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Da hilft nur noch Beten E-Book

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Beschreibung

Jessica Criens schwebt auf Wolken. In einer Woche wird sie berühmt sein, denn dann wird sie als Schauspielerin in ihrem ersten Fernsehspiel groß herauskommen. Gerade hat sie alle Programmzeitschriften gekauft und immer wieder ihren Namen in der Besetzungsliste gelesen und ihr Foto angestarrt. Das muß gefeiert werden. Sie sieht einen hinreißenden Rock im Schaufenster einer Boutique. Den muß sie haben. Sie stellt den Kinderwagen mit ihrer kleinen Tochter Yemayá vor dem Laden ab. Als sie nach fünf Minuten wieder herauskommt und in den Kinderwagen sieht, traut sie ihren Augen nicht: Yemayá ist verschwunden! Jessica steht vor dem Zusammenbruch. Und das Schlimmste ist: Sie darf unter keinen Umständen die Polizei alarmieren ...

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Über –ky

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Die Hauptpersonen1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel

Die Hauptpersonen

Jessica Criens

träumt von einer Weltkarriere und wacht in einem Alptraum auf.

 

 

Yemayá

verschwindet.

 

 

Grobelny

taucht an der falschen Stelle auf.

 

 

Carsten Corzelius

ist den Härten des Reporterberufs nicht immer gewachsen.

 

 

Hauptkommissar Mannhardt

freut sich auf einen ruhigen Dozentenjob und nicht auf die Jagd nach einem unbekannten Entführer.

 

 

Prof. Friedrich-Wilhelm Wuthenow

ist ein Mann der Öffentlichkeit in der DDR mit einem sehr privaten Geheimnis.

 

 

 

 

Frau Wuthenow

ist für die Karriere ihres Mannes wichtiger als alles andere – und damit eine ständige Bedrohung.

 

 

Tatjana

braucht immer Geld und nützt jede Gelegenheit.

 

 

Carlo

versucht sich als Erpresser.

 

 

Torro

 – nomen est omen.

 

 

Vera

hat ein Herz für Kinder.

1.

Jessica saß mit ihrer kleinen Tochter im Arm auf einem Lehnstuhl am Fenster, und die Berliner Morgensonne, gerade in der engen Röhre ihres Hinterhofes vollends zum Vorschein gekommen, erschien ihr wie ein riesengroßer Scheinwerfer hoch über einer kleinen Bühne. Yemayá, mit ihren knapp fünf Monaten erst vor kurzem abgestillt, war von ihrem Fläschchen anfangs wenig angetan, suchte noch immer die viel besseren Brustwarzen hinter der schwarzen Seidenbluse ihrer Mutter, begann nun aber doch am aufgesetzten Noppennuckel zu zuppeln. Jessica, schon ein wenig in Panik, war schnell wieder beruhigt, summte und sang, als sie ihre Tochter dafür gelobt hatte, von deren Namen und der ganzen Stimmung angeregt, die berühmtesten Verse des großen Kubaners José Marti.

«Con los pobres de la tierra quiero yo mi suerte echar, el arroyo de la sierra me complace más que el mar. Guantanamera …» Sie übersetzte es mit ihrer rauchig-erotischen Stimme, geschult an der Streisand, der Greco und mehr noch der Liza Minnelli, mit der sie alsbald die Welt erobern wollte.

Die beiden Männer im hinteren Teil des Raumes, erheblich älter als sie, der eine mehr als fünfzehn, der andere an die dreißig Jahre, schwiegen seltsam angerührt, beinahe ergriffen, für diese eine Minute voll versöhnt mit einem Hier und Heute, das sie ansonsten eher sinnentleert und grausam fanden.

«… guajira Guantanamera. Yo soy un hombre sincero …»

Die alten Götter der Santeria hatten sich versammelt, sie alle kräftig zu verzaubern. Chango, Gott der Musik (aber auch des Krieges); Ochún, die Göttin der Flüsse, der Liebe und des Goldes; waren von Kuba hergeweht in diese ländlich-schlichte Wohnung am Wilmersdorfer Ludwigkirchplatz, Kudammnähe, wo Jessica Criens ihr Leben inszenierte, als wär’s ein Film von Buñuel.

«Und bevor ich sterbe, möchte ich die Verse meines Herzens …» Sie schluckte. «… y antes de morir me quiero echar mis versos del alma …»

«Antes!» lachte Corzelius, meinte Wolfgang Antes, den Berlin-Charlottenburger Ex-Stadtrat, steile CDU-Karriere, kriminell geworden und gerichtet, Kürzel für Berliner Sumpf und Filz und Bauskandal.

Diese Assoziation, aber auch das nun stressig schrillende Telefon rissen Mannhardt und Corzelius, Jessica und das Baby schmerzhaft in die sommerkühle, rauhe Wirklichkeit zurück. Yemayá schrie, Jessica fluchte, und die beiden Männer stritten sich, wer denn nun aufstehen und abheben sollte.

«Geh du mal bitte», sagte Corzelius. «Du sitzt näher dran am Apparat.»

Mannhardt wehrte sich. «Ich bin doch nur zu Besuch bei euch.»

Corzelius schlug mit der flachen Hand auf das Brammer Tageblatt, das er sich noch Tag für Tag nachschicken ließ («… und wenn’s auch nur zum Arschabwischen ist!»), und jammerte, er sei so fürchterlich schlecht drauf heute. «Soll ich etwa selber sagen, daß ich nicht da bin …!?»

«Also gut …» Mannhardt stand auf, stöhnte über sein Arthrosis-Knie und seinen Rücken. «Mann, ist der steif …!»

«Sei doch froh, daß wenigstens noch etwas steif wird bei dir!» höhnte Corzelius.

Mannhardt riß den Hörer hoch, meldete sich mit seinem eigenen Namen, verzichtete auf das nachgeschobene «bei …».

