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Nein, Uwe Kurz war es nicht. Er ist flüchtig, ja – aber er hat es nicht getan. Ich habe ihn umgebracht! – Warum mir Schwarz und Hülfenhaus ein Alibi geben? Keine Ahnung. Sie lügen. Ich bin der Mörder ... Einer will's gewesen sein. Nämlich Gerhard Bengler, 42, Buchhalter der Jerxheim KG (Uhren und Schmuck) und Chef (‹Fährmann›) der ‹Gemeinschaft der Bußfertigen›, einer Sekte, die einen gewissen Aufschwung nimmt in der letzten Zeit, nachdem sie unter Bruder Hirsekorn jahrelang verkümmerte ... Ist Bengler der bessere ‹Fährmann›? Oder liegt es daran, daß Hirsekorn junior aus dem Ruder läuft, fanatisch wird, Geißlerumzüge auf dem Kurfürstendamm inszeniert und so für Presse sorgt? Einen Ritual-Selbstmord hat es auch schon gegeben. Aber das schlimmste ist, daß ein wichtiger Finanzier der ‹Gemeinschaft der Bußfertigen› sich in Wahrheit nur den Nachwuchs für seine abartigen Sexspiele unter den jüngeren Mitgliedern gesucht hat. Skandal und Verbot drohen. Da greift ‹Fährmann› Bengler ein. Er erschlägt den Wüstling. Und dann stellt er sich, nach langem Ringen, der Polizei. Er will büßen ... Will er auch PR machen? Wenn ja: für wen? Für die ‹Gemeinschaft der Bußfertigen›? Oder für sich selbst? Aber sie wollen ihn nicht büßen lassen? Sie geben ihm ein Alibi.
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2017
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–ky
Nein, Uwe Kurz war es nicht. Er ist flüchtig, ja – aber er hat es nicht getan. Ich habe ihn umgebracht! – Warum mir Schwarz und Hülfenhaus ein Alibi geben? Keine Ahnung. Sie lügen. Ich bin der Mörder ...
Einer will’s gewesen sein.
Nämlich Gerhard Bengler, 42, Buchhalter der Jerxheim KG (Uhren und Schmuck) und Chef (‹Fährmann›) der ‹Gemeinschaft der Bußfertigen›, einer Sekte, die einen gewissen Aufschwung nimmt in der letzten Zeit, nachdem sie unter Bruder Hirsekorn jahrelang verkümmerte ... Ist Bengler der bessere ‹Fährmann›? Oder liegt es daran, daß Hirsekorn junior aus dem Ruder läuft, fanatisch wird, Geißlerumzüge auf dem Kurfürstendamm inszeniert und so für Presse sorgt?
Einen Ritual-Selbstmord hat es auch schon gegeben.
Aber das schlimmste ist, daß ein wichtiger Finanzier der ‹Gemeinschaft der Bußfertigen› sich in Wahrheit nur den Nachwuchs für seine abartigen Sexspiele unter den jüngeren Mitgliedern gesucht hat. Skandal und Verbot drohen.
Da greift ‹Fährmann› Bengler ein. Er erschlägt den Wüstling. Und dann stellt er sich, nach langem Ringen, der Polizei. Er will büßen ... Will er auch PR machen? Wenn ja: für wen? Für die ‹Gemeinschaft der Bußfertigen›? Oder für sich selbst?
Gerhard Bengler
ein verhinderter Erzengel mit Komplexen, der nicht erst zu fallen braucht.
Jerxheim
ein Vertreter des Großbürgertums, der an seinen unbürgerlichen Neigungen stirbt.
Uwe Kurz
ein keineswegs ganz unschuldiges Opfer, das überlebt.
Roland Anterhaus
ein Opfer.
Marietta Ronnets
eine Nymphomanin auf der Seite der stärkeren Bataillone.
Dr. Hülfenhaus
ein Mann von Welt, der erfolgreich über seine Verhältnisse lebt … anfangs.
Dipl.-Kfm. Schwarz
ein Mann mit, wie sich herausstellt, etwas alttestamentarischen Ansichten.
Bruder Hirsekorn
ein Mann, der im Mittelalter Karriere gemacht hätte.
Pfarrer Heidenreich
ein stilles – und darum tiefes – Wasser.
Kriminaloberkommissar Mannhardt
ein Linker (nach Ansicht von Dr. Weber).
Dr. Weber
ein Armleuchter (nach Ansicht von Mannhardt).
