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«Das ist ein Ultimatum», sagte Plaggenmeyer. «Ich gebe Ihnen drei Stunden Zeit. Wenn bis dahin der Mörder meiner Braut kein Geständnis abgelegt hat, fliegen wir alle in die Luft.» Dreiundzwanzig Oberprimaner des Gymnasiums der Kleinstadt Bramme und ihr Lehrer starren den jungen Mann entgeistert an, der vor ihnen steht. Mit einer Pistole in der einen und einer selbstgebastelten Bombe in der anderen Hand. Die meisten kennen ihn, weil ein Dunkelhäutiger in einem Ort wie Bramme bekannt ist wie ein bunter Hund. Und alle wissen, wovon er spricht: Von der Fahrerflucht-Affäre, die vor drei Wochen passiert ist. Bertie Plaggenmeyer hatte seine Braut am späten Abend zur Bushaltestelle begleitet. Beim Überqueren der Straße war sie von einem mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Wagen erfaßt worden. Der Fahrer hatte nicht angehalten, und das Mädchen war kurz darauf ihren Verletzungen erlegen. Nach den Aussagen, die Plaggenmeyer machen konnte, hatte die Polizei ermittelt, daß es sich entweder um den Wagen des Schrotthändlers Bleckwehl gehandelt haben muß oder um den von Dr. Carpano, Chefarzt am Kreiskrankenhaus. Beide fahren den gleichen Mercedes-Typ, und die Kennzeichen sind sehr ähnlich. Aber dann hatte Bleckwehl ein Alibi gehabt und Carpano einen völlig unbeschädigten Wagen ... Die Untersuchung hat sich festgefahren. Die Fahndung läuft leer; damit muß man sich abfinden in solchen Fällen. Plaggenmeyer findet sich nicht damit ab. Plaggenmeyer, Hilfsarbeiter und unehelicher Sohn eines schwarzen US-Soldaten und einer deutschen Mutter – Plaggenmeyer hat im Laufe seines zweiundzwanzigjährigen Lebens gelernt, der Polizei, der Justiz und der Gesellschaft schlechthin zu mißtrauen. Jetzt hat er zu dem Mittel der Geiselnahme gegriffen, um sich Gerechtigkeit zu verschaffen.
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2017
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–ky
«Das ist ein Ultimatum», sagte Plaggenmeyer. «Ich gebe Ihnen drei Stunden Zeit. Wenn bis dahin der Mörder meiner Braut kein Geständnis abgelegt hat, fliegen wir alle in die Luft.»
Dreiundzwanzig Oberprimaner des Gymnasiums der Kleinstadt Bramme und ihr Lehrer starren den jungen Mann entgeistert an, der vor ihnen steht. Mit einer Pistole in der einen und einer selbstgebastelten Bombe in der anderen Hand.
Die meisten kennen ihn, weil ein Dunkelhäutiger in einem Ort wie Bramme bekannt ist wie ein bunter Hund. Und alle wissen, wovon er spricht: Von der Fahrerflucht-Affäre, die vor drei Wochen passiert ist. Bertie Plaggenmeyer hatte seine Braut am späten Abend zur Bushaltestelle begleitet. Beim Überqueren der Straße war sie von einem mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Wagen erfaßt worden. Der Fahrer hatte nicht angehalten, und das Mädchen war kurz darauf ihren Verletzungen erlegen.
Nach den Aussagen, die Plaggenmeyer machen konnte, hatte die Polizei ermittelt, daß es sich entweder um den Wagen des Schrotthändlers Bleckwehl gehandelt haben muß oder um den von Dr. Carpano, Chefarzt am Kreiskrankenhaus. Beide fahren den gleichen Mercedes-Typ, und die Kennzeichen sind sehr ähnlich.
Aber dann hatte Bleckwehl ein Alibi gehabt und Carpano einen völlig unbeschädigten Wagen ... Die Untersuchung hat sich festgefahren. Die Fahndung läuft leer; damit muß man sich abfinden in solchen Fällen.
Corinna Voges
ist tot, und das kann fünfundzwanzig Menschen das Leben kosten.
Herbert Plaggenmeyer
erreicht, daß einer Stadt der Atem stockt.
Ernst-Georg Bleckwehl
schreibt nach seinem Tod ein Geständnis.
Hans-Henning Hackbarth
erfährt, daß Tagträume lebensgefährlich sein können.
Dr. Johann Jentschurek
lehrt Geschichte, obgleich er nichts aus ihr gelernt hat.
Gunhild Göllmitz
hat geschichtliche Zusammenhänge begriffen, aber das hilft hier auch nichts.
Hellmut Göllmitz
versucht den gordischen Knoten zu durchschießen.