Zuerst war nichts anderes zu hören als ein galaktisches Rauschen und Knistern, dann ertönte eine fast schon synthetische Stimme: «Der Wagen steht bei Ihnen vor dem Haus. Vordere Tür offen. Schlüssel unter der Fußmatte. Beeilung bitte. Ende!»

«Danke!» Mannhardt legte auf. «Mein Herr Sohn hat mir seine Taxe gebracht.»

Corzelius sah ihn gähnend an. «Meinst du wirklich, daß das nötig ist? Ich halt’s eher für’n bißchen Kasperletheater.»

«Die ganze Welt ist ein Kasperletheater …»

«Bitte: spiel den Taxifahrer!»

«Ja, mach ich auch! Ich will nämlich nicht, daß mich meine alten Kripo-Kollegen mit unserm lieben Grobi sehen – und erst recht nicht die Leute, über die er mir was stecken will. Ich als Taxifahrer und er als Fahrgast: da fällt keinem was auf.»

Corzelius grinste breit wie Didi Hallervorden. «Mensch, vielleicht wirste dabei überfallen!»

«Wenn ich dich sehe, überfällt mich schon immer was: Mordlust nämlich!»

Corzelius stand auf. «Na, sei mal da vorsichtig; bei deiner Biographie …! Aber, wie auch immer: Kannst du mich ja gleich mal zum Krematorium mitnehmen …»

«Ja, gerne. Aber wie kommste vorher in die Urne rein?»

«O Gott, das Schlimmste in Berlin sind wirklich seine Witzbolde. Pfitzmann, Gruner – zum Heulen. Und jetzt machst du auch noch auf Profi, Mann …!»

«Immerhin haben wir den Grunerwald hier …»

«Nein, nein!» Corzelius schlug mit der Stirn, wie ein entfesselter Specht, mehrmals gegen die hölzerne Tür. «Herr, laß das bitte nicht wahr sein! Und mach mein Auto ganz schnell wieder ganz, damit ich selber fahren kann!»

«Komm jetzt, sonst klaun sie mir die Taxe noch.»

«Ja, und fahrn damit zum Klo!» Ein Aufschrei. «Mama, ich bin angesteckt …!»

Sie riefen Jessica, die mit dem Baby längst ins Bad gegangen war, schnell noch hinterher, daß sie wegmüßten, sie wüßte schon, dann verließen sie die Wohnung.

Mannhardt fand die Taxe wie beschrieben, und sie setzten sich hinein. Als sie losfuhren, griff er nach rechts hinüber, um die Uhr einzuschalten.

Corzelius lachte. «Willst du mir etwa Geld dafür abknöpfen?»

«Na, sicher! Beim Geld hört schließlich alles auf, und mein Sohn is’n armer Student, du hingegen bist ’n reicher Journalist.»

«Höchstens reich an Erfahrung. Ansonsten: arm am Beutel, krank am Herzen.»

«Besser als umgekehrt.»

«Konzentrier dich lieber auf ’n Verkehr?»

«Ja, gerne, aber wozu …?»

«Bald bist du ja wieder mit Lilo vereint.»

«Du weißt ja, wie das so ist mit der Wiedervereinigung …»

Sie schwiegen bedeutungsschwer vor sich hin, bis Corzelius sagte, ihm schmecke Berlin und rege ihn an wie ein großes Glas Champagner, und Mannhardt erwiderte, für ihn sei es, als müßte er einen Becher seiner eigenen Pisse austrinken; seine einzige Hoffnung sei seine neue Stelle in Bramme.

«Hätteste man schon hinfahren sollen», meinte Corzelius, ganz hingerissen von den hiesigen Frauen und Mädchen; in Bramme dagegen alles nur biedere Bäuerinnen. «Schnapsidee von dir, das mit der organisierten Kriminalität hier in Berlin.»

«Wie steh ich denn da als Lehrbeauftragter – ohne jede eigene Veröffentlichung? Ich brauch wenigstens ’n kleinen Aufsatz in der Kriminalistik …» Er hupte, überholte, reihte sich bei den Linksabbiegern ein. «Und Grobi, so wie der da eingebunden ist, der kann mir ganz sicher … Schließlich hätt ich ihn damals auch abknallen können, Notwehr, Eigensicherung, anstatt ihm lediglich in seine sehr geehrte Wade …»

Corzelius wußte, daß hier am Tiergarten der Autostrich war, und hielt mit verdrehtem Kopf Ausschau nach lustbringenden Bildern, Lederröcken im Lendenschurz-Look, entdeckte aber nichts. «Sag mal, warum heißt denn der Typ eigentlich ‹Grobi› …?»

«Keine Ahnung. Vielleicht, weil er bei unserer geliebten Beton-Mafia hier der Mann fürs Grobe ist oder weil er bürgerlich Grobelny heißt … Da: Großer Stern, Ost-West-Achse, Brandenburger Tor, Rotes Rathaus, Ost-Berliner Fernsehturm drüben …! Hauptsächlich aber Grobi, weil er wie der Grobi aus der ‹Sesamstraße› aussieht, das Krümelmonster: spillrig und immer furchtbar hippelig, mit blauen Sachen an, so flauschigen Jacken und so, und ganz verrückt nach Keksen.»

Als sie am Schloß Bellevue vor einer Ampel halten mußten, zeigte er Corzelius einen Ausschnitt aus der BZ («… Springer, offiziöses Organ der Diepgen-Regierung …»), auf dem man Grobi, fein in Schale, im Kreise vieler Stadtprominenter bei der Eröffnung eines wissenschaftlichen Instituts erblicken konnte.

«Ah, ja», sagte Corzelius. «Wieder so ’n überflüssiger Stall, um der FU das Wasser abzugraben. Ausrangierte linientreue Professoren, die mit aufgesetztem Einstein-Charisma Texte verlesen, die ihre Assistenten am Morgen zuvor aus Zeit und FAZ abgeschrieben haben.»

