Da fliegt mir doch das Blech weg - Potsch Potschka - E-Book
SONDERANGEBOT

Da fliegt mir doch das Blech weg E-Book

Potsch Potschka

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Es war außergewöhnlich, mit Spliff und der Nina Hagen Band zu spielen. Mitglieder fortschrittlicher, international immens erfolgreicher Rockbands wie Foreigner, Police und Saga gehörten zu unseren Fans. Beim Rockpalast in den Dortmunder Westfalenhallen rutschte der Saga-Schlagzeuger Steve Negus auf Knien und betete uns in einem gemimten Akt der Ehrerbietung an.« Bernhard »Potsch« Potschka ist ein begnadeter Gittarist und seit mehr als fünfzig Jahren in der Musikbranche tätig. Er wurde vor allem mit der »Nina Hagen Band« und »Spliff« Ende der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre bekannt. Songs wie »TV-Glotzer«, »Unbeschreiblich Weiblich«, »Rangehn«, »Carbonara«, »Déjà-vu«, »Das Blech« oder »Herzlichen Glückwunsch« sind bis heute Ohrwürmer, die Generationen von Musikfans in den Bann zogen. In diesem Buch schildert »Potsch« Potschka seinen Werdegang vom nachkriegsgeprägten, streng konservativen Würzburg über das geteilte Berlin bis hin zu nationalen und internationalen Erfolgen, die selbst Frank Zappa aufhorchen ließen. »Potsch« Potschka erzählt von persönlichen Schicksalsschlägen, die auch seine musikalische Entwicklung bis hin zu Flamenco und Weltmusik beziehungsweise Fusion prägten, und gibt zahlreiche lustige und erstaunliche Anekdoten aus der Welt des Musikbusiness. Gleichzeitig betrachtet er gesellschaftliche, politische und soziale Entwicklungen, die ihn bei den Musikstationen »Pozzokko«, »Lokomotive Kreuzberg«, »Nina Hagen Band« und »Spliff« begleiteten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 297

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Potsch Potschka

Da fliegt mir doch das Blech weg

Lokomotive Kreuzberg, Nina Hagen Band, Spliff, Weltmusik

Biografie mit Klaus Marschall

Potschka, Potsch: Das fliegt mir doch das Belch weg. Lokomotive Kreuzberg, Nina Hagen Band, Spliff, Weltmusik. Biografie mit Klaus Marschall. Hamburg, Charles Verlag 2022

Originalausgabe

EPUB-ISBN: 978-3-948486-64-8

PDF-ISBN: 978-3-948486-63-1

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-948486-62-4

Lektorat: Sabrina Emrich, Frankfurt am Main

Korrektorat: Sabrina Hirsch, Ober-Ramstadt

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: © Jürgen Spachmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de/ abrufbar.

Der Charles Verlag ist ein Imprint der Bedey und Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

© Charles Verlag, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

www.charlesverlag.de

Inhalt

„Erster Lebensabschnitt:Kindheit und »Pozzokko«“

„Kapitel 1: Frühe Kindheit und harter Schlag“

„Kapitel 2: Die Sache mit der Musik – Anfänge“

„Kapitel 3: Die Sache mit der Kirche“

„Kapitel 4: Die Sache mit dem Sport“

„Kapitel 5: Mit Jimi Hendrix auf einem anderen Planeten; »Pozzokko«“

„Zweiter Lebensabschnitt:»Lokomotive Kreuzberg«“

„Kapitel 1: Erste Phase Berlin“

„Kapitel 2: Start bei »Lokomotive Kreuzberg«“

„Kapitel 3: Das tägliche Leben mit und bei »Lokomotive Kreuzberg«“

„Kapitel 4: Zusammenarbeit der »Lokomotive Kreuzberg« mit der IG Metall“

„Kapitel 5: »Lokomotive Kreuzberg« eckt an“

„Kapitel 6: Auch das Ausland ruft die Lok“

„Kapitel 7: »Lokomotive Kreuzberg«an der Endstation“

„Dritter Lebensabschnitt:»Nina Hagen Band«“

„Kapitel 1: Die Gründung der »Nina Hagen Band«“

„Kapitel 2: Mädchen aus Ost-Berlin“

„Kapitel 3: Der »Nina Hagen Band«-Zug nimmt rasante Fahrt auf“

„Kapitel 4: Störfeuer von außen und innen“

„Kapitel 5: »Nina Hagen Band« –Letzter Akt und Ende“

„Kapitel 6: »Nina Hagen Band« –Skurrile Aufnahmen zur zweiten LP“

„Vierter Lebensabschnitt:»Spliff«“

„Kapitel 1: »Spliff Radio Show«“

„Kapitel 2: Zu viert geht es weiter“

„Kapitel 3: Erfolgswelle“

„Kapitel 4: Dauerbelastung, Umgang mit den Medien und dem Rummel“

„Kapitel 5: Wir machten auch noch anderes“

„Kapitel 6: Misserfolg und Ende“

„Fünfter Lebensabschnitt:Spanien, »Froon«, »Perxon«, »Gitarra Pura«“

„Kapitel 1: Übersiedeln nach Andalusien“

„Kapitel 2: Ein letztes gemeinsames Projekt – »Froon«“

„Kapitel 3: Das Leben in Spanien“

„Kapitel 4: Schock, völlige Leere und Neuanfang“

„Kapitel 5: Knapp bei Kasse und musikalische Findungsphase“

„Kapitel 6: Musikalische Neuorientierung“

„Kapitel 7: Auf den Pfaden der Weltmusik“

„Sechster Lebensabschnitt:Zurück zu den Wurzeln von »Spliff« und andere Tendenzen“

„Kapitel 1: Neuer »Spliff«-Anlauf –Klappe, die Erste“

„Kapitel 2: Neuer »Spliff«-Anlauf –Klappe, die Zweite“

„Kapitel 3: »Spliff«-Anlauf und harter Rock auf (gerichtlichen) Abwegen“

„Kapitel 4: Flamenco – Rock – Hin und Her“

„Kapitel 5: Endlich ruhige, komfortable Zeiten“

„Kapitel 6: Neuer »Spliff«-Anlauf –Klappe, die Dritte“

„Kapitel 7: Schaffen zurzeit –Verschiedene Wege und Meinung über AC/DC, Scorpions, Rammstein und den US-amerikanischen Musikmarkt“

„Epilog: »Lass es sein mit der Gitarre« –Es läuft“

„Der Autor“

Erster Lebensabschnitt:Kindheit und »Pozzokko«

Kapitel 1: Frühe Kindheit und harter Schlag

Als sechstes Kind von insgesamt neun erblickte ich am 1. März 1952 in Würzburg das Licht der Welt. Damals war ein derartiger Nachwuchsreichtum keineswegs ungewöhnlich und so tummelte ich mich im familiären Becken, umzingelt von vier Brüdern und vier Schwestern. Meine Mutter war ausgebildete Konzertpianistin, hatte diesen Beruf jedoch nie ausgeübt, denn bereits im Alter von 21 Jahren war das erste Kind gekommen und in kurzen Abständen darauf alle anderen. Somit hatte sie alle Hände voll damit zu tun, den Haushalt zu meistern und die Rasselbande zu bändigen.