Carsten Corzelius
spielt mit dem gleichen Gedanken.
Günther Buth
zieht hinter den Kulissen die Strippen.
Dr. Ralph Maria Carpano
zieht in aller Öffentlichkeit Konsequenzen.
Oberkommissar Kämena
ist, wie üblich, völlig überfordert.
-ky
schreibt alles auf und gerät dabei manchmal ins Schleudern.
Dies ist ein Roman; die geschilderten Ereignisse sind ebenso frei erfunden wie die Personen, die in sie verwickelt sind.
Der Autor bedauert, daß es die Zeitläufte erforderlich machen, eigens darauf hinzuweisen.
-ky
Herbert Plaggenmeyer betrat die Eingangshalle des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Bramme.
Woher soll ich wissen, was er in diesem Augenblick dachte, fühlte, empfand – ich bin nicht Herbert Plaggenmeyer. Ich kann nur Vermutungen anstellen, kann nur das Bild eines gleichsam synthetischen Herbert Plaggenmeyer zeichnen, wie es mir nach allen Informationen, die ich zusammengetragen habe, erscheint. Ebenso ergeht es mir natürlich auch bei all den anderen Personen, die an diesem Morgen, an diesem Vormittag, an diesem Mittag in die schrecklichen Ereignisse in und vor dem renommiertesten Brammer Gymnasium verwickelt waren.
Mit diesen Vorbehalten also werde ich die Geschichte eines Amoklaufs erzählen und dabei mitunter einen vielleicht zynisch anmutenden Plauderton anschlagen – um das Entsetzen dieser knapp sieben Stunden in Bramme ebenso zu verdrängen wie zu bewältigen.
Herbert Plaggenmeyer also, ein – wie man so sagt – Mischling von zweiundzwanzig Jahren, stand in der Eingangshalle des Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Zu einer Zeit, da er eigentlich in der Werkhalle III der Buth KG Material zur Fräsmaschine schaffen sollte. Im üblichen blauen Overall mit einer kastenförmigen Monteurtasche aus brüchigem Leder in der Hand. Nur daß sie an diesem Morgen statt der gewohnten Werkzeuge zwei Keksbüchsen voller Sprengstoff und eine einfache, aber narrensichere Zündvorrichtung enthielt.
Plaggenmeyer blieb wie unschlüssig stehen und starrte auf das sattsam bekannte Porträt des Urwalddoktors, das über dem Durchgang zum Hof hing. Der Schnauzbart! Darunter waren einige Aluminiumbuchstaben auf Ebenholz geklebt:
EHRFURCHT VOR DEM LEBEN
Plaggenmeyer befand sich in einem Zustand, den die Psychiater als ‹abgesenktes Bewußtsein› beschreiben. Und zwar als Folge der Selbsthypnose, in die er sich durch das ununterbrochene Murmeln der Formel: Ich tue es! Ich tue es! unwillkürlich hineinversetzt hatte.
Solchermaßen selbst programmiert und gegenüber der Außenwelt ziemlich uninteressiert, sah er auf die vergilbten Fotos im Schaukasten, die irgendwann in grauer Kolonialzeit geschossen worden waren. Alle mit Erläuterungen versehen, wie Bei der Behandlung eines Kranken im Hospital von Lambarene, Albert Schweitzer an seiner Orgel in Lambarene oder Albert Schweitzer im Kreise seiner treuen Mitarbeiter. Dazu Briefe und Buchausschnitte. «Ich kenne die Menschen», entgegnete freundlich Albert Schweitzer. «Glauben Sie mir, es geht kein Sonnenstrahl verloren. Doch der Samen, auf den er fällt, braucht seine Zeit zum Keimen, und nicht immer ist es dem Sämann vergönnt, die Ernte zu erleben.»
Plaggenmeyer las, ohne zu bemerken, daß er las, und ohne aufzunehmen, was er las. Obwohl er wußte, daß sein Zeitzünder auf 8 Uhr 20 eingestellt war, kam er irgendwie nicht von dem verstaubten Schaukasten los. Es war, als habe ihn eine Schläfrigkeit befallen …
Er schreckte erst hoch, als Jentschurek vor ihm stand.
Jentschurek! Der Name fiel ihm im selben Moment ein, als der Oberstudienrat – Geschichte und Deutsch – auf ihn zutrat. Dabei war er niemals in einer Klasse gewesen, in der Jentschurek unterrichtet hatte, wie denn auch, und seit Jentschurek ihm die Strafarbeit verpaßt hatte, waren gut und gerne zehn Jahre vergangen. Damals war die Volksschule, die er besuchen durfte, im Gebäude des Gymnasiums untergebracht gewesen, und er hatte einem Schneeball so viel Effet gegeben, daß dieser, anstatt ein Mädchen namens Dörte zu treffen, Jentschurek den Hut vom Kopf geschlagen hatte. Und das einem Mann, der stolz auf sein Hindenburg-Image war. Nach zwei Ohrfeigen («Du bist hier nicht im Urwald, merk dir das!») hatte er hundertmal schreiben müssen: Ich soll meinen Lehrern mit Ehrfurcht begegnen!