-ky
ein Anonymus, nach wie vor, der auch nur bedingt Licht in die Sache bringt.
Eine unserer größten Wohltaten
an der Menschheit ist es, den Aberglauben
und den Fanatismus zu stürzen.
Voltaire
An diesem Roman ist alles erfunden –
nur die Angst ist echt.
-ky
In einem Restaurant am Kurfürstendamm, mit Blick auf die Gedächtniskirche. Ein trüber Novembertag. Ich rühre in meiner Hühnerbrühe. Ein Stich mit dem Löffel, und die Blase mit dem Eigelb springt auf.
Mannhardt – vielleicht bekommt er Ärger deswegen, vielleicht auch nicht – öffnet seine Aktentasche und zieht das für mich bestimmte Material heraus. Langsam, Blatt für Blatt. Zeitungsausschnitte, Gerichtsprotokolle, Gutachten, Fotos. Dabei tut er angespannter als einer, der beim Pokern die Karten auf den Tisch legt. Zum Schluß eine Traueranzeige.
Wir reden ein Weilchen über Bengler.
Der Ober bringt die Steaks. «Zweimal medium … Guten Appetit.»
Wir bedanken uns und schieben die Sachen zusammen.
Ich schneide mein Steak auf und tupfe das wäßrige Blut mit einem Stück gebackener Kartoffel vom Teller.
«Hier, wie find’sten das Tatortfoto hier?» fragt Mannhardt.
Ich zucke zusammen.
«… und das hier, das sind die anderen Bilder …»
Schultern. Rücken. Gesäße. Menschliches Fleisch, von cañontiefen Furchen durchzogen, von Lederpeitschen zu losen Streifen zerschnittene Haut … Ich hätte nicht gedacht, noch so empfindlich zu sein.
«Nu kotz man nich gleich», sagt Mannhardt und läßt die Aufnahmen unter einem großformatigen Foto verschwinden: Bengler auf seiner Kanzel, mit himmelwärts gereckten Armen, den Mund zu einem großen O geöffnet.
«So ’n Udo Jürgens-Typ, so ’n bißchen verhungert … So was zieht immer», sage ich; «so was mögen die Leute – Stichwort: Charisma.
Würd ich ihm schon zubilligen.»
«Du hätt’st ihn erst mal live erleben sollen.»
«So ’n Typ, der kann einen schon mitreißen – oder?»
Mannhardt sieht beiseite, als ich ihn mit einem schnellen Blick streife.
«Wie ist der denn eigentlich auf die Idee mit der Sekte gekommen?» frage ich.
«Der alte Hirsekorn, bei dem er vor Jahren mal als Untermieter gewohnt hat, der ist der eigentliche Sektengründer. Und der hat dann irgendwann mal die große Erleuchtung gehabt: Bruder Bengler soll das große Werk fortführen, das du begonnen hast. Wenn ich mich nicht irre: abends oder nachts, nach einem Gottesdienst im Freien, draußen an der Havel.»
«Na bitte: ‹Im Grünen fing’s an und endete blutigrot.›»
«-ky?»
«Nee, Tuchols-ky.»
Viele waren gekommen.
Seine Gemeinschaft der Bußfertigen hatte sich zum ersten Gottesdienst im neuen Betsaal in der Schlüterstraße zusammengefunden.
Als sie jetzt ihr Lied anstimmten, schien es ihm, als hätten sie sich alle hierher auf dies winzige Schifflein geflüchtet, um gemeinsam über das stürmisch-dunkle Meer zu fahren, das da Leben hieß; so verzagt und hoffnungsvoll zugleich, so klang es jedenfalls.
Ich bin getauft auf deinen Namen,
Gott Vater, Sohn und heilger Geist;
ich bin gezählt zu deinem Samen,
zum Volk, das dir geheiligt heißt …
Bengler verlor minutenlang die Kontrolle über sich, Vision und Wirklichkeit verschmolzen miteinander; es geschah nur noch mit ihm. Sie waren zu ihm gekommen – Suchende, Hilflose, Gestrandete. Er war ihre letzte Hoffnung. Sie alle hatten sich ihm ausgeliefert. Ich will von nun an euer neuer Fährmann sein! Hin zu den Ufern, zu Trost und Erlösung.
Die Bretter unter seinen Füßen schwankten. Er umklammerte das Rednerpult.