Mein Vater verdiente als Arzt, genauer als Orthopäde, im Krankenhaus sein Geld und konnte uns ein Haus im Stadtteil Frauenland bieten, wenn auch noch mit einem althergebrachten Donnerofen. Im Winter schürte, befüllte und entfachte er ihn früh morgens vor der Arbeit, damit es rechtzeitig für uns andere warm wurde. Mein Vater arbeitete unentwegt, bis zu achtzig Stunden in der Woche, weshalb ich ihn nicht wirklich kennenlernte. Wollten wir Kinder ihn sehen, war nur ein Besuch im »König-Ludwig-Haus«-Krankenhaus möglich. Jedem seiner Zöglinge wurde circa eine Minute auf dem Schoß eingeräumt und dann galt es zu gehen, weil er sich wieder seinen Verpflichtungen widmen musste.

Mit sieben Jahren ereilte uns ein traumatischer Schicksalsschlag: Mein Vater verstarb plötzlich und völlig unerwartet mit 38 Jahren an einem Herzinfarkt. Es dauerte nur 10 Minuten, um eine für uns He­ranwachsende feste Orientierungsgröße – und einen Eckpfeiler unserer Gemeinschaft – dahinzuraffen. In einer kurzen Pause hatte mein Vater gegenüber einem Kollegen über heftige Übelkeit geklagt. Als dieser kurze Zeit später mit einer Spritze zurückkehrte, die die Beschwerden lindern sollte, war der Tod bereits eingetreten. Makabre Ironie der Fügung: Nur einen Monat später hätte ihm ein Positionswechsel zur Stadt Würzburg als Leiter des Gesundheitsressorts mit geregeltem, arbeitszeitfreundlichem Tagesablauf bevorgestanden.

Die Vehemenz dieses tragischen Ereignisses war so einschneidend, dass das Thema »Tod« in der Familie zur Tabuzone geriet. Keiner verlor ein Wort darüber, alle schwiegen. Von heute auf morgen stand meine gerade einmal 34-jährige Mutter allein da – mit uns durchweg noch jungen Kindern. Meine älteste Schwester Barbara zählte 13 Lenze, der jüngste Bruder Stefan gerade einmal zwei und dazwischen befanden sich noch sieben weitere Mäuler, die es zu ernähren galt. Es mangelte an allem, nicht nur am Geld. Die Kollegen meines Vaters griffen unserer Familie unter die Arme, indem sie für den Einbau einer Ölheizung sorgten: eine sehr willkommene Hilfe.

Während der ersten Phase nach dem Ableben vom Vater wohnte noch meine Oma mütterlicherseits im unteren Stockwerk, weshalb ich und vier weitere meiner Geschwister in einem Zimmer schliefen. Im Grunde bestand der Raum nur aus Betten.

In den ersten zwei Grundschuljahren trug ich durchgehend eine kurze Lederhose, die den Vorteil hatte, unverwüstlich zu sein. Im Winter wurde das Ganze um eine Strumpfhose/ Strapse ergänzt. Das musste reichen. Im dritten und vierten Schuljahr beschränkte sich die Beinbekleidung auf eine lederne Knickerbocker. Mehr konnte sich die Familie nicht leisten.

Ich als Pfadfinder mit 12 Jahren

Beim Kugelstoßtraining mit 14 Jahren

Zu Hause standen lediglich vier Krüge, gefüllt mit je einem Liter Wasser oder Zitronentee, zur Verfügung. Gegessen wurden Kartoffeln und Kartoffeln und dazu Kartoffeln. Trotz der widrigen Umstände funktionierte das Familienleben, inklusive des Schulbesuchs, sogar des Gymnasialbesuchs. Es war kärglich, aber wir hatten uns – ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Nach außen traten wir immer als Einheit auf. Natürlich rieb man sich auch aneinander, das blieb nicht aus. So überforderte es meinen ältesten Bruder Michael, die Rolle des Vaters auszufüllen, wie es ihm die Mutter auftrug, und er nutzte die Aufgabe aus, indem er meinen zweitältesten Bruder sehr schlecht, um nicht zu sagen unterirdisch, behandelte. Unglücklicherweise reichte die Kraft meiner Mutter nicht, um dagegen anzugehen. Sie war zwar ohnehin immer schon überfordert gewesen, aber nach dem Tod ihres Gatten uferte es aus bis hin zur verzweifelten Resignation.

Ich blieb von der Unterdrückung Michaels verschont, denn im Gespann mit meinem Zwillingsbruder Christof lieferten wir harte Gegenwehr. Zum Glück änderte sich das Verhalten des »Ersatzpapas« recht bald, aber bis dahin litt mein zweitältester Bruder unter der Knute sehr.

Im Laufe der zweiten Hälfte der 60er-Jahre, ich war also 13 oder 14 Jahre alt, entwickelte sich der Sozialstaat. Die damit verbundenen, unterstützenden und finanziellen Transferleistungen wie Kindergeld verbesserten die Situation im Hause Potschka merklich. Bis heute erinnere ich mich daran, dass es ab diesem Zeitpunkt im Bereich des Möglichen war, einmal in der Woche eine Kiste Limonade zu kaufen. Andere Statussymbole wie Fernseher oder ein Auto verboten sich zwar weiterhin, dafür verfügte unsere Familie über das große Glück, ein Haus mit Garten zu besitzen …wenn auch freilich einer der sehr spärlichen Lichtblicke.

