crystal.klar - Dominik Forster - E-Book + Hörbuch

crystal.klar E-Book und Hörbuch

Dominik Forster

5,0

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Beschreibung

Als Dominik Forster zum ersten Mal durch die Tore der Nürnberger Hauptschule tritt, beginnt sein Leben als Underdog. Erst Drogen und Crystal Meth machen den ängstlichen Jungen zu dem Menschen, der er immer sein möchte, und mit dem Einstieg ins Drogengeschäft beginnt der vermeintliche Aufstieg, umgeben von vermeintlichen Freunden: er wird zum Topdog. Dieser Weg führt ihn ins Gefängnis, in eine Welt aus Brutalität, die einzig zwischen „Mann“ und „Opfer“ unterscheidet und in der die Zeit nur genutzt wird, um den nächsten Coup zu planen … Entzug und Therapie helfen Dominik Forster aus diesem Teufelskreis auszubrechen und das selbstbestimmte Leben zurückzugewinnen, das er heute führt. Dieses Buch markiert einen Teil seines Weges. Ein Roman, ein Bekenntnis, eine Bewältigung der Vergangenheit, die dem Leser rückhaltlos die zerstörte Welt einer Jugend vorführt, die im Bann von Crystal Meth steht, der Droge Nummer 1 einer egomanischen Leistungsgesellschaft. Ein Vorstoß, wie es ihn seit Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo nicht mehr gegeben hat.

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Seitenzahl: 455

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Zeit:8 Std. 55 min

Sprecher:Dominik Forster

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verlag duotincta

E-Book

DOMINIK FORSTER

crystal.klar

Roman

Dominik Forster ist seit 2013 als ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Suchtprävention für die mudra in Nürnberg tätig. Daneben ist er Mitbegründer des Mountain Activity Clubs, einem gemeinnützigen Verein für Prävention und Peerarbeit, und beteiligt am Projekt Spotting – selektive Prävention für junge Risikokonsumenten/innen, das vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wird.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Dritte veränderte Auflage 2017

Copyright © 2015 Verlag duotincta Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Typographie: Verlag duotincta, Berlin

Einband: Nadine Tsalawasilis, Stuttgart

Cover-Fotografie: (vs): © VRD / Fotolia.com

Cover-Fotografie: (rs): © Debora Kardos

ISBN 978-3-946086-37-6

Besuchen Sie uns im Internet unter:

www.duotincta.de

crystal.klar

Für Julia, meine erste aufrichtige Liebe.

Inhalt

[ PROLOG

KINDHEIT ]

JUGENDFREIZEIT ]

ALKOHOL UND SPEED ]

HASCHICH UND WEED ]

BIANCA ]

ECSTASY ]

AMSTERDAM ]

ENGELSTROMPETEN ]

MDMA ]

DEALER ]

SEVEN ]

PILZE ]

ANBAU ]

DEALEN 2.0 ]

PARANOIA ]

IM DRECK ]

AM ENDE ]

U-HAFT ]

VERHÖR ]

AMBERG ]

GERICHTSVERFAHREN ]

ENDSTATION ]

WAHNSINN ]

PROPELLERGANG ]

THERAPIE ]

ADAPTION ]

ALKOHOLRÜCKFALL ]

TODESSCHWELLE ]

FREI ]

[ SHOWDOWN

Dank

[ PROLOG

Ich starre auf die Digitaluhr des serienmäßigen Navis in unserem schwarzen VW Touareg. Lange Zeit konzentriere ich mich einzig auf den digitalen Minutenzeiger. Mein starrer Blick bewirkt, dass meine Augenlider zu zittern beginnen, meine Augen austrocknen und brennen. Ein seltsames, zuckendes Rauschen dringt durch den Nebel meiner Konzentration. Immer und immer wieder.

Die ersten Sonnenstrahlen und ein lauwarmes Lüftchen machen den Tag zum schönsten des Jahres. Neben mir befinden sich noch drei Typen an Bord. Reisner, Bockhans und Haller. Drei, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Haller sieht aus wie ein Steuerberater. Dicke Brille, schmalzige Haare und Wampe. Dem steht die Unsportlichkeit förmlich ins Gesicht geschrieben. Dafür verfügt er über einen ausgezeichneten Verstand. Ganz anders Bockhans, der ist groß, fast zwei Meter, dünn, mit wildem Haarschnitt und einem total lässigen Vokabular. Der Dritte ist Reisner. Reisner sieht aus wie Sid, das Faultier aus Ice Age. Keiner benutzt das Wort »Alter« so oft wie er.

Vom Zentrum Nürnbergs fahren wir Richtung Nordstadt. Wir passieren den Stadtpark. Mein Blick wendet sich von der Digitalanzeige ab, schweift umher, bleibt bei spielenden Kindern im Park hängen. Für jenen kurzen Moment des Vorbeifahrens schnürt sich meine Brust zusammen und ich wünsche mir nichts so sehr, wie wieder ein Kind zu sein und dort zu spielen und zu tollen. Ich schwitze vor Aufregung und schiebe nervös meinen Unterkiefer hin und her. Mit meinem rechten Fuß tippe ich auf und ab. Eins, zwei – kurze Pause – drei, vier, fünf, sechs … Während mein Körper sich gegen meinen Willen bewegt, kreist er nun in mir, dieser verzweifelte Wunsch, wieder ein Kind zu sein. Naiv und unbeschwert. Wie schön das war, weiß man erst, wenn die Jahre vorbeigezogen sind.

Meine linke Hand umklammert die schwarze Sturmmaske, meine rechte liegt auf der Maschinenpistole, genauer gesagt der MAC-10, der amerikanischen Variante einer Uzi!

Unser Plan steht. Wir sind auf dem Weg, uns alle Zutaten zu holen, die wir für die Herstellung von Crystal-Meth benötigen. Die pharmazeutischen Bestände des Städtischen Klinikums wurden erst kürzlich aufgefüllt, so dass sich vor Ort genug Pseudoephedrin und andere Chemikalien wie Ammoniak, roter Phosphor, Bioethanol, Aceton, reiner Alkohol, Xylol und Petroläther befinden sollten. Das wird reichen, um mehr als hundert Kilo herzustellen.

Methamphetamin ist die stärkste Form der gängigen Amphetamine, gerne auch Speed genannt. Das Meth, das auf den Straßen verkauft wird, hat im Schnitt einen zehnprozentigen Reinheitsgrad und wird für achtzig Euro gecheckt. Das heißt, wenn wir ein Kilo mit Bittersalzen auf fünf Kilo strecken, wäre unser Meth immer noch doppelt so gut wie der Straßendurchschnitt. Um Chefanbieter zu werden, wollen wir es aber nur um die Hälfte aufstrecken. Unser Meth soll einen Reinheitsgrad von ca. fünfundvierzig Prozent haben. Das Kilo verkaufen wir für fünfzigtausend Euro. Macht bei hundert Kilo reinem beziehungsweise zweihundert Kilo gestrecktem Meth einen Verkaufswert von fetten zehn Millionen Euro!

Meth ist nicht nur irgendeine Droge. Meth bedeutet ungebremstes Selbstbewusstsein. Meth bedeutet, ich kann alles, ich bin alles! Immer, auf Knopfdruck und endlos! Meth schenkt dir die Illusion, glücklich, überlegen und unbesiegbar zu sein. Garantiert! Es gibt dir alles, was du noch nie gewagt hast zu haben. Es gibt dir das Gefühl, jemand zu sein! Besser noch, es gibt dir das Gefühl, DER zu sein! Meth ist somit auch höchst interessant für die zahlungsstarke Klientel, für Möchtegerns und Emporkömmlinge, die andere ausbooten und übertreffen müssen. Die Überlegenen, die Sieger und Macher, die immer auf dem Punkt sind, keine Fehler machen, Leistung bringen, ohne müde zu werden, konzentriert und überzeugend. Geiler Stoff für geile Sieger! Das sind unsere Kunden! Der Rest wird von alleine kommen. Wer glaubt schon, nur mit frustrierten, desillusionierten Jugendlichen Kohle machen zu können.

