Mitunter mörderisch - -ky - E-Book

Mitunter mörderisch E-Book

-ky

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Beschreibung

Der Kritiker Heinrich Vormweg hat -ky einmal bescheinigt, seine Kriminalromane seien «ungemein spannend» und hielten den Leser zugleich dazu an, «sich die Wirklichkeit genauer anzuschauen» – unsere bundesrepublikanische Wirklichkeit nämlich, in der es nach Ansicht des Autors nicht immer so zugeht, wie es sein sollte. Auch die vier Kriminalstories in diesem Band – sie sind übrigens nach Hörspielen entstanden, die -ky für den WDR geschrieben hat – transportieren Sozialkritisches. Aber das tut der Spannung keinen Abbruch – im Gegenteil: Sie wächst hier gerade aus dem Kampf des Unterprivilegierten gegen das Establishment, dem er aus mangelndem Artikulierungsvermögen hoffnungslos unterlegen ist.

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2017

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–ky

Über –ky

Über dieses Buch

Der Kritiker Heinrich Vormweg hat -ky einmal bescheinigt, seine Kriminalromane seien «ungemein spannend» und hielten den Leser zugleich dazu an, «sich die Wirklichkeit genauer anzuschauen» – unsere bundesrepublikanische Wirklichkeit nämlich, in der es nach Ansicht des Autors nicht immer so zugeht, wie es sein sollte.

Inhaltsübersicht

Ausbruch gelungen – und wie viele Tote?Mord macht erfinderischEin Mord zur rechten ZeitHerr Dühring stirbt nicht gern allein

Ausbruch gelungen – und wie viele Tote?

Berlin.

Berlin (West) oder Westberlin.

Und zwar Tegel. Flugplatz Tegel. Humboldt-Schloß. Borsig-Werke. Und neuerdings am Tegeler See, auf früherem Gaswerksgelände, klotzige Wohnmaschinen in der märkischen Landschaft, Neheimer Straße, so als habe jemand ein halbes Dutzend kalkweißer Ziegelsteine auf einen Billardtisch gestellt.

An den Fassaden ein Balkon überm anderen, ein Gitterkäfig neben dem anderen.

Einer davon gehörte zur Wohnung der Studienrätin Eva-Maria Muthesius, 35, unverheiratet, kein Kind, Deutsch und Geschichte.

Seit einigen Tagen wohnte Petra bei ihr, Petra Palczewski, noch keine achtzehn, Schülerin und etwa noch ein Jahr bis zum Abitur. Sie stand im kleinsten Zimmer und nagelte Poster an die currygelb getünchte Wand. Dazu Jazz, der Trompeter Dusko Goykovich, ziemlich laut aus den Stereoboxen.

«Petra! Halb zwei – etwas leiser bitte!» rief die Muthesius von der Diele her.

«Das ist doch hier kein Altersheim», bemerkte Petra.

«Wenn man mittags mal niest, sind die gleich beim Hauswart. Und ich bin froh, daß ich die Wohnung endlich hab.»

«Neubau, vierter Stock …» Das kam ein wenig anklagend, ein wenig abfällig.

Die Muthesius lachte. «Stinkbürgerlich, ich weiß, aber kein Gegenüber, mit Blick über den ganzen Tegeler See.»

Petra wurde albern-trotzig: «Ja, Frau Studienrätin: Auf dem Tegler See kocht ein Segler Tee – und in der Steiermark ist der Meier stark.» Sie hämmerte weiter. «Dieses Scheißposterdings muß wieder ran – kein Leben ohne Frank Zappa!» Sie schlug zu, als wollte sie durch die Wand durch.

Die Muthesius wurde energisch. «Komm, gib den Hammer her! Ich will keinen trouble hier, die sehn mich sowieso schon immer so komisch an – als wär ich ’ne zweite Meinhof. Eine teutsche Studienrätin hat eben ihre Klassenarbeiten zu korrigieren, anstatt linke Artikel zu schreiben und Flugblätter zu verteilen.»

«Tja, wer Mao liebt, muß leiden!»

«Wenn du man in letzter Zeit im Unterricht so geistreich gewesen wärst …» Das Schrillen eines Kurzzeitweckers unterbrach sie. «Ich muß noch zu Weirichs rauf, Blumen hinstellen, die sind ja gleich da. Wenn hier Nachbarn aus dem Urlaub zurückkommen, kauft man vorher für sie ein und stellt ihnen ein paar Blumen auf den Tisch.»

