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"Marina Mantay zeigt mit ihrer bewegenden Lebensgeschichte, dass eine tiefgreifende Heilung des inneren Kindes selbst nach schwerem Kindheitstrauma möglich ist." - Stefanie Stahl Vom Opfer zur Schöpferin. Von Geburt an schien Marina Mantays Schicksal vorbestimmt gewesen zu sein. Ihre Kindheit in Russland war von Armut und Gewalt geprägt, der Vater Alkoholiker, die Mutter psychisch gestört. Mit 16 Jahren floh sie allein nach Berlin, wollte frei sein, eine friedliche Zukunft haben. Doch mit 17 wurde sie abgeschoben, schaffte es aber ein Jahr später erneut zurück, machte Abitur, studierte und begann zu arbeiten. Dass sie die ganze Zeit an Angstzuständen, Essstörungen, chronischen Rückenschmerzen und Suizidgedanken litt, konnte sie gut überspielen. Bis sie zusammenbrach und erkannte, dass sie das Trauma ihrer Kindheit nie losgelassen hatte und es Zeit war, sich ihren Schatten und den tiefen Wunden in ihrer Seele zu stellen. Marina Mantay wählte bewusst, die Opferrolle abzulegen und für ihre Heilung die volle Verantwortung zu übernehmen. Wir erleben ihre ganze Reise mit und erfahren, wie es ihr nach und nach gelang, den fatalen Kreislauf aus Schuld- und Schamgefühlen in sich zu durchbrechen, wie sie stürzte und sich jedes Mal wieder aufrappelte. Und wir sehen, wie sie schließlich an einen Punkt gelangt, an dem sie nicht mehr hinfällt, weil sie in ihrer Mitte angekommen ist. Und letztendlich haben wir dabei so viel von ihr gelernt, dass wir ebenfalls dorthin gelangen können. So wird ihre Transformation auch zu unserer. Ein Mut machendes Beispiel für eine gelungene Migration, Traumaverarbeitung, posttraumatisches Wachstum und spirituelles Erwachen. »Mein Buch ist ein Beitrag für mehr Akzeptanz gegenüber psychischen Erkrankungen, vor allem in der Mitte der Gesellschaft, wo die Betroffenen Angst vor Stigmatisierungen haben. Es ist ein Plädoyer für eine Gesellschaft, die die Eigenverantwortung für die Heilung des eigenen inneren Kindes übernimmt, um mehr Frieden in der Welt zu stiften.«
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Seitenzahl: 532
Veröffentlichungsjahr: 2025
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MARINA MANTAY
Mein Weg aus der Selbstzerstörung in die Selbstliebe
Um die Persönlichkeitsrechte der Personen in diesem Buch zu schützen, wurden sämtliche Namen geändert.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in diesem Buch überwiegend die männliche Form gewählt, dennoch beziehen sich alle Personenbezeichnungen gleichermaßen auf Angehörige des männlichen und weiblichen Geschlechts sowie auf Personen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen.
1. eBook-Ausgabe 2025
1. Auflage 2025
© 2025 Scorpio Verlag, ein Imprint der Europa Verlage GmbH, München
Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, Zollikon
Buchkonzept & Lektorat: Ina Kleinod (sinntext.de)
Layout und Satz: Margarita Maiseyeva
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95803-639-0
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
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Für die kleine Marina und all die (inneren) Kinder,deren Flügel gebrochen wurden.Lasst uns gemeinsam wieder fliegen lernen!
Trauma lässt grüßen
Als meine Seele 100 wurde
Ich will obdachlos werden
Olesya, wunderbare Freundin
Gespräche über Flucht und Rache
Ein Gruß vom Tod
Kann Diebstahl heilig sein?
Das erste Mal fliegen
Himmlische grüne Augen
Paradiesischer Superlativ
Ein Drittel meiner Lebenszeit
Der Mann aus Deutschland
Anton in Moskau
Wir heiraten
Trauma und ich in Berlin
»Willkommen zu Hause!«
Ich lerne Deutsch
Ich gehe zur Schule
Eine starke Fraktion
»Du bist ein Nichts!«
Abschied und Abschiebung
Déjà-vu auf allen Ebenen
Die Fairness des Universums
Zwischen Schule und Ehepflichten
Schritte in die Freiheit
Trauma, träum weiter!
Der lange Atem
Ein Platz in der Seele des Landes
Essen war alles, alles war Essen
Ein hartes Geschäft
Ein bunter Strauß Symptome
Wie ein Fingerabdruck
Trauma, wir müssen reden!
Wieder ein Abschied
… dann erfinde ich ein Neues
Tätigkeitsfeld: Nichtstun
Der schwarze Sack
Leben mit Traumafolgestörungen
(M)Eine amerikanische Familie
Strawberry fish
Seelenlicht – kurzer Auftritt
Ohne Geben kein Nehmen
Der Rücken als Zenmeister
Brücken bauen
Liebes Rheuma, herzlich willkommen!
Trauma, ich liebe dich!
Schatten der Vergangenheit
Sie verlassen jetzt die Komfortzone!
Mit nackter Seele
Kleine große Träume
Das Wir verschwindet
Die Suche geht weiter
Beruhigte Körperzellen
Ein Schmerz wird leiser
Wanderung durch den Dschungel
Botschafterin aus der Zukunft
Radikale Gewohnheitstiere
Allein ist man weniger einsam
Deckname »Soziale Phobie«
Umrisse meines Polarsterns
Geschmack und Schärfe
Unter aller Blicke
Versöhnte Dämonen
Trauma mit Perspektive
Phönix aus der Asche
Quellen der Liebe
Der tiefere Sinn
Ritual der Dankbarkeit
Danksagung
Die Familienstimmung ähnelte einer Ampel. An grünen Tagen war mein Vater nicht zu Hause. Als Polizist hatte er regulär 24-Stunden-Dienste, auf die drei freie Tage folgten. Seine Abwesenheit bedeutete für mich die Welt, mein Herz machte Luftsprünge, und ich atmete viel tiefer. Ich fühlte mich stark und selbstbestimmt, sogar die heftigen Auseinandersetzungen mit meiner Mutter betrachtete ich als ein Kinderspiel. Es bestand Verletzungsgefahr, aber keine Lebensgefahr, und selbst während ihrer Wutanfälle klang ihre Stimme noch zart, jugendlich und anrührend.
An gelben Tagen genoss mein Vater seine wohlverdiente Erholung. Nur gelegentlich ging er an die frische Luft, viel lieber ruhte der gebürtige Moskowiter auf dem Sofa und berauschte sich vor dem Fernseher an aktuellen Nachrichten, vorzugsweise solchen, die seinen Berufsstand betrafen, Verbrechen, Kriminalität und jede Art von Justizfällen. Daraus schöpfte er offensichtlich immer neue Inspirationen für den Umgang mit Menschen, vor allem mit seiner Familie. Als bewährter Spiegeltrinker blieb er zwar einem konstanten Alkoholpegel treu, aber die kalkulierten Mengen Wodka schränkten seine Hirnleistung nicht ausreichend ein, um zu dösen oder gar zu schlafen. Irgendwann lief er selbstverliebt in ausgeleierten Boxershorts durch unsere kleine Dreizimmerwohnung und regte sich lauthals über unfähige Politiker, Nachbarn ohne Manieren und seine einfältige Ehefrau auf. Seine verbalen Ausfälle konkurrierten oft mit meiner Konzentration beim Lernen für die Schule. Mein Geist stand unter permanenter Anspannung, die sich allmählich in meinem limbischen System verfestigte und zum Dauergast wurde. Deshalb zog mich das Straßenleben in seinen Bann, kaum dass ich mit den Hausaufgaben fertig war.
Draußen, das war mein zweites Zuhause, da fühlte ich mich sicher. Wenn mir die eigenen vier Wände nur noch unerträglich erschienen, suchte ich nach anderen Plätzen, an denen ich Geborgenheit erfuhr. Unmittelbar hinter unserer Siedlung erstreckte sich ein Wald mit absoluter Ruhe. Diesem Wald schenkte ich ein Stück meiner Seele und bekam ein Teil seiner Seele zurück. Zu Hause zu sein, war meine Pflicht, mich draußen zu verlieren, war dagegen purer Genuss. Mir fielen nach und nach immer mehr ausgeklügelte Ideen ein, warum ich dringend wegmusste und so reduzierte ich die Wohnungsaufenthalte auf ein Minimum, um mal wieder ohne Magenschmerzen einschlafen zu können. Das Prinzip der physischen und mentalen Unerreichbarkeit würde auch noch später lange eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen und es mir nicht leicht machen, mich auf einen Ort oder einen Menschen einzulassen. Denn nur wenn ich wie in der Luft schwebte, war ich nicht angreifbar.
Ob grün oder gelb, mein Zuhause fühlte sich zu keinem Zeitpunkt wie eine Wohlfühloase an. Die roten Tage waren aber mit Abstand die schlimmsten. Mein Vater verwandelte sich dann in einen Quartalssäufer. Um körperlich übergriffig zu werden, brauchte er mehr als einen Verdauungsschnaps. Typisch rot war auch mein vierzehnter Geburtstag. Der späte Herbsttag begann ziemlich unspektakulär, doch markierte er einen Wendepunkt in meinem Leben: Am 28. Oktober 2002 machte meine Seele einen Quantensprung und wurde hundert Jahre alt, ganz ohne Magie! Normalerweise vergingen Geburtstage in unserer Familie sang- und klanglos. Weil wir arm sind, können wir keine Gäste einladen, lautete fast immer die offizielle Begründung meiner Mutter. Sie öffnete dann den Kühlschrank, der so gut wie leer war, um zu bekräftigen, dass wir uns keinen Besuch leisten könnten. In Wahrheit wollte sie keine fremde Person in unsere Innenwelt lassen, um die Illusion einer Vorzeigefamilie aufrechtzuerhalten. Die heftigen Zornausbrüche ihres Mannes lagen zwar außerhalb ihrer Kontrolle, aber für deren Geheimhaltung fühlte sie sich verantwortlich. So auch in diesem Jahr. Ich bekam drei Bücher und ein wenig Taschengeld geschenkt.