Nun stand Jentschurek vor ihm, noch mehr Hindenburg als früher, und wußte natürlich nichts mehr von Schneeball und Urwald.
«Du bist der Monteur?» fragte er Plaggenmeyer.
«Der Monteur …? Ja …»
«Heizungskeller, letzte Tür rechts. Der Hausmeister wartet unten. Wahnsinn, auf Öl umzustellen, wo wir selbst soviel Kohle, aber …» Damit ging er weiter.
Plaggenmeyer sah ihm hinterher, sah, daß er rechts im Parterre eine graugestrichene Tür aufstieß und in einem der Klassenzimmer verschwand.
Ich tue es!
Ich tue es!
Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, alles war ihm schmerzhaft fremd, und sein Körper schien sich in eine wohlig-warme Masse aufzulösen.
Er wurde sich seiner Umgebung erst wieder bewußt, als er in Jentschureks Klasse stand, die Pistole in der rechten und den Zündkontakt in der linken Hand. Die Köpfe vor ihm, zehn, zwanzig – bunte Tupfer, die durcheinanderwirbelten, wenn er die Augen schloß. Ähnlich wie am Bremer Freimarkt letzten Herbst. Abends leicht angetrunken auf dem Kettenkarussell. Dasselbe Gefühl. Corinnas Kreischen.
Kreischen auch hier, Schreie. Auch das nicht viel anders. Es waren etwa zwei Dutzend Leute im Raum. Einige lachten auch, begriffen nichts, hielten es für einen Scherz. Das reizte ihn, beleidigte ihn.
Auf einmal Jentschureks Stimme: «Was soll dieser Unfug?»
Unfug? Ein schlechter Scherz? Das war die letzte Chance, noch umzukehren.
Und dann?
«Ich heiße Plaggenmeyer», stieß er hervor, und zugleich schien etwas in ihm zu zerbrechen. Wohl weil er an der Reaktion der anderen merkte, daß sie schon begriffen hatten.
Plaggenmeyer! Jetzt erinnerten sie sich.
Er sah über den weiten Schulhof hinweg zum Friedhof hinüber.
Schlackengrau der Schulhof, wie der Mond. Über den Zacken der Grabsteine der milchigblaue Junihimmel. Und hinter diesem Seidenschleier Milliarden von Sternen, von Planeten. Jetzt ein Knopfdruck – Entmaterialisierung. Und Materialisierung wieder auf einem kleinen und friedlichen Planeten dort oben. Corinna und er hatten viel Sciencefiction zusammen gelesen.
Letzten Sommer auf Åland.
Letzten Sommer … Hatte es diesen Sommer überhaupt gegeben? War das nicht ein Traum, ein Traum wie dieser hier?
Åland … Es brauchte gar kein eigener Planet zu sein, eine der winzigen Schären zwischen Stockholm und Mariehamn oder Mariehamn und Turku hätte ihm genügt. Für immer dort sein! Jetzt! Auf den Felsen sitzen, die Beine im Wasser, die Angel ausgeworfen, Hunderte von Kilometern von Bramme entfernt. Lieber Gott, laß mich dort sitzen!
«Hackbarth, rufen Sie die Polizei!» sagte Jentschurek.
Ich darf nicht träumen! Ich muß …
«Sitzen bleiben!» befahl Plaggenmeyer, und das Band lief weiter ab. «Keiner verläßt den Raum! Das ist ein Ultimatum. Ich gebe Ihnen drei Stunden Zeit. Wenn bis dahin der Mörder meiner Braut kein Geständnis abgelegt hat, fliegen wir alle in die Luft. Herr Dr. Jentschurek, Sie gehen zum Telefon und …»
Weiter kam er nicht.
Die Detonation war äußerst heftig.
Ich saß gerade in der Frühstücksstube des Hotels Zum Wespennest, als mich eine heftige Detonation hochschreckte.
«Diese verdammten Düsenjäger», schimpfte der Ober, der mir gerade meinen Orangensaft brachte. «Seit Jahren kämpfen wir darum, daß sie den Flugplatz verlegen. Aber da ist nichts zu machen: immer über Bramme weg!»