Ich bin in Christum eingesenkt,
ich bin mit seinem Geist beschenkt …
Er bekam sich wieder in den Griff, indem er sich auf die Erklärung konzentrierte, die er für die Presseagenturen vorbereitet hatte. Der Stapel mit den übriggebliebenen Exemplaren lag neben seinen Notizen und dem Ablaufdiagramm des heutigen Gottesdienstes.
Unser von allen geliebter und verehrter Bruder Johannes R. Hirsekorn, so hatte er formuliert, ist im letzten Oktober nach einem reichen und vom Glaubenskampf erfüllten Leben heimgegangen, aber sein großes Werk, das er vor mehr als vierzig Jahren ins Leben gerufen hatte, unsere Gemeinschaft der Bußfertigen, lebt in den Herzen all derer fort, die heute den Weg zu dieser neuen und schönen Stätte der Andacht gefunden haben und ihr Lebensschiff nun dem neuen Fährmann anvertrauen, unserm Bruder Gerhard Bengler …
Ob die Pressefritzen das in dieser Form auch schluckten?
Ob Jerxheim mit seinem Text zufrieden war?
Wie hatte er noch mal geschrieben: Wir haben aber nicht nur unserm alten Fährmann von ganzem Herzen zu danken, sondern auch einem Manne, dessen finanzielle Opfer uns den Ankauf und den Umbau dieses alten Kinos erst ermöglicht haben: Bruder Jerxheim. Wie viele Geschäftsleute hat auch er den Weg zu uns gefunden … Und so weiter, und so weiter.
Bengler war wieder so nüchtern geworden, wie er sein mußte, um gut zu sein. Nur keine Aufregung, sagte er sich, das hier ist ein Geschäft wie jedes andere auch. Der liebe Gott ist wieder gefragt, der Markt ist da. Die Leute suchten nach dem Sinn ihres Lebens, und du hast die Mittel dazu, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
… willst in aller Not und Pein,
o guter Geist, mein Tröster sein.
Das Lied war verklungen, und Bengler räusperte sich, um anzudeuten, daß er nun zur Predigt kommen wollte. Ärgerlich nur, daß er gestern in der Eile ein Lied ausgewählt hatte, das dem Aufbau dieser Predigt irgendwie zuwiderlief. Anlaufschwierigkeiten … Dennoch kam er ziemlich schnell in Fahrt. Dieser Programmpunkt zielte darauf ab, den Leuten klarzumachen, wie gotteslästerlich und voller Sünden ihr aller Leben war.
«Heuchler! Pharisäer!»
Seine Worte trafen sie wie Peitschenhiebe. Sie duckten sich, sie zogen ihre Köpfe ein. Bengler fand, daß er heute wirklich gut in Form war. Er holte noch einmal tief Luft.
«Ich mag keinen ansehen, der hier vor mir sitzt – so sehr steht ihm seine Sündhaftigkeit im Gesicht geschrieben … Stolz: Mit welcher Überheblichkeit, mit welcher Arroganz seht ihr doch auf die Türken herab, die hier unter uns leben und arbeiten! Geiz: Was habt ihr bisher für die Hungernden in aller Welt gespendet? Pfennige nur, Pfennige! Unkeuschheit: Ansprechen, anmachen, abschleppen! Immer gleich in die Betten! Pornofilme! – Neid … Zorn … Unmäßigkeit … Trägheit!»
Bengler machte eine Pause, so als ersticke der Ekel, den er jetzt empfand, jedes weitere Wort. Abscheu ausdrücken! befahl er sich. Sie mit deinen Blicken niederzwingen … Sie müssen sich alle unendlich schlecht vorkommen, sie müssen sich alle hohl und leer fühlen, faulig und verloren … Er donnerte weiter.
«Jeder in diesem Saal, ich wiederhole: jeder, hat heute schon geflucht über die Wünsche, die die Alten an ihn herantragen, Vater und Mutter, Großvater und Großmutter: etwas einholen, etwas reparieren, etwas unterlassen. Und jeder hier und jede hat schon begehrlich andere Frauen und andere Männer angestarrt … Ja, wißt ihr denn nicht, was der Herr zu Mose gesprochen hat:
‹Wer seinem Vater oder seiner Mutter flucht, der soll des Todes sterben. Sein Blut sei auf ihm, daß er seinem Vater oder seiner Mutter geflucht hat.
Wer die Ehe bricht mit jemandes Weib, der soll des Todes sterben, beide, Ehebrecher und Ehebrecherin, darum daß er mit seines Nächsten Weibe die Ehe gebrochen hat.›»
Wieder hielt er inne. Dann wurde er so leise, daß man ihn kaum noch verstehen konnte.