«… eine Stadt, die sich gewaschen hat … Sehnse, das ist Berlin!» sang Mannhardt dazu.

«Wie und wo trefft ihr euch denn, Grob und du?»

«Halb elf Kudamm/Ecke Joachim-Friedrich-Straße. Da steht er und winkt ’ne Taxe herbei.»

Corzelius, der westberlinische Entfernungen noch kaum einprogrammiert hatte, blickte auf die Uhr. «Schaffste das denn noch?»

«Dicke, ja.»

Sie rollten durch etliche Moabiter Straßen, eine immer häßlicher als die andere, doch Corzelius konnte nicht anders, als dies alles, Gründerzeit verrottet, herrlich zu finden. «Dieser Hauch von New York, Mann! Nicht mehr dieses Kuhdorf von Bramme!»

Mannhardt sah die Sache völlig anders. «Endlich hin nach Bramme! Immer nur diesen New Yorker Pißgestank hier.»

«Ja, ja …» höhnte Corzelius. «Das Glück wohnt immer am anderen Ufer!»

Sie redeten noch ein paar Minuten intensiv über Bramme, wo Corzelius lange Jahre dem Tageblatt angehört und gedient hatte und wohin Mannhardt nach ganz bestimmten dienstlichen Vorkommnissen (er hatte seinen maliziösen Vorgesetzten mit einem Stein erschlagen wollen) zur psychiatrischen Behandlung verbracht worden war. Unfähig noch immer zum Einsatz an der kriminellen Heimatfront, war er für zwei Jahre als «Lehrbeauftragter auf Zeit» zur Hochschule für Öffentliche Verwaltung (HÖV) nach Bramme abkommandiert worden, wie das Leben so spielte, weilte nur noch in Berlin, um seinen Umzug in die Wege zu leiten.

Mannhardt bremste. «Da ist dein Krematorium … Paß schön auf, daß de nicht selber …!«

«Paß du lieber auf, wenn du mit Grobi Arm in Arm …!»

«Geh mit Gott, dann gehste mit keinem Spitzbuben!» Mannhardt ließ seinen Freund und Genossen aussteigen. «Vierzehnneunzig!»

«Fünfzehn bitte!» Corzelius warf drei Fünfmarkstücke auf den Beifahrersitz, schmetterte die Tür von außen zu und tippte sich gegen die Stirn, als Mannhardt mit einer Art Monza-Start davonschoß.

Corzelius sah sich um. Da war der gewaltige Neubau des Krematoriums, und unwillkürlich hatte er Mannhardts nestbeschmutzlerische Stimme im Ohr: Nach Berlin des Sterbens wegen! Berlin tut gut – und auf unseren wunderschön gepflegten Friedhöfen ist immer noch ein Plätzchen für Sie frei! Modernste Krematorien warten auf Sie!

Dieser Mannhardt! Kopfschüttelnd sah er ihm und seiner ausgeliehenen Taxe hinterher, hörte ihn schon wieder, wie er mit zugehaltener Nase die großen Ernst-Reuter-Worte variierte: Ihr Völker der Welt, ault auf diese Stadt!

Nee, wissense, nee!

Er riß sich los, ging zum Krematorium hinüber. Aus dem über dreißig Meter hohen Schornstein stieg dünner Rauch in den märkischen Himmel, und Wim Wenders hätte seine Freude dran gehabt. Weniger allerdings an der lange diskutierten Frage, ob man die bei der Leichenverbrennung gewonnene Wärme nun ins öffentliche Fernheizungsnetz einspeisen solle oder nicht. Heute gibt’s kein warmes Essen bei uns, heute ist unser Opa eingeäschert worden. So die Pietätvollen.

Unmengen an Beton waren hier verbaut worden, und am Sterben und der «Totgutbeseitigung» hatten die beteiligten Firmen sicherlich eine Menge verdient. Zuviel? Und einige Politiker und Beamte mit ihnen? Das war’s, was er ergründen wollte. Eine schöne Story für seinen Einstand in Berlin.

Wer sich die Welt mit einem Donnerschlag erobern will, dachte er mit einer alten Ralf-Benatzky-Zeile, darf nicht warten, bis ein anderer vor ihm blitzt …

Er hatte Hemmungen, die Stufen zur Trauerhalle hinaufzusteigen. Wie die Pinguine auf einem terrassenförmigen Felsen, so standen sie da, Trauergäste scharenweise, offenbar ein hohes Tier gestorben, warteten auf den Beginn der Feier. Endlich erklangen die Glocken, und sie zogen, Zeitlupe alles, schweigend in die Halle, nicht aber ohne jedes Geschubse. Bis einer der städtischen Diener die Flügeltüren hinter ihnen verschloß.

Corzelius ging nun gemessenen Schrittes hinauf, angezogen von der einsetzenden Orgelmusik, fragte sich, wo und wie denn seine Stunde schlagen würde. Hier in Berlin? Nach Berlin des Sterbens wegen … Und wie viele Freunde kämen dann wohl eingeflogen, waren bereit, Ex-Frau und Tochter zu trösten und ihm Gutes nachzusagen. Memento mori, jaja … Seine Mutter fiel ihm ein, deren Hobby es nachgerade war, an Trauerfeiern teilzunehmen, mochten die teueren Toten ihr noch so ferngestanden haben. Hinterher fühle sie sich immer toll; einen anderen hatte es ja diesmal erwischt.

Drinnen begann der Pfarrer mit der Standardpredigt, und Corzelius drückte sein rechtes Ohr gegen die Tür.

«… und wir sind traurig, Herr, denn wir müssen für immer Abschied nehmen von einem Menschen, der uns so vertraut war wie niemand sonst. Mit seinem Tod geben wir auch einen Teil von uns selbst dahin. Und dennoch wollen wir …»

Eine schwere Hand legte sich auf seine Schultern. «Herr Corzelius …?»