Unser Kumpel Mark arbeitet im Krankenhaus. Er verschafft uns Zugang und sorgt dafür, dass wir nicht gleich entdeckt werden. Für den Fall, dass wir doch frühzeitig auffliegen und jemand Alarm schlägt, haben wir zwei Ablenkungsmanöver geplant. Am Hauptbahnhof und am Flughafen werden um 14.30 zeitgleich zwei kleine Kofferbomben hochgehen. Nix großes, nur ein bisschen Peng und Panik, keine Toten und Verletzten. Genug aber, damit die Bullen alle Hände voll zu tun haben und die panische Menge wieder beruhigen müssen. Ein kleiner Krankenhausdiebstahl steht da hintenan.

So der Plan. Unzählige Nächte habe ich mich schlaflos herumgewälzt und überlegt, ob ich mitmachen soll. Eigentlich wollte ich keine Drogen mehr anfassen und versuchen, gerade zu leben. Ich bekomme aber einfach keinen Fuß auf den Boden! Dauernd wird mir meine Vorgeschichte um die Ohren gehauen, von allen bekomme ich wieder und wieder ein »Nein« zu hören. Ich bekomme keine Wohnung, ich bekomme keine Arbeit, ich hab Schulden und eine Privatinsolvenz am Laufen und mein neues Leben ist grau und trist. Klar, es ist nicht nur schlecht, ich habe ein paar Freunde und eine Familie, die sich freut, dass ich jetzt ein anständiges Leben führen will, doch davon kann ich mir verdammt nochmal nichts kaufen. Ich bin jung, gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt, ich kann was und will was, will anständig mein Geld verdienen und niemandem auf die Nerven gehen. Aber ich will kein beschissenes Hartz IV und keine beschissene Assibude, wo keiner wohnen will und dir die Penner vor die Tür kotzen. Ich will einfach nur eine, eine einzige kleine Chance! Aber Arschlecken! Die Türen fallen zu, sobald die Deppen Knast hören! Dominik, der Loser; keiner will dich, keiner braucht dich. Hunderte sinnlose Bewerbungen, ranzige Bude, Hartz IV, Sachbearbeiter, die mich spüren lassen, dass ich selbst schuld bin, die mir am liebsten den Finger zeigen würden, einer von zahllosen Vorbestraften und Drogenabhängigen, ein Nichts, ein Niemand, eine Last. So sieht mein ehrliches Leben aus. Fickt euch! Dann halt wieder die andere Nummer! Ich hab mich entschieden und in meinem Kopf sprüht es nur so vor Kriminalität und Tatendrang, mir ist fast schwindlig vor Wut und Hass. Der Drang, im Geld zu schwimmen, endlich wieder jemand zu sein. Schluss mit dem Penner, Schluss mit dem Kratzen, Bitten und Betteln.

Diesmal hat ALLES Hand und Fuß. Jetzt bin ich hier mit ein paar anderen Ex-Knackis, die das Gleiche durchgemacht haben wie ich. Die genauso verraten wurden, die genauso viel Scheiße fressen müssen und die genauso entschlossen sind, dieses eine Ding, heute, hier und jetzt durchzuziehen. Möge nur bitte keiner den Helden spielen und uns aufhalten wollen!

Die Fahrt zum Krankenhaus kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Gleich hört sie auf, diese Anspannung, diese unerträgliche Anspannung. Im Kopf geh ich noch einmal unseren Plan durch. Jeder von uns weiß, was zu tun ist, jeder weiß, wann er wie zu handeln hat.

Wir sind da, die Tür springt auf … SHOWTIME!

KINDHEIT ]

Ich bin als normales Kind in einer normalen Gegend in der Nürnberger Südstadt aufgewachsen. Ich lebte dort mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder in einer Vierzimmerwohnung, zweites Obergeschoss, typisches Mietshaus, eines von tausenden.

Unsere Hausverwalterin war eine alte, fette und verbitterte Hexe, hatte es sich offensichtlich zur Lebensaufgabe gemacht, allen auf den Nerv zu gehen. Ihr Lebensinhalt bestand darin, stets darauf zu achten, welcher Mieter wann und wo gegen eine ihrer heiligen Regeln verstieß.

Ihr Mann war eigentlich ganz cool, leider stand er voll unter dem Pantoffel seiner Frau. Ihr Sohn war definitiv nicht das hellste Licht am Kronleuchter. Dümmer als er waren nur noch seine Freunde. Wenn er von seinem Vater ein neues Fahrrad bekommen hatte, sah man seine Freunde am Spielplatz neben ihm herrennen. Die konnten sich so ein Bike natürlich nicht leisten. Wie man nur so doof sein kann? Er fand das natürlich super. Er fühlte sich wie ein König. Ich hasste diesen Arsch, muss allerdings gestehen, dass auch ich selbst einige Male bei ihm zu Hause gewesen bin. Allerdings nur, um Süßigkeiten abzustauben. Für zwei Stunden spielen gab es Schokolade und Gummibären ohne Ende.

Die ganze Wohnung stand voller schwerer Holzmöbel, richtig spießig. Im Fernsehen lief immer das Erste.

***

Zwei Stockwerke über uns wohnten Regina, die beste Freundin meiner Mutter, und deren beiden Kinder. Mit Sebastian und Claudia verstand ich mich sehr gut. Sie war fünf Jahre und er drei Jahre älter als ich. Claudia war sehr nett und zum Entsetzen meiner Freunde fand ich sie wirklich hübsch. Meine Freunde, denen ich auf dem Spielplatz von ihr erzählt habe, lachten mich aus und meinten, ich sei eklig.

Mit Sebastian und seinen Freunden spielte ich damals ständig Fußball. Ich fand es toll, als kleiner Scheißer schon mit den Großen kicken zu dürfen. Ich wollte später unbedingt zum Club, als Profi viel Geld verdienen und irgendwann mit Ronaldo zusammen in einer Mannschaft spielen. Fußball war einfach super. Ich bolzte jeden Tag – egal mit wem und egal gegen wen – bis die Straßenlaternen angingen und ich nach Hause musste.

Das Größte war für mich, wenn mein Vater abends nach der Arbeit noch zu uns auf den Bolzplatz kam und mit mir und den anderen aus der Nachbarschaft gekickt hat. Mein Papa war einfach super. Er kam mir immer riesig vor, obwohl er nur eins siebzig groß ist. Damals hatte er kräftiges, langes schwarzes Haar, eine runde Brille und einen runden Bauch. Dafür Arme wie Popeye, der Seemann. Zusammen waren wir ein super Team und verstanden uns blind. Jeder meiner Freunde hätte gerne so einen Papa gehabt. Ich war mächtig stolz auf ihn. So stolz, dass ich in der siebten Klasse einen ganzen Aufsatz über ihn geschrieben habe. Thema: Wie ich einmal werden will! Die meisten wollten Superheld oder Polizist werden. Ich wollte einfach nur werden wie mein Papa.

***

Mit neun Jahren bin ich dann vom Werkstattdach gefallen. Eigentlich sollte ich da schon tot sein.

Mein Dad besaß eine kleine Autovermietung. Für die Firma veranstaltete er jeden Sommer ein kleines Grillfest im Hinterhof. Ich fand es furchtbar langweilig, die ganze Zeit mit den Erwachsenen am Tisch zu sitzen, zwischen den blöden Aschenbechern und Bierflaschen. Also habe ich lieber in der Einfahrt Fußball gespielt.

Reinhard, Papas bester Freund und Kollege, ein super Fußballer, hatte mir coole Fußballtricks gezeigt: wie man mit dem Außenrist schießt und sowas. Die hab ich dann versucht, alleine nachzuahmen. Auf diese Weise habe ich meinen Ball aufs Werkstattdach geschossen. Also stieg ich zunächst auf einen kleinen Zaun, vom Zaun auf einen Baum und vom Baum auf ein kleines Trafohäuschen, von dort schließlich rüber aufs Werkstattdach. Wow, ich war mächtig stolz auf mich und wollte meinem Papa zeigen, wie ich da alleine hochgekommen bin. Nur habe ich ihn gar nicht mehr gesehen. Er mich vermutlich auch nicht. Keiner hat mich gesehen. Als ich vom Dach hinunterschaute, bekam ich voll die Panik. Es waren locker fünf Meter, und ich hatte keine Ahnung, wie ich da je wieder heil runterkommen sollte. Ich beschloss, auf die andere Seite zu gehen. Auf halbem Weg stieß ich auf so eine Kuppel aus Kunststoffglas. Da wollte ich unbedingt durchschauen! Ab dem Moment weiß ich nichts mehr.