«Sicher – die Todesstrafe ist abgeschafft bei uns und die Blutrache auch. Aber denken wir doch mal an die Unfälle in unserem Lande: 18000 Verkehrstote in einem Jahr. Oder denken wir an die steigende Kriminalität, Mord und Totschlag, tausendfach. Denken wir an die Krankheiten, die Seuchen – Krebs, Herzinfarkte … Und da sage mir noch einer, er hätte keine Strafe zu fürchten für sein sündhaftes Tun!»
Damit hatte er sie endgültig am Boden. Dies war ‹der Punkt›, wie die Boxer sagen; den muß man treffen, und man hat gewonnen … Daß sie da von vornherein empfindlich waren, das lag auf der Hand; sonst wären sie nicht hergekommen. Jetzt war es an der Zeit, ihnen den Rettungsanker zuzuwerfen und ihnen den Weg zu zeigen, wie sie ihrer verdienten Bestrafung entgehen konnten … Bengler versuchte, seiner Stimme Posaunenklänge beizumischen.
«Doch spricht auch jetzt der Herr: Bekehret euch zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen.» Das war Joel 2/12, und er fügte schnell Matthäus 3/1 hinzu: «Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!»
Nun begann die Zeremonie, die für Bengler den Höhepunkt eines jeden Gottesdienstes darstellte, die Bekenntnis aller Sünden und das feierliche Gelöbnis zur ausgleichenden Sühne. Er hatte sie in seiner Presseerklärung wie folgt beschrieben:
Nach der Predigt ihres FÄHRMANNES eilen die Gläubigen zu den Diakonen, die inzwischen vorn unter dem Kreuz Platz genommen haben, damit in unserm großen REGISTER DER BUSSE festgehalten werden kann, wer in welcher Art und Weise seine Sünden zu tilgen gewillt ist. Für die Mitglieder der GEMEINSCHAFT DER BUSSFERTIGEN gibt es dabei im wesentlichen drei Möglichkeiten:
den Verzicht auf Genüsse ganz bestimmter Art,
die Verpflichtung zur Übernahme schwerer und schmutziger Arbeiten, die von alten und kranken Mitgliedern unserer Gemeinschaft nicht mehr geleistet werden können – und
die Gewinnung neuer Brüder und Schwestern für die GEMEINSCHAFT DER BUSSFERTIGEN.
Wir stützen uns dabei auf die Heilige Schrift, und zwar auf das 4. und das 5. Kapitel im 3. Buch Mose, wo geschrieben steht: Wenn aber eine Seele vom gemeinen Volk etwas versieht und sündigt, daß sie wider irgend eines der Gebote des Herrn tut, was sie nicht tun sollte, und sich also verschuldet, und ihrer Sünde innewird, die sie getan hat, die soll zum Opfer eine Ziege bringen ohne Fehl für die Sünde, die sie getan hat …
Bengler verteilte seine Dokumentation an einige jüngere Männer, deren Habitus – Brille, Bart und Lederjacke – journalistische Aktivitäten vermuten ließ.
«Und mit Geld allein kann man sich nicht loskaufen, was?» lachte einer, nachdem er die Blätter überflogen hatte.
Idiot! dachte Bengler. Mal was von Tetzel gehört – Ablaßprediger 1465 bis 1519 (sein Zahlengedächtnis!) – und kommt sich schon wunder wie klug vor. Aber er beherrschte sich.
«Natürlich nicht», sagte er lächelnd. «Unsere Gläubigen spenden unabhängig davon, was sie getan haben. Im Zusammenhang mit einer Buße nehmen wir nur das Geld entgegen, dessen Ausgabe sich durch den Verzicht auf einen bestimmten Genuß erübrigt hat.» Bengler genoß seine geschliffenen Formulierungen. «Wir kennen ja weder das Privileg noch den Fluch der Kirchensteuer.»
Der Mann ging, und Jerxheim kam auf ihn zu, dunkelblau und feierlich gekleidet.
«Meinen Glückwunsch, lieber Bruder Bengler, und herzlichen Dank für Ihre lieben Worte des Dankes und der Anerkennung …»
Bengler verneigte sich leicht.
«Es war klug von uns – Ihre Wahl, meine ich; Ihre Bestimmung zum neuen Fährmann. Viele hatten sich ja für Hirsekorn junior ausgesprochen, der Sohn sollte dem Vater nachfolgen, aber …»
«Er ist zu wild, zu fanatisch! Seine fixe Idee mit den Kasteiungen …» Bengler warf einen ängstlichen Blick zu Hirsekorn junior hinüber.