Er schlurfte davon, und ich hing wieder meinen Träumen nach – von Weib und Kind und dem eigenen Bett, von einem Straßenrestaurant am Kudamm, von Farben und Menschen. Aber so bald sollten diese Träume nicht Wahrheit werden. Noch lagen fünf Tage Bramme vor mir, genau 120 Stunden, und nach Bramme kamen Oldenburg, Leer und Aurich. ‹In Aurich ist’s traurig, in Leer noch viel mehr›, Vorurteile, die abzubauen mein Chefredakteur mir aufgetragen hatte. Etwa in der Vorstellung: Sag den Leuten in der Provinz, wie gut sie’s haben, dann wählen sie beim nächstenmal sozial-liberal. Vielleicht konnte man tatsächlich in Cloppenburg und Vechta etwas damit ausrichten, wo die CDU meines Wissens noch immer an die Dreiviertel aller Stimmen bekam, wenn nicht gar mehr. In Bramme selbst stand’s meistens pari, und im Augenblick hatte die mehr oder minder linke Seite, die hier Lankenau hieß, einen leichten Vorteil errungen.
Ja. Journalistenschicksal. ‹Wes Brot ich eß, des Blatt ich füll.› Das Ganze sollte eine Serie werden, sechs bis acht Folgen etwa. Arbeitstitel ‹Wie provinziell ist unsere Provinz? ›
Daß der Provinz-Artikel nur ein Vorwand war und ich aus einem ganz anderen Grund am trüben Strand der Bramme weilte, ging im Augenblick keinen etwas an.
Während ich lustlos mein Marmeladenbrötchen vertilgte, begann ich das Material zu studieren, das mir Corzelius gestern abend in die Hand gedrückt hatte. Corzelius schreibt fürs Brammer Tageblatt, macht aber sonst einen ganz normalen Eindruck. Wenn der mal den Absprung kriegte, könnte direkt noch was aus ihm werden.
Bramme also.
Bramme an der Bramme (ein Flüßchen zum Abtransport von Chemikalien), Stadt in Niedersachsen, mit (1965) 81300 Einwohnern (inzwischen sollen es, laut Corzelius, ein paar mehr geworden sein), hat Amtsgericht (Harjes kauft von Wietjes eine Kuh – wer hat recht?), höhere und Berufsfachschulen, Freilichttheater, Heimatmuseum (sicherlich mit der ungemein bildenden Sonderschau «Bramme zur Zeit der Trichterbecher-Kultur»), Industrie: Maschinen (Destillierapparate für Doppelkorn), Bekleidung (Kartoffelsäcke), Nährmittel (Kohl und Pinkel), Möbel, Fertighäuser.
Meine Assoziationen: Vorurteile über Vorurteile. Das kam vom tagtäglichen Umgang mit den Intellektuellen in der Berliner Redaktion, deren Spott auch vor gar nichts haltmachte.
Man konnte Bramme aber auch anders sehen – nämlich als eine Stadt, in der man ruhig leben konnte, wenn man alt genug war und sich mit dem Leben arrangiert hatte. Irgendwo am Stadtrand auf einer 1000-qm-Wiese ein Haus mit Kellerbar und Hobbyraum, und überall die Wirtschaftswege und die Deiche, ideal für kilometerweites Radeln. Und keine Dunstglocke über den Dächern. Und keine U-Bahn-Hektik um fünf Uhr nachmittags. Und keine Zusammenballung krimineller Elemente. Und keine Spur von rotem Radau. Ganz ernsthaft: Bramme war schon einen Rechtsruck wert! Oder? Meine Frau war sehr für Bramme.