«Bürgerlicher geht’s ja kaum noch!» sagte Petra.

«So kann man wenigstens mit ihnen reden. Was Strategie ist, wirst du auch noch eines Tages begreifen. Also – bis gleich!» Sie lief aus dem Zimmer und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.

Petra begann, ihren Koffer auszupacken. Jeans, Pullis, T-Shirts, ein bißchen Wäsche, Bücher und ein prall gefüllter Leitz-Ordner; nicht viel. Sie blätterte gerade in Urs Jaeggis Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik, als nebenan im Wohnzimmer das Telefon läutete. Sie lief hinüber und meldete sich überaus förmlich: «Hier bei Muthesius …»

Es war ihre Mutter. «Petra – bist du’s?»

«Ich? Ja … Du, Mutti …?»

«Gott sei Dank, Kind, wir haben schon überall herumtelefoniert. Ich steh hier in der Zelle, Vata auch und … Is das deine Studienrätin, die …»

«Ja, sie hat mich bei sich …» sagte Petra.

«Vata hat deinen Zettel gefunden: Du hältst das bei uns nich mehr aus – Petra!»

«Nee, tu ich auch nich», sagte Petra.

Die Mutter wurde weinerlich. «Wir haben doch imma alles getan, damit du …»

Da brach es aus Petra heraus. «Klar, ihr habt immer alles getan, damit ich nie Zeit für mich hatte, ja! Stefan aus dem Kindergarten abholen, nich, Susi die Rechenaufgaben nachsehen, Andreas die Windeln wechseln, für Papa den Antrag auf Verschickung schreiben, für dich einholn gehn, oder vielleicht nich? Ich werd noch wahnsinnig! Und …»

«So schlimm, wie du …»

«Laß mich endlich mal ausreden! Und abends immer der Fernseher an! In dem engen Loch immer der Scheißkasten an!» Petra wurde immer erregter. «Da kann doch kein Schwein bei lernen!»

Die Mutter ließ sich nicht beirren. «Du könntest heute schon ’ne schöne Stange Geld verdien’n, wenn du damals da in der Drogerie angefangen hättest. Das war doch ’ne Chance da.»

«Hör doch endlich auf rumzuquatschen! Ich will das Abi machen, ich will studieren – Mensch, seid ihr denn schwer von Kapee, soll ich’s euch noch schriftlich geben? So was …»

«Überleg’s dir noch mal …»

«Laß mich mit dieser idiotischen Drogerie zufrieden!» schrie Petra.

«Aber dann komm wenigstens zurück!» rief die Mutter.

«Da kannste dich aufn Kopp stellen!»

Die Mutter änderte ihre Taktik. «War’s denn nich imma gemütlich bei uns – Weihnachten, Ostern, denk doch mal daran. Nich bloß imma an alles Mieße! Und wenn wa Mensch-ärgere-dich-nich geschpielt habn! Stefan heult dauernd, weil de nich da bist …»

«Der wird in seinem Leben noch mehr zu heulen kriegen!»

«… und Susi ißt nichts. Die sagen alle, du mußt zurückkommen; du solltest bloß ma hörn, was die sagen!»

Petra wurde wieder ruhiger. «Ich kann bei euch nich lernen, ich bleib sitzen. Ein Jahr noch – und das will ich auch noch schaffen!»

«Es kommt doch nich drauf an, ob man Akademika is, Kind, glücklich muß man sein!»

Petra stampfte mit dem Fuß auf. «Und wenn ihr euch den Mund fußlich redet – ich bleib hier!»

«Petra, wir …»

Petras Vater mischte sich ein. «Gib mal her, Gerda! Petra, hörste mich?»

«Ja …»

Er zog sofort vom Leder. «Wennde bis heute abend acht Uhr nich wieda da bist, dann laß ick da von de Pollezei holn!»

Petra lachte nur. «Kannste gar nich, bevor de was vom Gericht in’nen Händen hast. Und die geben dir nichts, die Zeiten sind vorbei, wir haben uns erkundigt.»

«Petra, wir …» Das war wieder ihre Mutter.

Ihre Eltern stritten sich wohl. «Laß ma, Gerda, quatsch nich dazwischen! Petra, biste noch da …?»

Petra brachte gequält ein Ja heraus.