Aufgewacht bin ich auf der Intensivstation im Krankenhaus, mit Schläuchen und Drähten im Körper. Die Ärzte erzählten mir später, dass ich ununterbrochen geschrien habe. Vermutlich, weil ich nichts mehr gehört hatte. Ich bin aus fünf Metern ungebremst mit dem Kopf auf den Betonboden gekracht. Diagnose: dreifacher Schädelbasisbruch mit Innenohrabriss. Die Knorpel in meinem Ohr hatte es in die Schädelmitte gedrückt und mein Trommelfell zerfetzt. Ich hätte eigentlich tot oder zumindest behindert sein müssen.

Drei lange Wochen blieb ich im Krankenhaus, davon eine Woche auf der Intensivstation. Mein Vater wich die ganze Zeit nicht von meiner Seite, er war immer da. Als ich im Koma lag, las er mir aus meinem Lieblingscomic vor. Immer und immer wieder, solange, bis ich aufgewacht bin. Meine Mutter kam jeden Tag mit meinem kleinen Bruder zu Besuch.

Sie erzählte mir später, dass die eine Seite meines Kopfes ganz normal ausgesehen habe, während die andere auf die dreifache Größe angeschwollen war. Ähnlich wie bei einem Wasserkopf – völlig entstellt.

Dennoch ging es mir überraschend schnell wieder besser. Allerdings dachten die Ärzte, dass mein Kopf etwas abbekommen habe, weil ich den ganzen Tag lachte. Aber das war Blödsinn! Ich war einfach nur froh und glücklich, so viel Zeit mit meinem Vater verbringen zu können. Gemeinsam erforschten wir das Südklinikum, welches erst neu gebaut worden war. Mein Papa schob mich dabei mit dem Rollstuhl durch die Gegend und jedes Mal bekam ich eine Pizza. Ich fand das alles herrlich aufregend, es ging mir gut.

Meine Verletzungen sind schnell abgeheilt, übrig blieb nur eine große Narbe hinter dem linken Ohr. Nach sechs Monaten hab ich wieder Fußball gespielt, als wäre nix gewesen, und selbst Kopfbälle waren für mich kein Problem. Das Kicken war natürlich gegen den ärztlichen Rat, aber nichts konnte mich davon abhalten, auf dem Bolzplatz zu stehen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, was das Leben noch mehr zu bieten hätte. Ich war elf Jahre alt geworden.

***

Mit der Zeit entwickelte ich neben dem Kicken eine neue Leidenschaft. Ich ging auf den Aktivspielplatz. Auf dem Aktivspielplatz, der nur ein paar Blocks von unserer Wohnung entfernt lag, konnte man sich selber Holzhäuser bauen. Hämmer wurden gegen Pfand verliehen, und um eine Hunderterpackung neuer Nägel zu bekommen, musste man zunächst zweihundert kaputte Nägel einsammeln. Auf dem ganzen Gelände lagen Berge von Brettern und Dielen herum. Die stammten zumeist von alten Häusern, die eingestürzt oder abgerissen worden waren, weil man den Platz für was Neues brauchte und das Alte sich nicht mehr rentierte.

Der Stichtag für die Benutzung des Aktivspielplatzes war der vierzehnte Geburtstag. Wenn man erst mal über vierzehn war, durfte man nur noch als Besucher kommen. Die meisten aber kamen gar nicht mehr, die hatten dann besseres zu tun, wie zum Beispiel rumhängen, rauchen oder mit Mädchen rummachen.

Umso besser für uns Kleine. Ich war dort immer mit meinem besten Freund John Reuel. Seine Eltern waren die totalen Herr der Ringe-Freaks. Sie zogen sich komisch an und hatten nicht besonders viel Geld. John Reuel wurde oft gehänselt, aber ich mochte ihn. Ich hatte ihn, als ich sechs Jahre alt war, beim Dauerschaukeln auf dem Spielplatz kennengelernt.

Zusammen haben wir über tausend Nägel gesammelt. Genug, um ein super Haus zu bauen. Es sollte höher und schöner als alle anderen Häuser zusammen sein, wir haben wochenlang daran gebaut.

Irgendwann allerdings war es dann vorbei. Fußball war noch immer der Dauerbringer, nur hab ich dort natürlich lieber mit dem talentierteren Antonio zusammengespielt als mit John Reuel. Ein klassischer Interessenkonflikt. Leider hat John Reuel nicht verstanden, dass beim Fußball eben andere Qualitäten gefragt sind, als die, die er mitbrachte. Das gab Streit, und das war das Aus mit Elrond! Wenn ich am Abend nach Hause kam, war ich von oben bis unten voller Dreck. Ich musste mich schon im Hauseingang ausziehen, aber auch dann rieselte noch genug Dreck in den Hausflur.

Spielen und draußen sein war das Wichtigste für mich. Falls ich deshalb wieder mal nicht für die Schule lernen konnte, hatte ich einen todsicheren Trick gegen eventuelle Abfragekatastrophen entwickelt. Wenn ein Lehrer eine Frage gestellt hat und ich die Antwort nicht wusste, habe ich mich wie ein Wahnsinniger gemeldet. Man stelle sich einen Klassenstreber vor, der seinen Arm mit schnipsenden Fingern in die Höhe reißt und förmlich darum bettelt, aufgerufen zu werden. Es hat fast immer geklappt; ich wurde selten aufgerufen! Stattdessen hat es immer die Schüler erwischt, die unauffällig in der Gegend herumsahen oder ihren Kopf in ihre verschränkten Arme pressten und sich unsichtbar machten. Der Trick müsste wohl noch immer funktionieren. Auch später habe ich mir dieses Prinzip immer wieder zunutze gemacht. Auffällig ist unauffällig! Natürlich muss man die Situationen abwägen und bereit sein, hoch zu pokern. Manchmal klappt es auch nicht … dann musst du improvisieren.

***

Bis zu meinem dreizehnten Geburtstag ging ich echt gerne in die Schule. Alle meine Freunde waren dort. Dummerweise habe ich dann den Sprung auf die Realschule verpasst und musste auf eine Hauptschule wechseln.

Die Schule stand in dem Ruf, eine der schlimmeren Schulen Nürnbergs zu sein. Heute würde man sagen: eine Brennpunktschule. Es gingen die Gerüchte um, dass jeder, der neu auf diese Schule kommt, sich prügeln müsse und mit dem Kopf in die Toilette getaucht würde und lauter solche Dinge mehr. Selbst Lehrer würden immer wieder mal bedroht und geschlagen.

Von heute auf morgen änderte sich alles. Ich kam in eine Klasse, die wild zusammengewürfelt war. Ich kannte niemanden und ich fand auch keinen cool; mich wohl auch keiner. Vom ersten Tag an hatte ich überhaupt keine Lust, in diese Schule zu gehen, geschweige denn in diese Klasse.

Ich war schon immer sehr klein und dünn, nur war mir das bis zu diesem Zeitpunkt nie so bewusst gewesen. Hat ja auch nie jemanden gestört. Jetzt aber waren alle in meiner Klasse mindestens einen Kopf größer. Selbst die Mädchen! Das war echt krass.

Vor meinem ersten Tag in der Schule bin ich schon mit einem mulmigen Gefühl eingeschlafen. Eigentlich war mir die ganze Woche schon kotzübel, wenn ich nur daran gedacht habe, dass bald das neue Schuljahr beginnt und ich auf diese verrufene Schule muss.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad. Der regnerische Morgen und die dicken Wolken am Himmel machten mir den Schulweg auch nicht gerade erträglicher. An meiner alten Schule ist alles bunt und neu gewesen. Die jetzige war rostrot und alt, der Pausenhof grau in grau. Vor der Schule standen lauter Jugendliche, die rauchten. Mir rutschte schon jetzt das Herz in die Hose. Ich wollte mich eigentlich mit einem Fußballkumpel treffen und mit ihm zusammen in die Schule gehen, damit es leichter fällt. Doch daraus wurde nichts, weil seine Klasse erst später Schulbeginn hatte. So musste ich meinen ersten Gang also alleine antreten. Schritt für Schritt ging ich auf die Eingangstüre zu. Ich erinnere mich noch gut an diesen enormen Geräuschpegel. Das lag vermutlich auch daran, dass die Schule mehr als doppelt so groß war wie meine alte Schule, und so erschien mir auch mit jedem Meter alles größer und größer. Ich hätte mich am liebsten in meinem Scout-Ranzen, auf den Dinosaurier gestickt waren, versteckt. Apropos Schulranzen: Keiner außer mir hatte eine Büchertasche! Alle hatten einen coolen Eastpak-Rucksack, der lässig über die Schulter geschwungen wurde.