Ich nahm die Prospekte des Verkehrsverein Bramme e.V. in die Hand. Die Brammer sind stolz auf ihre Stadt, die zu den ältesten Ansiedlungen zwischen Bremen und der holländischen Grenze zählt. – 3000 v. Chr. erste Besiedlung der Uferdüne der Bramme. – Um 15 v. Chr. eroberten Soldaten des Kaisers Tiberius die kleine Siedlung. Pech für Tiberius, daß er im Jahre 37 n. Chr. nicht hier in Bramme war, dann hätte er unmöglich beim Kap Misenum sterben können. – Um 780 n. Chr. Christianisierung durch den angelsächsischen Priester Willehad. Der hätt’s lieber bleiben lassen sollen, dann lebten zumindest die 682 Brammer Juden noch, die … 820 Bau einer hölzernen Basilika durch den Erzbischof von Bremen. – 1012 das Marktrecht durch Kaiser Heinrich II. Marktrecht …
Ich sah auf den Marktplatz hinaus, und der war nun wirklich ein Kleinod. Gegenüber das Rathaus mit seiner sehenswerten Renaissancefassade und viel Patina auf dem Dach. Links davon das zweihundert Jahre alte Sparkassenhaus, Rokoko, und dann, etwas zurückgesetzt, die wuchtigen Sandsteintürme des St. Johannes-Domes. Rechts vom Rathaus das Haus Erelius, 1548 erbaut als Gildehaus der Brammer Kaufleute, überwiegend Barock, ebenso wie das Gebäude des Brammer Tageblattes, wo allerdings hinter der alten Fassade Beton und Funktionalismus steckten. Durch die zum Wall führende Straße von ihm getrennt folgte das Stadt- und Polizeihaus, eine wilhelminische Backsteinentgleisung, die langsam nostalgisch schön wurde. Die Lücken, die die letzten Weltkriegsbomben gerissen hatten, waren dank der Bemühungen des unterbezahlten Stadtbildpflegers bald geschlossen worden – und zwar mit einem Kaufhaus, das aluminiumverkleidet so recht Altes mit Neuem verband, und einem Geschäftshaus mit (zufällig?) braungetöntem Glas, Bank- und China-Restaurant im Erdgeschoß. – Im Krieg wurde der Marktplatz zum Entsetzen der Brammer Bürger zu 35 Prozent zerstört. Eigentlich ungerecht, denn am 5. März 1933 hatten lediglich 32,2 Prozent der Brammer NSDAP gewählt. Auf dem Marktplatz mit vielen Schalen, Meerjungfrauen, Fischen und einem alles erschlagenden Neptun – der Harm-Clüver-Brunnen.
Ich wollte mich gerade in einen dünnen Gedichtband des Brammer Universalgenies Harm Clüver (1869–1957) vertiefen, der den verheißungsvollen Titel Utkiek trug, da sah ich Corzelius über das historische Pflaster des Marktplatzes eilen. Er sah mich hinter der Scheibe sitzen und winkte mir aufgeregt zu. Ich hatte keine Ahnung, was er wollte.
Schnell ein Wort zu Corzelius: alles in allem empfehlenswert. Ein Relikt der guten alten APO-Zeit, immer noch so verklärt, als hätte er eben zu Adornos Füßen gelegen. Fliederfarbene Jeans, T-Shirt, schulterlange Haare, Schnauzbart und Nickelbrille. Vom ziemlich rechten Brammer Tageblatt engagiert, sich um alles das zu kümmern, was junge Leute, was linke junge Leute dazu bewegen konnte, das Blättchen zu lesen oder gar zu abonnieren. Also Popmusik und Schlager, Underground und Aufstand, Comics, Thrill und Bürgerinitiativen, Che Guevara und Don Camaro. Auch Juso-Groschen stanken nicht, und so ein herrlich funktionierendes Ventil wie Corzelius bekam man nicht alle Tage für so wenig Geld. Corzelius, der Gute, verbreitete pausenlos linkes Gedankengut mit missionarischem Eifer und erzeugte damit bei seinen Lesern jenes Gefühl von Freiheit und Hoffnung, das unsere Klassengesellschaft, unser spätkapitalistisches System so herrlich stabilisiert. Er selber aber fühlte sich als linker Prophet und Überwinder des Systems. Jeden Tag ’ne neue Stimme für die SPD.
Da stand er vor mir: ganz einsamer Wolf und köstlich intellektuell.
«Haben Sie denn nicht die Funkwagen gehört? Die Polizei?»
«Nein, hier ist ja jetzt Fußgängerzone.»
«Das Grab von Bürgermeister Büssenschütt ist in die Luft geflogen!»
«Das halbe Mausoleum ab?»
«Ja, auf dem Alten Friedhof hinten.»
«Da hat jemand ja direkt Geschmack bewiesen. Weiß man, wer es war?»
«Ja, Plaggenmeyer.»
«Plaggenmeyer …»
«Der Mischling, von dem ich Ihnen gestern abend erzählt habe, unser Sahnebonschen.»
«Was – wie bitte?»
«Sahnebonbon auf Hochdeutsch.»
«Ach so, der Junge, der hier die ganze Zeit über schon Terror macht, weil er glaubt, sie hätten seine Braut ermordet. Der ist es doch – oder?»
«Ja – Herbert Plaggenmeyer. Und jetzt ist er im Albert-Schweitzer-Gymnasium und droht, die ganze Oberprima in die Luft zu sprengen, wenn sich der Mörder nicht stellt.»
«Ja, um Gottes willen …»
«Und als Warnung, daß er es ernst meint, hat er das Grab mit ’ner Zeitzünderbombe … Kommen Sie!»
Während wir die schmale Knochenhauergasse hinuntereilten, faßte Corzelius noch einmal zusammen, was ich bisher nur bruchstückhaft am Rande mitbekommen hatte.