Sein Herzschlag setzte aus, a faint cold fear thrills through his veins.

Der Tod!

Kindlich-archaische Angst erfüllte ihn, nicht länger als der Schmerz, wenn ihm die Spritze des Arztes tief ins Zahnfleisch fuhr, ihn aber derart packend, daß er anschließend glaubte, Bart und Haar müßten sich weiß, schlohweiß gefärbt haben.

Alles Quatsch, natürlich! Er fuhr herum, riß sich in die Wirklichkeit zurück, dachte automatisch an Politik und Staatsschutz und dergleichen, begriff dann aber doch, daß der Mann hinter ihm kein anderer sein konnte als der Bauamts-Oberbeamte, der ihm hier als Führer dienen sollte, Dubinski mit Namen, war es auch, als er sich nun vorstellte, obwohl, so schien es Corzelius, ein wenig zu chic für diesen Job. Aber warum sollten Staatsbedienstete nicht auch mal wie Dressmen aussehen?

Sie stiegen acht Meter unter die Erde hinab, wo zwei der alten Öfen brannten, und C.C., Carsten Corzelius, hatte derart weiche Knie, daß er mehr stolperte als lief.

«Wir haben jetzt eine so hohe Kapazität hier unten, daß wir in Berlin nicht nur mit unserer Überalterung fertig werden können, sondern auch in der Lage sind, für eine Art Sterbe-Tourismus Werbung zu betreiben …» Dubinski lachte, und Corzelius, Mannhardts gleichlautende Kommentare im Ohr, fragte sich, ob denn der Reiz Berlins nicht vor allem in seiner Dekadenz und seiner versteckten Nekrophilie begründet lag. «Berlin als großes bundesdeutsches Altersheim. Friedhofsruhe überall statt Kreuzberger Krawalle. Umdenken tut not! Das schreiben Sie aber bitte nicht!»

«Nein, nein!» Corzelius war viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, als daß er sich Dubinskis Sätze notiert hätte, denn gerade öffnete der Schichtführer eine Ofenklappe und gab den Blick ins Innere frei. In der sonnengleich lodernden Glut konnte er die Umrisse eines Sarges und eines darin liegenden Leichnams erkennen. Vom Skelett löste sich ein Bein.

Er würgte Schleim hervor, Kaffee und Frühstücksreste, schluckte alles wieder hinunter, taumelte weiter, von Dubinski mit der Bemerkung erfreut, daß man es als Softie im Leben halt immer etwas schwerer hätte und ob er nicht auf Macho umsteigen wolle.

«Die Gebühr für eine Verbrennung beträgt derzeit D-Mark dreihundertzwanzig», hörte er den Bauamtsmenschen wie aus weiter Ferne dozieren, Wattepfropfen im Ohr, als Dubinski ihm den hydraulischen Aufzug zeigte und erklärte, wie der die Särge zur anstehenden Trauerfeier schnell nach «oben pumpte» und – bei Feuerbestattungen – auch wieder zurück. Das war in einem Gewölbe, fünf Meter unter der Trauerhalle, wo sieben gestandene Männer bei fröhlicher Butterfahrten-Musik gerade ihren Preisskat droschen und literweise Billigst-Rotwein soffen. Weiter!

Sie kamen schließlich in den Kühlraum, wo, so Dubinski, im Augenblick an die vierhundert Särge auf ihre Einäscherung warteten.

Gerade rollten auf einem leisen Gummiwägelchen vier grauschwarz gewandete Fahrer einer stadtbekannten Bestattungsfirma einen fast pompösen Sarg herein, hielten an und hoben ihn schimpfend herunter, ließen ihn zu Boden krachen und gingen wieder hinaus.

«Na?» fragte Dubinski. «Haben Sie Mut?»

«Wozu?»

«Mal einen der Särge hier aufzumachen …?»

Corzelius mußte wieder mehrmals schlucken. «… den weißen hier …»

«Das ist ’n Kindersarg, den nicht! Den pompösen hier aus Eiche. Wen habt ’n ihr da drin?» Dubinski wandte sich an einen gerade vorbeischlendernden Mann.

«Wen wir da im Sarg drin haben …?» wiederholte der bulldoggesichtige Mann. «…’ne Erdbestattung. Warten Sie, ich hab ’ne Liste hier … Ah, ja, Chantal isses, kennse die nich? Eine unserer schönsten Edelnutten hier …»

«Muß ich sehen! Kommen Sie!» Dubinski zog ihn mit, und Corzelius hatte keine andere Wahl, obwohl er fürchtete, nach dem zu erwartenden Anblick für immer psychisch impotent zu werden.

Dubinski schraubte den Sargdeckel los und hob ihn dann ruckartig hoch.

«Nein!»

Ein Schrei, und Dubinski, eben noch der Prototyp des harten Mannes, prallte zurück.

Im Sarg lag nicht nur die schöne Chantal im Leichenhemd, sondern auch, voll bekleidet, unter anderem mit einer flauschigblauen Jacke, ein kleiner dünner Mann, in dem Corzelius alsbald keinen anderen als Grobi/Grobelny erkannte.

2.

Als Jessica vor dem Zeitungskiosk stand, schlug ihr Herz so hart und schnell, daß sie sich über diese alberne Reaktion ihres Körpers furchtbar zu ärgern begann. Sie preßte ihre rechte Hand auf die pulsende Stelle, rieb und massierte den ganzen Bereich, bis ihr so recht bewußt wurde, mit welchen Blicken die vorüberziehenden Männer sie streiften. Einerseits genoß sie es, wenn die Leute sie anstarrten, andererseits fand sie Peep-Shows und jede Art von weiblichem Exhibitionismus an sich zum Kotzen, war weiß Gott nicht scharf darauf, hier wie eine Nutte zu stehen, zumal Yemayá neben ihr im Wagen lag und aus purer Lust am Leben leise gluckste.