Bis heute habe ich zu meinen Geschwistern, die alle noch leben, ein gutes Verhältnis und wir halten Kontakt. Eine Schwester wohnt ebenfalls in Berlin, eine weitere in Düsseldorf, ein Bruder in der Nähe von Regensburg auf dem Dorf, der Großteil jedoch unverändert im Einzugsgebiet von Würzburg. Wenn nicht gerade durch eine unselige Coronapandemie gestoppt, findet jährlich ein gemeinschaftliches Familientreffen statt und der Besuch untereinander wird sowieso gepflegt.

Der jüngste Bruder studierte Bass und verdingt sich als Orchester- und Chorleiter und Basslehrer in Bonn den Lebensunterhalt. Nebenher spielte er in verschiedenen Bands. Nicht nur auf ihn hatte der Umgang mit Musik in unserer Familie einen großen Einfluss …

Mein Zwillingsbruder und ich mit drei Jahren

Ich als Halbstarker und mein Zwilling mit einem sehr guten Freund

Kapitel 2: Die Sache mit der Musik – Anfänge

Meine Mutter prägte mich durch ihre Vergangenheit als Konzertpianistin und auch mein Vater hatte Gitarre gespielt.

Vor allem aber beeinflusste mich die Gewohnheit im Hause Potschka, oft gemeinsam zu singen. In jungen Jahren, ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, drückte mir meine Mutter ein Gesangsbuch in die Hand und forderte mich auf, mich nun gesanglich einzubringen. Mir war zwar zu Beginn schleierhaft, was die Noten bedeuteten, geschweige denn konnte ich sie beim Namen nennen, aber durch die Abstände, die Intervalle der einzelnen Zeichen ausgehend von einem Grundton, erschloss sich mir die Systematik autodidaktisch so weit, dass ich mit ungefähr neun oder zehn Jahren vom Blatt singen konnte.

Das gemeinsame Intonieren von Liedern verselbstständigte sich im Laufe der Zeit. Meine Mutter brauchte sich nur ans Klavier zu setzen und dann wusste jeder sich bereitwillig so einzuordnen, dass in allen erforderlichen Höhen der Tenöre und der Altstimmen das angeschlagene Lied dreistimmig interpretiert wurde.

Das bestätigte einen für mich bis heute geltenden Grundsatz: Singen ist in jungen Jahren die beste musikalische Grundbildung. Man lernt die Gewissheit, einen Ton zu treffen und bilden zu können, mit der daraus resultierenden Fähigkeit, zu erkennen, ob jemand einen falschen Ton anschlägt oder die Rhythmik passt.

Je mehr sich die musikalische Bildung in der Familie vertiefte, desto mehr Instrumente kamen zum Einsatz: Klavier, Cello, Geige, Bratsche, Trompete und Kontrabass sorgten nicht nur für ein beeindruckendes Klangerlebnis, sondern förderten darüber hinaus die Sicherheit im Umgang mit dem musikalischen Gerät. Es war allemal besser, als allein auf den Saiten herumzukratzen, isoliert Tasten zu drücken oder entkoppelt Töne zu blasen.

Bei heutigen Geschwistertreffen schweißt uns die verbindende Erinnerung derart zusammen, dass manchmal spontan dreistimmig ein Lied gesungen wird. Alle wissen um den Text, die Melodie, ihre stimmliche Position …und dann geht es ohne Absprache direkt los.

Zu Beginn meiner musikalischen Sozialisation überwog vornehmlich die romantische Ader. Im Alter von zehn Jahren nahm ich regelmäßig Samstagnachmittags das dann immer freie Wohnzimmer allein in Beschlag, um mir dort den dramatischen Zweig klassischer Musik von Dworzak, Smetana (Die Moldau), weniger Beethoven (Favorit meines ältesten Bruders), noch weniger Mozart (Favorit meiner Mutter), aber auch populärere Sachen wie von Gershwin auf dem dort befindlichen Plattenspieler anzuhören. Das gefiel mir außerordentlich und ich setzte mich anschließend mit dem Ziel, Komponist werden zu wollen, an das elterliche Klavier. Ich wollte ein Stück schreiben, bei dem die Menschen beginnen zu weinen. Ohne jegliche theoretische Musikkenntnisse, dafür mit sehr talentiertem Gehör ausgestattet, drückte ich tiefe Mollakkorde und probierte mich an deren Kombination. Meine Mutter wunderte sich über die Beschäftigung, wusste sie doch nichts über die Motivation des Agierens, ließ mich aber gewähren.

Außerhalb des Plattenschranks rissen mich im höheren Alter die Werke von Gustav Mahler mit. Meiner Meinung nach suchen seine filigranen Arbeiten ihresgleichen, seine Arrangements sind unerreicht. Trotz der Komplexität von 50 Nebenstimmen fügen sich die Kompositionen in ein harmonisches Gesamtbild ein. Der normale Durchschnittskonsument kann vielfach wenig damit anfangen, weil das Ergebnis Ungeübte in seiner Kompliziertheit und Mächtigkeit erschlägt. Zu tragisch, zu romantisch … auf jeden Fall zu überbordend. Aber ich mag das und höre mir gerne in Ruhe über Kopfhörer – und immer mit großer Faszination – eine Mahler Symphonie auf meiner Couch an und genieße dabei alles an soundtechnischen Kniffen und Verbindungen. Mahler brachte als Erster Jazz Akkorde in die klassische Musik ein, was von George Gershwin aufgegriffen und fortgeführt wurde.