«Sie verstehen es in einmaliger Weise, die Jugend für uns zu gewinnen», sagte Jerxheim, sehr wohlwollend.
Kunststück, dachte Bengler, wo sie doch zu Tausenden auf der Straße liegen: arbeitslos, ohne Lehrstelle, ohne Zukunft. Und dann die Geschäftsleute in der Gemeinschaft der Bußfertigen, die ihnen schon mal einen Job verschaffen … Das sagte er natürlich nicht; er gab sich vielmehr so ölig-theologisch, wie Jerxheim es von ihm erwartete:
«Sehen Sie, im Menschen ist das Bedürfnis nach Gott eingeschlossen, es ist archetypisch, wie Jung sagen würde – und Jung, mit Freud und Adler zusammen ein Vater der Psychoanalyse, Jung fragt ja auch ganz ausdrücklich: Wo werden wir Gott wiederfinden? Nun – wir hier, wir haben ihn wiedergefunden: in unserer Bereitschaft zur Buße. Und das merken diese jungen Menschen auch.»
«Sehr richtig.» Jerxheim nickte. «Und es freut mich besonders, daß so viele in Ihnen – obwohl Sie ja noch nicht so alt sind – schon richtig den Vater sehen.»
Wieder verneigte sich Bengler. So soll’s auch sein, dachte er. Ihr Vater. Klar, das funktioniert immer: Gut ist der, der mich liebt und mir gehorcht. Wer mich nicht liebt und sich meinem Willen widersetzt, der ist böse und muß bestraft werden.
«Daß so viele heute gekommen sind …» Jerxheim zählte lautlos und war schon bei hundertzwanzig angelangt.
Bengler zuckte die Achseln. «Die Arbeitslosen, die Ausgeflippten, die Alten.»
«Da sitzen noch immer welche, die nicht nach vorn kommen wollen.» Jerxheim sah ihn aufmunternd an: «Ob Sie nicht mal …?»
Bengler gab sich einen Ruck und ging auf einen jungen Mann zu, der ungefähr in der achten Reihe saß, hingelümmelt wie in einem Liegestuhl. Spack, bläßlich, kümmerliches Bärtchen auf der Oberlippe, schwarze Lederjacke. Bengler hatte ihn schon bei der letzten Veranstaltung gesehen, wenn er sich recht erinnerte.
«Und du? Du willst weiter abseits stehen?»
«Ick sitze ja …» Aber er begann sich schon aufzurichten.
«Gott braucht auch dich – und du brauchst Gott.»
«Det einzige, wat ick brauche, is Kohle.»
Bengler ahnte, daß das soviel wie Geld hieß. «In der Gemeinschaft der Bußfertigen hilft jeder jedem.»
«Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.»
«Richtig!» Bengler strahlte. «Komm zu uns – und morgen hast du ’n bißchen Arbeit, Kohle …» In solchen Fällen war auf Jerxheim und die anderen Geschäftsleute schon Verlaß.
«Und wat muß ick tun?» Jetzt saß er kerzengerade.
«Deine Sünden bekennen.»
Der Junge sank wieder nach hinten. «Ick spinne wohl!»
«Dann lege hier deine linke Hand auf diese Bibel …» Bengler fischte sich ein herumliegendes Exemplar, «… und versprich mir, in den nächsten sieben Tagen auf etwas zu verzichten, das dir sehr viel Vergnügen bereitet – Gott zuliebe, ihm zur Ehre.»
«Sonnabend is ’n Heimspiel hier, wa, da jeh ick ehm nich zu Hertha hin.»
«Okay, gut. Wir sprechen uns dann beim nächsten Gottesdienst. Wie war dein Name noch?»
«Kurz – Uwe Kurz.»
«Willkommen bei uns, Bruder Kurz.»
Bengler sah zu, daß sich Jerxheim um Kurz kümmerte, und wandte sich dann einer Gruppe junger Menschen zu, die unschlüssig zwischen Altar und Ausgang verharrte. Es waren diesmal viele Mädchen darunter.
«Ich sehe, ihr sucht den … den Notausgang», begann er. «Warum suchen so viele Menschen heute einen Notausgang?»
Bald hatte er auch den größten Teil dieser Gruppe eingefangen. (So sei es euch kundgetan, daß den Heiden gesandt ist dies Heil Gottes; und sie werden’s hören.) Zufrieden mit sich und der Welt begann Bengler den zweiten Teil der Veranstaltung.