Ich schlängelte mich also, es war bereits kurz vor acht, total gehetzt durch das Treppenhaus. Da war es – mein neues Klassenzimmer. Ich atmete dreimal tief durch und öffnete die Türe. Für einen Moment herrschte völlige Stille. Die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster blitzten, hatten mich kurzzeitig blind gemacht. Für ein paar Sekunden sah ich nur noch Sternchen. Alle Blicke waren wohl auf mich gerichtet. Ich wollte etwas Cooles sagen, doch schnürte mir ein fetter Kloß den Hals zu. Jeder Tisch war besetzt, außer, na klar: der ganz vorne.

Ohne jemanden eines Blickes zu würdigen, ging ich dorthin, setzte mich und verschränkte die Arme. Ich hatte große Mühe, mit meinen Füßen den Boden zu berühren. Dann wurde es wieder lauter.

Als die Lehrerin das Klassenzimmer betreten hatte und sich vorstellte, blickte ich unauffällig durch die Meute. Alles komische Typen. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit irgendeinem von denen ein Gespräch zu beginnen, geschweige denn mich anzufreunden.

Ich saß da und begann mir leidzutun. Die Zeit zog sich dahin. Dann kam der erste Pausenschlag. Und damit die Angst!

Die Pausen hatte ich mir richtig schlimm vorgestellt, sehr viel schlimmer als den Unterricht, da war ja zumindest ein Lehrer im Zimmer! Bitte, bitte ich will nicht den Kopf ins Klo getaucht bekommen, stammelte meine innere Stimme. Und jetzt drückte meine Angst unaufhörlich auf meine Blase. No way out! Vorsichtig betrat ich die Schultoilette. Uff, alleine! Es roch nach Urin und Rauch. Um mich herum beleuchteten Neonröhren vergilbte Fliesen. Schnell rein in eine Kabine und die Türe verschließen. Mein Blick wanderte nach oben und ich bemerkte, dass über mir Gitter montiert waren. Wofür die wohl gut sein sollten? Damit da keiner drüberklettern kann? In der Grundschule gab es so was jedenfalls nicht!

Ich versuchte zu pinkeln. Bei mir ist das etwas eigen. Ich habe Probleme zu pinkeln, wenn ich mich unwohl fühle. Auch wenn ich dringend muss, es kommt einfach nichts!

In dem Moment knallte die Tür auf und ich hörte Schritte und Gepolter. Mehrere Personen schrien herum und traten gegen die Kabinen. »Ey, Kleiner, raus mit dir, aber schnell. Los, Mann, mach die Tür auf.«

Oh Gott! Ich atmete schneller, wurde nervös. Scheiße, genau so etwas wollte ich doch vermeiden. Es polterte erneut.

»Mach jetzt die scheiß Tür auf!«

Zitternd und total verängstigt öffnete ich die Tür, nicht wissend, was gleich passieren würde. Vor mir standen drei ausländische Schüler mit Kippe im Mund. Der eine zog an seiner Zigarette, pustete mir den Rauch ins Gesicht, packte mich mit beiden Händen am Kragen, riss mich aus der Toilette und drückte mich gegen die Wand.

»Du hast hier nichts zu suchen, verstanden! Verschwinde, und wenn du jemandem was sagst, dann fick ich dich. Verstanden?!«

Ich war noch nie in meinem Leben so brutal angegangen worden. In mir stieg die Panik hoch, drückte mir den Atem ab.

Ich konnte nur irgendwas dämlich daherstammeln: »Ich wollte doch nur auf die Toilette«, oder so ähnlich. »Was willst du, Toilette? Mann! Werd bloß nicht frech, sonst setzt es gleich was! Geh woanders in die Hose kacken! Los, ab!«

Er packte mich am Nacken, stieß die Tür auf und schubste mich in den Vorraum, in dem sich die Waschbecken befanden. Ich verlor das Gleichgewicht und knallte mit dem Kopf voll gegen die Tür. Sofort stand ich wieder auf und rannte auf den Gang, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her. Mein Atem ging schwer, mein Kopf schmerzte und war knallrot. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, zu zittern. Auf dem Gang lief ich wie ein aufgeschrecktes Huhn hin und her. Von links und von rechts bekam ich Rempler ab, die ich nur noch teilweise wahrnahm. Langsam tauchte alles in einen stummen Nebel ab, wie in Zeitlupe tobte das Leben um mich weiter, drang aber kaum noch zu mir durch. Mir war kalt und ich wollte weinen, oder noch besser, sterben.

Den restlichen Tag bekam ich vom Unterricht so gut wie nichts mehr mit. Mein Blick galt einzig der Uhr. Ob die Typen wohl auf mich warteten? Ich hatte denen doch überhaupt nichts getan. Die zweite Pause blieb ich allein im Klassenzimmer.

Nach Ende des Unterrichts stürmten alle aus dem Klassenzimmer. Ich ließ mir extra viel Zeit und überlegte mir, ob ich der Lehrerin vielleicht den Vorfall schildern sollte, ließ es aber letztendlich sein. Ich schlich zu meinem Fahrrad, das ich am Hintereingang der Schule abgestellt hatte.

Von weitem sah ich die drei am Ausgang stehen. »Oh Mann, bitte nicht«, wimmerte ich leise vor mich hin.

Eine Weile stand ich völlig ratlos da. Wie sollte ich denn jetzt an denen vorbei zu meinem Fahrrad komme? Stehenlassen konnte ich es auf keinen Fall. Andererseits war es nur eine Frage von Augenblicken, bis sie mich entdecken würden. »Ey, Junge, komm mal her. Hast du Geld?«

Ich wollte weglaufen, blieb aber wie festgewurzelt stehen. Meine Füße gehorchten mir nicht. Sie kamen näher und näher. Dann standen sie in einem Halbkreis um mich herum.

Warum ich, warum ausgerechnet ich? Was zum Teufel wollen die bloß von mir? »Junge, was schaust du mich so behindert an? Brauchst du ein neues Passbild, oder was?« »Lass mich doch in Ruhe, ich hab dir gar nix getan.«

Der Türke lachte mich aus. Die anderen beiden sagten die ganze Zeit über kein Wort, hatten die Arme verschränkt und glotzten mich an. Anscheinend war er ihr Anführer. »Ich muss dir wohl eine Lektion erteilen, oder was …?«, setzte er mich unter Druck.

Er ballte die Faust, als plötzlich ein Lehrer auftauchte. »Hey, was ist denn hier los? Lasst den Jungen in Ruhe!« »Scheiße, Mann! Kommt Jungs, wir verziehen uns.«

Der Türke fuchtelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht und grinste mich fies an: »Wir beide sind noch lange nicht fertig, Kleiner. Ich finde dich!«

Und weg waren sie. »Ist alles in Ordnung mit dir? Was wollen die denn von dir?«, fragte mich der Lehrer. Er wirkte sehr nett und ernsthaft besorgt. »Ich weiß es nicht; ich muss jetzt aber gehen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Ich rannte schnell zu meinem Fahrrad. Der Ranzen, halb so groß wie ich, wippte auf und ab und zog mich förmlich zu Boden. Die Entfernung zu meinem Fahrrad kam mir wie eine Ewigkeit vor. Hastig sprang ich aufs Rad und fuhr nach Hause.

Noch im Hausgang fiel mir das Atmen schwer. Kaum hatte ich den Schlüssel in das Schloss gesteckt und umgedreht, spürte ich endlich die vertraute Wärme. »Na, wie war der erste Schultag?«, flötete meine Mutter mit erwartungsvoller Stimme aus der Küche. Ich schloss erst einmal die Türe. Meine Mutter war gerade am Kochen, was mir ganz recht war. Sie hätte bestimmt gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich wollte ihr aber keine unnötigen Sorgen bereiten, also atmete ich kurz durch. »Alles in Ordnung. Bin nur total erledigt. Ich lege mich noch ein bisschen hin, okay?«, antwortete ich und versuchte dabei fröhlich zu klingen. »Na klar, mein Schatz. Ich hebe dir was vom Essen auf.«

Ich schmiss mich aufs Bett. Decke über den Kopf. Mir war speiübel. Mir graute vor dem morgigen Tag.

