Dalai Lama. Ein außergewöhnliches Leben - Alexander Norman - E-Book

Dalai Lama. Ein außergewöhnliches Leben E-Book

Alexander Norman

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Beschreibung

Die Botschaft des Dalai Lama von Frieden und Mitgefühl findet bei Menschen aller Glaubensrichtungen Anklang. Doch bei allem Weltruhm bleibt er als Persönlichkeit schwer fassbar. Jetzt liefert Alexander Norman, der langjährige Wegbegleiter und renommierte Oxford-Wissenschaftler für die Geschichte Tibets, die endgültige Biografie - einzigartig, vielschichtig und manchmal sogar schockierend. Die Lebensgeschichte eines der radikalsten, charismatischsten und beliebtesten Weltführers von heute.


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Inhalt
CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungKarteEinführungTEIL I: Eine erfüllte Prophezeiung1. Eine bedeutsame Reise des Großen Dreizehnten2. Mystiker und Seher: Beginn der Regentschaft des Reting Rinpoche3. Ein Kind wird geboren4. Ein kleines Dorf namens »Brüllender Tiger« – Tibets »namenlose Religion«5. »Einsam und etwas unglücklich«: Geboren mit der Bürde der HeiligkeitTEIL II: DER LÖWENTHRON6. Die Heimstatt des Vierzehnten Dalai Lama: Lhasa 19407. Knabenalter: Zwei Peitschen mit Bambusgriff8. »Ärger in Shangri-La«: Niedertracht und Intrigen auf dem Dach der Welt9. Vollendung der Weisheit: Die höhere Ausbildung zum buddhistischen Gelehrten10. »Scheiß auf Euer ›Picknick‹!«: Einmarsch der Chinesen, 1949/5011. In der Drachenhöhle: Der Dalai Lama in China, Juli 1954 bis Juli 195512. Land der Götter: Indien, November 1956 bis März 195713. »Verkauft den Dalai Lama nicht für da yuan!«: Lhasa, 1957 bis 1959TEIL III: Freiheit im Exil14. Auf dem Rücken eines dzo: Flucht in die Freiheit15. Das Herz des Erwachens: Allen Ginsberg und die Beat-Generation16. »Wir können Sie nicht zwingen«: Kulturrevolution in Tibet, harsche Realitäten in Indien17. »Dem tibetischen Volk unbegreiflich«: Das Yellow Book und die Glorreiche Göttin18. Rangzen und Umaylam: Unabhängigkeit und Politik des Mittleren WegesTEIL IV: Bodhisattva des Mitgefühls19. »Den Kopf der Schlange abschlagen«: Reaktion und Repression in Tibet20. Ein Schutzgott macht Probleme: Die Ermordung des Lobsang Gyatso21. Tibet in Flammen: Die Olympiade in Peking und ihre Nachwirkungen22. Das magische Spiel der IllusionNachwort und DankDie vierzehn Dalai LamasGlossarAnmerkungenLiteraturverzeichnisRegister

Über dieses Buch

Die Botschaft des Dalai Lama von Frieden und Mitgefühl findet bei Menschen aller Glaubensrichtungen Anklang. Doch bei allem Weltruhm bleibt er als Persönlichkeit schwer fassbar. Jetzt liefert Alexander Norman, der langjährige Wegbegleiter und renommierte Oxford-Wissenschaftler für die Geschichte Tibets, die endgültige Biografie – einzigartig, vielschichtig und manchmal sogar schockierend. Die Lebensgeschichte eines der radikalsten, charismatischsten und beliebtesten Weltführers von heute.

Über den Autor

Alexander Norman hat buddhistische Philosophie studiert und lernte den XIV. Dalai Lama 1988 kennen, über den er vielbeachtete Porträts in The Spectator und in der Financial Times veröffentlichte. Er war Ghostwriter der beiden Welt-Bestseller des XIV. Dalai Lamas Das Buch der Freiheit (1990) und Das Buch der Menschlichkeit (2000). Beide Bücher wurden weltweit millionenfach verkauft und in über 30 Sprachen übersetzt. Alexander Norman wurde 2001 in das »Dalai Lama’s Special Review Committee« berufen und arbeitet an Projekten des »Department of Tibetan and Himalayan Studies« an der Universität Oxford mit.

Alexander Norman

DALAI LAMA

Ein außergewöhnliches Leben

Aus dem Englischen vonRegina Schneider

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:»Dalai Lama. An Extraordinary Life«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Alexander Norman

Published by arrangement with Aitken Alexander Literary Agency

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Angela Kuepper, München

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngenunter Verwendung von Motiven von © Raghu Rai/Magnum Photos/Agentur Focus und© Vincent J. Ricardel/getty-images

Kartenillustration: Markus Weber,Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

Auszüge aus Das Buch der Freiheit.