»Gönn dir nach der Schule noch was Süßes!«, sagte meine Mutter und drückte mir stolz ein paar Rubel in die Hand.
Der Weg zum Kiosk dauerte keine zehn Minuten, doch diesmal kam er mir besonders lang vor. Mir ging es nicht gut. Ohne es benennen zu können, belastete mich etwas. Vielleicht ein Gefühl von Ungerechtigkeit. Warum durfte ich nicht einmal meine beste Freundin einladen? Warum gab es bei uns keine Geburtstagstorte und keine Kerzen? Nie führten wir als Familie Gespräche, wir hatten immer nur Streit. Was stimmte mit uns nicht? Mit leicht gesenkten Augen beobachtete ich heimlich vorbeiziehende Menschen. Sie wirkten feindlich auf mich. Alle schienen Bescheid zu wissen, oder bildete ich mir diese kritischen Blicke bloß ein? Fragen kreisten in meinem Kopf, auf die es keine Antwort gab. Meine Seele litt, mein Leben war alternativlos, und es war mir peinlich, keine Hoffnung auf eine Zukunft zu haben. Da war die Armut, die mich erdrückte, und da war die Angst, die an mir nagte. Und dann war da noch die Aggression, die unterschwellig in meinem Herzen brodelte. Mit vierzehn Jahren fühlte ich mich alt, ungepflegt, nicht liebenswert. Ich ekelte mich vor mir selbst und schämte mich gleichzeitig dafür, dass mich die ganze Welt so ertragen musste. Tut mir leid, liebe Welt! Wie konnte ich bloß so eine schlechte Tochter werden.
Meine Mutter hatte kein Problem damit, mir die Schuld dafür zu geben, dass sie unglücklich war. Wäre ich nicht auf die Welt gekommen, hätte sie ihren Traum verwirklicht, Ärztin zu werden. Ich und mein Bruder, wir waren die, die dauernd etwas wollten oder brauchten. Wenn sie es so formulierte, klang es nach einem Verbrechen, überhaupt geboren worden zu sein. Ständig ging es um Geld, selbst zwei Gehälter würden nicht für das Notwendige ausreichen. Deshalb wollte sie auch von Scheidung nichts wissen. »Bist du vom Himmel gefallen?«, sagte sie, wenn ich sie danach fragte. »Denkst du, ich könnte zwei hungrige Mäuler allein großziehen? Zu einer anständigen Familie gehören beide Eltern! Oder möchtest du dir nur einen Schuh kaufen? Dann hinkst du durch dein Leben!« Tatsächlich bezog sie als Lehrerin ein äußerst niedriges Gehalt, nahe am Existenzminimum. Wir bekamen es täglich zu spüren. Trotzdem hat die häusliche Gewalt am Ende viel tiefere Narben in meiner Seele hinterlassen als die Kindesarmut. Damals konnte ich beides nicht unterscheiden. Das eine war so schrecklich wie das andere. Mein Zuhause verkörperte einen Ort des Schreckens, so oder so.
Die Geschichte meiner Eltern ist schnell erzählt: Mit einundzwanzig traf Swetlana einen zwei Jahre älteren Juri, der zwei Wochen später um ihre Hand bat. 1986 wurde mein Bruder Gleb geboren, und zwei Jahre danach erblickten Trauma und ich die Welt. Meine Mutter war mit Gleb hochschwanger, als sie erfuhr, dass ihr Ehemann fremdging. Er hatte einen stressigen Job und suchte nach Entspannungsmöglichkeiten. Am Ende ließ er von den Damen ab und blieb beim Wässerchen. Doch der Alkohol öffnete ihm nicht die Türen zu Humor, Geselligkeit oder Schwatzhaftigkeit, das war alles zu weichgespült für meinen Vater. Mitgefühl hatte keine Chance bei ihm, als echter Russe favorisierte er Missmut und Zorn, und dieses unheilvolle Duo fühlte sich für ihn heimisch an. So gab es oft Streit, als meine Mutter mit mir schwanger war. Im Ergebnis kam ich als Frühchen mit einer Hüftdysplasie auf sowjetischem Boden an. Ich hatte Asthma, Bronchitis, Gastritis sowie einen gutartigen Tumor mit auf den Weg bekommen. Meine Mutter bekämpfte alles energisch mit Spritzen, Antibiotika und zahllosen Krankenhausaufenthalten. Als ich drei Jahre alt wurde, zerfiel die Sowjetunion, und es gesellten sich weitere Symptome hinzu: Albträume, Konzentrationsstörungen, Panikattacken, Juckreiz, Sodbrennen und Rückenschmerzen.
Von Anfang an fühlte sich meine Realität wie eine riesengroße Anspannung an. Ich kannte keinen einzigen Tag ohne Schmerzen, sie gehörten zu mir wie mein Name. Damit war ich geboren worden und damit wuchs ich auf. Für mich gab es keine Verbindung zwischen Krankheit und Gewalt – noch nicht. Von Kindesmisshandlung würde ich erst viel später sprechen können. Was ich aber spürte, war, dass meine Lebenskraft immerzu versiegte. Die blonden Haare fielen mir aus, und meine blauen Augen verblassten. Trotzdem existierte in meinem verwundeten Wesen ein »festerer« Teil, der das Leben feierte. Im Kindergarten hatte ich eine kleine Liebesbeziehung mit dem Sohn unserer Erzieherin. Beim Spielen erschufen meine erste Freundin Natascha und ich unsere eigene schöne Welt mit glücklichen Kindern. Zu Hause tauchte ich in meine Bücherberge ein und durchlebte gemeinsam mit den Helden gefährliche Abenteuer, an denen unsere Herzen wuchsen. In der zweiten Klasse verliebte ich mich in den kleinen Prinzen und erlaubte ihm, mein Beschützer zu werden. Seitdem habe ich ihn als starken Begleiter an meiner Seite.
Nun war ich vierzehn Jahre alt und stand vor dem Kiosk. Ich griff in die Hosentasche und zog mein Geburtstagsgeld heraus. Es reichte für eine Tafel Schokolade. Von Alpingold gab es nur die Vollmilchvariante mit Nüssen und Rosinen. Die zartbittere Rittersport überstieg mein Budget. Es war unwichtig, schließlich gehörte Taschengeld nicht zum Alltag, und es fühlte sich mächtig an, für das wertlose Papier etwas Wertvolles zu bekommen. Was für ein reizvoller Tausch! Zitternd reichte ich der gelangweilten Verkäuferin den Geldschein und sprach vernuschelt meinen Wunsch aus. Die ältere Dame verstand mich nicht und fragte genervt nach. Mein Körper zuckte vor Angst, ich könnte die Sorte verwechselt haben. Bevor ich den Satz wiederholte, warf ich also einen heimlichen Blick auf die Vitrine. Alles war richtig, ich hatte nur undeutlich gesprochen.
Ende Oktober waren die Straßen damals schon weiß gewesen. Die Stadt hatte sich mit dem ersten Schnee wie im Märchen gekleidet, und diese unschuldige Farbe hatte für kurze Momente auch mein Kinderleben in Unschuld getaucht. Doch schon wenige Tage später hatte sich alles in grauen Matsch verwandelt. Jetzt stapfte ich mit der Schokolade in der Hand durch die schmutzigen Pfützen Richtung Wohnung zurück. Sie befand sich am Rande von Moskau in der Plattenbausiedlung Novo-Peredelkino. Der Gebäudekomplex in der Lukinskaja Ulica hatte elf Eingänge und siebzehn Etagen. Nur wenige Schritte entfernt lag eine sagenumwobene Kirche, die wir zu den christlichen Feiertagen besuchten. Unser Quartier stand an einer Stelle, an der vorher lange ein Friedhof gewesen war. Er musste weichen, als die Wohnungsnot überhandnahm und überall gebaut wurde.
Die 1990er-Jahre zwangen viele Familien an den Existenzrand: kontrollierte Essenausgaben, geplünderte Läden, massive Inflation, alles in allem unsichere Zukunftsperspektiven. In ganz Russland stiegen Selbstmord- und Tötungsraten rasant an. Meine Kindheit verbinde ich mit zahlreichen Gruselgeschichten. Menschen gerieten in Messerattacken, stürzten aus Fenstern, erhängten sich in Wohnzimmern. 1991 wurde meine Mutter im Fahrstuhl zusammengeschlagen und lag tagelang im Krankenhaus. Spätestens mit der Welle von Terroranschlägen auf Wohnhäuser, Metrostationen und Kultureinrichtungen verwandelte sich Moskau in eine Angstmetropole. Zu keinem Zeitpunkt jedoch hätte ich das Draußensein gegen das Drinnensein getauscht. Die Straße versprach immer noch mehr Sicherheit als mein Zuhause.
Wegen der immer stärker wachsenden Spannungen in der Stadt fragte ich bei meiner Mutter nach. Ich wollte die Geschehnisse verstehen. Doch ihre Erklärungen, die vor Gottesfurcht und Aberglauben strotzten, machten mir Gänsehaut. Wir würden von Gottes Dienern beobachtet, weil wir auf einem alten Friedhof lebten. Wer sündige, werde bestraft. Ich solle deshalb artig sein, dann wäre ich auch in Sicherheit. Wenn sie so redete, entwickelte ich eine große Angst vor Gott. Ich fühlte mich in der Tat beobachtet, und mein Versuch, gut zu sein, kam so weniger aus freiem Willen als aus innerer Not. Zudem fragte ich mich, warum mein Vater überhaupt noch lebte, wenn Gott über uns bestimmt. Es erschien mir unlogisch.