Die kommenden Tage und Monate passierte seltsamerweise nichts Weltbewegendes. Ich wurde jedoch mehr und mehr zum Außenseiter. So sehr, dass ich mich selber nicht mehr wiedererkannte.

Ich gewöhnte mich allmählich an die Sticheleien von meinen Mitschülern, die zum Beispiel meine Federmappe hin und her warfen oder hochhielten, da ich wegen meiner Körpergröße nicht an sie dran kam.

Zuhause habe ich nichts davon erzählt und versucht, die negativen Erlebnisse beiseitezuschieben und zu verdrängen. Zugleich aber wuchs in mir eine Wut.

***

Sobald ich aus der Schule kam, ging ich auf den Fußballplatz, um abzuschalten und Spaß zu haben. Beim Kicken hatte ich ihn wenigstens noch. Auf dem Bolzer war ich immer noch der alte Domi. Umgeben von meinen Freunden fühlte ich mich wohl, bis, ja bis wir im Winter dann Eisfußball gespielt haben. Eisfußball war eine coole Sache. Durch das Herumgerutsche war es einfach sehr viel schwerer, mit dem Ball zu jonglieren, und wir landeten dauernd auf der Fresse. Es machte uns höllisch Spaß. Zu viel Spaß! Diagnose: schwere Leistenzerrungen auf beiden Seiten.

Der Arzt versicherte mir, dass dies keine schlimme Verletzung sei, er so etwas schon tausendmal behandelt habe und ich in drei Wochen wieder spielen könne. Das war für mich aber schwer vorstellbar, denn im Moment konnte ich nicht einmal richtig laufen. Und wie ich befürchtete, sollten sich meine Verletzungen noch eine ganze Weile hinziehen. Um genau zu sein: Ich sollte bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr dauerhaft Schmerzen haben. Mein Traum vom Fußballinternat war damit geplatzt.

Ich erinnere mich, wie ich auf meinem Holzbett saß und mit starrem Blick auf meine Posterwand vor mich hin trauerte. Ich sammelte Poster von Superhelden und Fußballstars. Wie schnell sich doch alles ändern kann, dachte ich! Die Schule ist zum Kotzen und mit meiner Verletzung kann ich nicht mehr raus auf den Bolzplatz. Alles entwickelte sich dunkel und düster.

Um wenigstens irgendetwas zu unternehmen, habe ich mich mit Damian und Rolli aus meiner Klasse angefreundet: Den beiden anderen Vollnerds! Was blieb mir anderes übrig?

Trotz anfänglicher Schwierigkeiten wurden wir irgendwann tatsächlich richtig gute Kumpels.

Rolli, war ein absoluter Computerspielefreak: groß, spargeldürr und mit dünnem Haar. Ich weiß noch ganz genau, dass er in einer Tour geredet hat, zumindest mit mir. Bei Fremden war Rolli eher schweigsam, extrem schüchtern. Wenn er dann doch mal was erzählt hatte, geschah das ohne Punkt und Komma. Meistens ging es um irgendwelche Videospiele-Cheats, die er angewendet hat, um das nächste Level zu erreichen. Wenn ich ihm aber was erzählen wollte, hat er nie richtig zugehört. Und weil er ununterbrochen gezockt hat, und ich kein Fußball mehr spielen konnte, entschied ich mich irgendwann, das Gleiche zu tun.

Damian war total schräg. Er hat auch zu uns nicht wirklich gepasst. Eigentlich hat er zu niemandem gepasst. Er war seltsam und sein Hobby war es auch: Er fuhr Straßenbahnhaltestellen ab und prägte sich deren Namen ein. Er kannte jede Haltestelle im Nürnberger Netz auswendig, jede Linie inklusive deren Abfahrtszeiten. Mit so einem unternimmt doch keiner was! Außer mir. Dennoch habe ich mir einige seiner Gewohnheiten abgeschaut und nachgeahmt. Damian kam zum Beispiel oft mit ungekämmten Haaren oder nur mit einer Scheibe Toastbrot und Wasser in die Schule. Ich habe dann dasselbe gemacht. Auch war er richtig gut in der Schule und hat viel gelernt, auch daran hab ich mir ein Beispiel genommen.

Irgendwann hab ich mitbekommen, dass er in einer widerlichen Drecksbude hausen musste. Dermaßen eklig und schimmlig, dass ich überhaupt keine Worte finde. Wahrscheinlich war er deswegen so merkwürdig und zurückgezogen. Wenn ich es mir genau überlege, ist das auch die Antwort auf die Frage, warum er nur eine Scheibe Toast dabeihatte, alte, dreckige Klamotten trug und sich nicht gekämmt hat.

***

Mir gefiel es überhaupt nicht auf der Hauptschule. Ich wollte unbedingt in die Realschule wechseln, aber Damian hat mich überredet, zu bleiben. Außerdem meinte er, dass ich mit dem M-Zweig ein Jahr sparen würde und denselben Abschluss erreichen würde. Eine M-Klasse ist eine Klasse auf der Hauptschule, in der man seinen mittleren Bildungsabschluss anstrebt. Damian, Rolli und ich hatten also den gleichen Plan. Wir wurden richtig gute Freunde. Die Nerds!

In der Schule waren wir ein Dreiergespann. Bekannt als die Lieblinge der Lehrer und der Erwachsenen. Alle in unserem Alter fanden uns merkwürdig und niemand wollte etwas mit uns zu tun haben, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Ich habe meine Mitschüler gehasst. Jeden Einzelnen von ihnen.

Ich habe oft mitbekommen, wie meine Mitschüler schlecht über mich geredet haben. Um mich lächerlich zu machen, streichelte mich einer von ihnen mitten im Unterricht am Ohr, immer wenn der Lehrer etwas an die Tafel geschrieben hat. Alles lachte und ich wusste mir nicht zu helfen. Ich hätte ihm am liebsten den Stuhl in die Fresse geschlagen oder das Geodreieck in den Bauch gerammt, aber davor hatte ich zu große Angst.

Angst hatte ich generell; sie war mein ständiger Begleiter. Ich kann gar nicht genau sagen, vor was. Eben vor allem. Ich war völlig verunsichert und hilflos. So habe ich einfach versucht, jeden Tag zu überstehen, ohne Freude, ohne Ziel.

Oft habe ich mich stundenlang im Spiegel betrachtet, um herauszufinden, was den anderen an mir nicht passt. Dann habe ich aufgezählt, was mir selbst an mir nicht passt. Ich sah mit vierzehn Jahren aus wie mit elf, ich war mit Abstand der Kleinste und Schmächtigste in meiner Klasse, ich war überhaupt nicht zufrieden mit mir und schon gar nicht damit, wie sich mein Leben so entwickelt hatte.

Durch den Schulwechsel sah ich meine alten Freunde vom Fußballplatz nicht wieder. Nicht, dass der Weg viel weiter gewesen wäre, aber es rief mich keiner mehr an. Recht schnell war von dem coolen, aufgeweckten, bei allen beliebten kleinen Jungen nicht mehr viel übrig.

Zudem trug ich, weil das meiner Mama immer sehr gefallen hatte, einen Topfschnitt. Als meine Haare dann die entsprechende Länge hatten, klemmte ich sie mir auch noch hinter die Ohren.

Ich sah echt beschissen aus!

Meine Klamotten habe ich immer viel zu groß getragen. Ich hatte wohl gehofft, dass ich so schneller hineinwachse.

Es ist einige Male vorgekommen, dass mich Kinder, mit denen ich früher gebolzt hatte, auf dem Pausenhof verprügelt haben.