«Bitte …?» Auch die dicke Zeitungsfrau im Innern der hölzernen Bude schien etwas irritiert.

Jessica zögerte noch immer, und plötzlich war es ihr, als würde sie einen großen Einkaufswagen mit Kondomen vollgeladen durch die drospa schieben müssen. Eine hysterische Zicke schalt sie sich, wußte aber sehr genau, daß ihre heftige Verlegenheit schon ihre guten Gründe hatte, denn ein erhebliches Stückchen Prostitution war das Ganze allemal, allein der vielen Bettszenen wegen, wenn sie Millionen Männer zu Hause besuchte und nichts dagegen unternehmen konnte, wenn sie mit ihrem Körper machten, was sie wollten.

Wie in einem Asthmaanfall rang sie nach Luft, und die Zeitungsfrau, ansonsten ungemein apathisch, betäubt von Druckerschwärze wie ihrem eigenen Mief, fragte, ob ihr wohl schlecht geworden und die Feuerwehr zu rufen sei.

«Nein, nein, nur das schwüle Wetter plötzlich …! Ich überlege gerade mal, was ich …»

Jessica überflog die ausgelegten Boulevardzeitungen und fand für einen Augenblick Ablenkung in deren Überschriften: Totes Liebesmädchen mit letztem Freund in einem Sarg – Sie: AIDS! Er: Kopfschuß! So Bild und BZ fast gleichlautend.

Sie las, daß ein gewisser Bernhard Grobelny, 35, Geschäftsführer einer etwas zwielichtigen Nobel-Bar in der Westfälischen Straße in Halensee und von seinen Freunden «Grobi» genannt, offenbar liquidiert worden war. Klopft die Mafia nun auch an unsere Tür? Da sie den Spitznamen des Mannes ebenso in Anführungszeichen gesetzt hatten wie im Artikel nebenan die «DDR», mußte sie automatisch an Corzelius denken. Es wäre an sich seine Geschichte gewesen, doch er hatte sich allzuleicht von den alten Platzhirschen wegbeißen lassen, war heute, trotzig wie ein Kind und ziemlich larmoyant, mit seiner Wandergruppe in die DDR gezogen, anstatt hier vor Ort zu kämpfen.

Sie gab sich einen Ruck.

«Alle Programmzeitschriften der nächsten Woche … bitte!»

Endlich war es heraus. Sie hatte der Zeitungsfrau nicht ins Gesicht sehen, dessen Farbe nicht ertragen können, wie ausgekotzter Labskaus, war beim Sprechen mit dem Kopf nach unten getaucht, weit in den Kinderwagen hinein, hatte Yemayás rosa Deckchen geglättet.

«Was denn: alle …!?»

«Alle, ja …»

Gleich würde die fette Wachtel die Tür ihres stinkigen Kabuffs aufreißen, auf sie einstürmen, sie umarmen. Frau Criens, toll, Sie sind ja da wirklich überall drin! Nein, daß ich auf meine alten Tage noch eine so prominente Kundin habe! Hier, hier hab ich ’n Foto von Ihnen, wenn Sie mir da bitte mal ein Autogramm …?

Sollte sie das alles genießen, sollte sie es fürchten, was da auf sie zukam? War sie schon über alle Maßen neurotisch oder nur insoweit, wie es der Karriere diente?

Yemayá hustete kurz und trocken, ohne aber davon richtig wach zu werden, und Jessica erschrak, dachte sofort an den Kruppschen Husten und das ganze Elend und den Notarzt, mit Blaulicht ab ins Krankenhaus, verdrängte aber alles schnell. So schlimm wurde es ganz sicher nicht.

Es schmerzte sie, daß ihre Zeitungsfrau mit keinem Wort auf sie und ihren großen Film zu sprechen kam, und gleichzeitig ließ es sie aufatmen. Sie war nicht in der Lage, es in Worte zu fassen, aber sie fühlte es, daß man nackt und bloß dastand und sehr verletzlich wurde, wenn man zu den Prominenten zählte.

Sie bekam alles – Gong, HÖR ZU, BILD + FUNK, Fernsehwoche, FUNKUHR, TV HÖREN und SEHEN und anderes mehr – auf die ausgelegten Stapel von BILD, BZ und Berliner Morgenpost geworfen und hatte mehr als zehn Mark zu zahlen, verstaute das ganze bunt bedruckte Papier in das kleine Körbchen zwischen den hohen Rädern ihres Kinderwagens und suchte im selben Augenblick auch schon nach einer Gelegenheit zum Sitzen und Lesen. Schnell gehen mußte das, war wie eine aufgestaute orgiastische Lust, ein Brennen, ein Fiebern, ein Schmerz, ein absolutes Muß. Jetzt gleich, keine Sekunde mehr warten!

Sie eilte über den Platz, den Breitscheidplatz hinweg, am braunen Marmorbrunnen, dem «Wasserklops» vorbei, fand am Fuße der Gedächtniskirche auf einer der runden Edelholzbänke schließlich einen freien Platz, sank nieder und riß die Zeitschriften unter dem Kinderwagen hervor.

Ihre erste große Fernsehrolle.

Jessica Criens – eine Weltkarriere begann in Berlin.

Wo war ihr Fernsehspiel, wo sie?

Im Fieber fetzte sie die Seiten auseinander, sah sich, glaubte es nicht.

Träume, Halluzinationen. Alles so unmöglich wie ein zweiter Erdenmond, urplötzlich am Himmel, oder daß der Boulevard, der Kudamm, der sich zu ihrer Rechten nach Halensee hin öffnete, mit dem nächsten Wimpernschlag wieder jener karge Reitweg war, der er einst gewesen.