Die Autobiografie des Dalai Lama von Tenzin Gyatso.

Copyright © by Tenzin Gyatso. © der deutschen Ausgabe: Bastei Lübbe AG

Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis für die Förderungdieser Übersetzung, vergeben durch das Ministerium fürWissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.

ISBN 978-3-7325-9521-1

www.quadriga-verlag.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für meine Kinder:M.R.N.E.A.N.T.F.H.N.

Einführung

Waldorf Astoria Hotel, New York, August 1989

Voller Elan gehe ich geradewegs auf die Rezeption zu und bringe mein Anliegen vor.

»Ich suche Mr. Tenzin Tethong, den Privatsekretär Seiner Heiligkeit des Dalai Lama.«

Unter dem Arm trage ich den Manuskriptentwurf der Autobiografie des Dalai Lama, Das Buch der Freiheit, an der ich die letzten Monate gearbeitet habe.

Die Empfangsdame blickt mich stirnrunzelnd an. Vielleicht liegt es an meinem starken britischen Akzent.

»Mr. … wer?«, fragt sie gedehnt.

Heute, gut drei Jahrzehnte später, wäre eine solche Reaktion undenkbar. Als einer der bekanntesten Menschen der Welt füllt der Dalai Lama die größten Stadien von Sydney bis São Paulo, von Oslo bis Johannesburg. Mit rund zwanzig Millionen hat er mehr Twitter-Follower als der Papst, und seine Internetpräsenz wächst stetig. Er erhielt den Friedensnobelpreis, die Goldene Ehrenmedaille des Kongresses der Vereinigten Staaten sowie den Templeton-Preis für den Beitrag zum Fortschritt der Religion, die am höchsten dotierte seiner zahlreichen Auszeichnungen. Er ist Ehrenbürger so vieler Städte und Träger so vieler Ehrentitel, dass es kaum möglich wäre, sie alle einzeln aufzuzählen. Sein Konterfei ziert das Ziffernblatt von Armbanduhren, ist als Bildschirmschoner erhältlich, und die Amazon-Website gibt detaillierte Einblicke in mehr als zweihundert Bücher, die aus seiner Feder stammen. Die Verkaufszahlen einzelner Titel gehen in die Millionen. Ohne jeden Zweifel ist der Dalai Lama eine der berühmtesten und beliebtesten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der heutigen Zeit.

Doch bei all dem Hype um seine Person, der ihn zu einer Art Superstar gemacht hat, weiß kaum jemand etwas über ihn selbst oder über die Kultur, die er verkörpert. Und ein Großteil dessen, was wir wissen, ist von Missverständnissen begleitet. So gehen beispielsweise viele davon aus, dass der Dalai Lama ein religiöser Führer sei – eine Art buddhistischer Papst. Doch im Unterschied zum Papst, der den alleinigen Führungsanspruch über jeden Priester und Prälaten in der christlichen Kirche erhebt, besitzt der Dalai Lama keinerlei Hoheitsgewalt über irgendeinen anderen Lama oder Mönch. Er ist auch nicht das Oberhaupt seiner eigenen Glaubenstradition und auch nicht der Führer irgendwelcher Teilgruppen innerhalb dieser Tradition. Und streng genommen ist er noch nicht einmal Vorsteher des Klosters, dem er angehört. Wenn der Dalai Lama also sagt, wie er es häufig tut, er sei »nur ein einfacher buddhistischer Mönch«, dann ist dies nicht Ausdruck gebotener Bescheidenheit, sondern schlichtweg die Wahrheit. Alle Dalai Lamas (von denen der heutige der vierzehnte ist) waren von jeher einfache buddhistische Mönche. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Große Fünfte Dalai Lama einer der mächtigsten Männer Asiens war oder dass die Dalai Lamas immer schon von vielen Menschen verehrt wurden, auch weit über das Schneeland hinaus (wie die Tibeter selbst ihre Heimat oft bezeichnen).

Aus politischer Sicht jedoch waren die Dalai Lamas niemals nur »einfache« Menschen wie Sie und ich. Beginnend mit dem Großen Fünften Dalai Lama, waren sie allesamt – theoretisch zumindest – weltliche Führer eines Volkes, dessen Land von der Größe her Westeuropas entspricht. Begrenzt von Pakistan im Westen, erstreckt es sich über mehr als 2500 Kilometer bis nach China im Osten und von der Mongolei im Norden über gut 1600 Kilometer bis nach Indien, Nepal und Myanmar im Süden. Kaum bekannt jedoch ist, dass der derzeitige Dalai Lama 2011 sein Amt als politischer Führer der Tibeter zugunsten eines demokratisch gewählten Laien als Volksvertreter aufgab und seither nur mehr als ihr spiritueller Lehrer fungiert, was in sich durchaus schlüssig erscheint: Lama ist die tibetische Übersetzung des Wortes guru aus dem Sanskrit und bedeutet »spiritueller Lehrer«.