«Vor drei Wochen etwa, so Anfang Juni, ist Plaggenmeyers Verlobte von einem Auto angefahren worden und kurz darauf ihren Verletzungen erlegen. Er hatte sie zum letzten Bus gebracht, ein bißchen spät wohl, und sie ist über die Straße gerannt. Der Wagen ist trotz des Nebels über hundert gefahren und hat nicht angehalten, obwohl der Fahrer es gemerkt haben muß. Keine Zeugen, die was Vernünftiges aussagen konnten, nur Plaggenmeyer selber. Und der will einen dunklen Mercedes erkannt haben – Nummer BRE oder BRA–RC oder RO, die erste Zahl 42 und die letzte Zahl wahrscheinlich eine 1.»
Ich lief einem alten Muttchen in die Hacken. Ganz Bramme schien auf den Beinen zu sein. Mehr war auf dem Weg von der U-Bahn zum Olympiastadion auch nicht los, wenn Hertha spielte.
«BRE ist Bramme, das hab ich schon mitgekriegt, aber BRA?» Ich schüttelte den Kopf.
«Brake/Unterweser, der nächste größere Ort stromab hinter Bremen. Das heißt, wahrscheinlich waren es die Buchstaben BRA oder BRE, ganz sicher erinnert sich Plaggenmeyer aber nur an das BR. Es kann natürlich auch ein Wagen aus Brilon gewesen sein – BRI, aus Brückenau – BRK, das ist zwischen Würzburg und Fulda, BRL – Blankenburg/Braunlage im Harz, oder BRV – Bremervörde; das wäre nun wieder hier bei uns im Dreh.»
Während er redete, versuchte ich etwas von der Atmosphäre der Knochenhauergasse mitzukriegen. Offenbar ein Sanierungsgebiet; nur ein paar Neubauten zwischen den geduckten Kleinbürgerhäusern mit den schäbig grauen Fassaden. Parterre, ein Stockwerk und darüber das Dachgeschoß mit ein paar lukenähnlichen Fenstern. Ein halbes Dutzend Läden. Schuh-Dopp. Lichthaus Bruns. Zoohandlung Wachmann. Ein Arzt: Dr. Harjes, Urologe. Ein kleines Hotel – Stadtwaage. Eine Pension – Meyerdierks. Links ging die Kirchgasse ab, und man konnte die backsteinrote Matthäi-Kirche, den Alten Friedhof und den Schulhof des Albert-Schweitzer-Gymnasiums erkennen, auf dem zwischen grün-weißen Polizeiwagen und etlichen Feuerwehr-Fahrzeugen an die fünfzig Leute durcheinanderquirlten.
«Die Kripo ist nicht weit gekommen», hörte ich Corzelius sagen.
«Kann ich mir vorstellen.»
«Wenn Plaggenmeyer die Nummer richtig erkannt hat, kämen zwei Leute in Frage: ein Mann aus Brake, Ernst-Georg Bleckwehl, ein Autohändler, und der Chefarzt des Brammer Kreiskrankenhauses, Carpano, Dr. Ralph Carpano.»
«Aber keinem war was nachzuweisen?»
«Nein. Bleckwehl hat einen dunkelgrauen Mercedes – und zwar mit der Nummer BRA–RO 421, und an diesem Mercedes ist kurz nach dem Unfall oder kurz nach dem Mord, wie Sie wollen, der rechte Kotflügel ausgewechselt worden. In seiner Werkstatt. Und anschließend verschwunden.»
«So ’n Zufall!»
«Keiner will ihn mehr gesehen haben, ist ja auch so winzig …»
«Mensch – und das reicht nicht?»
«Nee, der Mann hat für die Tatzeit ein Alibi: Frau, Bruder und ein Nachbar bezeugen, daß er in der fraglichen Zeit zu Hause gewesen ist und Skat gespielt hat.»
«Und dieser Dr. Carpano?»
«Der hat zwar kein Alibi; der hat um 23 Uhr 52, als es passiert ist, allein zu Hause gesessen, aber der hat dafür einen völlig intakten Wagen, nicht die Spur einer Spur am Kotflügel. Kämenas Leute haben das gleich nach dem Unfall geprüft. Wie gesagt: absolut nichts!»
«Und die Nummer des Wagens?»
«BRE–RC 427. Das RC für Ralph Carpano.»
«Hm … Und Plaggenmeyer meint, die würden was vertuschen …?»
«Nicht nur er …»
Wir hatten jetzt das Albert-Schweitzer-Gymnasium erreicht, einen vierstöckigen klassizistischen Bildungstempel mit schwarz verwitterter Sandsteinfassade. Zwar hatte man schon alles abgesperrt, aber Corzelius war hier bekannt wie ein bunter Hund, und mein Presseausweis tat ein übriges, so daß wir bald passieren konnten. Ein wortkarger Streifenpolizist führte uns durch ein paar muffige Kellergänge hindurch auf den Schulhof hinaus. Das Gebäude war schon vollkommen geräumt; eine unheimliche Stille hier.