Als ich die Wohnung erreichte, war mein Vater nicht da. Es war seltsam, denn am Tag zuvor hatte er Dienst gehabt und hätte etwa seit Mittag zu Hause sein müssen. Jetzt war es schon früher Nachmittag. Ich atmete erleichtert auf. Jede Stunde ohne ihn schenkte mir zusätzliche Lebenskraft. Gleb saß in seinem Zimmer und hörte Musik. Viel Kontakt hatten wir nicht. Mein dunkelblonder Bruder hatte kaum Freunde, dafür hatte er oft Bluthochduck, Neurodermitis oder grippale Infekte. Soziale Interaktionen überforderten ihn schnell. Mit jedem Jahr, das er älter wurde, glich er unserem Vater mehr. Vielleicht bekämpften sich Vater und Sohn deswegen so häufig. Gleb hatte es nicht leichter als ich mit dem Alten. Aus Angst vor einem plötzlichen Angriff versteckte er immer ein Messer unter dem Kissen. Ihm gegenüber hatte ich gemischte Gefühle, Angst, Mitleid und Hass zugleich. Mit seinen 1,84 war er bereits einer der Größeren in seiner Klasse. Er war schlank und breitschultrig und passte nicht ins Schulsystem. Zwar war er intelligent, aber er galt als sozial schwierig. Meine Mutter gab den Lehrern die Schuld und ließ Gleb mehrfach die Schule wechseln.
Ich zog mir den Jogginganzug an und setze mich aufs Bett. Das Umziehen gehörte zu den Automatismen in dieser Familie, da wir in der Wohnung keine Straßenkleidung tragen durften. Es war eines der vielen sinnlosen Gesetze meiner Mutter, angeblich ging es ihr darum, die Wohnung sauber zu halten. Ich zog die Beine an und schlang meine Arme um die Knie. Neben mir lag die Schokolade auf der Bettdecke und lächelte mich an. Zuerst wollte ich nur drei Stückchen davon essen. Sie schmeckten mir nicht wirklich, doch sie fühlten sich auf eine seltsame Art angenehm warm und weich an. War das ein Liebesersatz? Eine weitere Welle der Traurigkeit klopfte an mein Herz. Sollte mein Geburtstag nicht etwas Besonderes sein? Der Tag, auf den jedes Kind sehnsüchtig wartet, um im Mittepunkt zu stehen und das Erwachsenwerden zu genießen? Vielleicht waren die Kindergeburtstage im Film nur eine Fiktion, mit meiner Realität hatten sie jedenfalls nichts zu tun. Ich schob die Alpingold von mir weg und wollte stattdessen mit den Hausaufgaben beginnen. Doch die Gemütlichkeit des Bettes fesselte mich. Die Süßigkeit lag ja immer noch in greifbarer Nähe. Ich nahm die Packung wieder in die Hände und aß weitere drei Stückchen. Dann riss ich mich zusammen, verpackte den Rest und versteckte ihn in einer Schublade. Ich begann mit dem Lernen, doch meine Gedanken kreisten unentwegt um die wohltuende Wärme des Kakaos in meinem Mund. Vehement schob ich sie weit weg, denn zu viel Zucker verstärkte meine Magenschmerzen. Zudem hatte ich Angst vor Kalorien, obwohl ich nicht übergewichtig war. Es kam eher daher, dass mein Vater mich häufig beschimpfte, ich sei eine »fette Sau«.
Meine Schule stand auf Kriegsfuß mit der Bildung. Die Innenausstattung war dürftig, der Unterricht fiel oft für lange Zeiten aus, und wir mussten uns damit herumplagen, Dinge auswendig zu lernen oder fleißig abzuschreiben. Fremdsprachen? Fehlanzeige. Die Lehrer wirkten gelangweilt und überfordert zugleich. Man fühlte sich schuldig, wenn man ihnen Fragen stellte. Das Wissen, das ich suchte, schöpfte ich also aus anderen Quellen. Ich war weder hübsch noch talentiert: Bildung schien meine einzige Perspektive zu sein. Nur durch Intelligenz könnte ich irgendwann aus der Armut und der häuslichen Gewalt ausbrechen.
Während ich mich in die Lehrbücher versenkte, kam meine Mutter nach Hause. Sie sah kraftlos aus wie immer, und es machte mich traurig. Auf ihren Jugendfotos war sie noch ein athletisches Pioniermädchen gewesen, das frech lächelte und entschlossen in die Zukunft blickte. Damals, in der Sowjetunion, gab es kostenlosen Sport für alle, und als Schülerin hatte sie geturnt. Nach dem Schulabschluss begann sie zu studieren, sie war die erste Akademikerin in der Familie. Leider habe ich die sportliche Figur meiner Mutter nie gesehen. Jetzt, wo ich in der Pubertät war, wog sie bei einer Größe von 1,68 um die neunzig Kilo. Das Übergewicht erklärte sie stets mit der zweiten Schwangerschaft und der hormonellen Umstellung. Durch die Gewichtszunahme und das Stillen verloren ihre üppigen Brüste an Spannkraft und verursachten zunehmend Rückenschmerzen. Mutter zu werden stellte ich mir deshalb wenig attraktiv vor. Sie trug lockere Kleidung und verzichtete auf Makeup, dazu verdeckte das überschüssige Körperfett ihre letzten weiblichen Züge. Viele Frauen mochten sich wohlfühlen in ihren formlosen Körpern, jedoch nicht meine Mutter. Ständig versuchte sie, ihre Kurven zu vertuschen, schönzureden oder mit albernen Diäten zu bekämpfen. Doch keine Diät der Welt konnte dauerhaft gegen die innere Leere ankommen, an der sie wirklich litt. Schnell rutschte sie in die alten Verhaltensmuster zurück und nahm dann noch mehr zu. Wenn auch kurzfristig, so stillte die Nahrung ihr menschliches Bedürfnis nach Wärme, Verbundenheit und Erfüllung. Im Innern so verletzlich, wollte Swetlana nach außen stark wirken und nannte sich selbst ein russisches Pferd, welches Kinder, Haushalt und Beruf gleichzeitig stemmte. Das Pferd alterte schnell. Mit achtunddreißig wurde meine Mutter mindestens auf Mitte vierzig geschätzt. Ihre Fingernägel waren brüchig, ihre Augen müde, ihre Haare glanzlos. Vor allem ihr fahles Gesicht zeigte deutlich, das sich seelisches Leiden früher oder später durch den Körper ausdrückt.
Nun stand meine erschöpfte Mutter in meinem Zimmer. Auf dem Heimweg hatte sie einen Rührkuchen besorgt, überreichte mir ein Stück und ging schnell in die Küche. Sie wollte ihre Ruhe haben. Mit schlechtem Gewissen steckte ich mir den Kuchen in den Mund. Dann schob ich die Bücher weg und griff nach der Fernbedienung. Trotz unserer Armut besaß ich meinen eigenen Fernseher, der mir immerhin die Verbindung zur Außenwelt ermöglichte und meinen Alltag versüßte. Ich fühlte mich reich.
Gegen neunzehn Uhr hörte ich Schlüsselgeräusche im Flur. Ich fuhr zusammen. Mein Vater brauchte offensichtlich lange, um das einfache Schloss zu öffnen. An gelben Tagen war das kein Hexenwerk, aber an roten Tagen läuteten die Alarmglocken. Mein Vater kam offensichtlich schon in Begleitung von der Wache. Der Geruch des Alkohols war schneller in der Wohnung als er selbst. Wie eine Wolke aufsteigend erreichte er meine Nase, die schreckhaft zuckte. Ich ließ die Fernbedingung fallen. Mein Gehirn muss diesen Geruch schon abgespeichert haben, als ich noch ein Fötus war. Er galt als höchste Warnstufe und schaltete meine inneren Sirenen ein. Ich ähnelte einem Hasen, der seine neugierige Entdeckungstour unterbricht, um sich auf die Gefahrenabwehr vorzubereiten. Der Jäger wartete schon um die Ecke. Mein ganzer Körper spannte sich an, meine Schultern wuchsen in die Decke, die Ohren wurden steif, die Augen groß, der Atem flach. Ich spürte mein Herz heftig schlagen. Kämpfen, fliehen oder mich totstellen? Die Superpower, mich unsichtbar zu machen, stand nicht zur Wahl.
»Hallihallo, ihr Idiotenversammlung!«, kam es polternd aus dem Flur. »Wo bist du, mein Töchterchen? Zeig dein Gesicht, du Geburtstagskind! Lass dich drücken.«
Die weibliche Flüsterstimme meiner Mutter reagierte prompt. »Juri, bitte nicht so laut. Marina ist bestimmt beim Lernen. Lass sie doch in Ruhe.«
»Immer quasselst du dazwischen. Immer stehst du mir im Weg. Kannst du nicht einmal in deinem wertlosen Leben die Fresse halten? Siehst du nicht, dass ich mit M-a-r-i-n-a rede? Nicht mit d-i-r! Also verschwinde, ich will dich gerade nicht sehen!«
Mein Vater schäumte vor Wut, während meine Mutter versuchte, ihn zu beruhigen. »Schau dich an! Du kommst betrunken nach Hause, stinkst wie ein Aal, stehst in dreckigen Klamotten mitten in der Wohnung und lässt noch deinen Sprechdurchfall raus. Ausgerechnet am Geburtstag d-e-i-n-e-r Tochter!« In weinerlichem Ton bat sie ihn, die Schuhe auszuziehen, ins Bad zu gehen, um sich frisch zu machen. Sie lockte mit Borschtsch, er habe doch sicherlich Hunger.