«Mensch, du und deine linken Spinna, ihr wollt ja bloß wat Beßret sein! Das isses doch: wat Beßret! Aba Scheiße, die jrößten Arschlöcher seid ihr! Imma uff unsre Kosten! Leiste erst ma wat, bevor de … Wir brauchen dir hier, und wat machste: Sitzen läßte uns! Klasse! Wenn det dein Sozialismus sein soll: na, dann proste Mahlzeit! Und Michael erst! Seit drei Jahrn pennta zusamm, und jetz issa dir nich mehr fein jenuch, weila bloß ’n lumpija Handwerka is. Muß ja wat Höhret sin. Uffhängen sollte man so wat, und wenn’s die eijene Tochter is! Da kann ick nur saren …»

«Papa, laß dir doch erklären …»

«Ick will nischt mehr hören, du hast ma jenuch erklärt! Du jehörst hierher, und damit basta! Ick muß jetz wieda anne Maschine, aba Mutta jeht nach Haus. Und da wirst du ooch hinjehn. Wennde in eina Schtunde nich wieda da bist, dann is der Ofen aus bei euch. Vaschtandn? Eh ick dich so loofen lasse, bring ick deine sehr vaehrte Frau Schtudienrätin eijenhändich um, vaschtehste? Da kannste Jift druff nehm. Die rote Schlampe, die! Det is mein Ernst, denk dran!» Er hängte ein.

 

Petra ging ins Badezimmer, riß den Medikamentenschrank auf und suchte nach dem kleinen Fläschchen mit den Beruhigungstabletten. Sie schluckte eins der smaragdgrünen, in der Mitte eingekerbten Plättchen und spülte es mit einem Schluck Wasser hinunter. Als sie sich das Gesicht gekühlt und wieder abgetrocknet hatte, klingelte es an der Wohnungstür.

Es war die Muthesius. «Entschuldigung, ich hab die Schlüssel vergessen … Gott, Petra, wie siehst du denn aus?»

«Meine Eltern haben angerufen.»

«Und …?»

«Mutter hat auf Rührung gemacht, Vater hat gedroht, dich umzubringen.» Plötzlich schluchzte sie unkontrolliert auf. «Ich halt das nich durch, Eva! Drei Stunden erst – und ich kann nich mehr …»

Die Muthesius geleitete das Mädchen behutsam zu einem Stuhl. «Komm, setz dich erst mal hin.» Dann wurde ihre Stimme scharf: «Ich hätte dich doch ein bißchen anders eingeschätzt. Ein Telefongespräch – und schon willst du aufgeben! Daß die Sache nicht kampflos abgehen wird, das haben wir doch gewußt. Also reiß dich jetzt zusammen und …»

Petra ließ den Kopf hängen. «Ich weiß nich, ob ich …»

«Du wirst es schaffen! Wenn es eine schafft, dann du! Du mußt es schaffen! Du bleibst so lange hier, bis ich ein Zimmer für dich gefunden habe, und dann – verdammt noch mal! – besinnst du dich auf deine eigenen Kräfte und holst alles aus dir raus, was in dir drinsteckt. Es wär ’ne Schande, wenn ein Mädchen mit deiner Begabung bei Osram Lampendrähte zusammenlöten oder in deiner ulkigen Drogerie da den Leuten Waschlappen verkaufen müßte.»

«Die anderen brauchen mich doch auch …» Es klang kläglich.

Die Muthesius wurde sarkastisch. «Damit du zehn Jahre später selber vier Kinder hast, dazu halbtags arbeiten gehn mußt, damit ihr wenigstens halbwegs über die Runden kommt, und dein Mann tausendeinhundert Mark brutto in der Lohntüte hat und sich jeden zweiten Tag besäuft, weil er seine geisttötende Arbeit nicht mehr ertragen kann. Die ganze Entfremdungsdiskussion, denk mal dran!»

Petra schrie sie an. «Das ist doch alles nur Theorie: Meine Mutter ist doch ohne mich aufgeschmissen, die braucht mich doch, wenn sie nich schon mit fuffzich …»

Die Muthesius schrie zurück. «Deine Mutter – Quatsch! Das System braucht dich. Das System braucht dich und deine Kinder für seine Fließbänder und seine Dreckarbeit. Darauf kommt es doch hinaus!»

«In der Theorie – und in der Praxis heul ich mich tot.»

«Emanzipation fällt einem nicht in den Schoß – vielleicht begreifst du das mal!»

Petra gab auf. «Mach mir ’n Kaffee.»