Gemäß den Ansprüchen eines Akademikerhaushaltes besuchte ich zunächst das humanistische Wirsberg Gymnasium, was bedeutete, Latein und Griechisch büffeln müssen. Die vermittelte Bildung war gut, allerdings schmeckte mir vor allem das Altgriechische gar nicht, genügte es mir doch schon, sich der toten Sprache des antiken Roms widmen zu müssen. Allerdings förderte die Bildungseinrichtung neben den traditionellen Disziplinen stark den musikalischen Zweig, was mir sehr entgegenkam. Ich lernte Notensätze, alle notwendigen, theoretischen Grundlagen, verfügte ohne Zweifel über ein gebührendes Talent auf dem musischen Gebiet. Völlig fassungslos nahm der Musiklehrer zur Kenntnis, dass ich ihm in der sechsten Klasse die erweiterte Kadenz von C-Dur nach G-Dur in gebrochenen Akkorden vorsang. So etwas hatte er zuvor noch nie erlebt. Auf sein Geheiß hin führte mein Weg zum Chor in der Gruppe der Altstimme und auch meinem Wunsch, das romantisch klingende Cello zu spielen, wurde entsprochen. Aufgrund meines Potenzials bezahlte die Schule sogar den Unterricht beim Ersten Cellisten des Stadtorchesters, denn im Hause Potschka herrschte unverändert finanzielle Ebbe. Nach einem Jahr attestierte mir mein Lehrer »Du bist der beste Schüler, den ich je hatte.«, was rückblickend ein Fehler war, weil ich das Lob deplatziert empfand. Wie wollte der Proficellist das zu diesem Zeitpunkt schon beurteilen können? Ungeachtet dessen erschien ich regelmäßig zum Unterricht, übte fleißig, machte die Stücke zu meinen und der Stadtorchestercellist zeigte sich begeistert, bis mir eines Tages in einer Stunde beim Spielen dreimal der gleiche Fehler unterlief. Das brachte den Ausbilder zu meinem völligen Unverständnis zum Ausrasten. Aufgrund meiner antiautoritären Einstellung, ich möchte mich in dieser Entwicklungsphase sogar als nonkonform, arrogant bezeichnen, erwiderte ich: »So Schluss, das muss ich mir nicht bieten lassen! Ich gehe jetzt!« und zog das auch durch.

Das Einholen der Unterschrift zur Bestätigung der Beendigung des Unterrichts erforderte noch ein letztmaliges Aufeinandertreffen. Ich blieb im Türrahmen stehen und hielt lediglich das Schreiben hin, das es zu signieren galt. »Du weißt schon, dass du das jetzt gleich bereuen wirst, ne?«, setzte der Lehrer zu einem letzten Umstimmungsversuch an, erntete von mir aber nur ein barsches »Nääää!«. Noch nicht einmal ganz unten am Ende der Gebäudetreppe angelangt bedauerte ich schon die Entscheidung …allerdings nur kurz, denn mit Beginn der achten Klasse folgte der Wechsel zum musischen Matthias-Grünewald-Gymnasium, um dem ungeliebten Altgriechisch aus dem Wege zu gehen.

In der neuen Umgebung kam ich zu meiner großen Freude wieder mit meinem Zwillingsbruder Christof – wir hatten nach der vierten Klasse unterschiedliche Bildungswege beschritten – zusammen. Leider erlaubte man dort Cello als nur Nebenfach, sodass ich für die Dauer von zwei Jahren im Hauptfach zum Klavier umschwenkte.

Im Unterschied zu mir bereitete es meinen Geschwistern wie Christof viel Mühe, Klavierstücke zu lernen. Mehr noch, ich eignete mir das Verlangte durch intensives Üben auswendig an – vom Blatt zu spielen schloss ich für mich aus –, um es anschließend auf meine Weise zu interpretieren, also die Höchststufe zu erreichen. Selbst die strengste Pianolehrerin der Schule, vor der selbst die Abiturienten zitterten, fraß mir deswegen aus der Hand. Ich durfte bei ihr alles. Duldete sie bei keinem anderen Disziplinlosigkeiten wie Verspätungen, akzeptierte sie bei mir die fadenscheinigsten Ausreden. »Okay, setz dich hin.« hieß es dann nur, denn die Gute wusste nur zu gut, dass ich sie anschließend verzücken würde, indem ich die von ihr gestellte Aufgabe nicht nur erfüllte, sondern regelrecht abperlte. Zur Belohnung malte sie mir regelmäßig ein Häschen auf mein Notenblatt, gleichbedeutend mit der Note 1+. Zusammenfassend kann man sagen, dass ich Musik machte, während alle anderen versuchten, einigermaßen der Anforderung zu genügen, insbesondere mein Zwillingsbruder, den beim Vortragen permanent Unsicherheit plagte.

Bei Michael ähnelte die Bedienung der Tasten sogar eher der Bearbeitung eines Hackklotzes. Er beneidete mich um meine Musikalität, gönnte sie mir aber und entwickelte sich zu einem großen Fan, der in den späteren Jahren meine Bandkonzerte besuchte und voller Stolz mein Treiben auf der Bühne verfolgte.

Mein erster, leider von Gicht geplagter Cellolehrer am musischen Gymnasium war ein totaler Freak, der manchmal den Unterricht in der Form gestaltete, dass er unter Kratzen und Knarzen eine Platte auflegte und dann skandierte: »So, heute hören wir mal ein bisschen Musik!«. Ungewöhnliche Methode, aber wirkungsvoll. Durch seine Art motivierte er selbst 15-jährige, pubertierende Jungs, allein vor der Klasse zu singen. Das wurde zwar ohnehin verlangt, gelang aber selten genug.

Den zweiten Lehrer am Instrument verortete ich in der Sparte »Idiot«. Ich verstand mich mit ihm nicht im Geringsten. Auf dem Halbjahreszeugnis verpasste er mir eine 5, weil mir die Begrüßung »Grüß Gott, Herr Professor« einfach nicht über die Lippen rutschen wollte. Den Notengrund nannte er mir nicht explizit, aber es war offensichtlich, dass es an der angeblichen Respektlosigkeit gelegen hatte.

Nach Durchsicht meines Zeugnisses bat mich der Direktor, ein sehr fähiger Deutsch- und Geschichtslehrer und dufter Typ obendrein, zu sich. »Sag mal, du hast hier eine Fünf. Das kann doch gar nicht sein. Du hast doch sonst immer eine Eins in Cello gehabt. Außerdem bist du doch Erster Cellist im Schulorchester. Was ist denn da los?«, fragte er mich sichtlich irritiert. Daraufhin schilderte ich ihm die Sachlage aus meiner Sicht, dem ein Vieraugengespräch zwischen Schulleitung und Cellolehrer samt Klärung folgte. Und siehe da: Auf dem Jahresabschlusszertifikat stand immerhin eine 2, wenn auch eine 1 gerechtfertigt gewesen wäre.

Ich konzentrierte mich also stark auf den Weg der klassischen Instrumentenausbildung, obwohl für mich ursprünglich ein anderer Weg vorgezeichnet gewesen war.