In einem Halbkreis von etwa dreißig Metern um die drei hohen Fenster der 13 a herum waren aufklappbare Absperrgitter aufgestellt, weiß und rot, und in weiteren fünf Metern Entfernung stapelten Bereitschaftspolizisten die letzten Sandsäcke zu einer brusthohen Barriere übereinander. Derart verschanzt sah man in drei, vier Grüppchen alle die zusammenstehen, die schwer an der Last der Verantwortung trugen. Fortüne bei dieser Aktion konnte schnellere Beförderung bzw. zusätzliche Wählerstimmen bedeuten. Eine Katastrophe indes … Nicht jeder von ihnen hatte schon eine Position erreicht, in der man auch beim krassesten Versagen noch nach oben weggelobt wird. Hinter denen, die hier – offiziell oder inoffiziell – die Entscheidungen zu fällen hatten, und den aufgestellten Fahrzeugen, lagen die Trümmer des in die Luft gesprengten Grabmals der Büssenschütts.
Corzelius ließ mich einen Moment stehen, ging auf eine Gruppe Polizisten zu und kam mit zwei Ferngläsern wieder, von denen er mir eins hinreichte. Ich richtete meins auf das Parterrefenster der 13 a.
Im Klassenraum herrschte absolute Ruhe; alle wirkten wie erstarrt – Plaggenmeyer, Jentschurek und die dreiundzwanzig Primaner. Auf Plaggenmeyers milchkaffeefarbenem Gesicht schien so etwas wie Wohlbehagen zu liegen. Da der Schulfhof zur Friedhofsmauer hin leicht anstieg, konnte ich deutlich die große schwarze Werkzeugtasche neben seinem Stuhl stehen sehen. Aus der Tasche führte eine weiße Schnur hinaus, von einem Dia-Projektor offenbar, und Plaggenmeyer hielt den Druckknopf, nicht viel größer als ein Hühnerei, in der linken Faust. Wahrscheinlich drückte sein Daumen den weißen Plastiknippel schon eine Winzigkeit nach unten. Das Ding hatte mit Sicherheit keinen Druckpunkt, und so konnte ein leichtes Zucken seiner Hand für ihn und seine vierundzwanzig Geiseln tödlich sein. Bruchteile eines Millimeters trennten sie vom absoluten Aus. Viel weniger gefährlich wirkte da die schwere Waffe in der rechten Faust, allem Anschein nach eine 38er Smith & Wesson, obwohl sie für Plaggenmeyer ebenso bedeutsam war.
Angst, Erregung, Spannung stiegen in mir auf. Ein ähnliches Gefühl wie vor anderthalb Jahren auf dem Rückflug nach Berlin, als ich erfuhr, daß unsere Maschine, deren Fahrwerk sich nicht ausfahren ließ, auf einem schnell gespritzten Schaumteppich landen sollte.
«Schuld ist nicht Plaggenmeyer, schuld sind diese Schweine hier», sagte Corzelius, nahezu zitternd vor Haß, zitternd unter den Zentnern seiner angestauten Aggressionen. «Erst machen sie Plaggenmeyer zur Sau, sperren ihn ein – und dann kommt ein Mädchen, das ihn rausholt aus seinem Elend, und das fahren sie tot. Und keiner hat den Mut, es zuzugeben. Die Karriere könnte ja gefährdet werden, das Geschäft, das könnte darunter leiden! Jetzt jammern sie, weil ihre Kinder da in der Klasse mit drin sitzen, alles Oberschichtenkinder oder Kinder aus der oberen Mittelschicht. Mit ein, zwei Ausnahmen vielleicht. Und vor ihnen Plaggenmeyer, der sie alle vernichten kann.»
«Hm … Also Überschrift: Der Kampf in der Klasse – Klassenkampf in Bramme.» Irgendwie mußte ich Distanz gewinnen.
Corzelius funkelte mich an. «Ich denke, Sie sind Sozialist?»
«Sicher – aber ironischer Sozialist.»
«Das ist ernst hier, da sitzen dreiundzwanzig junge Menschen drin, plus einem Lehrer, plus Plaggenmeyer. In der nächsten Sekunde können sie tot sein, alle. Mein Gott!»
Wenn Atheisten schon Gott anrufen … Ja, es war schrecklich, ohne Frage. Aber wir beide konnten nicht eingreifen, konnten nichts daran ändern. Kein Zuschauer kann noch was ändern, wenn ein Flugzeug brennend vom Himmel stürzt. Man kann nur zusehen, vielleicht beten, vielleicht mit Zynismus drüber hinwegkommen. Aber im Grunde ist es völlig gleichgültig für die Leute da oben im Flugzeug, was die unten noch denken und tun. Das Entscheidende für ihre Rettung hätte schon viel früher geschehen müssen.
