über den wir uns immer wieder stritten, war die UdSSR. Abgesehen von den Hochverratsprozessen von 1937-38 hatte sie manche Sympathie erworben; die Sowjetunion und die Kommunisten hatten den Faschismus energischer als irgendjemand sonst bekämpft: im Völkerbund, in Deutschland, Italien, vor allem in Spanien. Doch der Nichtangriffs­pakt zwischen der UdSSR und Nazideutschland beendete schlagartig diese Sympathie; die Aufteilung Polens zwischen ihnen und besonders der Krieg gegen Finnland führte zu einem Crescendo in den Medien. Das Klima war 1940 für Kommunisten kaum erträglich. Kommunistische Parteien in Frankreich, Großbritannien und Kanada wurden verboten, der Parteivorsitzende in den USA wurde eingesperrt, Intellektuelle traten scharenweise aus der Partei aus, linke Massenorganisationen brachen auf allen Gebieten zusammen.

Und ich, wohl der einzige »Rote« auf der Dalton-Schule, wurde für sämtliche Handlungen der Sowjetunion verantwortlich gemacht – obwohl ich erst zwölf war. Das zwang mich, ob falsch oder richtig, meine Fähigkeiten beim Argu­mentieren zu schärfen und, so gut ich konnte, logisch und ohne Bissigkeit zu diskutieren.

Einen Triumph genoss ich. Der 21-jährige Neffe unserer Geschichtslehrerin gab bei uns ein Konzert, auf dem er neben Folksongs auch Lieder des jungen CIO-Gewerkschaftsverbands sang, der durch viele Kämpfe, auch Sitzstreiks, bessere Arbeitsbedingungen und ein gewachsenes Selbstbewusstsein für Millionen erwirkte. Er galt als »links«, also auf meiner Seite. Der Sänger, dessen Füße in den Arbeitsstiefeln und dessen hüpfender Adamsapfel seinen Banjo-Rhythmus betonten, war unwiderstehlich; sofort schaffte er es, dass alle begeistert mitsangen. Das war am Anfang der erstaunlichen Lebenskarriere von Pete Seeger.

Nur einmal bekam ich wegen meiner Positionen Angst. Im Mai 1940 blitzten Hitlers Truppen durch Dänemark, Norwegen, dann Belgien, Luxemburg, die Niederlande und im Juni Frankreich. Unsere Miss Downes aus England hatte rote Augen; Madame Ernst aus Frankreich ging es noch schlimmer. Ein Schüler sagte mir, die beiden hätten sich verärgert über mich geäußert. Der Hitler-Stalin-Pakt galt immer noch und leider taten Kommunisten den Krieg noch als eine Auseinandersetzung zwischen Kapitalisten ab. Doch traf das Zugeflüsterte nicht zu: die Lehrerinnen gaben mir doch nicht die Schuld – und ihre Gedanken waren weit weg in der Heimat. Bei den meisten, an der Schule wie eigentlich im Lande, ging das Leben weiter. Eines heißen Junitages, nachdem ich in dem gruseligen Einakter The Monkey’s Paw den getöteten Sohn gespielt hatte, erhielt ich mein Abschiedszeugnis der achten Klasse.

Eine Oberschule im ländlichen New Jersey 

Die meisten Jungs gingen nun auf exklusive Internatsschulen, fern vom vulgären New York, um sich auf zukünftige Führungsaufgaben vorzubereiten. Das wollte und konnte ich nicht. Ich wurde von New Yorks Musik- und Kunst­oberschule angenommen – auch schwache Cellisten wurden begehrt – doch nun zogen wir wieder um. Günstige Regierungskredite und eine neue Verkaufsecke in der prestigevollen Brentano-Buchhandlung versetzten meine Eltern in die Lage, unseren Bungalow zu renovieren. Da sie die Arbeit selbst überwachen wollten, zogen wir in ein benachbartes Haus, also nahm ich täglich den Schulbus zur Landkreisoberschule. Im Schuljahr 1940/41 eroberten die Nazis Griechenland, Jugoslawien und fast ganz Nordafrika; sie führten gnadenlose Luftangriffe auf England. Die Schüler interessierten sich aber eher für Mädchen, für Fuß- und Schulbälle; wir Erstjährige sorgten uns eher, dass die älteren Schüler von ihrem Vorrecht Gebrauch machten und uns befahlen, Erdnüsse mit der Nase um die Schule zu schieben oder Ähnliches.