Kapitel 3: Die Sache mit der Kirche

Unser Haushalt war stockkatholisch. Mein beruflicher Werdegang war somit elterlicherseits – eher vonseiten der Großmutter – als kirchlicher Würdenträger vorgezeichnet gewesen. Ich sollte unbedingt Priester werden. Ich sah einem Bruder meiner Mutter, der Priester geworden war, sehr ähnlich. Das genügte als Argument in Verbindung mit der bäuerlichen Tradition, dass in der Familie einer studieren – und dann Arzt oder ein kirchlicher Würdenträger werden soll.

Aber allein die Wahl des Kindergartens wirkte sich denkbar schlecht darauf aus, mein Interesse oder meine Vorliebe für diesen Weg zu forcieren beziehungsweise überhaupt zu entfachen. Die Umstände in dieser Einrichtung unter kirchlicher Trägerschaft konnte man nur mit pervers bezeichnen. Eine der Erzieherinnen, eine Nonne mit verkrüppelter Hand, griff zu der fürchterlichen, drakonischen Disziplinierungsmethode, die Kinder bei angeblichen Vergehen sich ausziehen zu lassen und dann regelrecht zu verdreschen. Es war die Hölle.

Ich besuchte mit mehreren meiner Geschwister den Kindergarten und wir wussten uns nicht anders zu wehren, als uns vormittags spätestens um elf Uhr auf dem Klo zu treffen und nach Hause zu laufen, weil wir es nicht mehr aushielten. Es hatte aber nur eine aufschiebende Wirkung, denn am nächsten Tag mussten wir wieder hin, schließlich hatte meine Mutter mit dem Haushalt genug zu tun. Zweimal kam mein jüngster Bruder sogar mit eingerissenem Ohr nach Hause. Aus heutiger Sicht unvorstellbar. Die Verantwortlichen würden heute zu Recht dafür in den Knast wandern.

Auf der anderen Seite trachtete die Betreuungsanstalt danach, von meinem Talent, schon früh gern und gut zu malen, zu profitieren. Deshalb trugen mir die Tanten, so nannten die Zöglinge die Ordensschwestern hinter vorgehaltener Hand, zur Osterzeit auf, die vierzehn Stationen des Kreuzwegs Christi auf Bildern zu bannen, was ich zur großen Zufriedenheit aller erfüllte. Die Reihe wurde unter Begeisterung aufgehängt – verbunden mit dem Drängen, als begabter Künstler nun auch in die Theatergruppe einzusteigen. Dagegen lehnte ich mich jedoch vehement auf, da es für mich einen Horror bedeutete, auf einer Bühne zu stehen. Die Strafe folgte für den »bösen« Jungen auf dem Fuße, indem man mir zum Osterfest im Kindergarten Eierkohle anstelle von Schokoladeneiern ins traditionelle Nest legte. Eines sei an dieser Stelle noch abschließend angefügt: Mein Kreuzweg wurde noch zwanzig weitere Jahre zum Osterfest ausgestellt.

Mir ist es bis heute ein Rätsel, wie meine Geschwister und ich die schreckliche Zeit in der Zuchtanstalt, anders konnte man es kaum nennen, durchstanden, ohne gravierende Macken davonzutragen. Ich kann es mir nur so erklären, dass wir uns zu Hause als gleichsam betroffene Einheit gegenseitig aufbauend auffingen und uns überdies vertrauensvoll an unsere Mutter wenden konnten. Die verurteilte die Maßnahmen ebenso zutiefst, erklärte sich also solidarisch und verständnisvoll, und beschwerte sich auch bei den Zuständigen. Dort stieß sie jedoch auf taube Ohren.

Vor wenigen Jahren betraten einige meiner Geschwister und ich noch einmal den Gebäudekomplex von damals, und zwar in geduckter Haltung. So sehr hallte die brutale Unterdrückung in uns nach.

Im Alter von elf Jahren hatte ich mich sogar darauf eingelassen, im klerikalen Kreis mitzumachen, allerdings forderte ich, als Gegenleistung zu den Eskimos zu dürfen, wo ich in meiner Kindervorstellung ständig hätte Skilaufen können.

Spätestens mit dem Austritt aus der Kirche samt dem Verlassen des Religionsunterrichts im Alter von 16, womit ich der erste aus unserer Familie war, erledigte sich jegliche Ambition in dieser Richtung endgültig. Bis dahin hatte ich in einem permanenten Spannungsfeld gestanden. Meine Mutter hatte mir von klein auf das Jesus- und Gottesbild der Liebe vermittelt. Für nichts anderes standen für sie die beiden christlichen Glaubensorientierungen und mit dieser Vorstellung war ich in den Religionsunterricht hineingegangen. Zu meiner Verwirrung hatte der mir jedoch einen ausschließlich bösen, strafenden, metzelnden Gott gegenüberstellt.

Weil mir die Ansicht meiner Mutter natürlich vertrauenswürdiger erschien, hatte ich über die Lehrerdarstellung befunden: »Ne, das kann jetzt nicht stimmen.«

Ebenso abschreckend, suspekt und unsinnig wie das in der Schule propagierte Gottesbild war mir die Einrichtung der Beichte vorgekommen, völlig absurd, lächerlich. Konkret: Jedes Kind hatte ein kleines Büchlein, den sogenannten »Beichtspiegel«, besessen. In dem waren sämtliche Sünden aufgelistet, unter anderem solch Unfug wie – so WÖRTLICH – »Ich war unkeusch in Gedanken, Worten und Werken«. Welches Kind sollte solch eine Formulierung verstehen? Auf der anderen Seite war mir beim besten Willen kein Vergehen, kein Verschulden in den Sinn gekommen, dessen ich mich hätte im Beichtstuhl anklagen können. Das war aber mit an Schwachsinn grenzender Selbstverständlichkeit erwartet worden. Zu sagen: »Ich habe nix gemacht« war somit aus dem Rahmen des Möglichen verbannt gewesen. Diesen Spruch hatte ich dann als angeblich reuiger Sünder als mein Vergehen bezeichnet, nach dem Motto »Gleich und gleich gesellt sich gern« beziehungsweise »Sinnlos und sinnlos gesellt sich gern.«

Fraglich war mir darüber hinaus auch eine große Anzahl an Priestern sowohl im Einsatz auf der Kanzel als auch im häuslichen Umfeld erschienen, deren Auftreten während der Predigt und außerhalb der Kirche nicht im Geringsten zusammenpasste. Nach der Devise »Wasser predigen und Wein trinken« soffen, rauchten und fraßen sie, betrieben insgesamt Völlerei und verstießen in dem Sinne gegen die selbst eingeforderte Toleranz, indem der Kirche zuwiderlaufende Bestrebungen wie der Kommunismus rigoros verurteilt wurden und generell rassistische Tendenzen erkennbar waren. Mein Onkel bildete dabei keine Ausnahme. Und gelebte Keuschheit? Na ja, da die Kinder der Haushälterin im Pfarrhaus durchweg dem Hausherrn frappierend ähnlich sahen, nahm man es vermutlich mit diesem ­Gelübde auch nicht so genau. Aber so lange die Gemeindeschäfchen die zweifelhafte Ausübung des Kirchenamtes ehrerbietig abnickten, konnten die Priester ihre Berufsauffassung ja so beibehalten.