Nach der Schule flüchtete ich mich jedes Mal in eine Traumwelt, die ich mir durch Mangas wie Dragon Ball Z oder Filme wie Karate Tiger erschaffen habe. Egal ob Comic oder Film, die Geschichten blieben im Prinzip immer dieselben. Ein merkwürdiger, schwächlicher Junge, ein Außenseiter, den keiner leiden mag, trainierte plötzlich Tag für Tag wie ein Verrückter und hatte irgendwann die Superkraft, exakt die Idioten zu retten, vor denen er immer Angst gehabt hatte. So wurde er zum Superhelden, den alle bewunderten und liebten! Jede Nacht träumte ich davon, dieser Jungen zu sein. Also begann ich zu trainieren: Liegestütze, Klimmzüge und Sit-ups bis zum Umfallen. Außerdem ging ich zum Karate-, Judo- und Kung-Fu-Training. Das Fußballspielen war vorbei.

Den Kampfsport habe ich hauptsächlich betrieben, um mein Selbstbewusstsein zu steigern und mich im Notfall wehren zu können. Durch das Krafttraining habe ich versucht, meine kindliche Seite endlich loszuwerden. Anders als in den Filmen, die ich mir ständig angesehen habe, wollte ich jedoch die Idioten, die mich erniedrigt haben, nicht beschützen, sondern ich wollte mich an ihnen rächen.

Zunehmend faszinierte mich Gewalt. Klar, im wirklichen Leben hätte ich meine Fantasien niemals ausleben können, also mussten Videospiele her wie Manhunt, ähnlich wie Counter Strike nur viel brutaler. In dem Spiel ging es darum, so viele Menschen wie möglich umzubringen, und das auf möglichst brutale Art und Weise: Dem Opfer die Plastiktüte von hinten über den Kopf ziehen und dann so lange auf die Nase schlagen, bis es qualvoll an seinem eigenen Blut erstickt. Das fanden wir geil. Wenn man einen bestimmten Level erreichte, konnte man seine Opfer auch in Brand stecken. Richtig irre, wenn das Opfer brennend herumsprang und versuchte, sich zu löschen, es aber natürlich nicht schaffte und letztendlich krepierte. Gebannt saßen wir so stundenlang vor der Kiste und waren total fasziniert. Wie das wohl wäre, wenn wir wirklich jemanden anzündeten?

Es fing damit an, dass Damian und ich bei Rolli in der Wohnung Play Station gezockt haben. An jenem Tag war auch Torben mit von der Partie. Er war dreizehn und musste eine Schule für Schwererziehbare besuchen. Soweit wir dies mitbekommen hatten, litt er unter einer geistigen Behinderung, die irgendwie mit siebzig Prozent eingestuft wurde. Unkontrollierbare Wutausbrüche und ein paar spezielle Ticks waren die Folge.

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Wir waren also alle bei Rolli. »Ey, Rolli, sprüh mal den Arm von Torben mit Deo ein, dann zünden wir ihn an!«, feuerte Damian die ausgelassene Stimmung an. Keine Ahnung, wo er die schwachsinnige Idee aufgeschnappt hatte. Torben war krass, für jeden Scheiß zu haben. Keine Sekunde später brannte sein Arm. Rolli hat die Flammen gleich wieder mit einem Tuch erstickt. Nichts war passiert. Gebrülle und Gejohle! »Los, Mann, weiter, weiter!«, grölte Damian.

Immer wieder haben wir Torben eingesprüht, angezündet und wieder gelöscht, jeder durfte einmal. Nicht, dass er Angst gehabt hätte oder das alles unter Zwang passierte, ich glaube, Torben fand es irgendwie geil, von allen beklatscht zu werden.

Wir besprühten ihn immer großflächiger und zögerten das Löschen immer länger hinaus. Ich fand es super aufregend, was da in Rollis Zimmer abging, gleichzeitig hatte ich irgendwo auch zunehmend Angst, dass Torbenas ernsthafte Verbrennungen davontragen könnte.

Torben hat kein einziges Mal »hör auf« oder »Schluss!« oder Ähnliches gesagt; stattdessen hat er wie blöd gegrinst.

Klar, Dachschaden; vermutlich konnte er die Situation gar nicht richtig einschätzen.

»Ich glaub, jetzt reicht’s dann!«, murmelte ich. Ich glaubte, dass Torbenas es inzwischen auch nicht mehr ganz so witzig fand.

Aber Rolli war wie besessen davon, Torbenas brennen zu sehen. Er sprühte ihm Kreise und Pentagramme auf den Rücken und Kreuze auf die Brust. Er und Damian haben dabei immer lauter und abgedrehter gelacht. Irgendwie lief es aus dem Ruder.

»Los, Dami, halte ihn fest!«

»Haut ab, ihr blöden Wichser!«

Jetzt war der Fun für Torben definitiv vorbei. Plötzlich stand er komplett in Flammen. Er schrie auf vor Schmerz. Augenblicklich lachte keiner mehr.

»Wirf dich auf den Boden!«, schrie ich.

Total panisch wickelten wir Torben in Decken, das hatte ich irgendwo mal aufgeschnappt. Dann lag er einfach nur da, keiner wusste so recht, was jetzt zu tun war. Schlagartig wurde uns klar, was wir gerade getan hatten.

»Rolli, bist du zu Hause?«, rief seine Mutter, die gerade heimkam. »Verdammte Scheiße, Fuck, Fuck, Fuck!«, fluchten wir im Kanon und rannten wie die Duracell-Hasen durchs Zimmer. »Was machen wir denn jetzt?«, wimmerte Robert! Ich stieß ihn zur Tür hinaus. »Los, lenke deine Mutter ab! Schnell!«

Ein wahnsinniges Angstgefühl schoss mir durch den Körper. So einen Adrenalin-Stoß hatte ich noch nie erlebt. Damian half Torben auf die Beine und der begann tatsächlich zu lachen. Wäre fast verbrannt, aber lacht sich einen Ast! »Ich habe euch doch gesagt, ich halte das Feuer aus!« »Puah! Torben, du Arsch!«, Damian klopfte ihm auf die Schulter.

Mir fielen hundert Steine vom Herzen. Wir lachten wie die Wahnsinnigen. Gut gegangen! So wie es aussah, roch Torbenas nur etwas verbrannt und war krebsrot im Gesicht! »Los, Leute, wir hauen ab. Rolli lenkt seine Mutter ab, das ist unsere Chance.«

Im Vorbeirennen warfen wir einen Gruß in die Küche und waren schon zur Tür raus. Wir haben nie wieder ein Wort über diesen Tag verloren!

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In der neunten Klasse ging es auf Klassenfahrt nach Burg Hoheneck. Klassenfahrt! In der Grundschule bedeutete Klassenfahrt für mich Schnitzeljagd, Spiele, Tischtennisturniere, Kinderdisco und den ganzen Tag Fußball spielen.

Die Pläne meiner jetzigen Mitschüler sahen jedoch anders aus. Nun bedeutete Klassenfahrt, dem Lehrer das Leben schwer zu machen, Scheiße bauen, heimlich rauchen, nachts in andere Zimmer schleichen und so viel Alk in sich hineinzupressen, bis man fast ohnmächtig wird. Und zu guter Letzt noch den Forster verprügeln.

Da wollte ich auf keinen Fall mit dabei sein! Bevor ich mit den ganzen Idioten, die mich sowieso nicht leiden können, irgendwo hinfahre, beantrage ich zusammen mit Damian lieber eine Prüfungsvorbereitung in einer anderen Klasse. Klingt nicht nur total nach Nerd, war es auch!

Ich hätte es auch definitiv durchgezogen, nur meinte unser Superpädagoge und Klassenleiter, dass wir uns ohnehin schon zu sehr von der Gruppe abkapseln und eine Klassenfahrt doch die perfekte Gelegenheit sei, um sich anzunähern und besser kennenzulernen.

Annähern? Tickte der noch normal?

Ich wollte mich weder annähern noch irgendjemanden von den Idioten besser kennenlernen.

Ich wäre froh gewesen, wenn ich diese Saftsäcke nicht mehr hätte sehen müssen. Keine Chance! Widerwillig ging ich für fünf Tage auf Klassenfahrt.

Außerhalb der gezwungenen Gruppenaktivitäten verbrachten wir Nerds unsere Freizeit auf dem Zimmer. Keine drei Minuten nach Gruppenende hatten wir, also Damian und ich, uns in unserem Zimmer verbarrikadiert. Rolli war zwar auch mit uns im Zimmer, aber der blieb dann doch die meiste Zeit bei den anderen. Wenn wir mal länger aufgeblieben sind, dann so bis einundzwanzig Uhr. Nachts haben wir manchmal mit Damians Laserpointer in die Zimmer der anderen Mitschüler geleuchtet. Was waren wir doch für verdammt wilde Hunde!