Ich schnauzte Corzelius fast an, damit er nicht vollends durchdrehte: «Nun erzählen Sie mir mal, wer hier alles rumsteht.»
Er schaltete auch, unterdrückte seine Emotionen; er war schließlich Vollblutreporter. «Der große Hagere da, der neben dem Löschfahrzeug, das ist Günther Buth …»
«Buth», wiederholte ich, «Bauelemente und Fertighäuser, Hoch- und Tiefbau, Konserven, Supermärkte, Reisebüros und die Möbelfabrik hinten an der Autobahn: WOHNE GUT MIT BUTH.»
«Sie wissen ja schon alles.»
«Ich habe die letzten Nummern vom Brammer Tageblatt gelesen.»
«Tja, mit Buth geht’s Bramme gut: Steuern, Arbeitsplätze. Aber ihm selber geht’s noch besser: einige Millionen und einige Macht …»
Immerhin, so schien mir, kein schlechter Typ. Schmaler Kopf – wie man sich einen englischen Lord vorstellt, hohlwangig, schmale Lippen und eine Kerbe im Kinn, soweit man das aus einer Entfernung von vielleicht zehn Metern erkennen konnte. Lockige, graumelierte Haare, ein wenig gelichtet. Corzelius schimpfte über seine Ausbeutermethoden. Aber Pech für den jungen Journalisten, daß der Klassenfeind diesmal alles andere als unsympathisch war. Und jetzt fehlte die Zeit, über den Marxschen Begriff der Charaktermaske zu diskutieren.
«Der da neben Buth, das ist Lankenau», sagte Corzelius und zeigte auf einen untersetzten Mann, der trotz der Hitze mit Schlips und grauem Anzug erschienen war: Beamtenhaarschnitt, Goldzähne, ein Hamstergesicht, Stummelbeinchen und ein enormer Bauch, an dem sich geradezu ablesen ließ, wieviel Biere dieser Mann allwöchentlich in Brammer und anderen Parteilokalen konsumierte. «Unser halblinker Bürgermeister. Jovial und immer am Ball. Nicht ganz so dumm, wie er aussieht – ziemlich tricky. Hat sich hochgesoffen. Ist mit Buth derart verfeindet, daß beide für die nächsten Jahrzehnte im Sattel bleiben werden. Das ist so ’n Clay–Frazier-Verhältnis: sie beschimpfen und prügeln sich dauernd – aber die Börse, die stimmt bei beiden.»
Lankenau, Lankenau – ich prägte mir einen weiteren Namen ein.
«Der Mann, der gerade mit unserem verehrten Bürgermeister plaudert, der ist von der Kripo – Kämena, Oberkommissar. Ein Mann mit einem ungeheuren Überblick – er übersieht einfach alles.»
«Der sieht doch ganz vernünftig aus – so ’n echter Charakterkopf. Volle weiße Haare, braungebranntes Gesicht, energisches Kinn – richtig telegen.»
«Drum», spottete Corzelius, «kommt ja auch nächste Woche ins Abendprogramm: Oberkommissar Kämena – der Hilfssheriff von Bramme.»
«Mensch, nun hören Sie endlich auf, Bramme als Panoptikum darzustellen! Was wollen Sie denn? Sie haben hier ein gut funktionierendes Gemeinwesen, eine aufblühende Stadt, in der sich’s ruhig leben läßt …»
«Wie der Fall Plaggenmeyer zeigt!»
«Das hätte überall passieren können.»
«Schon …»
Ich zeigte in den Klassenraum, wo man inzwischen allem Anschein nach die erste kritische Phase überstanden hatte, ohne daß einer die Nerven verloren hätte. Ein schlankes Mädchen, ein Gesicht wie Jane Fonda, mit auffallend blonden Haaren, die ihr lang auf das lila T-Shirt fielen, begann offenbar mit Plaggenmeyer zu verhandeln.
«Wer ist denn das?» fragte ich Corzelius.
«Gunhild Göllmitz – Gun, Klassensprecherin der 13 a …» Corzelius starrte ungewohnt befangen auf den grauen Schotter unter unseren Füßen. «Ich wollte heute abend mit ihr nach Bremen fahren, ins Theater. Eine Freundin von Corinna … Ich muß was tun für Sie; Mensch, Doktor, helfen Sie mir!»
«Wieder mal verliebt?»
«Weiß ich nicht, aber ich laufe Amok, wenn der das Mädchen umbringt, ich stech ihn ab, und Carpano und Bleckwehl dazu, wenn …»