Ich hörte, wie sich mein Vater schleppend ins Bad bewegte, und staunte wieder einmal über das Konfliktmanagement meiner Mutter. Keine Methode war ihr zu schade, keine Grenze zu viel. Alles im Namen der Harmonie und des Friedens. Sie war allgemein eine ängstliche und vermeidende Person, aber sie fürchtete sich am allermeisten vor einer Trennung. Manchmal hatte ich sie schon ganz direkt gefragt, warum sich mein Vater wie ein Despot benahm. Ich hatte ihr davon erzählt, dass ich Angst vor ihm hätte, wegen ihm schlecht träumen würde und auch, dass Gleb ein Messer unter dem Kissen versteckte. Jedes Mal warf sie mir vor, ihr das Herz zu zerreißen. Mein Bruder sei eben krank und bildete sich die Dinge bloß ein. Dann hielt sie mir eine Predigt über Undankbarkeit und dass ich froh sein könnte, ein Dach über dem Kopf zu haben und nicht verhungern zu müssen. Wenn ich mich damit nicht zufriedengab, erinnerte sie mich daran, dass mein Vater das Geld verdiente, das ich verbrauchte. Warum ich das nicht wertschätzen könnte? »Er lebt NUR für euch!«, sagte sie dann bitter, »und ich lebe NUR für euch!« Es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass ich es nicht aushielt und sie anschrie, ich würde sie hassen. Dann war sie in Tränen ausgebrochen, sie wäre ja doch allen egal, selbst den eigenen Kindern. Ihre Hilflosigkeit tat so weh, dass ich sie wie eine große Schwester umarmte und ihr zuflüsterte, alles wird gut. Alles ist gut.
Meine Mutter eilte also in die Küche, um die Suppe aufzuwärmen. Durch die geschlossene Tür hindurch spürte ich ihre Anspannung, hörte die hastigen Bewegungen, das schrille Geschirrklappern. Angst trieb sie an. Sie tat alles, damit mein Vater ja nicht auf die Idee käme, die Wartezeit mit einem erneuten Wutausbruch zu überbrücken. Ich atmete erleichtert auf. Der Jäger war vom Hunger besiegt. Ich nahm die Fernbedingung wieder in die Hand, öffnete die Schublade mit der anderen und aß noch drei Stückchen von der Schokolade. Langsam wurde mir übel, doch ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, immer weiter zu naschen.
Mein Vater erfüllte eine Antivorbildfunktion. Er war jemand, den ich hasste und fürchtete und dem ich heimlich den Tod wünschte. Nie hatte ich die Chance, diesen fremden dunkelhaarigen Mann wirklich kennenzulernen. Es gab kein einziges tiefes Gespräch mit ihm. Konnte er überhaupt richtig normal reden oder zuhören? Im nüchternen Zustand war er entweder wortkarg oder aufbrausend. Als Staatsdiener arbeitete er im Polizeigewahrsam, wo die meisten wegen Trunkenheit und Randale landeten. Den unmenschlichen Umgang mit Inhaftierten praktizierte er allerdings zu Hause mit uns weiter. Gewalt begleitete ihn überall und jederzeit, beruflich wie privat. Er interessierte sich auch für nichts anderes. Durch seinen eingeschränkten Lebensstil gab er in der Tat aber auch kaum Geld aus. Den Alkohol bekam er entweder umsonst oder vergünstigt über seine Arbeitskontakte, zumal die preiswerten Sorten weniger als Milch kosteten. Über den Rest seines bescheidenen Gehalts verfügte meine Mutter.
Wann sein Weg in den Alkoholismus begonnen hatte, konnte ich nur erahnen. Für mich gehörte das zweite Gesicht meines Vaters immer dazu. Im Kühlschrank stand konstant eine offene Flasche Wodka. Mal Spiegeltrinker, mal Quartalssäufer. An roten Tagen reichte es für einen Filmriss, dann wachte er am nächsten Morgen auf, als wäre nichts geschehen. Vielleicht lag der Grund dafür in einer Zeit verborgen, als sein eigener Vater starb, da war er vier Jahre alt. Seine Mutter wollte keineswegs auf die Liebe verzichten, deshalb bekam sie in der arbeitsfreien Zeit Besuch von zahlreichen Männern, während ihr Sohn im Nachbarzimmer im Bett lag und lauschte, was seine Mutter mit den Herren trieb. Für ihn schien nicht viel Liebe übrig zu bleiben.
Manchmal gab es ein schmales Zeitfenster zwischen Nüchternheit und Kontrollverlust. Einmal überrumpelte er mich mit einer Beichte, da war ich noch keine zehn Jahre alt.
»Marina, setze dich doch mal hin«, rief er ungeduldig. »Ich will dir was sagen. Ich bin ja auch nur ein Mensch, der nicht perfekt ist. Aber eins weiß ich: Du bedeutest mir viel. Ich sehe, wie stark du innerlich bist. Kein Vergleich zu dem Rest der Familie! Nur auf dich kann ich zählen. Lass dich drücken.«
Ich fühlte mich manipuliert. Während mein Vater mir Honig um den Mund schmierte, setze er alle anderen herab. Das hat mich geschmerzt, es war falsch. Auch wenn ich nicht verstand, warum er das plötzlich zu mir gesagt hatte, wusste ich instinktiv, dass seine Sentimentalität nicht von Bestand wäre. Sobald wieder genug Ethanol seine Gehirnzellen erreichte, würde die Stimmung kippen. Aber es hatte eine kleine Ahnung in mir Wurzeln geschlagen, dass auch in meinem schrecklichen Vater so etwas wie menschliches Empfinden stattfand. Jetzt allerdings war davon nichts mehr da.
Die langsame Schmelze von Zucker und Kakao wirkte sedierend. Gleichzeig spürte ich die Schwere im Magen, auch fühlte sich mein Mund trocken an. Der Gang in die Küche kam jedoch nicht infrage, denn dort saß inzwischen mein Vater, und um nichts in der Welt wollte ich ihm begegnen. Im Bad Wasser zu trinken, kam ebenso wenig infrage, denn ich würde riskieren, dass er aufsprang und mir nachstieg. Was mir blieb, war Ablenkung durch Unterhaltung. Unser analoges TV besaß nur eine kleine Programmauswahl, weshalb ich bei der Reality Show Zuhause landete. Junge Menschen wohnten in einem großen Haus und standen unter ständiger Beobachtung. Überall gab es installierte Kameras, das bedeutete null Privatsphäre und hundertprozentige Transparenz. Alles wurde gezeigt, ob Konflikte, Liebensromane oder Stimmungsschwankungen. Mir gefiel das Konzept, und ich überlegte, ob und wie sich das Verhalten meines Vaters in einer gläsernen Wohnung ändern würde. Ich fantasierte. Meine Mutter betonte zwar stets, unsere Familienangelegenheiten gingen keinen etwas an, aber spielte nicht gerade die Geheimhaltung der Willkür und den Gewaltgelüsten meines Vaters in die Hände? Solange keiner etwas hörte, sah und sagte, konnte er nicht bestraft und zur Rechenschaft gezogen werden. Gewalt ohne Strafe grenzte an göttliche Macht. Durstig kuschelte ich mich in die Decke ein und döste in meinem TV-Zuhause. Dort hatten Gewalt und Macht keine Chance, sich willkürlich zu entfalten.
»Du bist ein frigides und widerwärtiges Persönchen«, schrie mein Vater plötzlich nebenan im Elternzimmer.
Im Bruchteil einer Sekunde saß ich senkrecht in meinem Bett. Hellwach.
»Siehst du nicht, dass ich richtig Bock hab? Und die Madame findet billige Ausreden. Mäh, mäh, mäh. Die Kinder. Die Kinder sind noch wach. Deine Kinder sind zwei erwachsene Elefanten. Sie wissen, dass Ficken zum gesunden Leben gehört. Tu nicht so, als wärst du eine fromme Nonne. Komm, los! Ach so, du willst es nicht? Du Lehrerin-lein-Schlampe-lein. Antworte!«
Eine Pause entstand. Ich zitterte am ganzen Körper.
»Juuu-riiii«, flehte meine Mutter jetzt, »bitte, bitte lass es gut sein. Ich will es doch auch, aber nicht jetzt. Die Kinder gehen gleich schlafen, dann haben wir unsere Ruhe. Warte doch ein wenig!«
Wieder Pause. Ich presste meine Finger gegen die Schläfen, dann begann ich, das Gesicht eifrig zu kratzen. Ich suchte nach Halt, nach Verbundenheit. Ich wollte mich spüren, einen klaren Gedanken fassen. Ich hörte hastige Schritte, die immer lauter wurden. Die Tür öffnete sich, und mein Vater stand plötzlich vor mir. Ich erstarrte. Ekel, Angst, Wut, Mitleid, Wünsche, Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Hoffnung. Fragen schossen mir durch den Kopf: Warum unterwarf sich meine Mutter so extrem? Warum war mein Bruder so gleichgültig? Warum ließen sie mich jetzt allein? Und: Was wollte mein Vater von mir?
»Guten Abend, Gee-buuurts-taags-kiiind. Na, glotzt du schon wieder? Nimm es mir nicht übel, aber ich muss dich kurz unterbrechen.« Er sprach, als hätte er einen Schwamm zwischen den Zähnen. Sicher hatte er inzwischen noch mehr getrunken. »Ich will mich bei dir beschweren und dich zugleich vorwarnen, damit du die harte Realität kennenlernst. Immerhin bist du ja schon vierzehn! Die Frau, die du gelegentlich als Mutter bezeichnest, ist nämlich eine hinterhältige Hexe. In Wahrheit liebt sie nur sich selbst. Dich wollte sie übrigens abtreiben, da sie schon mit deinem behinderten Bruder überfordert war. ICH habe sie gestoppt! Sei mir dankbar, dass du heute am Leben bist. Als Ehefrau ist deine Mutter eine Lusche, sie weigert sich, ihre Ehepflicht zu erfüllen, und macht euch dafür verantwortlich. Ihr seid die Sündenböcke, verstehst du? Nur auf dich ist Verlass, Marina. Nur du bist ein vertrauenswürdiger Mensch in diesem Irrenhaus. Komm, lass dich doch drücken!«
Mein Vater setzte sich auf die Bettkante und streckte seine Arme aus.
Ich wich zurück.
Er wiederholte den Versuch.