«Warte mal ab, in ein, zwei Tagen sieht die Welt wieder anders aus. Jetzt haben sie gemerkt, daß du ausgebrochen bist und jagen dich alle, aber dann … Ich wette, daß du’s schaffen wirst! Du hast uns gegenüber die Pflicht, daß du’s schaffst. Wenn nicht von hundert Mädchen wenigstens eine diesen Teufelskreis durchbricht, dann kommt doch unsre Gesellschaft nie weiter … Übrigens: Hat Ralf schon angerufen?»

«Ralf …?» Petra tat erstaunt.

«Welcher Ralf schon – dein Medizinmann, natürlich», sagte die Muthesius.

«Nein, der hat sich noch nicht gemeldet. Die haben wohl endlich ihre Leiche gekriegt. Der muß fürs Physikum büffeln», sagte Petra.

«Er wollte mir noch für den Biologieunterricht ’n Stückchen Gewebe mit ein paar hübschen Krebszellen mitbringen.»

Petra lachte. «Ich krieg richtig Appetit auf ein Hackepeterbrötchen!»

«Na, siehst du, jetzt lachst du schon wieder; eins zu null für dich.»

Es klingelte an der Wohnungstür.

«Das wird Ralf sein», sagte Petra. Sie ging zur Tür und öffnete.

Vor ihr stand ein junger Mann, blaue Jeans, schwarze Lederjacke, lang herabfallendes und leicht gekräuseltes Haar, die Schultern bei locker baumelnden Armen leicht nach vorn geschoben. «Na bitte! Wußt ick doch, wo de dir vakrochn hast. Nu laß mich schon rin in die jute Stube!»

Petra starrte ihn an. «Michael, ich … Wie bist du denn so schnell, ich …»

Er breitete die Arme aus. «Komm, laß da abknutschn, wie sich det für Valobte jehört!»

Petra sträubte sich. «Nicht doch, Frau Mu …»

«Die kann da noch wat bei lern!» lachte Michael. Für ein paar Sekunden gerieten sie in eine Art Clinch.

Petra schrie auf. «Michael – nein! Laß los!»

Die Muthesius kam in die Diele. «Nanu – Michael. Woher wissen Sie denn –»

«Ah, Mahlzeit, Frau Muthesius. Die Blum hab ick leida vajessen …»

«Warum arbeiteste denn nich? Biste wieder mal jefeuert worden?» fragte Petra dazwischen.

«Ick hab blau jemacht, ick wollt dir sehn.»

«Blau biste wohl auch, was?» Petra schnüffelte.

Michael lachte. «Die paar Bierchen … Die lange Reise, weeßte. Aba für meine Petra, da geh ick meilenweit.»

Sie sahen sich an, alle drei, reihum, und keiner fand Worte, die irgendwie gepaßt hätten.

Die Muthesius faßte sich als erste. «Wollen wir uns nicht …»

Michael sah sich in der Wohnung um. «Hier wohnste also jetzt?»

«Bis wir für Petra was Eigenes gefunden haben», sagte die Muthesius schnell.

Michael wehrte ab. «Da redn wa noch drüba … Aba schick isses hier.» Er ließ sich auf die Liege fallen. «Quietscht ’n bißchen, aba brauchbar.» Er lachte anzüglich. «Wat habta denn da an’ne Wand hängn? Gruppensex – wa?»

«Das ist die Kopie eines Gemäldes von Tizian», antwortete die Muthesius. «Bacchanal …»

«Jaja, is ne janz schöne Sauerei, wat die da uff dem Bild treiben. Und so ville uff eenmal. So wat is bei Petra und mir nich drinne. Wir beede alleene und sonst hat da niemand wat bei zu suchen.»

«Wollen wir uns nicht …» unterbrach die Muthesius ihn.

Michael baute sich vor Petra auf. «Ick hab mit deine Eltan jesprochn: Du sollst zurückkomm’n.»

«Eha schneid ick mir die Pulsadern uff, ehe ich da wieder hin zurückgehe!»

«Dann heiraten wir eben in vierzehn Tagen – ick kann die Wohnung von unserm Meista kriejen.» Michael legte den Arm um sie.

Die Muthesius kam Petra zuvor. «Michael, Petra braucht jetzt jede Minute, um alles das nachzuholen, was sie in den letzten Monaten versäumt hat. Ihre Versetzung ist aufs äußerste gefährdet. Sie muß den Sprung in die 13. Klasse schaffen, sonst ist die jahrelange Arbeit, sonst ist alles umsonst gewesen – verstehen Sie doch! Das ist die letzte Hürde vor dem Abitur, der Rest ist dann nur noch mehr oder weniger Formsache.»