Durch das bigotte Treiben war mein Zweifel an der selbst ernannten moralischen Instanz zusätzlich geschürt – und darüber hinaus meine Meinung »Keine Macht den Dogmen!« genährt worden. Alles an der Institution war mir falsch vorgekommen, so, als wolle man den kirchlichen Schäfchen permanent das X für ein U verkaufen.

Nichtsdestotrotz hatte bis zum 14. Lebensjahr mein Glaube daran Bestand, dass »der Himmel aufgegangen – und mich verstoßen« hätte, wenn ich dem sonntäglichen Messebesuch ferngeblieben wäre. Bis ich auf einer Schulskifahrt feststellte, dass ein versäumter Gottesdienst keine negativen Folgen gehabt hatte. Fortan machte ich nicht nur einen Bogen um den Beichtstuhl, sondern gleich um die ganze Kirche. Nach einiger Zeit des widerstrebenden Arrangements mit dem schändlichen System eröffnete ich auch meiner Mutter: »Ich will da nicht mehr hin! Das ist eine Farce! Da stimmt gar nichts!« und nach zweijähriger, zermürbender Auseinandersetzung hatte es dann von ihr sehr widerstrebend geheißen: »Na gut, dann lasse es eben sein.«

Der Ausstieg aus der christlichen Gemeinschaft kam gleichzeitig bis zu einem gewissen Grad dem Verlassen der Familie gleich, die mich als schwarzes Schaf ansah. Denn grundsätzlich herrschte, vor allem bei den älteren Geschwistern, eine tiefe religiöse Überzeugung vor. Die Loslösung, renitent und vehement vertreten, störte mich jedoch nicht. Im Gegenteil, ich empfand die Familie eher als Bremsklotz. Sie nervte mich in meinem Freiheitsdrang und hielt mich nur auf.

Später, ungefähr mit 18 Jahren, gehörte ich zur Gruppe der Atheisten, orientierte mich jedoch mit 28, unzufrieden geworden mit dieser Sicht der Dinge und mithilfe einschlägiger Bücher, spirituell erneut um.

Der Drang nach Unabhängigkeit, Eigenverantwortung und individueller Orientierungssuche bestimmte zunehmend meinen Lebensalltag.

Kapitel 4: Die Sache mit dem Sport

Neben der Vorliebe für Musik interessierte ich mich sehr für die Natur im Allgemeinen und Vögel im Besonderen. Deshalb hatte ich zusammen mit einigen weiteren Schülerinnen und Schülern schon in der vierten Klasse der Grundschule meinen ebenfalls ornithologisch begeisterten Lehrer oft morgens um fünf Uhr in den Wald begleitet, um die Welt des Gezwitschers zu erkunden.

Dieses angenehme Engagement zählte allerdings zu den Ausnahmen im Schulleben. Im Allgemeinen herrschten unhaltbare Verhältnisse im institutionellen Erziehungsbereich der 50er-Jahre. Das verwunderte kaum, wenn man bedenkt, dass der Zweite Weltkrieg vergleichsweise noch nicht so lange vorbei war. Viele erwachsene Menschen befanden sich noch im Zustand der Verrohung. Schläge gehörten zum akzeptierten Alltag. Setzte es zum Beispiel in der Schule vom Lehrer eine Schelle und man berichtete davon zu Hause, dann folgte dort durchaus die nächste Ohrfeige, weil die Meinung vorherrschte, dass die erste Züchtigung wohl seine Berechtigung gehabt hatte und einer nochmaligen Vertiefung bedurfte. In meinem konkreten Fall hieb mir ein Lehrer und (Alt-)Nazi – Personalmangel dominierte allenthalben – in der vierten Klasse wöchentlich mindestens zweimal mit dem Bambusstock auf die Finger. Dabei konnte ich noch von Glück sprechen. Auf dem Rücken eines weiteren Schülers, der aus dem sozial schwächeren Milieu stammte, der hart drauf war und den Lehrer ein Arschloch genannt hatte, schlug der »Pädagoge« den billardstockstabilen Zeigestock fransig. In einem anderen Fall lenkte ein Vertretungslehrer von seiner fehlenden Lust zu unterrichten ab, indem er eine Frage stellte, von der auszugehen war, dass kaum einer der 48 Schüler der Klasse, eine damals übliche Zahl, sie beantworten konnte. »Nenne den Trennfluss zwischen der fränkischen und schwäbischen Jura«, lautete die Aufgabe. Nur mein Tischnachbar, dem ich vorgesagt hatte, und ich wussten die Antwort: Altmühl. Zur Strafe mussten sich die 46 Unwissenden in einer Reihe aufstellen, wurden nacheinander auf die vordere Empore beordert und jeder bekam einen Handstreich ins Gesicht. Als die schlagende Zurechtweisung vorbei war, schellte es.

Dem Bildungssystem mangelte es neben der fehlenden Menschlichkeit auch an der Qualität mancher Inhalte. Bisweilen speisten sie sich aus alten, mystischen Mären. Wie soll ich es sonst auf den Punkt bringen, wenn meine Schwester sich von einer Lehrerin anhören musste: »Ihr müsst die Milch kauen, sonst gibt es Käseklumpen im Magen.«

Die Passion für Vögel band nur einen kleineren Teil meiner Aufmerksamkeit. Eine ungleich größere Leidenschaft hatte ich für den Sport entwickelt, animiert vom ältesten Bruder Michael, der mir auch das Skifahren beigebracht hatte und durch den meine Faszination für das Wasserspringen entfacht worden war. Schon früh fanatischer Brettspringer, war ich mit neun Jahren auf Anreiz von Michael, der mir zur Angstüberwindung 50 Pfennig in Aussicht gestellt hatte, bereits vom Turm gesprungen und hatte im Alter von zehn von dort den ersten Kopfsprung gemacht. Überdies war mir mit elf Jahren erfolgreich der eineinhalbfache Salto – und mit vierzehn der zweieinhalbfache Salto vom Einmeterbrett geglückt.