Gleichzeitig aber las sie etwas über sich, die Zeile … eines Tages aber kommt Ruth (Jessica Criens) nicht um die Erkenntnis herum, daß sich ihr Mann zu seinem Kollegen Robert viel mehr hingezogen fühlt als zu ihr, sah sie, entdeckte sie ihr eigenes Gesicht, versank darin. Gretchen oder Voodoo-Tänzerin? Intellektuell oder naiv? Kalt berechnend oder ganz gefühlsbetont? Oval, fast kreolischscharf geschnitten, Martinique/Guadeloupe, oder breit und flächig, deutsche Bäuerin?

Alles in einem. Welch Kapital!

Ruth Ubbelohde …         Jessica Criens

Ganz oben stand das, und immer wieder hakte sie sich fest daran, saugte es in sich hinein wie Yemayá den süßen Brei aus ihrem Fläschchen.

«Da sieh mal, Süße, das ist die Mami!» Sie hielt dem Kind ihr Foto hin und war völlig high, als Yemayá daraufhin jauchzte und lachte.

Freude, schöner Götterfunken … Verweile doch, du bist so schön … Aus den Wolken muß es fallen,/Aus der Götter Schoß, das Glück …

Sie hatte nun alles, was sie sich je vom Leben erträumt hatte: ihr Baby und den Erfolg.

Sie hatte vollkommen vergessen, wo sie da saß und sich an sich selbst berauschte, brauchte viele Sekunden, um wieder wach zu werden und zu checken, daß es an der Ecke Tauentzien und Kudamm war, mitten in Berlin. Viel Volk war um sie herum, saß da wie sie oder eilte, wimmelte. Jugendliche, herumlungernd, sicher ohne Arbeit. Rentner, amerikanisch aufgemotzt die westlichen, braun-grau die östlichen, Plaste und Elaste aus Schkopau. Wessies, wieselnd, aufgekratzt, gestern noch in Oberkotzau, heute in der Weltstadt hier, wie vom billigsten Rotwein besoffen. Flanierende Studenten, von ihren friedhofsöden Paukanstalten abgestoßen, heimatlos zwischen coolen CDU-Cäsaren und Kreuzberger Krawallos. Viel frech-gestylte Mädchen und Macker, videodoof, selbstbewußt wie Boris und Steffi, auf alle Fälle die Größten. Rechtsanwälte, Apotheker, Architekten, Ärzte, Unternehmer, vom Schicksal auserwählt, sechsstellig zu verdienen. Hausfrauen en masse, hastend auf der Jagd nach Sonderangeboten. Dazu noch Polizisten, Penner, Alkoholiker. Allesamt ihr Publikum. Nächste Woche Mittwoch würden alle vor der Glotze sitzen und von ihr begeistert sein. Standing ovations für Jessica Criens!

Der Mann dicht neben ihr, von ihr bislang kaum wahrgenommen, stand nun auf und blickte in den Kinderwagen. «Wie süß! Wie heißt die Kleine denn …?»

«Yemayá …» Wie ein Reflex war diese Antwort gekommen, und Jessica bemerkte erst jetzt, daß der Mann ein echter Widerling war: fett und teigig, aufgedunsen, mit viel zu dicker dunkler Hornbrille und offenbar Perücke, exakt gestutzten Haaren jedenfalls und der Farbe einer abgelegten Nerzstola.

Sie sprang auf, von ungewissen Alarmsignalen getrieben – Laß dich von keinem ansprechen! Geh mit keinem mit! – und schob den Kinderwagen an der Gedächtniskirche vorbei.

Los, nach Hause, sonst flippst du völlig aus!

Ein Uhr auch schon. Yemayá würde bald zu quaken anfangen; frische Windeln waren fällig. Das Mittagessen …! Keine Panik, sie war ja allein, da reichte eine schnell aufgewärmte Leberknödelsuppe mit einer trockenen Stulle dazu. Um 15.30 Uhr der Kinderarzt. Sicher ist sicher. Hatte Yemayá vorhin wirklich ein wenig Blut im Stuhl gehabt – oder hatte sie sich das nur eingebildet? Hysterisch war sie ja. Ins neue Buch hatte sie auch nur morgens im Bett hineingesehen, dabei war in knapp drei Wochen schon der Drehbeginn.

Also war erhöhtes Tempo angesagt. Sie kam sich, als sie jetzt den Kurfürstendamm hinaufeilte, wie eine Läuferin vor, die beim Marathon den Kinderwagen mitgenommen hatte. Auch eine Rolle, die sie reizen konnte: eine Frau, die so bessessen vom Joggen und vom Laufen war, daß sie letztendlich allen und allem davonlaufen konnte: Haushalt, Ehe, Mann und Kindern.

Sie kam an einem Haufen Kinos vorbei. Gloria, Zoo-Palast und Marmorhaus. Wenn erst die Anzeigen oben an den Fassaden ihren Namen priesen: KINO eins – Jessica Criens in Ein seltener Fall von Witwenverbrennung, KINO zwei – Jessica Criens in Ich lege Rosen auf mein Grab, KINO drei …

Du bist ja verrückt, äih!

Ja, und weil ich es bin, wird mein Name eines Tages hier überall in Riesenlettern stehen!

Sie wohnte hinten am Ludwigkirchplatz und hatte nun, wollte sie vom Kudamm auf dem schnellsten Weg nach Hause, links abzubiegen in die Fasanenstraße, am Astor vorbei, wo sie dreimal hintereinander «Jenseits von Afrika» gesehen und beschlossen hatte, mindestens eine zweite Meryl Streep zu werden.

Ihr Hochgefühl hielt an, und als sie an einer der vielen Boutiquen vorüberkam, gerade neu eröffnet, beschloß sie spontan, sich wieder mal neue Klamotten zu kaufen. Ein Tag wie dieser war gebührend zu feiern. Sekt gab es hier für neue Kunden. Wow, das war es!