Michael gab sich nicht geschlagen. «Ick vadiene jetz jenuch, und wenn Petra mit ihre Schreibkünste int Büro jeht, komm wa prima üba de Runden.»

«Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt, daß ich studieren will!» schrie Petra. «Jura! Daß ich Jugendrichterin werden will …»

«Damitte de Leute bei uns ausm Kietz vaknacken kannst, wa?!» höhnte Michael.

«Aber Michael!» mischte sich die Muthesius wieder ein. «Im Gegenteil, sie will helfen, gerechte Urteile zu fällen, keine Klassenjustiz, den Jungen und Mädchen …»

Michael fuhr sie an. «Hörnse uff, dumme Sprüche zu kloppen! Ick jeh jetz vier Jahre mit Petra, und ick hab ’n Recht druff … Petra zieht zu mir!»

«Ich denke nich daran!» fauchte Petra.

Michael stand drohend vor ihr. «Du …!»

Die Muthesius versuchte zu vermitteln. «Kommt, Kinder, wir bereden das alles mal in Ruhe. Ich setz Wasser auf, und dann trinken wir erst mal ’ne Tasse Kaffee. Da wird sich dann schon ’ne Lösung finden.» Sie ging in die Küche, und gleich darauf konnten Petra und Michael sie mit dem Wasserkessel hantieren hören.

«Na schön», rief Michael ihr hinterher, «reden wa darüber. Aba jloobense bloß nich, det ick ma dumm quasseln lasse.»

Die Muthesius kam zurück. «So! Eh das Wasser kocht, könntest du dich, Entschuldigung, könnten Sie sich mal nützlich machen.»

«Ick …?» fragte Michael erstaunt.

«Ja – Sie. Sie sind doch Handwerker, Michael. Ich hab mir ’ne Markise für den Balkon gekauft, und …»

«Und nu kriegta die oben nich ran …?»

«Ganz richtig. Da ist zwar noch eine Holzleiste von meinem Vorgänger dran, und die Haken hab ich auch schon gekauft, aber ich krieg sie nicht rein. Wenn man mit ausgestreckten Armen arbeiten muß, wird einem ganz schwindelig …» Die Muthesius machte eine Handbewegung, die Hilflosigkeit andeuten sollte.

«Is doch ’ne Kleinichkeit», sagte Michael. «Werkzeug habense schon draußen?»

«Haken, Schraubenzieher, Bohrer – alles da.»

«Und ’ne Leita?»

«Die Trittleiter zum Fensterputzen …»

«Na, mal sehn, wat sich machn läßt», sagte Michael. Er öffnete die Balkontür. «Mensch, det ist ja ’ne Aussicht hier – wie’m Urlaub!»

«Ja, die Wohnung ist nicht schlecht», bestätigte die Muthesius.

«Hier ist die Markise», sagte Petra, «auf die Stange haben wir sie schon raufgezogen.»

Michael freute sich. «Rot-weiß – Klasse. Mir zu Ehrn wohl, wa? Ick hab nämlich ma bei Rot-Weiß Neukölln jespielt, Linksaußen. Eh wa dann nach Kreuzberch jezogen sind. – Mensch, vier Stockwerke – janz schön hoch!»

«Reicht denn die Leiter?» fragte die Muthesius und deutete auf die kleine Aluminiumleiter.

«Klar, die reicht dicke. Wenn mich eena festhält.»

«Petra», sagte die Muthesius.

«Okay! Denn ma ran an die Buletten!» Michael stieg die Leiter hinauf. «Ihr jebt mir mal ’n Hamma und ’n dicken Narel, damit ick ’n Loch in det Holz schlaren kann, sonst faßt der Haken nich.»

«Hier – bitte.» Die Muthesius reichte ihm das Gewünschte.

«Ankörnen nennt man det in de Fachsprache.» Michael erklärte den beiden Frauen unten jeden seiner Handgriffe. «So! Nu ma her mit die Haken. Wie ville sind’s denn?»

In diesem Augenblick klingelte im Zimmer das Telefon. Doch die Muthesius schien es nicht zu bemerken. «… vier Haken, insgesamt vier Haken. Ich dachte, wir …»

«Telefon!» rief Michael.

«… ich dachte, vier Haken reichen – oder?» Die Muthesius sah zu ihm hinauf.

«Nehmse doch erst mal det Scheißtelefon da ab!» schrie Michael.

«Ach, das ist doch nicht so wichtig. Der ruft nachher noch mal an», sagte Petra.

«Der …?» Michael hörte auf zu hämmern.