Ich konnte das Zittern nicht mehr aushalten und sprang auf. In mir stieg eine Adrenalinwelle auf. Koste es, was es wolle, aber diesmal würde ich die Opferrolle nicht annehmen. Genug war genug!
»Hey, lass gefälligst die Finger von meiner Mutter!«, schrie ich ihn an. »Schau und hör dich an, wie tief du gesunken bist! Du nimmst Menschen fest, und dabei bist du selbst ein Verbrecher. Du bist nicht nur peinlich, sondern auch gefährlich. Lass uns alle in Frieden, hörst du! Wir haben es satt!«
Ich schnappte nach Luft. Die roten Flecken auf dem Gesicht meines Vaters breiteten sich binnen Sekunden bis zum Hals aus. Er zeigte mir buchstäblich die Zähne.
»Stell dich nicht so an, du Hurentochter! Es war ja klar, dass du von derselben Abstammung wie deine gestörte Mutter bist. Aus deinem Maul kommt auch nur Scheiße raus. Ist dir bekannt, dass Beleidigungen zu den Ehrverletzungsdelikten zählen? Das muss sofort bestraft werden. Stell dich an die Wand!«
Angsterfüllt schaute ich mich nach Hilfe um. Fehlanzeige. Ich folgte den Anweisungen. Fliehen oder Kämpfen kam nicht infrage. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust, um das Zittern zu tarnen, doch diese Körperhaltung gefiel dem berauschten Ordnungshüter nicht.
»Lass deine Flossen runter, während ich mit dir rede!«, befahl er.
In seinen leeren Bullenaugen fehlte jedes Anzeichen von Menschlichkeit. Mein Herz raste, meine Lungen pumpten wie wahnsinnig. Das Atmen fiel mir auf einmal leicht, weil eine zweite Energiewelle anrollte. War ich etwa bereit, gegen ihn zu kämpfen? Ich bewegte mich keinen Millimeter, doch diese Verweigerung brachte den Rotgesichtigen noch mehr auf die Palme.
»Lass deine Flossen runter!«, diesmal schrie er.
»Ich stehe gut«, erwiderte ich trotzig. »Wenn dir meine Haltung nicht passt, geh doch einfach weg.«
Er schlug zu. Mit Fäusten gegen die Arme. Zuerst soft, dann härter. Ich spürte seine Machtlosigkeit. Die Schläge dauerten nicht lang, fünf, zehn Sekunden. Spielte es überhaupt eine Rolle? Sie trafen nur die Oberfläche, und da empfand ich längst keinen physischen Schmerz mehr, der zum Leben gehörte. Diesmal erreichte mich jedoch ein anderer Schmerz. Ein Schmerz aus der Tiefe. Meldete sich die Seele? Wo war meine Mutter? Die Nachbarn? Mein Bruder? Wo waren sie all die Jahre gewesen? Wie viel war ein Kinderleben wert? Warum verschlossen wir als Gesellschaft so oft die Augen, um den fucking Familienfrieden zu wahren? Mein Körper glühte, doch ich verwuchs mit dem Boden. Gebrochene Arme und selbst ein gebrochenes Herz waren nichts im Vergleich zu einer gebrochenen Würde. Ich fühlte mich heldenhaft. Mein Vater zählte jedoch nicht zu den Menschen, die schnell aufgaben. Hasserfüllt schaute er mich an und schlug erneut mit voller Wucht zu. Diesmal traf der Jäger mein linkes Auge. Ein Versehen?
Als die ersten Blutstropfen mein T-Shirt erreichten, nestelte er nervös an seinen Ohrläppchen. Ich würde ein Auge verlieren. Für immer. Das Leben hatte keinen Sinn mehr. Panik überkam mich. Meine Heldenkräfte ließen rasant nach, und wie ein angeschossener Hase stürzte ich aus dem Zimmer und ins Bad, nur um dort auf meine verschollene Mutter zu treffen.
»Guter Gott, was ist dir passiert?«, stöhnte sie, als sie mich sah, und lief in mein Zimmer. »Womit hat meine Tochter das verdient?«, hörte ich sie meinen Vater ankeifen. »Sie ist doch noch ein Kind! Du musst sie behüten und mich stattdessen bestrafen!« Dann rannte sie wieder zu mir und stand hilflos da. Wütend nahm sie mich zur Seite, sperrte das Bad von innen zu und hielt mein blutendes Auge unter das Wasser. Irgendwann wurde es taub vor Kälte, aber ich hatte Angst, den Wasserhahn zuzudrehen und in den Spiegel zu schauen. Ewig im Dunklen zu tappen, war auch keine Option. Ich schloss beide Augen und begann in Zeitlupe mein Gesicht Richtung Spiegel zu bewegen. Ich atmete ein paarmal tief ein und aus und öffnete schließlich die Lider. Mein linkes Auge war zwar mächtig geschwollen, aber es konnte sehen! Diese Nachricht weckte Glücksgefühle in mir und schenkte mir sogar ein Lächeln. Meine Heldenkräfte kehrten wieder zurück. Der Kampf ging zwar weiter, aber ich würde diese eine Teiletappe überstehen – mit zwei Augen. Was für ein Geschenk! Das beste Geschenk zu meinem Geburtstag.
Meine Mutter war inzwischen verschwunden. Als ich in den Flur trat, hörte ich sie und meinen Vater im elterlichen Schlafzimmer streiten. Ihre Stimmen klangen gleich stark. Angriff, Gegenangriff, Mann, Frau, Opfer, Täter. Beide Seiten trugen zur Aufrechterhaltung des Systems bei, unseres Familiensystems. Auch ich gehörte dazu. Wie angewurzelt stand ich da und lauschte. Erst, als ich deutliche Hilfeschreie vernahm, wachte ich aus der Lethargie auf. In Trippelschritten schlich ich ans Elternzimmer und öffnete vorsichtig die Tür. Gesenkter Blick, beide Hände vor dem Gesicht, gebückte Haltung – verzweifelt versuchte meine Mutter, sich zu schützen, während ihr Mann sie immer weiter in Richtung Fenster prügelte. Hinter ihr stand mein überforderter Bruder und schrie, mein Vater solle mit dem Scheiß aufhören.
Die Vorgänge in meinem seelischen Innern implodierten. Ich sah zu, wie mein eigener Vater meine eigene Mutter barbarisch verprügelte. Ich stand direkt daneben, völlig konfus und überwältigt. Ich fühlte mich ohnmächtig, als hätte mir jemand Gift in die Adern gespritzt. Tausend widersinnige Fragen wühlten sich durch mein Hirn: Warum lebte ich? Warum sollte ich leben? Zur Schule gehen, Hausaufgaben erledigen, Bücher lesen, Pläne schmieden, lachen, lieben, atmen? Jeden Tag aufwachen, ohne zu wissen, was von mir am Ende des Tages übrig blieb? Wenn ich nichts gegen diese Missstände tun konnte, die vor meiner Nase passierten, was konnte ich dann überhaupt? Es war die Hölle, und jede Sekunde dort war eine zu viel. Ich wollte raus, weg aus diesem unterirdischen Loch. Wenn nicht in den Himmel, dann zumindest auf die Erde.
Bereits in der Vergangenheit hatte mich an roten Tagen mehrfach die Idee gereizt, die Polizei zu rufen. Doch jedes Mal hatte ich gezögert, weil mein Vater möglicherweise seinen Job verlieren würde. Diese Vorstellung schreckte mich ab. Heute war es anders. Lag es an meinem Geburtstag, der Überzuckerung oder am linken Auge? Ohne über die Folgen nachzudenken, rannte ich zum Telefon und wählte die Notrufnummer 102.
Zehn Minuten später klingelte es an der Tür. Zwei weibliche Augen schauten verwirrt aus dem Elternschlafzimmer.
»Es ist die Polizei. Ich habe sie gerufen«, sagte ich stolz.
In meiner Welt war ich eine Heldin. Meine Mutter zuckte jedoch schreckhaft zusammen und korrigierte blitzschnell ihre verwüstete Frisur. Dann beeilte sie sich, schwer atmend zur Wohnungstür zu kommen. Ihr Asthma machte ihr zu schaffen, und sie zögerte ein paar Sekunden, bevor sie öffnete.
»Ah, guten Abend … ja …, meine Tochter hat Sie angerufen? Hmm … Ach, dieses Mädchen, immer Spaß und Streichespielen. Na ja, das Teenageralter. Hihi … Wer kennt das nicht? Sie ist vierzehn geworden heute, dieser Kindskopf. Nein, nein, bei uns ist alles in Ordnung … Ich sehe rot aus? Ja klar, ich bin in der Küche und koche. Ja, mein Mann ist da. Hihi …, der ist übrigens selbst Polizist, Ihr Kollege, wissen Sie … und arbeitet in einem anderen Stadtteil, im Norden. Er kam von der Schicht, hatte einen schweren Einsatz. Er schläft. Ja, ja, alles ist gut. Bitte verzeihen Sie, ja, natürlich. Ich rede mit ihr. Sie wird es nicht mehr tun. Strafe? Ja, verstehe. Nächstes Mal, ich habe verstanden. Ja, für Sie auch. Alles Gute. Auf Wiedersehen!«
Die Tür fiel zu. Die Schritte entfernten sich.
Meine Mutter drehte sich langsam zu mir um, ich sah ihre zusammengekniffenen Augen, auf mich gerichtet, die Wut, den Hass. Mir blieb die Luft weg.
»Was fällt dir bloß ein, du dämliche Kuh!«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Du verrätst dein eigenes Zuhause. Schlimmer als im Krieg. Gott wird dich bestrafen!«
Mein Vater trat jetzt aus dem Schlafzimmer, er sah konfus, erregt und zugleich erschöpft aus.
»Du Ungeheuer!«, fauchte er mich müde an. »Wie kann die Erde bloß solche Menschen wie dich ertragen? Hoffentlich wirst du bald unter der Erdoberfläche verschwinden.«
Dann ging er schlafen.