«Es ist nicht wahr, daß die Gnade Gottes schlechterdings jedem menschlichen Zugriff entzogen ist. Du und ich – wir alle! – Wir können das Heil empfangen, wenn wir etwas tun, etwas leisten, das Gott wohlgefällig ist. Fragt ihr mich: ‹Wie kriege ich einen gnädigen Gott?›, so antworte ich euch: ‹Indem ihr durch schmerzhafte Buße allen sichtbar eure Untaten ausgleicht!› Ich, den ihr zum Fährmann eures Lebensschiffes gemacht habt, ich, der ich euch sicher in den Hafen des Heils geleiten werde, ich will gleichsam wie ein Buchhalter des Herrn darüber wachen, daß ihr jede eurer Sünden ausgleicht durch die Qual des Verzichts und des Opfers. Gehet noch heute hin und sagt es allen Menschen in dieser Stadt, wie und wo sie ihrem Leben wieder einen Sinn geben können!»
Sie sangen wieder.
Komm, sag es allen weiter,
ruf es in jedes Haus hinein!
Komm, sag es allen weiter:
Gott selber lädt uns ein.
Während sie sangen, glitt Benglers rechte Hand, eher unbewußt, um einen Teil seiner inneren Spannung abzuleiten, in einen der Kartons, dessen Inhalt aus «sündhaften Dingen» bestand, Dingen, die die Gläubigen mit irgendeiner ihrer Sünden verbanden und dorthin abgeliefert hatten. Nachher sollte das Zeug verbrannt werden.
Liebesbriefe, schlüpfrige Romane, was von Beate Uhse: Dieser Bildband zeigt Ihnen auf aufregenden Colorfotos die Stellungen, in denen die Frau beim Liebesakt aktiv ist … Das kümmerte Bengler nicht weiter.
Dann fand er einen harten Porno. Ketten, Peitschen, wild verzerrte Gesichter, blutüberströmte Leiber … Auch das hätte er noch hingenommen. Aber auf dem Umschlag dieses Pornos stand in roten Druckbuchstaben: Nur wer sich geißelt, der tut wirklich Buße!
Und es folgten zwei selbstgemachte Fotos, Polaroid-Aufnahmen, auf denen sich zwei seiner Gläubigen gräßlich zugerichtet hatten.
Bengler schloß die Augen.
Vor ihm lag ein Tag voller Arbeit und Ärger, hinter ihm lag eine Nacht, die ihm nur wenig Schlaf gebracht hatte. Mannhardt haßte diesen kalten, verregneten Morgen. Dabei, so sagte er sich, hätte er doch dankbar sein sollen für diesen Vorfrühlingstag, den er gesund beginnen durfte, wie überhaupt für jeden Tag, der ihm noch blieb. Zwanzig Jahre noch, dann war er Pensionär. Wenn er’s erlebte.
Er fror innerlich, sehnte sich irgendwie nach Fruchtwasserwärme und hatte Angst davor, unter die kalte Dusche zu gehen. So wusch er sich nur mit Lappen und Seife. Sein Körper kam ihm schlaff und welk vor, fett. Das war nicht mehr der bronzebraune Jüngling, der seinen Speer durchs halbe Stadion schleuderte, das war eher ein alternder Catcher, der sich sein Gnadenbrot verdiente, indem er sich von jedem jugendlichen Hanswurst in den Ringstaub legen ließ. Die Haare auf der Brust wucherten nicht mehr, sie wurden langsam grau und verdeckten kaum mehr Leberflecken, Hautlappen und Pickel. Widerlich. Unaufhaltsam verfiel er.
Wie würde diese Brust wohl aussehen, wenn es ihn doch mal erwischte? Eine Kugel aus drei Meter Entfernung genau ins Herz. Erstaunlich war doch, daß er während seiner gesamten Zeit bei der Kripo nie was abbekommen hatte. Keine einzige Schußverletzung.
Im Radio spielten sie Una Paloma Blanca, und er sah sich auf seiner Jacht vor Ibiza kreuzen. Inmitten einer Schar lachender Mädchen. Der Weltmeister erholte sich vom großen Fight mit Muhammad Ali. Der Größte war besiegt worden vom Allergrößten. Mannhardt tänzelte um einen imaginären Gegner herum und schlug ein paar Haken in die Luft.
«Du bist wohl vom wilden Affen gebissen worden?» Lilo stand in der Tür. Sie mußte mal.