«Kommen Sie», sagte die Muthesius beschwichtigend, «wer mich unbedingt sprechen will, der ruft auch später noch mal an.»

Das Telefon schrillte unbeirrt weiter.

Michael ließ nicht locker. «Vielleicht isses auch für Petra …?»

«Unsinn, es weiß doch keiner, daß sie hier ist», sagte die Muthesius. «Und zappeln Sie da nicht so herum, Mann, das sieht ja lebensgefährlich aus.»

Aber Michael wurde noch lauter. «Mensch, dann jehn Sie doch ran – mich macht det dauernde Jebimmle janz nervös.»

«Wenn Sie so großen Wert … Bitte …!» Die Studienrätin war mit ein, zwei Schritten im Zimmer. «Muthesius! Wie bitte? Nein, da sind Sie hier falsch verbunden. Hier ist Muthesius …» Sie knallte den Hörer auf die Gabel. «Unverschämtheit!» Sie kehrte auf den Balkon zurück. «Da dachte doch jemand, hier sei ein Massagesalon.»

«Ihr könnt ma doch nich für dumm vakoofen!» fuhr Michael hoch. «Ick weeß doch jenau, wer da dran war: Ralf war da dran, dieset hochnäsije Arschloch da. Hamse mir doch azählt von dem. Herr Doktor! Der war dran!»

«Wie kommen Sie denn auf die Idee?»

«Halt doch det Maul, du …!» Er legte den Hammer auf die Leiter und hob drohend den Arm, die Innenhand zum Schlag bereit.

«Michael!» Petra zerrte an seiner Hose.

Er polterte weiter. «Ihr steckt doch beide unta eina Decke. Loswerdn wollta mich, ick bin euch nich vornehm jenuch. Aba nich mit mir!»

«Michael, Ihre Phantasie …»

«Dir laß ick zuerst hochjehn, du alte Schrippe! Ihr glaubt wohl, ick bin doof und merke nich, wat hier jekunkelt wird. Mal sehn, wat euer Direx dazu sagt, wenn ick ’m det hier zeije.» Damit hielt er eine Zigarettenschachtel hoch. «Dann seita jeliefat, alle beede.»

«Wo haste das her?» fauchte Petra. «Gib mir sofort die Schachtel wieder!» Sie versuchte danach zu greifen.

«Det möchste wohl, wa?» Michael streckte den Arm von sich und setzte seinen Fuß auf die oberste Leitersprosse. «Aba denkste, Puppe, denkste – wat da drin war, is bei mir zu Hause. Also – wie isses: Kommste mit oder soll ick …»

Petra bekam seinen anderen Arm zu fassen und versuchte, ihn von der Leiter zu ziehen. Michael lachte nur und hatte sich mit einem Ruck befreit.

Die Muthesius legte Petra die Hand auf den Arm. «Vorsicht Mädchen!»

«Nehmse jefällichst Ihre Pfoten von meine Braut!» Michael stieß mit dem untersten Fuß nach ihr. «Sie Drecksau, Sie …»

Er wankte. Seine Hände griffen haltsuchend ins Leere. Instinktiv streckten beide Frauen die Arme aus.

«Michael – um Gottes willen!»

 

Mannhardt stand im Büro des Chefs und betrachtete, während dieser telefonierte, die an der Wand hängende große Berlin-Karte, die, von den vielen Markierungsnadeln schon ganz zerpikt, den Raum beherrschte.

«Ja», sagte der Chef, offenbar zum Polizeipräsidenten, «die Mordkommission ist jetzt doch eingeschaltet worden. Oberkommissar Mannhardt wird die Ermittlungen leiten, zusammen mit Kriminalobermeister Koch. Die eine der beiden mutmaßlichen Täterinnen … Moment … die 35jährige Studienrätin Eva-Maria Muthesius, befindet sich noch in ihrer Wohnung und wird gerade ärztlich versorgt … Ein leichter Schock – soweit ich weiß, ja … Ja, draußen in Tegel, Neheimer Straße, am Tegeler See … Die Neubaublöcke da. Das Opfer … Hier, ja … Ein Michael Slzapka …» Er buchstabierte: «S-l-z … ja: z-a-p-k und a, Slzapka, 23 Jahre alt, Starkstromelektriker von Beruf. Ja … Die Hauptverdächtige ist die Schülerin Petra Palczewski, knapp achtzehn Jahre. Sie ist flüchtig – und zwar im Pkw der Muthesius B-HV 7331. Ja, die Fahndung läuft auf Hochtouren.»