Ein Rock aus Rindsoftnappa, tiefschwarz, war schon lange ihr Traum. Wenn sie damit durch die Straßen ging, war sie die Queen. Die Weiber wurden grün vor Neid, und den Kerlen sprang der Pint nach oben, daß es ihnen die Hosenknöpfe absprengte.

Haben mußte sie den. Sie nahm ihn vom Ständer und wollte in den Laden hinein, doch das scheiterte an den vier, fünf Stufen, die nach oben führten. Egal, Yemayá schlief noch immer, und ein paar Sekunden hier draußen schadeten nichts, war ja kein Smog.

Jessicas Euphorie multiplizierte sich noch, als die Verkäuferin rief: «Ich kenn Sie doch von der Bühne her …! ‹Kleines Theater› am Südwestkorso, Berlin-Revue …»

Sie war die einzige Kundin im Laden, und es ging ganz schnell, den Rock mal übergestreift und gesehen, ob er paßte. Sie brauchte bloß hinter eine hölzerne Trennwand zu treten, nicht mal die Kabine aufzusuchen.

«Paßt, ja …» Während sie sich mit den Händen über Bauch und Schenkel fuhr, ein bißchen Nina Hagen, warf sie einen Blick durch die Modepuppen und Dekorationen nach draußen. Alles okay. Yemayás Panoramawagen stand friedlich im Schatten.

«Toll sehen Sie aus! Schon für Ihre neue Rolle, was …?»

«Nein, nur für …» Sie brach ab, hätte fast verraten, wen sie mit diesem Rock anmachen wollte.

«Ach, ich verstehe …!» Die Verkäuferin, Mitte Zwanzig und furchtbar fasziniert von allem, was mit TV und Film zusammenhing, dachte sich ihr Teil. «Einen Herrn, den wir alle kennen …?»

«Na, schalten Sie mal regelmäßig ein!» Jessica lachte und begann im chaotischen Durcheinander ihrer Handtasche nach eingesteckten Geldscheinen zu suchen, fand endlich auch welche und streckte sie hin.

Die Verkäuferin geriet nun leicht in Panik, denn in dem Moment, als sie das Wechselgeld aus der Kasse nehmen und Jessica vorzählen wollte, schrillte hinter ihr das Telefon. «Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie nicht mehr zur Tür …!»

«Macht doch nichts, ich muß mich sowieso beeilen …»

Jessica warf die Münzen, die ihr schnell in die Hand gedrückt worden waren, achtlos in die Tasche, nahm die bunte Plastiktüte mit dem Rock, tauschte schnell noch das rituelle «Tschau!» mit der anderen und verließ dann den Laden.

Die Stufen sprang und schwebte sie hinunter, schwang dabei die Tüte auf und ab, als wär’s ein Schmetterlingsflügel.

Unten angekommen, flog der Rock auf die Ablage unterm Kinderwagen, rauf auf die Programmzeitschriften.

Was für ein Tag! Szenen, die sie noch vor Augen haben würde, wenn sie fünfzig war.

Dann erst sah sie in den Kinderwagen.

Er war leer, Yemayá war verschwunden.

3.

Seit sie am Übergang Waltersdorfer Chaussee West-Berlin verlassen hatten, war ihnen der graue Lada gefolgt. So schien es ihnen zumindest. Waren das neurotische Ängste, gewachsen in den Jahrzehnten, in denen man die DDR als Horrorstaat gezeichnet hatte, oder ganz einfach Realitäten? Verdächtig genug waren sie ja; vom Outfit her Leute, denen jederzeit das Ausrollen gewisser Transparente zuzutrauen war: «Schwerter zu Pflugscharen» oder «Frieden schaffen ohne Waffen». Hatten sie zwar keineswegs in ihren Rucksäcken, nur was zu trinken und etliche Fressalien, aber sie hätten können, so wie sie aussahen. Mit ihren Bärten, ihren Jeans, ihren teuren Wanderschuhen Marke «Harvard» (adidas), ihren nicht eben abgehärmten Gesichtern, auf die das ständige Lesen von SPIEGEL und ZEIT, zitty, tip und taz eine feine Bildungspatina gezaubert hatte. Keine Aussteiger, Tunix-Typen oder Krawallos, RAF- und Rote-Zellen-Leute, Autonome erst recht nicht, aber immerhin mit demselben Touch wie die Blockierer von Mutlangen, Cattenom und so, also auch für DDR-Gemüter recht brisant.

In zwei Wagen waren sie heut morgen aufgebrochen. In Jürgens blauem BMW saßen Horst, Corzelius, Dieter und Mannhardt; Internist, Sozialwissenschaftler, Journalist, Kiefernorthopäde und Kriminalkommissar. In Stefanies gelben Variant (VW-Passat) hatten sich geklemmt Siegfried und Inge, zwei Meteorologen, sowie Peter, der ein wenig aussah wie Karl Dall, wenn der in einem Hollywoodfilm den Jesus abgegeben hätte, aber Psychologe war.

Vor vier Wochen hatten sie ihre DDR-Tour Nr. 9 geplant, rund um Dolgenbrodt, und waren als Westberliner brav zu einem der fünf «Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten» gepilgert, hatten, doppelt natürlich, ihren «Antrag auf Einreise in die DDR» fein säuberlich ausgefüllt («Bitte mit Schreibmaschine oder in Blockschrift mit Tinte»), um dann drei Tage später glückliche Besitzer eines Passierscheins zu sein, das heißt, eines «Berechtigungsscheins zum Empfang eines Visums bei den Grenzübergangsstellen der DDR».

Das hatte auch alles geklappt, und nach Zahlung von DM 25,–, genauer gesagt: dem Umtausch von D-Mark in Mark, war ihnen heute morgen der Eintritt prompt gestattet worden, nicht ohne angemessene Rucksackkontrolle und landesübliches Warten, versteht sich.