Mich berauschte es, kontrolliert fliegen zu können, was mich regelmäßig auf die erste Position bei Schülermeisterschaften brachte. Dreimal hintereinander landete der bayerische Jugendmeister hinter mir nur auf dem zweiten Platz. Obwohl ich nur halb so viel trainierte wie mein um ein Vielfaches sportbesessenerer Bruder, belegten wir beide in der jeweiligen Altersklasse ähnliche Positionen … für Michael ein Rätsel.

Die Schwimmdisziplinen riefen in mir nur Langeweile hervor. Nichtsdestotrotz hielt ich die meisten deutlich auf Abstand, wenn es auch nicht reichte, um den Spezialisten wie dem späteren Schlagzeuger in meiner ersten Band, der deutscher Meister in 400 Meter Lagenschwimmen wurde, Paroli bieten zu können.

Meine Sonderbegabung war zusammen mit den damit verbundenen Erfolgen für den ortsansässigen Schwimmverein schrecklich angesichts der Tatsache, dass ich ihm nicht beitrat. Meine Mutter verbot es aus Angst vor der Gefahr des drohenden Leistungssports, der aus anatomischen Gesichtspunkten, das wusste sie von ihrem als Arzt tätigen Vater sowie von ihrem verstorbenen Mann, bedenklich war.

Nebenbei bemerkt: Der Würzburger Schwimmverein »SV Würzburg 05« war der größte seiner Zunft in Deutschland. Er besaß das modernste Wettkampfbad Europas und wurde zum Leistungszentrum erkoren. Auf der anderen Seite sorgte der WSV für einen Skandal, weil der Vorsitzende Wolfgang Adami schwul war.

Nicht nur in den Wasserdisziplinen war ich schulintern den anderen weit voraus, sondern in sämtlichen Sportarten. Bei den Bundesjugendspielen heimste ich in den vier Disziplinen des Hallenturnens, das mir sehr viel Spaß machte, und den verbindlichen vier bis fünf Bereichen der Leichtathletik die Maximalpunktzahl 80 beziehungsweise 100 ein. Im Kugelstoßen stellte ich aufgrund der exzellenten Trainingsanleitung eines Sportlehrers, der seine Doktorarbeit über die motorischen Abläufe verfasst hatte, den Rekord im Kugelstoßen auf. Unter Zuhilfenahme von Fotos der einzelnen Bewegungsstadien hatte sich meine Technik so sehr optimiert, dass es für die Glanzleistung langte. Für mich erschloss sich der Reiz des Fußballs, dem sich so viele hingaben, nicht. Während meine Jugendkumpel dem runden Leder hinterherjagten, übte ich mit meinem Busenfreund Kalli Hoch- oder Weitsprung, Speerwerfen und so weiter.

Das erworbene, technische Vermögen ermöglichte es mir noch Jahre später – inzwischen wegen einer nicht zur Verfügung stehenden Sporthalle völlig außer Praxis, somit ohne Kondition und zu allem Übel auch noch zum Kampfkiffer mutiert – quasi aus dem Stand heraus, die zweitägige Sportlehreraufnahmeprüfung in Würzburg mit Bravour zu bestehen. Ich schaffte es tatsächlich, einer der besten unter den 220 Konkurrenten zu sein. Nicht nur die 6,23 Meter im Weitsprung beeindruckten, sondern auch die Tatsache, beim Kugelstoßen das Gerät über eine bedeutend höhere Distanz zu bugsieren als sämtliche kraftstrotzenden Konkurrenten, die überdies meinten, beim Absolvieren der Disziplin lauthals schreien und stöhnen zu müssen. Beim abschließenden 1000-Meter-Lauf täuschte ich allerdings nach 300 Metern einen Wadenkrampf vor, denn mir war klar: »Das schaffe ich nicht. Das wird nix.« Aber zu diesem Zeitpunkt stand sowieso schon fest, dass die bis dahin erbrachte Leistung der erforderlichen Gesamtnorm genügte.

Die Basis dafür, beruflich in die Fußspuren meines nächstälteren Bruders, der den Weg des Gymnasiallehrers für Sport und katholische Religion einschlug, zu treten, schien gelegt. Dennoch entschied ich mich gegen das Studium in meiner Heimatstadt, weil es mir bei der trost- und illusionslosen Ansicht der Dozenten bei den Ballspielen wie Basketball, Volleyball, etc. schauerte. Ich kam zur Einsicht: »Sport kann ich hier nicht studieren. Das haut nicht hin. Da wird mein Kopf wegtrainiert und in drei Jahren fange ich an, CSU zu wählen.«

Das größte Erziehungsziel seitens meiner Mutter bestand darin, ihre Kinder auf hohem Bildungsniveau Selbstständigkeit lernen zu lassen. Deswegen schlängelte sich der vorgezeichnete Weg in Richtung Hochschule, wobei aber keineswegs starrsinnig darauf beharrt wurde. Mein nächstälterer Bruder Georg bestätigte durch seine Ausnahme die Regel. Von jung auf handwerklich interessiert und begabt, ergriff er später über die Lehre zum Schlosser den Beruf des Werkzeugmachers. Mein Zwillingsbruder wiederum wurde Arzt, genauso wie meine älteste Schwester.

Unter den in jungen Jahren auf mich einprasselnden Schicksalsschlägen, den mich neugierig – aber auch kritisch – machenden Einflüssen setzte sich die Leidenschaft für die Musik letztendlich dauerhaft durch. Und das kam so …

Kapitel 5: Mit Jimi Hendrix auf einem anderen Planeten; »Pozzokko«

Bis zur siebten Klasse bestand mein musikalischer Horizont ausschließlich aus klassischer Musik. Ich kannte halt nichts anderes.