Daß dem so war, bemerkte Mannhardt, als er im Dienstwagen zur Neheimer Straße hinausfuhr. Überall, nicht nur in Tegel, blitzende Blaulichter. Auch vor dem Haus der Muthesius, eingekeilt von den üblichen Schaulustigen, die bekannte Funkwagenparade. Mannhardt kannte einen der uniformierten Kollegen, den dicken Armbruster.

Der war voll in Aktion. «Zurücktreten, zurücktreten bitte! Du auch, Karlchen, du auch! Sie beide da, das gilt auch für Sie!» Er ging auf Koch und Mannhardt zu, die inzwischen aus ihrem Wagen geklettert waren.

«Mannhardt, Mordkommission, hier …» Die Marke.

«Natürlich. Ich kenn Sie doch noch von der Gothaer Straße her, Herr Kollege, vom Lehrgang damals …»

«Das will ich meinen – Tagchen auch! Ich werde als erstes mal die Zeugen …»

«Wenn’s überhaupt welche gibt», sagte Armbruster.

«Herr Koch hier auch. Und Sie passen bitte auf, daß uns keiner durch die Lappen geht.»

«Mach ich», versicherte der dicke Armbruster.

«Und dann sind Sie so nett und schreiben mal die Adressen auf von denen, die wir Ihnen rüberschicken», sagte Mannhardt.

«Wenn Sie nachher ’ne Lage schmeißen, tun wir alles.»

Mannhardt reckte sich auf die Zehenspitzen. «Meine Damen und Herren, wer von Ihnen etwas von dem Vorfall eben gesehen hat, kommt bitte mit hinüber zum Mannschaftswagen!»

«Ich.»

Ein kesses Katalogmädchen quetschte sich durch die Menschenmenge nach vorn.

«Ich wohn da drüben –» Sie zeigte auf einen Mietwohnungsblock, der im rechten Winkel zu dem Haus stand, vor dem sich die Menschen scharten. «Im sechsten Stock. Ich hab grad kleine Wäsche aufgehängt, als da der Krawall losging.»

«Dann kommen Sie mal als erste mit.»

Mannhardt geleitete sie zum Mannschaftswagen, dessen hintere Tür geöffnet war und so etwas Sichtschutz bot.

«Ihr Name?»

«Irene Kersten. Fräulein Irene Kersten. 21 Jahre alt. Wohnung: Berlin –»

«Schon gut, das nimmt später mein Kollege alles auf. So, und nun erzählen Sie mal. Sie haben also von Ihrem Balkon aus beobachtet, wie …»

«Genau. Zuerst denke ich, kuck mal, die lassen sich ’ne Markise anbringen. So’n Ding hab ich auch schon immer …»

«Das ist im Moment unwesentlich, Fräulein Kersten», fiel Mannhardt ihr ins Wort.

«Ach so, ja. Also der macht da mit der Markise rum – ja, und dann hamse sich das Streiten gekriegt. Hören konnt ich das nich, aber wie se da rumgefuchtelt haben … Ja, und dann ham die beiden Frauen ihn runtergestoßen!» Der letzte Satz kam beinahe stolz heraus – stolz, daß sie eine solche Sensation miterlebt hatte.

«Und das haben Sie genau gesehen? Es hätte doch sein können, daß Sie die Situation mißverstanden haben und der junge Mann nur das Übergewicht gekriegt hat und sich an einer der beiden festhalten wollte. Was meinen Sie?»

«Festhalten? Warum hatta denn dann ‹Mörder!› geschrien, als er gekippt is?»

«Das hat er geschrien? Das haben Sie genau verstanden?»

«Na klar doch.» Sie tat ein paar Schritte auf die wartende Menschenmenge zu, um sich ihre Aussage von den anderen bestätigen zu lassen. «Stimmt doch, er hat doch geschrien: ‹Mörder!› Wörtlich … hat er doch?»

Aus der Menge kam zustimmendes Gemurmel.

«Vielen Dank, Frau … Fräulein …?» Mannhardt hatte kein Gedächtnis für Chargen.

«Kersten.»

«Fräulein Kersten, ja. Geben Sie meinem Kollegen bitte noch Ihre Personalien. Vielen Dank.»

Die Stimme eines älteren Mannes, mit Krückstock und Zigarre, ertönte aus der Menge. «Die spinnt doch!»

«Erlauben Sie mal!» empörte sich Fräulein Kersten.