Die Waschräume befanden sich auf dem Gang. Ich habe in den fünf Tagen kein einziges Mal geduscht. Es war für mich unvorstellbar, mich vor den anderen auszuziehen. All das hat dazu beigetragen, dass wir uns noch weiter von den anderen distanzierten.

Dann kam der vierte Tag.

Die Gruppenaktivitäten waren früher zu Ende. Es war gerade erst fünfzehn Uhr. Damian und ich wollten noch einige Arbeitsblätter für die anstehende Klassenarbeit durcharbeiten. Wir kamen zügig voran, als plötzlich unsere Zimmertür aufgestoßen wurde.

Nathanael, Maik und Roland standen in der Türe. »Damian, Dominik, was seid ihr eigentlich für krasse Schwuchteln! Wir suchen euch schon die ganze Zeit.« »Ihr seid hier tatsächlich am Lernen, oder was?«, starrten sie uns ungläubig an. »Was ist eigentlich mit euch los! Wir haben uns schon gefragt, was ihr den ganzen Tag macht«, Nathanael blickte abschätzig auf uns herab. »Ich habe gewettet, dass ihr irgendwelche Nerd-Kartenspiele oder so was zockt, aber das hier. Ihr seid solche verdammten Loser!«

Wir blieben stumm.

Roland und Maik packten unsere Unterlagen und zerrissen sie. Zahi randalierte, schmiss Stühle und Tische durch das Zimmer. Er riss sogar unser Waschbecken runter, als er versuchte, sich drauf zu setzen. Damian saß starr da und blickte auf den Boden. Ich wusste, dass er kurz davor war, sich in die Hose zu machen. Genau wie ich!

Herr Leutner, unser Klassenleiter, war natürlich stinksauer und enttäuscht. Alle drei bekamen einen Verweis und mussten sich eine ewig lange Standpauke vor der versammelten Mannschaft anhören.

Letztlich wurden Nathanael und Co in den Augen der anderen durch diesen Verweis noch ein bisschen cooler. Damian und mich beförderte die Standpauke des Lehrers endgültig ins Abseits. Zumal er keinen Zweifel daran ließ, dass wir die Lieben seien.

Danach wurde alles noch schlimmer. Jeder Schultag wurde zur Qual!

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Ein Jahr später hatte ich endlich die Abschlussprüfungen hinter mich gebracht. Knapp zwei Wochen später war Zeugnisübergabe. Unser Klassenleiter, Herr Leutner, gab endlich die Noten bekannt, ich war tierisch aufgeregt.

Damian und Rolli ging es wie mir: feuchte Hände! Den Rest der Klasse schien das alles nicht groß zu interessieren. Der Großteil von ihnen kam schon angetrunken zum letzten Schultag. »Nun«, begann er seine Abschlussrede, »es freut mich sehr, dass zwei der drei Jahrgangsbesten aus meiner Klasse stammen. Wie zu erwarten sind das Damian und Dominik. Damian hat einen überdurchschnittlichen Wert von eins Komma drei und Dominik, du hast einen ebenfalls sehr guten Notendurchschnitt von zwei Komma drei.«

Stille in der Klasse! Er hatte wohl erwartet, dass die Klasse für Damian und mich Beifall klatschen würde oder so etwas. Bei jedem weiteren Zeugnis, das er anschließend übergab, jubelte die hohle Menge. Ich hatte nichts anderes erwartet. Für Herrn Leutner tat es mir fast ein wenig leid.

JUGENDFREIZEIT ]

Eigentlich wollten Damian und ich nach unserem Abschluss in den Urlaub fahren, und so buchten wir eine Jugendfreizeit bei der AWO nach Cesenatico. Damian fuhr letztendlich doch nicht mit, seine Mutter konnte sich die Reise nicht leisten. Als ich das erfuhr, wäre ich am liebsten auch daheim geblieben, aber meine Eltern hatten schon das Geld dafür bezahlt und da wollte ich sie auch nicht enttäuschen und das Ganze abblasen. Also Augen zu und durch. Im schlimmsten Fall war ich auf der Reise wieder mal der Außenseiter.

Aber ich wollte nicht mehr der Außenseiter sein, ich hatte die Schnauze voll.

Ich bin ein super Typ und diese Reise wird toll, versprach ich mir selber und polierte als erstes meine Optik auf. Ich schnitt mir die Haare und kaufte haufenweise coole Klamotten – Hip-Hop-Style.

Dann ging es los. Ich war der letzte, der den Bus betrat, und alle starrten mich wieder an. Genau wie in der Schule. Na prima! Mein Bauch drückte gegen meinen Hals und ich war mir sicher, jeder konnte meine Unsicherheit riechen. Ich setzte mich zu einem noch kleineren, schmächtigeren Jungen. Neben dem wirkte sogar ich richtig cool.

Die Hälfte der Busfahrt redete ich mit niemandem und nahm heimlich meine Reisetabletten gegen den rebellierenden Magen auf der Bordtoilette ein. Mir wurde auf Reisen immer ziemlich schnell schlecht und natürlich wollte ich vermeiden, dass ich alles vollkotze. Außerdem hatte ich mir vor der Abreise noch eine BRAVO gekauft. Nicht, dass mich etwa interessierte, was da drinnen stand, aber ich hielt es für ein angemessenes Statussymbol. Also saß ich da und blätterte betont lässig so darin herum bis … »Hey, du mit der BRAVO, kann ich die auch mal lesen, wenn du fertig bist?«, fragte mich ein Mädchen zwei Reihen vor mir. »Ja klar. Hier, kannst du haben.« Krasser Erfolg! »Sag mal, ist das deine erste Jugendreise?«, fragte ich hastig.

Mit dieser harmlosen Frage begann der beste Urlaub meines Lebens. Nach und nach kam ich mit den meisten Mitreisenden ins Gespräch. Es bildeten sich schnell zwei Gruppen. Auf der einen Seite die Skaterboys, die sich alle schon vor der Fahrt kannten. Acht Jungs mit langen Haaren und Skaterklamotten. Ich sprach kein Wort mit denen und konnte sie schon gleich nicht leiden.

Auf der anderen Seite ein bunt durcheinander gewürfelter Haufen. Und ich mittendrin!

Teddy, den ich beim Vortreffen kennengelernt hatte, war riesig, mindestens eins neunzig groß und fast genauso breit, hatte ein bleiches Gesicht, blasse Haut, einen dicken Bauch, in dessen Bauchnabel beinahe ein kompletter Fineliner verschwinden konnte, und einen blonden Afro. Dabei war er gerade mal fünfzehn Jahre alt. Er stellte mir seinen Cousin Tomsen vor. Tomsen selbst stellte sich mir noch weitere drei Mal auf der Hinfahrt vor. Das lag daran, dass er ziemlich bekifft war.

Die anderen Jungs aus unserem Achtmannzimmer waren auch ziemlich lässig drauf. Vor allem Jakob war der Hit, auch wenn der alles andere als cool war. Er sah original aus wie Jesus mit Zahnspange, hatte immer ein weißes T-Shirt, kombiniert mit braunen Sandalen an und wog vielleicht dreißig Kilo. Das Zimmer hat er so gut wie nie verlassen und ununterbrochen im Kicker gelesen.

Am ersten Abend saßen wir alle am Strand zum Chillen. Das Wort chillen kannte ich davor noch nicht, und es sollte im Laufe meines Lebens noch eine ganz andere Bedeutung bekommen. Die Jugendlichen waren zwischen dreizehn und sechzehn Jahre alt. Der Altersdurchschnitt lag allerdings eher bei vierzehn. Wie sich herausstellte, war ich immerhin der Zweitälteste. Nur Tomsen war einen Monat älter als ich.

Was mich total verwunderte und ehrlich gesagt auch ziemlich störte, war, dass alle rauchten. Die ganzen dreizehnjährigen Mädchen rauchten und redeten am ersten Abend schon davon, heimlich Alkohol zu besorgen.

Ich habe das Rauchen und Trinken von zu Hause her gehasst, obwohl ich es selbst nie ausprobiert hatte. Meine Eltern waren starke Raucher und in unserer Wohnung stand der kalte Qualm in jedem Zimmer.