Aber als mir ein Freund, den ich besuchte, »Axis: Bold as Love« von Jimi Hendrix vorspielte, zog es mich in eine andere Bahn. Fasziniert von der experimentellen Musik dachte ich hingerissen: »Jetzt bin ich aber auf einem anderen Planeten!«

Selbst nach zwanzigmaligem Hören blieb mir die Konzeption, die Vorgehensweise der Scheibe verschlossen. Rock und Beat entflammten mich.

Darüber hinaus wurde ich kurz nach diesem »Aha«-Erlebnis auf die Stilrichtung Psychedelic aufmerksam, ein Terrain, auf dem sich die Rolling Stones mit »2000 Light Years From Home« und auch die Beatles bewegten. Das alles interessierte mich brennend mit der Konsequenz, dass ab diesem Zeitpunkt in meinem Leben manches an Bedeutung verlor. So schloss sich für mich vorerst das Buch der Klassik.

Mit 16 fing ich an, autodidaktisch (Rock-)Gitarre zu spielen, indem ich per Gehör im stillen Kämmerlein Titel von angesagten Bands wie den Small Faces (»Lazy Sunday«) nachspielte.

Ein Jahr später begann die Zusammenarbeit mit dem Bassisten Wolfgang Salomon, Spitzname Stift. Anfangs klang alles noch recht einfach, primitiv und unbeholfen. Dennoch gründeten wir eine Band und somit spielte ich im Alter von 18 Jahren – inzwischen durch unermüdliches Üben über sämtliche Gitarrenparts der technisch anspruchsvollen 1967er-Cream-LP »Disreaeli Gears« unter anderem mit »Sunshine Of Your Love« verfügend – bei »Pozzokko«.

Ich im Jahr 1974

Meine Band »Pozzokko«, 1972

Der Bandname fußte im Grunde auf der unleserlichen Handschrift meines Bruders, der bei einem Preisausschreiben teilgenommen – und mit seiner fürchterlichen Schreibhand die Anschrift eingetragen hatte. Wenige Tage danach machte sich ein Brief zurück auf den Weg mit dem Namen Stefan Pozzokko. Der offensichtlich hausunkundige Briefträger vermied es, an der Tür zu schellen, ging treppab in den hinten gelegenen Garten, klopfte an den dort befindlichen Fahrradschuppen und rief: »Wohnt hier Pozzokko!?«Wir lachten uns scheckig, wussten aber sofort: »Das ist der Bandname, ganz klar!« In einem späteren Interview sagten wir aus Spaßgründen auf die Frage nach dem Ursprung des Bandnamens auch schon mal: »Das ist ein Abführmittel.«

Die Besetzung von »Pozzokko« bestand aus einem Bassisten, einem Schlagzeuger und aus mir, dem Gitarristen. Durch die klassische Musik war ich darin geschult, dass nur durch kontinuierlichen Fleiß am Instrument Erfolge erzielt werden konnten. Das bedeutete: Tonleitern, Chords, Umkehrungen bis zur Erschöpfung. Im Vergleich zu Cream war das Repertoire von Jimi Hendrix noch schwieriger. Nichtsdestotrotz ließ ich nicht locker und tatsächlich konnte ich die zweite LP »Experience« auswendig. Neben dem Sound formte mich die Fingerhebeltechnik des Gitarrengotts.

Ohne Proberaum und versorgt mit null Ahnung geriet der Start von »Pozzokko« äußerst holprig, bis uns das Glück in Form eines CVJM-Heims beidrehte. Dort hatte man den Bau eines Studios in Angriff genommen, aber kurz vor der Fertigstellung waren die Tätigkeiten abgebrochen worden. Der so entstandene große, schalldichte Übungsraum – locker 30 bis 35 Quadratmeter umfassend, den die Bandmitglieder aus Gründen der besseren Akustik zusätzlich innen mit Eierkartons verkleideten – stand »Pozzokko« zur freien Verfügung. Außerdem gab es noch einen angrenzenden Regieraum, wenn auch leer, Fenster nach draußen und – der pure Luxus – eine Toilette mit Dusche. Als Gegenleistung für die kostenlose Nutzung mussten meine Kollegen und ich lediglich zweimal jährlich im CVJM-Heim ein Konzert geben. Etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren.

Wochenlang verbrachte die Band jede mögliche Minute im Proberaum und übte eifrig. Wir versuchten von Anfang an – das war Ende der 60er/ Anfang der 70er-Jahre – eigene Stücke zu spielen. Natürlich mussten wir auch andere Songs nachspielen, damit wir zum Tanz, wie zum Beispiel auf einem Feuerwehrball, aufspielen konnten. »Pozzokko« versuchte allerdings hauptsächlich, ihr individuelles Ding durchzuziehen und ihren eigenen Weg zu finden. Deshalb war der Band nach zwei Jahren klar, dass sich an der Auftrittskonzeption zu den traditionellen Festen etwas ändern musste, denn regelmäßig drifteten die Cover­versionen angesagter Stimmungssongs in das Rockgenre ab. Des Rätsels Lösung fand sich darin, zusätzlich zu solchen Gigs ein Duo, bestehend aus Schlagzeug und Quetschkommode, mitzunehmen. Arbeitsteilig bediente »Pozzokko« dann das junge Publikum, während sich die anderen beiden den Wünschen des älteren Anteils annahmen. Das funktionierte.

Irgendwie passend zu den veränderten Umständen hatte ich kurz nach der intensiv-aktiven Sportlaufbahn begonnen, zu rauchen. Mit 18 Lenzen war ich zum Genuss von Hanfkraut übergegangen, was im »Pozzokko«-Milieu fast schon zum guten Ton gehörte. Der Umgang mit Haschisch war damals noch bedenkenlos möglich, sodass man sich auf dem Marktplatz direkt neben einem Polizisten einen Joint drehen konnte, weil der Gesetzesvertreter in völliger Unkenntnis darüber war, was es mit dem süßlich riechenden Glimmstängel auf sich hatte. Blöderweise wich die Ahnungslosigkeit schnell, was mich aber nicht davon abhielt, weiterzukiffen.

Der erste Bandwechsel bei »Pozzokko« vollzog sich sehr zu meiner Freude an den Drums, da der Nachfolger dermaßen gut das Instrument beherrschte, dass mir ursprünglich der Mut gefehlt hatte, ihn anzufragen, ob er Lust hätte, bei uns einzusteigen. Der Neue brachte mir das Schlagzeugspiel bei und sorgte für eine große Qualitätssteigerung und Professionalisierung der gesamten Band.