«Wenn Sie bitte mal etwas näher …» Mannhardt bugsierte das Katalogmädchen in die Menge zurück und schaffte Platz für den Zwischenrufer.

«Ja …» Der quetschte sich nach vorn. «’n Rentner ist doch kein D-Zug nich. Den Weibern geht doch immer die Phantasie durch. Wenn det ’n Mord war, dann freß ick ’n Besen.»

«Also kein Mord, sondern …?» Mannhardt kritzelte etwas auf seinen Notizblock.

«… ’n Unfall, Herr Kommissar! Dem Jungen is schwindlich geworden, und er hat sich noch an die beiden Frauen festhalten wollen. Aber die konnten ihn ooch nich mehr halten. Det hab ick mit meinen eigenen Augen jesehn, det kann ick vor jedem Jericht beschwörn – ja, so war det und nich anders! Schrecklich! Als wir damals, ick war Jefreiter da, als wir damals …»

Mannhardt wehrte ab. «Vielen Dank, ja … Wenn Sie freundlicherweise Ihre Personalien …»

«Em-we – machen wir!»

Ein Junge, vielleicht dreizehn Jahre alt, drängelte sich vor. «Ich heiße Detlev Ernst, Neheimer Straße 4, mein Vater ist auch bei der Polizei. Wir haben hier auf dem Parkplatz Federball gespielt, das Mädchen hat den Mann runtergestoßen, und vorher haben sie sich ganz laut gestritten und haben Krach gehabt und … und der Mann hat wirklich ‹Mörder!› geschrien, ganz laut. Dann ist sie in einem grauen VW geflitzt, und das hier hab ich gefunden, nachdem die Feuerwehr den Mann abgeholt hat, das hier, bitte, es muß ihm aus der Tasche gefallen sein …»

«Eine Zigarettenschachtel …?» Mannhardt sah ihn skeptisch an.

«Ja, und da sind Schulaufgaben drin», wußte der Junge, «Mathe, Physik und Chemie, ein Zettel mit Aufgaben is da drin.»

«Zeig mal her … Hm, danke, ich nehm das mal mit.»

«Muß ich noch aufs Präsidium?»

«Nein, das wird nicht nötig sein.»

Der Junge verzog sich enttäuscht, und Mannhardt wandte sich wieder der Menschengruppe zu.

«Wenn noch jemand etwas beobachtet hat …»

 

Mannhardt glitt im Fahrstuhl nach oben, stieg aus und ging einen kasernenlangen Flur hinunter.

Ein Polizist, taubenblau uniformiert und sheriffstolz, wollte ihn aufhalten. «Wohin?»

«Mannhardt – Mordkommission.»

Der Uniformierte verlor etwas von seiner Großspurigkeit. «Ach so, ’tschuldigung. Die Kollegen von der Spurensicherung sind gerade fertig geworden, gerade weg und …»

«Wer ist denn noch drin?»

«Der Arzt nur noch. Sie hatte wohl ’n leichten Nerven … Da ist er ja. Herr Doktor …!»

Mannhardt sah den Arzt an. «… kann ich?»

«Mordkommission, was? Doktor Bertram – angenehm. Sehr verstört, die Gute; gehen Sie ein bißchen sanft mit ihr um, die Sache war ein böser Schock für sie.»

«Aber sie ist vernehmungsfähig – oder?»

«Sie wird ein bißchen müde sein, die berühmte Beruhigungsspritze. Übrigens, ich hätte auch eine gebrauchen können, ich hab den Jungen unten liegen sehen. Na ja, dann viel Erfolg noch.» Der Arzt ging zum Fahrstuhl, und Mannhardt betrat die Wohnung.

«Frau Muthesius?»

«Ja – hier auf dem Sofa.»

Mannhardt suchte das Zimmer, aus dem die Stimme gekommen war. «Mein Name ist Mannhardt», stellte er sich vor. «Mordkommission.»

«Mordkommission …?» wiederholte die Muthesius.

«Das ist der Balkon hier?» Mannhardt stieß die Tür auf, blieb, während sie nachschepperte, einen Augenblick auf der Schwelle stehen, um gleich einem kurfürstlichen Türmer den Blick über das im bläulichen Dunst zerfließende Havelland schweifen zu lassen, und trat dann hinaus.

«Es war ein Unfall, ein Unfall, mein Gott!»

«Ganz schön hoch …» bemerkte Mannhardt.

«Er hat den Halt verloren, ganz plötzlich, wissen Sie, ich …» Die Muthesius stockte.