Dann – an einem sonnigen Sonntag im Juni – überfiel Deutschland die Sowjetunion. Das war wohl für fast niemanden überraschend – außer vielleicht Stalin. Die meisten Kommentatoren glaubten Hitler, dass seine Armee in sechs Wochen in Moskau sein würde. Fast genauso falsch glaubte ich, dass der Faschismus schnell besiegt sein würde; aus der Ferne ist ja das Spekulieren leicht.

Wir konnten das ferne Leid fast ausschalten, denn während Millionen von Häusern in Europa und Asien in Flammen einstürzten, wurde unseres in New Jersey neu aufgebaut. Unser Haus bekam einen Keller und eine Ölheizung – dort, wo die Stinktiere gewohnt hatten – eine Garage, ein Bad mit heißem Wasser sowie eine Küche mit großem Kühlschrank und Elektroherd. Das Haus, mit neuem Dach nun ohne Tropfkonzert, war klein aber hübsch. Die Zeiten, in der man die Türen nicht verschließen musste, waren allerdings vorbei. Die wilde Wiese wurde zum properen Rasen, der Fußpfad für Autos mit Schotter ausgelegt. Dabei wurde der Gift-Efeu einige Meter zurückgedrängt, blieb aber noch bedrohlich. Und ab und zu flog noch darüber die wunderbare rot-schwarze Tangare.

Bronx High School of Science und die Vogelkunde

Im Herbst 1941 zogen wir zurück nach New York, gegenüber dem Naturkundemuseum am Central Park. Ich verbrachte Stunden damit, die Ausstellungsstücke zu bewundern und die wunderbaren Dioramas mit afrikanischen Tieren zu zeichnen. Auch unsere Wohnung hatte ein eigenes, aktiveres Tierleben. Wie ich die Kakerlaken hasste! Mein Vater mit seiner empfindlichen Haut litt mehr noch unter den Wanzen. 1943 zogen wir in eine noch miesere Wohnung auf der 75. Straße. Eine Couch wurde abends zum Bett meiner Eltern; es gab ein winziges Zimmer für mich, eine Kochnische und ein Badezimmer, wo sich die Kakerlaken am liebsten aufhielten. Meine Eltern taten ihr Bestes, das Apartment mit unseren alten Möbeln, dem Cezanne-Stillleben, einer Dürer-Radierung und anderen Kunstwerken wohnlich zu machen.

Ich ging auf die Bronx High School of Science in die zehnte Klasse. Die Schüler dieser heute recht berühmten Oberschule – damals noch nur Jungs – waren eine gewitzte Truppe, die meisten an Naturwissenschaften inte­ressiert. Eine größere Anzahl waren Juden, manche Katho­liken waren dabei, vielleicht gab es ein paar Protestanten. Einer war Afroamerikaner. Zwischen uns gab es keine Animositäten, aber viel Schabernack. Ich bekam als Freund einen fröhlichen Rotschopf, Don, lud ihn aber nicht in unsere schäbige Wohnung ein. Eines Tages nahm er mich mit zu sich; sein Zuhause war noch schäbiger als unseres, was unsere Freundschaft zementierte. Wir machten uns unbeliebt indem wir durch U-Bahn-Wagen rannten und laut und lustig von den Haltegriffen turnten. Wir spielten Klischee-Szenen aus B-Filmen nach: die festgebundene Schönheit mit hübscher, bloßer Schulter oder den Gangster, der gerade, als er den geheimen Ort des Schatzes flüstern will – dramatisch krepiert. Auf Partys schaute Don gern – und auffallend – auf eine schöne goldene Taschenuhr. Als er sah, dass sie falsch ging (oder gar nicht), schimpfte er laut, schüttelte sie immer heftiger und schmiss sie wütend auf den Boden. Dann sammelte er kühl die vielen Teilchen und stopfte sie in die Uhr zurück, bereit für die nächste Vorstellung. Don besaß ein Buch mit Bildern von Komponisten und konnte – selbst wenn man das Buch verkehrt rum zeigte und das Bild bis auf das Ohr abdeckte – jedes Porträt identifizieren. Er konnte aber ebenfalls die Symphonien und Konzerte von Beethoven, Brahms, Tschaikowski und anderer Komponisten identifizieren. In Gesellschaft bemerkte er gern leichthin, dass er ja gerade dabei sei, Kants Kritikderreinen Vernunft (natürlich auf Deutsch genannt) durchzulesen. Eine schöne Lüge!

Unsere Lehrer waren recht verschieden. Wir hassten Herrn Elias in Latein, der, wenn er einen Schüler aufforderte, etwa zu übersetzen, immer ganz woanders hinschaute, um den Aufgeforderten beim Dösen zu erwischen. Wir mochten Herrn Falkenstein sehr, der sogar die Geschichte von Napoleon III