«Fünfundzwanzig Mark – nicht viel für diese Reise mit der Zeitmaschine», sagte Corzelius, als sie durch Königs Wusterhausen rollten. «Deutschland, Preußen wie vor hundert Jahren, alles konserviert. Wahnsinn, diese Schläfrigkeit überall, wie in Alabama unten. Schön: kein Chrom, kein Glas, kein Dallas, keine Hektik, keine Reklame, kein Schickimicki-Deodorant über allem!» Er geriet immer mehr ins Schwärmen.

«Aber nur, weil sie nicht so können, wie sie wollen», meinte Jürgen. «Stichwort: West-Fernsehen. Und was du an der DDR so schön findest, mögen die wohl gar nicht.»

Der Mann im Lada schloß nun wieder auf, setzte sogar an, Stefanie, die hinter ihnen fuhr, zu überholen, ließ es aber wieder, als ihnen ein sowjetischer Armeelastwagen – CA – entgegenkam.

«Langsam kreisen sie uns ein», bemerkte Horst.

«Kein Wunder», lachte Mannhardt, «wo hier so viele hohe Tiere ihre Datschen haben. Und nicht so streng abgeschirmt wie am Wandlitzsee oben, wo ja der Erich, der Honnie … War ja früher mal ganz schlimm mit den Kontrollen in der Gegend hier, ’n Stückchen weiter nördlich, bei Erkner oben, als der Havemann noch gelebt hat. Grünheide …»

«Die Würdenträger im real existierenden Sozialismus, ach ja …» Corzelius lächelte, sagte aber nichts weiter, als Dieter ihn mit einem anmachenden «Na …!?» ansah, berief sich auf die Schweigepflicht des Journalisten, hielt dann aber einen kleinen Vortrag über das MfS, das Ministerium für Staatssicherheit, auch «die Firma» genannt oder «VEB Horch und Greif», und äußerte im Anschluß daran die Vermutung, daß möglicherweise ein Mann der Hauptabteilung Personenschutz hinter ihnen herfahre.

«Wieso’n das?» fragte Dieter.

«Na, ’n Sabotageakt im Kindernahrungskombinat ‹Roter Schnuller› wird man uns ja kaum unterstellen wollen …»

Angst hätten sie nicht, aber ein bißchen gruselig sei das alles schon, stellten sie fest.

Königs Wusterhausen war eine wieder hübsch zurechtgemachte Kreisstadt mit etwas über 12000 mehr oder minder sozialistischen Seelen und keinem echten Arbeitslosen; zudem noch S-Bahn-Endstation. «Bei Fontane noch mit ’nem Bindestrich geschrieben, heute aber ohne», merkte Mannhardt an, als großer Kenner des alten Wanderers heute wie schon oft ihr Cicerone. «Ihm verdanken wir die Erkenntnis, daß der Mann Theodor Fontane und nicht Theodor von Tane hieß», spottete Horst.

Doch Mannhardt war durch nichts mehr zu bremsen. «Band IV der Wanderungen, Spreeland also, Abteilung ‹Links der Spree›, erstens: Königs-Wusterhausen. Finstrer Ort und finstrer Sinn/Nun blühen die Rosen drüber hin. Bezieht sich auf das Jagdschloß, den Lieblingsaufenthalt des preußischen Soldatenkönigs … Na …?»

Horst drehte sich nach hinten um. «Friedrich Wilhelm I., Vater des großen Friedrich. Der, der den Katte hat enthaupten lassen. Vor den Augen des Kronprinzen, seines Freundes …»

«Gibt’s da nicht auch ’n Krimi drüber?» fragte Dieter.

«Keine Ahnung», erwiderte Horst. «Ich lese keine.»

«Da ist der Lada wieder!» rief Dieter, als sie jetzt auf die F 179 kamen.

«Noch ’n Schlag Fontane, bitte, zur Ablenkung», sagte Horst.

Mannhardt schlug das mitgebrachte und von den «Organen» an der Grenze unbeanstandet gelassene Buch auf und las:

«Am Wasser hin zog sich eine schmale Wiese, von Huflattich eingefaßt, der hier und dort in grotesken Blattbildungen kleine vorspringende Inseln schuf. Hinter dem Wiesenstreifen, immer den Windungen des Flusses folgend, stand eine Reihe von Häusern, jedes einzelne durch ein blühendes Mohnfeld von dem Nachbarhause geschieden … Einsamkeit auch hier. Aber wenn sie am Tage vorher, an den Ufern des Zeuthner-Sees, wie ein wendisches Volkslied elegisch geklungen hatte, so klang sie hier wie ein Idyll aus alten Zeiten und schuf dem Herzen ein süßes Glück, wo jene nur ein süßes Weh geschaffen hatte. Ich wurde …»

Weiter kam er nicht, denn inzwischen hatten sie ihr erstes Ziel erreicht: den kleinen Friedhof von Dolgenbrodt, etwas außerhalb des Dorfes gelegen, von Siegfried ausgeguckt. Hier wollten sie die beiden westlichen Autos bis zum Abend parken.

Der graue Lada war verschwunden.

Großes Hallo, als sich die beiden Teams nun wiedertrafen.

«Kollektive!» korrigierte Peter. «Wir befinden uns hier auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik und haben uns Sprache und Sitten unseres Gastlandes bitte anzupassen.»

So zogen sie los, lange fünfundzwanzig Kilometer vor den Füßen; und es wurde immer heißer, immer schwüler.

Zuerst ging es westwärts durch die Gussower Heide, viel Sand, viel Kiefern; den Dolgensee, bei Sturm von allen Paddlern als tendenzielles Seemannsgrab gefürchtet, rechts des öfteren im Blick, dann schnurgerade nach Norden, die schmale Dahme hinauf. Horst hatte schon Hunger und aß seine Banane.

«Latsch, latsch, die Heide blüht», sagte Stefanie, und Peter begann über sein Wackelknie zu klagen, Horst über seinen Ischiasnerv.