Mein Herz starb.
Wenn das Herz stirbt, kommt der Kopf zum Einsatz. Nüchtern zeigte er mir den richtigen Weg. Ich ging ins Zimmer und ließ mein zukünftiges Ich schreiben:
Heute wurde ich vierzehn und hundert zugleich
Grün – Gelb – Rot: alles eins
Nichts verändert sich, doch ist alles anders
Ich habe ein Zuhause, aber mein Leben findet auf der Straße statt
Ich habe eine Familie, in Wahrheit bin ich ein Waisenkind
Ich habe eine Heimat, jedoch hat sie mich nicht gern
Nichts gibt mir Halt, nichts hält mich fest.
Nichts ist echt
Heimat, Familie, Zuhause, Sicherheit, Liebe – alles Tarnworte für heimliche Verbrechen
Heim – heimlich: Zufall oder Verwandtschaft?
Genug Luftschlösser gebaut
Lieber ohne, dafür echt
Ich gehe fort
Straßen warten auf mich
Die Wiedergeburt meines Herzens wartet auf mich
Dann schloss ich mein Notizheft, meine zwei Augen und dieses Lebenskapitel.
Statt eine Festung der Liebe zu sein, glich mein Zuhause einem Gefängnis, in dem Hass und Angst herrschten. Es gab unsichtbare Zäune, die ich nicht übersteigen konnte, selbst als ich schon kein Kind mehr war, sondern unterwegs ins Erwachsenenalter. Ich kannte weder Entdeckungsreisen, die aus der Geborgenheit entstehen, noch die sichere Rückkehr ins warme Nest. Es war kaum möglich, meine Bedürfnisse zu äußern oder gar auf meine Grenzen zu achten, gleichzeitiger fehlte eine gesunde Verbundenheit mit der Welt. Fehlte das Vertrauen ins Leben, blieb ich dauerhaft im Überlebensmodus. Wie sollte ich mich da entwickeln und entfalten, ohne massiv Schaden zu nehmen. Ich dachte tausendmal darüber nach, wie es dazu kommen könnte, dass sich meine Eltern scheiden ließen. Ich klammerte mich an jeden halbwegs ruhigen Alltag, das seltene Grün, das nie lange währte. Trotz tiefer Armut glichen die raren grünen Tage dem Paradies, und ich erhaschte einen kurzen Blick auf das, was innerer Frieden sein konnte, reich und pure Fülle, in meiner Fantasie.
Damals verstand ich allerdings nicht, dass meine Mutter nicht in der Lage war, sich aus eigener Kraft von ihrem Ehegatten zu trennen, egal, wie deutlich er seine Familie zerstörte. Die Angst, dann allein zu bleiben, bestimmte ihre gesamte Existenz. Ihre ängstliche Persönlichkeit spornte wiederum meinen Vater noch mehr an, seinen Gewaltfetisch auszuleben, ohne die geringste Strafe oder Konsequenz fürchten zu müssen. Meine Mutter änderte immer nur ihre Reaktionen auf seine Gewaltausbrüche. Mal ignorierte sie die Eskapaden, mal redete sie klein, mal beschuldigte sie uns Kinder, ihn zu provozieren, mal wurde sie wütend, um gleich am nächsten Morgen um Verzeihung zu betteln.
Oft hatte ich keine klare Wahrnehmung mehr, wer das Opfer und wer Täter war. In meiner Erinnerung blieb meine verzweifelte Mutter selbst mit gebrochenen Flügeln ein Engel. Als Märtyrerfigur half sie mir, mit dem häuslichen Wahnsinn zurechtzukommen. An meinem vierzehnten Geburtstag starb jedoch dieser Engel endgültig, und mit ihm starb meine Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft. Alle Luftschlösser, die ich mir je in meiner Fantasie gebaut hatte, zerplatzten. Zum ersten Mal dachte ich darüber nach, dass Zukunft vielleicht gar nicht hier, nicht in diesem kaputten Zuhause zu finden war, sondern an einem ganz anderen Ort. Meine Seele war jetzt reif, woanders nach Glück zu suchen. Ich musste hier unbedingt weg, je schneller, desto besser. Aber wohin? Wohin konnte ich in dem Alter denn gehen, als Mädchen! Alleine, ohne Geld, ohne Schulabschluss …
Anders als in Deutschland existierte in Russland damals kein Auffangnetz: kein Jugendamt, keine Frauenhäuser, keine sicheren Kinderheime. Ich kannte keine Kinderrechtsorganisation, an die ich mich wenden konnte. Ich wusste noch nicht einmal, dass ich Rechte hatte. Weder in der Schule noch in den Jugendfreizeiteinrichtungen wurde häusliche Gewalt thematisiert. Es hätte die Privatsphäre der Familien verletzt, den ganzen Dreck, den sie fleißig unter den Teppich gekehrt hatten, offiziell hervorzuholen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Es war tabu. Kämen die Gewaltgeschichten ans Licht, müsste man handeln: als Familie, als Staat, als Gesellschaft, das hieße, Kinder von den Eltern zu trennen, sie in Pflegefamilien unterzubringen, die Täter für ihre Verbrechen vor das Gericht zu stellen. Auch lange Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion befand sich das junge Russland noch im Überlebensmodus. Ob Wirtschaftskrisen, Terroristenattacken oder Tschetschenienkriege, der Kinderschutz genoss keinen Vorrang. Erst als junge Erwachsene sollte ich anfangen, die Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen und der individuellen Lage zu erkennen und zu begreifen. Jetzt aber sah ich noch nicht, dass jede Familie ein Teil der Gesellschaft, also die Gesellschaft selbst ist. Dass sich gesellschaftliche Stimmungen und familiäre Zustände spiegelten. Der Überlebensmodus war im Kleinen wie im Großen aktiv, im Land und in den Familien. Wo es Kampf ums Essen gab, wartete die Moral geduldig, aber ich wollte nicht mehr warten.
Ich hielt es für einen denkbaren Ausweg, auf der Straße zu leben. Mir schien es fast dasselbe zu sein, hier wie dort der Gewalt ausgesetzt zu sein und vor der Aufgabe zu stehen, ihr immer wieder entfliehen zu müssen. Anders als mein Zuhause schenkten mir die Straßen aber auch eine Art Schutz, den Schutz der Öffentlichkeit. Mal laut, mal leise, mal voll, mal leer, mal kalt, mal warm, mal eng, mal breit, so unterschiedlich sie waren, vermittelten sie mir niemals das Gefühl, lebensunwürdig zu sein, niemals schlugen sie mir ins Gesicht, niemals zwangen sie mich auf die Knie, niemals jagten sie mich in den Tod. Natürlich warteten da auch die Nächte auf mich, die diesen Schutz ins Dunkel ziehen würden. Nachts konnte sich das Blatt wenden, ich würde buchstäblich Schutzräume finden müssen. Trotzdem wurde mir bei dem Gedanken an Obdachlosigkeit irgendwie warm. Je länger ich daran dachte, desto mehr breitete sich die Wärme aus. Ich badete regelrecht darin, das konnte mir keiner nehmen.
Bereits als Kind hatte ich mit großem Staunen entdeckt, dass richtige Gedanken Glückshormone ausschütteten. Wenn ich das »Richtige« dachte, fühlte ich mich innerlich wie von der Sonne beschienen. Von allen äußeren Umständen unabhängig, befand ich mich dann im Paradies. Umgekehrt konnte mich ein hässlicher Gedanke binnen Sekunden in die Hölle katapultieren. Wurden meine Gedanken dunkel, wurde es auch in meinem Herzen schwarz, und manchmal konnte ich die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Es war Magie und Realität zugleich. Ich wusste nicht, wie das funktionierte und welches Prinzip dahinterstand, aber ich hatte innere Erfahrungen damit. Allein der Gedanke, mir das gewaltfreie Leben, das ich mir wünschte, fernab von Familie und Elternwohnung aufzubauen, schenkte mir Kraft. Die Imagination war wie der gute Geist, der mir den Weg wies. Wie ein Traum, an dessen Erfüllung ich zutiefst glaubte. Mein Alltagsbewusstsein blieb allerdings skeptisch, da die Erfahrung des Friedens im Außen völlig fehlte. Frieden fand ja nur in meinem Herzen statt, nie in meiner realen äußeren Umgebung. Es käme darauf an, mir das Unbekannte auszumalen: Wie sah Gewaltfreiheit wirklich aus? Ich wusste es nicht und ich fragte auch nicht. Ich hatte anderes zu tun, der Weg in die Obdachlosigkeit war wie eine anspruchsvolle Bergbesteigung, die sorgfältig vorbereitet werden musste. So sehr ich mir wünschte, einfach wegzugehen, so wenig durfte ich impulsiv handeln. Ich durfte auf keinen Fall scheitern. Würde ich jemals aufgegriffen und zurückgebracht, würde es mich mein Leben kosten, so viel war sicher. Ich brauchte jemanden, dem ich mich anvertrauen konnte, der mich unterstützte oder sogar auf der Reise begleitete.
Als ich nachts in meinem Bett lag und endlich Ruhe eingekehrt war, dachte ich an meine beste Freundin Olesya. Ich musste sie unbedingt anrufen und in meinen Königszug einweihen. Sie würde es am besten verstehen, wenn nicht sie, wer dann?
Olesya war der einzige Mensch auf der Welt, der mich wirklich verstand. Wir hielten zusammen, um unter dem Joch der häuslichen Gewalt nicht unterzugehen. Zwei Leidensgenossinnen, die weder in dieselbe Schule gingen noch gemeinsame Freunde hatten. Unsere Begegnung war ein reiner Zufall: Mit dem Verdacht auf einen Wirbelbruch wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert, als ich zehn Jahre alt war, nur um zwei Wochen später mit der Diagnose Muskelzerrung entlassen zu werden. Es folgten ein zweiter Krankenhausaufenthalt und eine wöchentliche Gruppentherapie im Anschluss, um meine chronischen Rückenschmerzen zu lindern. Die Strukturen im russischen Gesundheitssystem waren noch Überbleibsel der Sowjetzeit, daher kostete medizinische Versorgung nichts, Bestechungsgelder ausgenommen. Die Qualität der Behandlungen und der Zustand der Krankenhäuser tappten allerdings den europäischen Standards hinterher.