«Kannst du nicht unten gehen!» muffelte Mannhardt.
«Da sitzt Michael drauf.»
Was blieb ihm weiter übrig, als sich draußen auf dem Flur zu rasieren. Es war wirklich zum Kotzen! Gerade war er soweit gewesen, sich treiben zu lassen, gleich wären die Bilder erschienen, die wärmten und nach Liebe schmeckten. Nun rauschte nur die Wasserspülung.
«Ich hab dich gar nicht mehr kommen hören», sagte Lilo.
«Wir haben noch ’n Glas Bier hinterher getrunken.»
«Und?» Lilo wusch sich die Hände.
Mannhardt zog sich Socken und Unterhosen an. «Die Rechten haben natürlich gewonnen, was sonst? 83 zu 37, großes Festival unserer Kanalarbeiter wieder, da kannste nichts gegen machen. Da ist der Herr Senatsdirektor, der die Posten zu vergeben hat – und wir dagegen mit unserm kümmerlichen FU-Assistenten.»
«Hättst du dich doch aufstellen lassen.»
«Bin ich bekloppt?»
«Bloß durch Meckern …»
«Hör doch auf damit!» Mannhardt reagierte sauer. Sie hatte wieder mal den Nerv getroffen. Da tönte er dauernd, man müßte endlich die Welt verändern, aber wenn es galt, beim Zusammenzimmern des neuen Gebäudes den kleinsten Nagel einzuschlagen, da drückte er sich. Er flüchtete sich in die bequemste Entschuldigung: «Du weißt doch selber, wie oft ich abends nicht zu Hause bin – ich kann doch nie zu den Versammlungen gehen.»
Lilo sah ihn an. «Ich wollt dich gestern noch sprechen, dann muß ich doch vorher eingeschlafen sein …»
«Was ist denn?»
«Elke sollte gestern um neun Uhr zu Hause sein – und wann war sie da: um halb elf!»
Mannhardt verstand seine Frau nicht. «Na und? Hat sie wieder bei Petra gehockt.»
«Hat sie eben nicht. Petra behauptet das auch, aber ich hab vorhin mit ihrer Mutter gesprochen: sie lügen beide. Schon das dritte Mal diesen Monat. Du – ich …»
Mannhardt stieß Lilo zur Seite und stürzte die Treppen hinunter, sich noch im Laufen die Hose zuknöpfend. So schnell war er noch nie im Keller gewesen.
Elke.
Er riß die Tür zum Gästezimmer auf. Sie hatte lange darum gekämpft, und zu Weihnachten hatte er sie dann nach unten ziehen lassen, hinunter in ihre eigene Welt, aus der er immer stärker hinausgedrängt wurde. Je mehr er sie, ihre Bewegungen und ihre Stimme, ihre ganze Art genießen wollte, desto auffälliger verkroch sie sich vor ihm.
Seine Tochter schlief inmitten ihrer Posterhelden tief und fest, die Decke fast über den Kopf gezogen. Vom Gang drang wenig Licht herein. Er ließ die Deckenbeleuchtung aufflammen und riß ihr dann das Bett weg. Sie lag auf dem Rücken und hatte nur ein blaues Höschen an. Ehe sie sich aufrichten konnte, hatte er ihre Arme gepackt und preßte sie auf die Liege. Während sie schrie und Lilo ihn wegreißen wollte, sah er sich Rücken, Po und Schenkel an.
«Laß mich los!» fauchte sie. «Hau doch endlich ab … Mammi!»
«Was ist denn los, hast du sie nicht mehr alle!?» Lilo schnürte ihm mit dem rechten Unterarm die Kehle zu, er mußte loslassen.
Elke fuhr herum, kratzte ihn.
Er konnte sich noch die Innenseite ihrer Arme ansehen, dann war sie aus dem Zimmer gelaufen und hatte sich auf der Toilette eingeschlossen. Dort schluchzte sie.
«War denn das wirklich nötig?» fragte Lilo.
«Ja, das war nötig», antwortete Mannhardt, während er mit weichen Knien nach oben ging. Am Schuhschrank blieb er stehen und öffnete seine Aktentasche. Er nahm eine Plastikhülle heraus, ging damit zum Frühstückstisch und breitete eine Reihe von Hochglanzfotos aus.
«Hier, kannst du dir ja mal ansehen.»
Lilo setzte ihre Lesebrille auf und betrachtete die Bilder. Nach dem dritten konnte sie nicht mehr. Sie war nahe daran, sich zu erbrechen.