Ständig wurde ich jetzt gefragt, ob ich auch eine Zigarette will oder aber warum ich denn nicht rauche. »Ähm, vielleicht weil es gesundheitsschädigend ist und wie die Pest stinkt!« Das zumindest dachte ich mir, sprach es aber klugerweise nicht aus. Mit so einem Spruch hätte ich mich direkt wieder ins Abseits befördert. Also wich ich den Fragen geschickt mit irgendwelchen blöden Gegenfragen aus. Die Atmosphäre aber gefiel mir gut. Mit so vielen Jugendlichen auf einem Haufen hatte ich noch nie zu tun gehabt.

Wir saßen alle auf einem weißen Bootsanhänger, die Füße im Sand. Es war angenehm warm und es ging ein laues Lüftchen. Die Sonne versank gerade und das Meer funkelte orange und irgendwie lebendig. Alle sahen sehr zufrieden aus.

Zum Abendessen versammelten wir uns im Essensraum. Es gab Nudeln mit Tomatensoße. Wie sich herausstellen sollte, gab es die kompletten zwei Wochen Nudeln mit Tomatensoße. So viel zum angekündigten abwechslungsreichen, kulinarischen Buffet. Die Nudeln schmeckten nach nichts. Jesus kaufte sich Pfeffer, Salz und Tabasco, die er wiederum an uns weiterverkaufen wollte. Jesus war schon echt ein Freak, ein richtiger Freak. Seine Rechnung ging natürlich nicht auf, weil ihm jeder die Gewürze einfach wegnahm. Jesus halt. Es war immer wieder witzig, das Schauspiel Tag für Tag mit anzusehen. Und es war ein herrliches Gefühl, mal auf der anderen Seite zu stehen.

Gegen zehn Uhr war ich meistens ziemlich erledigt und freute mich aufs Bett. Doch mit Schlafen war nichts. Bis Mitternacht, was für mich schon viel zu lange war, durften wir auch offiziell wachbleiben, jedoch war meine Annahme, dass dann alle schlafen gehen, wieder völlig daneben.

Bene, mein Zimmerkollege, hatte mit den Mädels schon ausgemacht, dass wir uns zu denen ins Zimmer schleichen. Ich wollte eigentlich gar nicht! Was wäre denn, wenn sie uns erwischten?

Außerdem, was soll ich denn mit den Mädels reden? Naja gut, mit Mary hatte ich mich eigentlich schon den ganzen Tag unterhalten. Aber trotzdem, es war ja schließlich verboten und ich wollte nur keinen Ärger. Völlig in meine Gedanken vertieft, bemerkte ich gar nicht, dass Bene mit mir sprach: »Ey, Domi, schläfst du schon oder was? Die Terry, also die, der du die BRAVO gegeben hast, will unbedingt, dass du mit rüberkommst.«

Bene grinste mich an, ich nickte zögerlich und hoffte, dass irgendetwas dazwischenkommt oder alle schon schlafen. Ich selbst war hundemüde und musste mit aller Macht dagegen ankämpfen, nicht wegzunicken. Schließlich war es jetzt schon bereits nach ein Uhr. So lange war ich das letzte Mal an Silvester wach.

Eine knappe Stunde später war es soweit. Die Betreuer schienen endlich zu schlafen. Bene und ich schlichen los.

Ich betrat das Mädchenzimmer. Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, wo ich mich hinsetzen, geschweige denn, was ich mit wem reden sollte. »Domi, komm zu mir«, flüsterte Terry.

Ich setzte mich zögerlich auf ihr Bett. Sie stellte mir alle möglichen Fragen. Was ich für Sport mache, ob ich eine Freundin habe und so Zeugs. Sie war echt nett und sah auch gut aus. Sie hatte offensichtlich Interesse an mir, aber das habe ich natürlich nicht gecheckt, obwohl es jedem ziemlich klar war. Nach einer Weile kam Mary auch noch zu uns. Zwei hübsche Mädchen bombardierten mich nun mit Fragen. Das war zwar ungewohnt, aber nicht unangenehm. In der Schule war die einzige Frage, die ich von Mädchen gestellt bekommen habe, ob sie die Hausaufgabe von mir abschreiben dürften.

Im Bett neben mir lag Bene. Er und Nancy, oder wie auch immer sie hieß, umarmten sich in einer Tour.

Ich starrte ständig rüber. Als Bene meine Blicke bemerkte, grinste er und streckte mir einen Daumen entgegen.

Ich legte mich zögerlich aufs Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Terry und Mary legten sich neben mich. Jede von ihnen packte sich einen Arm von mir und kuschelte sich an mich. Ich versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Wollen die beiden jetzt mit mir rummachen, oder was? Ich versuchte cool und locker zu bleiben, dabei raste mein Herz wie wahnsinnig. Wir redeten so gut wie nichts mehr! Okay, ich redete so gut wie nichts mehr. »Mein Freund ist in Deutschland geblieben, eigentlich wollte er mitfahren, aber wir haben gestritten, und wenn ich nicht mit ihm zusammen wäre, würde ich dich als Freund haben wollen«, säuselte Terry in mein Ohr.

Womm! Schlag ins Gesicht! Was sollte ich denn darauf bloß sagen? »Alles klar, Terry, ich versteh schon!«

Nein das sagte ich natürlich nicht. Schließlich war mir gar nix klar!

Stattdessen sagte ich: »Ich find es echt schön, mit euch beiden hier zu liegen.«

Und damit war ich mit meinem Latein auch schon am Ende und hoffte einfach, dass niemand mehr etwas sagte.

Ein paar Minuten später war Terry eingeschlafen. Was mir ganz recht war. »Terry schläft anscheinend schon«, sagte ich zu Mary.

Mary schaute mir in die Augen und dann küsste sie mich.

Mein Herz blieb stehen, mein Hirn setzte aus. Ich nahm den Moment gar nicht wahr. Ich nahm auch um mich herum nichts mehr wahr.

Bene rüttelte mich am Arm. »Ey, ihr zwei habt morgen noch genug Zeit, zu knutschen, aber wir müssen jetzt echt rüber. Es wird schon langsam hell.«

Mary hing an mir wie eine Klette und obwohl ich müde wie Sau war, wollte ich auch nicht mehr gehen. »Wir sehen uns dann morgen!« Ich gab ihr noch einen Kuss und verzog mich.

Bene klatschte erst mal mit mir ab. »Korrekte Sache, oder?«, fragte er begeistert. »Daran kann man sich schon gewöhnen«, grinste ich.

Die anderen im Zimmer schliefen bereits. Ich legte mich ebenfalls hin und war sofort weg.

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Der Urlaub verging wie im Flug. Jeder Tag war einfach unglaublich. Ich verstand mich mit allen super, abgesehen von den Skaterboys. Mit denen haben wir uns am vorletzten Tag dann ein wenig geprügelt. Prügelei konnte man das nicht nennen, eher ein kurzes Aufplustern von beiden Seiten.

Zuletzt waren dann aber die Mädels sauer auf mich, weil ich nach einer Woche mit Mary Schluss gemacht hatte, um mit Milena zusammenzukommen.Aber noch viel interessanter fand ich die Nadja. Sie war gerade fünfzehn und hatte immer ein Kilo Schminke im Gesicht, sogar dann, wenn sie ins Meer ging. Sie wirkte total erwachsen. Gar nicht mehr so kindlich wie die anderen. Ihr aktueller Freund war dreißig. Sie hatte schon jede Menge Männer gehabt. Ich weiß das alles, weil sie es mir erzählt hat, als wir zu zweit im Meer waren. Sie saß mit gespreizten Beinen auf einem Surfbrett und erzählte mir einfach alles. Ich hab davon fast nichts mitbekommen, weil ich dauernd auf ihre Muschi schielte, die durch den ausgeleierten Slip blitzte. Natürlich hat sie das bemerkt. Nadja hatte so etwas krass Dreckiges an sich. Dreckig, aber geil. Mit ihr war ich ein paar Wochen nach der Jugendreise zusammen. Das hat sich dann aber doch wieder verlaufen.

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Zurück in Nürnberg ging der Sommer schließlich zu Ende. Die Schule war Geschichte und nun hieß die Frage: Was kommt jetzt?

Im September habe ich eine Lehre als Koch im Hotel Alarium