Die Kinderpoliklinik befand sich im Norden von Novo-Peredelkino in einem dreistöckigen, baufälligen Gebäude im stalinistischen Stil. Zwanzig Minuten Busfahrt trennten mich und das Ärztehaus, bliebe der Weg staufrei. Meine Mutter bestand darauf, mich nach der Schule zur Gruppentherapie zu begleiten, damit mir unterwegs nichts passierte. Paradoxerweise stand außerhalb des häuslichen Umfelds die Angst um ihre Kinder immer im Vordergrund ihrer Überlegungen und Entscheidungen. Nur zu Hause trat sie hinter die Gewalt zurück, stummgeschaltet von der ganz anderen Angst, verlassen zu werden.
Ich zog mich in dem winzigen Umkleideraum um und ging in den Therapieraum, der einer spartanisch ausgestatteten Minisporthalle glich. Außer einem schlanken, dunkelhaarigen Mädchen mit russisch-asiatischen Gesichtszügen war der Raum leer. Es saß in sich versunken auf dem Boden, und mir fiel der traurige Blick sofort auf. Ich spürte, das war keine übliche Verstimmung, die sich mit einer Leckerei oder einem lieben Wort schnell vertreiben ließe. Es war mehr eine nachdenkliche Traurigkeit, die in tiefere Schichten des menschlichen Daseins hinabreichte. Ich zögerte ein wenig, bis ich mich neben sie setze, doch sie schien mich gar nicht wahrzunehmen.
»Hmm, sag mal, warst du schon öfter hier?«, sprach ich das Mädchen schließlich an. »Ich bin nämlich das erste Mal dabei und weiß gar nicht, was mich hier so erwartet. Ich heiße Marina.«
Schicht für Schicht schien das zierliche Mädchen aus ihrer Welt aufzutauchen, bis sie mich mit ihren wunderschönen braunen Augen direkt anschaute, genauer gesagt ihr Blick mich durchdrang.
»Ich war schon die letzte Woche hier«, sagte sie in gelangweiltem Ton. »Heute ist mein zweites Mal. Es ist nichts Besonders. Wir machen ein paar Übungen und dann gehen wir noch in das Schwimmbecken. Erwarte aber nicht so viel davon, es ist echt winzig, das Wasser reicht bis zu deinen Brüsten, und mit zehn Leuten gibt es da kaum Platz, sich frei zu bewegen. Von einem Ende zum anderen sind es fünf Meter oder so. Es macht alles keinen Spaß …« Sie wendete ihren Blick von mir ab, während sie mit einem Seufzer hinzufügt: »Immerhin besser als zu Hause …«
Ich zuckte zusammen. Besser als zu Hause, wie bei mir. Vor Schreck fiel mir nichts anderes ein, als das Mädchen nach seinem Namen zu fragen.
»Ich bin Olesya.«
Nach der Therapie nahmen wir denselben Bus und stellten erfreut fest, dass wir kaum fünf Minuten voneinander entfernt wohnten. Auf der Fahrt erzählte Olesya mir von ihren chronischen Rückenschmerzen. Die Skoliose sei angeboren. Ich erzählte ihr meine Leidensgeschichte. Seit diesem Tag waren wir unzertrennlich. Nach dem Unterricht und am Wochenende trafen wir uns jeden Tag. Aus einem flüchtigen Gespräch wurde eine tiefe Freundschaft, aus der eine innige Schwesternliebe entstand, die bis heute mein Herz erwärmt. Langsam weihten wir einander in unsere Lebensgeschichten ein, die erschreckende Parallelen aufwiesen. Ihre Mutter und ihr Stiefvater arbeiteten auch als Polizisten, aus der zweiten Ehe ging Olesyas Halbbruder Boris hervor, acht Jahre jünger als sie. Ihr leiblicher Vater stammte aus der unabhängigen Republik Tatarstan, er besaß mehrere Lebensmittelgeschäfte und wohnte mit seiner neuen Frau und dem gemeinsamen siebenjährigen Kind anderthalb Stunden von Novo-Peredelkino entfernt. Ein viel beschäftigter Geschäfts- und Familienmann mit wenig Zeit für seine ältere Tochter. Auf den ersten Blick sah das Zuhause meiner Freundin stabil, anständig und sogar wohlhabend aus. Ein westliches Familienauto, ein ansehnliches Ferienhaus im Moskauer Vorort, ein üppig gefüllter Kühlschrank mit hochwertigen Lebensmitteln, regelmäßige Gästebesuche mit Musik und Tanz, jährlicher Urlaub im Ausland. Davon konnte ich nur träumen. Allerdings gewährte mir Olesya immer mehr Einblicke in die Untiefen ihres Alltags, und ich konnte bald den Albtraum hinter der Kulisse sehen. So unterschiedlich unsere Schicksale waren, so unfehlbar ähnlich waren die Auslöser.
Der knapp vierzigjährige Stiefvater, den Olesya wegen seines markanten Schnurrbarts Walross nannte, machte auf mich zunächst den Eindruck eines ruhigen, friedlichen und introvertierten Polizisten, der lieber Befehlen folgte, als sie zu erteilen. Neben seinem kleinen Sohn liebte auch er das Wässerchen, das ihn allerdings, im Gegensatz zu meinem eigenen Vater, weicher, nachgiebiger und auch etwas gesprächiger machte. Er hieß Pawel. Bedauerlicherweise starb er nach einem Nervenzusammenbruch einige Jahre später, da war er knapp über fünfzig.
Seine Ehefrau hatte seine Liebe zum Alkohol geteilt, und es führte kein Weg daran vorbei, miteinander in eine toxische Beziehung zu geraten. Alles fing vorsichtig an: ein Glas Wein nach der Arbeit, um den Stress abzubauen, zwei, drei Gläser an den Wochenenden, um die Gäste angemessen zu empfangen. Es wurde gegessen, getanzt und getrunken. Angefangen mit Bier und Wein, wurde der Abend mit Shots fortgesetzt. Ein alkoholfreies Feiern kam nicht infrage. Es erforderte schon einen triftigen Grund, das Glas abzulehnen. Nur ein schwarzes Schaf konnte grundlos auf den Alkohol verzichten.
Olesyas Mutter traute dem Alkohol anfangs nicht ganz, und sie schwankte zwischen Nähe und Distanz. An manchen Tagen ließ sie ihn eiskalt im Kühlschrank stehen, hielt Pausen zwischen den Konsumierungen ein, mit der Zeit aber begann sie sich nach mehr Beständigkeit zu sehnen, und so wurden die Abstände immer kürzer. Die Flasche bekam einen Ehrenplatz in der Küche, und bald schon fing die Wirkung stillschweigend an, sich in der ganzen Wohnung auszubreiten: überall Chaos, halbleere Weinflaschen in den Zimmerecken, Bierflecken auf dem Sofa, ungebügelte Klamottenberge im Wohnzimmer, Essenskrümel auf dem Boden, ein verstopftes Klo im Bad. Für den Haushalt fehlten Zeit, Lust und Energie. Als ich Olesya kennengelernte, war ihre Mutter bereits alkoholabhängig. Alkohol war ihr Allheilmittel gegen den Stress, gegen Langeweile und Traurigkeit.
Im Gegensatz zu ihrem friedfertigen Ehemann beförderte das Trinken bei ihr mächtige Schatten ans Licht. Wut, Frust und Aggressionen richteten sich gegen Olesya und das Walross, während der kleine Boris anfangs noch verschont blieb. Da die Polizistin Vollzeit arbeitete, verstand sich von allein, dass die ältere Tochter auf ihren Halbbruder aufpasste. Holte sie ihn vom Kindergarten verspätet ab oder äußerte sie den Wunsch, nach der Schule Freunde zu treffen, lief sie bei ihrer Mutter gegen die Wand. Mit der Zeit hasste sie ihren Halbbruder immer mehr, nur selten kam aus ihrem Mund etwas Gutes über Boris. Das Geschwisterverhältnis war gestört. Je stärker unsere Freundschaft wurde, desto öfter holten wir den Kleinen gemeinsam ab, und desto häufiger versuchte ich, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Boris antwortete meist einsilbig, um gleich danach ins Schweigen zu versinken. Mit zunehmendem Alter baute sich eine immer größere Distanz zwischen ihm und seiner Außenwelt auf, und er zog sich immer mehr zurück. Er würde später noch mit Mitte zwanzig bei seiner Mutter wohnen, ohne die Aussicht, das gefährliche Nest je zu verlassen.
Die Natur schenkte Olesyas Mutter ein hübsches Gesicht und eine hinreißende Sanduhrfigur. Als junge Frau schminkte sie sich gern und trug lustvoll körperbetonte Kleider. Sie musste viele Verehrer gehabt haben. Doch wie alles im Leben verging auch ihre Jugend. Der Alkohol griff ihre Körperzellen unbarmherzig an, die Alterungsprozesse beschleunigten sich. Die schleichende Veränderung hinterließ tiefe Spuren. Sie nahm im Laufe der Zeit immer mehr zu, bis sie nicht mehr in ihre Lieblingskleider passte. Ihre gute Figur verlor immer mehr an Form, je mehr Fettschichten sich aufbauten. Diese ungünstige Veränderung begünstigte ihre schlechte Laune, die wiederum betäubt werden wollte. Das hieß noch mehr Alkohol, sein Bereitschaftsdienst schien keine Pausen zu kennen. Rote Äderchen im Gesicht, fahle Augen, schlappe Haut, markanter Mundgeruch, zitternde Hände, es ging bergab.