Mannhardt goß ihr einen Cognac ein und ließ sie trinken.
Hatte er ihr zuviel zugemutet? Vielleicht. Aber schließlich war sie schon eine Ewigkeit mit einem Kriminalbeamten verheiratet. Er hätte nie geglaubt, daß diese Bilder einen solchen Schock bei ihr auslösen würden. Sicher, hart waren sie schon. Dieser über und über in Blut getauchte, von Stichen und Schlägen geradezu zerfetzte Körper des Jungen.
Er überflog noch einmal den ersten Bericht des Gerichtsmediziners. Starke Blutstauung und Schwellung des Gehirns … Starke Wassersucht der rechten Lunge, akute Blähung der linken Lunge (nach Mageninhaltaspiration) mit eigentümlichen fleckenförmigen Blutungsherden in allen Lungenlappen … Erweiterung beider Herzkammern … Kleinfleckige Blutungen in der Dickdarmschleimhaut … Vergiftung mit einer unbekannten Substanz …
Die unbekannte Substanz hatte sich als eine Mischung von Captagon, Rosimon-Neu und LSD herausgestellt. Zudem hatte sich der Siebzehnjährige kurz vor seinem Tod noch eine Kapsel Mescalin in den Mund entleert.
«Ich hab ihn erst gar nicht erkannt», sagte Lilo jetzt, «aber war das nicht der Rolli, der mal in Elkes Klasse gegangen ist?»
«Roland, ja, Roland Anterhaus.»
«Der war ein Jahr älter als sie und ist dann irgendwann mal hängengeblieben. Zur Geburtstagsparty war er auch mal hier, und die Mutter kenn ich vom Einkaufen …»
Mannhardt nickte. «Er war völlig high und hat sich dann in so ’ner Art religiöser Verzückung selber umgebracht. Zum Schluß wollte er sich sogar kreuzigen, im linken Arm steckt noch ein Riesennagel drin. Wahrscheinlich war er allein, aber genau wissen wir’s noch nicht; die Eltern sind verreist gewesen, eine Woche Prag.»
«Also … Also, das ist ja …»
«Wir sind uns ziemlich sicher, daß es hier bei uns – in Hermsdorf oder in Frohnau drüben – eine Sekte geben muß, die … Ich meine: Rauschgift, Geißelung, Musik, Tänze – so ’ne Art Voodoo-Kult, ja? Der Junge da ist wohl nur das erste Opfer. Vielleicht verstehst du nun, warum ich Elke vorhin …»
Er stockte unwillkürlich, denn in diesem Augenblick kam Elke zur Tür herein, in einen blauen Bademantel gehüllt. Sie setzte sich, stumm und abweisend, und rührte ihren Pulverkaffee um.
«Hast du mitgekriegt, was passiert ist?» fragte Mannhardt, und er schnauzte sie, obwohl er es eher einfühlsam sagen wollte, geradezu an.
«Ja, hab ich. Soll das ein Verhör werden?»
Mannhardt war vernarrt in dieses dunkle Gesicht. Kreolisch, irgendwie … Wie hatte er sich in den Jahren zwischen dreizehn und dreiundzwanzig nach einer solchen Freundin gesehnt! Und da saß nun der fleischgewordene Traum seiner Jugend in Gestalt einer aufsässigen Tochter. Einer Tochter, die aufs höchste gefährdet war.
«Wir meinen’s doch nur gut mit dir», sagte Lilo.
«Nu komm schon!» Mannhardt streichelte sie wie eine Katze, die jeden Augenblick kratzen kann. «Du hilfst mir, du hilfst dir, du hilfst anderen.»
«Ich hab damit nichts zu tun.»
«Dann sag bitte, wo du gewesen bist.»
«Weg.»
«Wo weg?»
«Nicht da.»
«Wo denn?»
«Woanders.»
«Mein Gott: wo denn? Ein Mann?»
«Warum denn kein Mann!?»
«Einer von denen, die hier immer rumhängen?»
«Ich laß mich nicht von dir verhören. Ich hab überhaupt nichts getan.»
Mannhardt stöhnte. «Also ein älterer Mann?»
Sie sprang auf und wollte zur Tür laufen. Mannhardt fing sie vor dem Herd wieder ein und preßte sie an sich.
«Ich hab doch bloß Angst um dich!»
Sie riß sich los. Mannhardt machte keinen zweiten Versuch, sie zurückzuhalten. Er fühlte sich hilflos und elend. Lilo weinte lautlos.