Je ungepflegter Olesyas Mutter wurde, desto zwanghafter achtete sie auf das tadellose Aussehen ihrer Tochter. Olesya war ohnehin mager, trotzdem musste sie strengstens auf ihr Gewicht achten, sich elegant kleiden, ihr Gesicht mit zahllosen Kosmetikmasken pflegen sowie täglich Sport treiben. Laut ihrer Mutter würde ihr das makellose Aussehen einen erfolgreichen Eintritt ins Leben einer erwachsenen Frau bescheren. Mir fiel damals auf, dass sie Olesya immer nur auf das Äußere reduzierte und dabei ihre innere Entwicklung völlig vernachlässigte. Meine Freundin litt sowohl unter der zwanghaften Kontrolle ihrer Mutter im nüchternen Zustand als auch unter deren Wutausbrüchen im betrunkenen Zustand. Ihr seelisches Leiden äußerte sich unter anderem in einer Essstörung: zuerst Kauen und Ausspucken, später Bulimie, Magersucht und dann Orthorexie. Durch das starke Untergewicht blieb Olesyas Periode monatelang aus. Später würde sie als alleinstehende Frau weiterkämpfen gegen die körperlichen und psychischen Folgen ihres Kindheitstraumas.
Andererseits verwandelte sich Olesya Tag für Tag mehr in einen attraktiven Teenager, und die alkoholabhängige Mutter sah in ihrer Tochter womöglich eine Rivalin. Je weiblicher meine Freundin wurde, desto drastischer wurden die mütterlichen Maßnahmen. Sie reduzierte die Essensportionen ihrer Tochter, bis diese buchstäblich nicht mehr satt wurde. Nach der Schule beklagte sie sich bei mir über den Hunger. Heimlich packte ich meine Essensreste in eine Plastiktüte, um die übersichtlichen Schätze mit ihr zu teilen. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Spätestens mit vierzehn sollte Olesya ihr Taschengeld selbst verdienen. Die Suche nach einem Nebenjob musste schließlich erfolglos bleiben, denn kein Angebot ließ sich mit dem Babysitting von Boris in Übereinstimmung bringen. Die durchschnittlichen Schulnoten, das vermeintlich unvollkommene Aussehen, jede Nichterfüllung der Erwartungen wurde mit Essensentzug bestraft. Jede Mahlzeit sollte buchstäblich verdient werden. Meiner Freundin wurde eine separate Schublade im Kühlschrank zugeteilt, die meistens leer blieb. Auf die restlichen Lebensmittel hatte sie keinen Zugriff.
Von unseren Ursprungsfamilien traumatisiert, schlossen Olesya und ich insgeheim einen Bund gegen die Gewalt. Wir machten unseren Zusammenhalt und die Liebe zur obersten Priorität. Unsere Verabredung war ein verbindliches und heiliges Versprechen unter Freundinnen – unsere beiden Leben gehörten einander. Unabhängig davon blieben wir innerlich zerrissen. Ein Teil von uns nahm die häusliche Despotie als gegeben hin und befolgte sie stillschweigend, während ein anderer Teil sich von dieser Absurdität befreien wollte. Mit der Zeit wurde uns klar, dass eine geldlose Befreiung an Utopie grenzte. Um unserem Traum aber eine reale Chance zu geben, begannen wir über das eigene Geld nachzudenken. Das Erste, was uns einfiel, war Bierflaschensammeln. Wir beschlossen, am nächsten Wochenende, das Olesyas Familie im Ferienhaus verbrachte, unser Glück in Plastiktüten zu packen. Sobald es dunkel wurde, vermummten wir uns schwarz, um von keiner Menschenseele erkannt zu werden, und gingen auf Schatzsuche. Während wir mit Taschenlampen in den Händen unsere Köpfe in Mülleimer und Müllcontainer steckten, überkam uns eine Schamwelle nach der anderen. Je mehr Müllplätze wir durchsuchten, je häufiger wir Flüssigkeitsreste aus den Bierflaschen kippten und sie in die Tüten steckten, desto intensiver stanken wir nach Alkohol und Abfall. Trotz des ekeligen Geruchs und der Schwere der Beute gaben wir nicht auf. Wir verbrachten all die dunklen Stunden mit Sammeln und schleppten die vollen Beutel, als es hell wurde, zu dem einzigen Abgabepunkt im Stadtteil Novo-Peredelkino. Beschämt, erschöpft und gespannt zugleich platzierten wir die Inhalte der Plastiktüten auf dem Ladentisch. Anstelle von Automaten stand da noch eine echte Person am Tresen, die die Flaschen per Hand sortierte. Je mehr grüne und braune Flaschen auf dem Tischchen landeten, desto skeptischer wurde der Blick des Pfandbeauftragten. Offensichtlich waren wir seine ersten Kunden, und er selbst schien noch halb im Schlaf zu wandeln. Schließlich waren die Beutel leer, und wir schauten den jungen stämmigen Mann erwartungsvoll an. Die Vorfreude auf unser eigenes Geld ließ die Scham schnell in den Hintergrund treten. Die Anspannung stieg, aber dann folgte die Enttäuschung: Mehr als die Hälfte unserer Beute stellte sich als pfandfrei heraus. Für den Rest gab es wenig, am Ende kam ein Geldbetrag raus, der immerhin für ein günstiges Make-up reichte. Wir gingen in einen benachbarten Minimarkt und suchten uns dort einen Lippenstift in der Farbe Weiß aus. Für die faire Teilung führten wir das Prinzip der wöchentlichen Rotation des Schatzes ein. Auch wenn wir den Stift zu unserer Trophäe ernannten, waren wir uns einig, die Pfandsammlung nicht mehr zu wiederholen. Diese Sisyphusarbeit hatte mehr Schamgefühle und verstärkte Rückenschmerzen hinterlassen, als der geringe Ertrag wert war.
Während ich weiterhin unter den Gewaltausbrüchen meines Vaters litt, blieb Olesya der Wut ihrer Mutter ausgesetzt. Die meisten Schläge landeten auf ihrem Kopf oder in ihrem Gesicht. Sie waren selten lebensgefährlich, aber immer demütigend. Mit den Jahren entwickelte Olesya immer mehr Hass, nicht nur auf Boris, sondern auch auf die Mutter, die sie Kröte nannte, und auf Pawel, der ihr nicht beistand. Sie begriff nicht, warum ihr Stiefvater das Elend einfach so akzeptierte, anstatt etwas zu unternehmen. Er suchte nicht nach Lösungen, sondern litt auf seine Weise stillschweigend. In der Tiefe seiner Seele schien er längst aufgegeben zu haben. Er blieb untätig in seiner Angst, falsch zu handeln und damit seinem einzigen Sohn wehzutun. Vermutlich lag es ihm sehr am Herzen, dass Boris mit beiden Elternteilen aufwuchs, doch jede heilige Absicht wurde letztlich vom Nichtstun vereitelt. Wo hörte die Opferrolle auf, wo begann die Täterschaft? Oder war das Kind nur die Ausrede? So wie meine Mutter, hatte vielleicht auch Pawel Angst, allein zu bleiben und am Singledasein zu zerbrechen. Lieber zerbrach er mitten im Familienleben. Er verdrängte die offensichtlichen Probleme durch noch mehr Arbeit und noch mehr Alkohol. Statt zu leben, existierte er zwischen zwei Welten. Seine geistige Klarheit verließ ihn nach und nach. Bevor er starb, war er fast vollständig erblindet, ohne eine erklärte medizinische Ursache.
Wie oft träumten wir davon, dass meine Mutter Swetlana Olesyas Stiefvater Pawel heiratete. Wir könnten dann adoptiert werden und bei ihnen leben. Gleichzeitig wünschten wir uns die Eheschließung zwischen meinem Vater Juri und Olesyas Mutter Larisa. Sie würden sich beide in ihrer Hochzeitsnacht gegenseitig töten. Diese gruseligen Ideen faszinierten uns auf eine Weise, die uns kurzfristig aus unserer Ohnmacht befreite.
Langfristig schenkte uns nur unsere Freundschaft etwas Halt, und wir wurden unzertrennlich. Anstatt die freie Zeit mit meinen Schulfreunden zu verbringen, traf ich Olesya nach dem Unterricht und an den Wochenenden. Wir gingen in den Wald, der sich unmittelbar hinter unserem Wohnviertel erstreckte. Dort fühlten wir uns frei, wenn auch nur für einige Stunden. Als wir dreizehn Jahre alt wurden, fingen wir an, unseren Bezirk zu verlassen und Hand in Hand mit der Bahn ins Zentrum der Stadt zu fahren. In den Sommermonaten verbrachte Olesyas Familie öfter mehrere Tage in ihrem Ferienhaus. Immer, wenn meine Freundin allein in der Stadt bleiben durfte, schlief ich bei ihr. Wir teilten ein Bett, kuschelten viel, massierten uns gegenseitig, liefen nackt durch die Wohnung, begutachteten liebevoll unsere Pickel, benutzten ein Handtuch und gingen auf die Toilette, ohne die Tür zu schließen. Zwischen mir und Olesya gab es keine Geheimnisse, keine Scham, keine Tabus. Ich konnte mir mein Leben nicht mehr ohne sie vorstellen. Zwischen uns gab es eine Verabredung, die Wohnung nie ohne vorherige Absprache zu verlassen. Einmal fand ich heraus, dass sich Olesya mit einem anderen Mädchen getroffen hatte, ohne mir Bescheid zu geben. Für mich glich diese Enthüllung einem Verrat. Ich wurde wütend. Ich weinte. Olesya entschuldigte sich minutenlang, sie weinte mit. Am nächsten Tag brachte sie uns zwei Plastikketten mit, an denen jeweils ein halbes Herz aus Metall hing. Die eine Hälfte fand an meinem Hals, die andere am Hals von Olesya Platz. Es folgte eine innige Umarmung mit dem Versprechen, immer füreinander da zu sein und einander bis zum letzten Atemzug zu lieben.