Zu all den Missverständnissen kommt noch hinzu, dass das Bild des Dalai Lama als ewig lächelnder Heiliger weder ihm als Person gerecht wird noch der Tradition, die er repräsentiert. Denn dieses Bild erzählt nichts von seinen außerordentlichen Verdiensten um die Entwicklung einer tibetischen Diaspora-Gemeinde, die mittlerweile eine Viertelmillion Menschen umfasst. Es erzählt nichts davon, wie er ein Volk vereinigt hat, das entlang geografischer, indigener und konfessioneller Linien über lange Zeit tief gespalten war. Es erzählt auch nichts davon, wie er allen Tibetern die Institution des Dalai Lama in einer nie da gewesenen Weise erschlossen hat. Es erzählt nichts von den politischen Reformen, die er durchgesetzt hat. Es erzählt nichts von seinen beachtlichen Erfolgen als großer spiritueller Lehrer und auch nichts davon, dass er zweifelsohne einer der höchstgelehrten Meister des Vajrayana-Buddhismus ist, die im vergangenen Jahrhundert in Erscheinung traten. Es erzählt nichts von dem enormen Einfluss, den er auf die Gestaltung der modernen Welt hatte und bis heute hat. Vor allem aber erzählt es nichts von einer Kultur, die zu den außergewöhnlichsten gehört, die sich je auf unserem Globus entwickelt haben, und auch nichts von der komplexen und oft turbulenten Geschichte, der diese Kultur entstammt.

So geht es mir in diesem Buch vor allem darum, Taten und Werke des Dalai Lama in den Kontext der tibetischen Geschichte und Kultur zu stellen. Gleichwohl möchte ich ein Streiflicht darauf werfen, unter welchen Bedingungen die weltliche Herrschaft über Tibet, die der Dalai Lama bis ins hohe Alter innehatte, ihren Anfang und ihr Ende nahm. Denn ohne eine gewisse Kenntnis seiner Person, seiner Prägung und seiner Herkunft werden wir wohl nicht nur die historische Dimension seiner Leistungen verkennen, sondern auch die gewaltigen Herausforderungen, die er immer wieder zu meistern hatte.

Insbesondere aber möchte ich zeigen, welche inneren Motive den Dalai Lama bewegen, so zu handeln, wie er es tut – Motive, die sich wiederum aus seinem Verständnis der tibetischen Tradition speisen. Und damit bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich die Geschichte beginnen lasse, am Urquell seiner Inspiration, dem Bodhisattva-Gelübde, das er einst im Alter von fünfzehn Jahren ablegte. Geleitet von unermesslichem Mitgefühl, gelobte er, all seine Gedanken, Worte und Taten so zu lenken, dass sie dem Wohle aller fühlenden Wesen in ihrem Streben, alle Arten von Leid zu überwinden, dienlich seien. Die Lebensgeschichte des Dalai Lama kann somit als ein Lehrstück verstanden werden, das aus der Perspektive der buddhistischen Tradition heraus zeigt, was wahres Mitgefühl wirklich ist und wie sich dieses so verstandene Mitgefühl in der alltäglichen Welt umsetzen lässt.

An dieser Stelle sei kurz erläutert, wie ich die Begriffe »Tradition« und insbesondere »tibetische Tradition« in dem vorliegenden Buch verwende. Wenn ich sage, dass der Dalai Lama die tibetische Tradition exemplifiziere, dann meine ich all das, was von Generation zu Generation weitergegeben wurde und wird – und zwar nicht nur lange tradierte Praktiken der Tibeter, sondern auch die vielen Überzeugungen und Glaubensvorstellungen, die mit diesen Praktiken verbunden sind. Wenn ich zum Beispiel darüber schreibe, dass es nach tibetischer Tradition viele Höllen gebe, einige heiß, andere eiskalt, dann meine ich damit, dass dies nach dem Verständnis und der Ansicht der meisten orthodoxen Gläubigen innerhalb dieser Tradition genau so der Fall ist. Ich will damit nicht behaupten, dass alle Tibeter immer und überall daran geglaubt hätten (oder glauben), aber der Großteil eben schon.

Und wo ich gerade von Tradition rede, noch ein Wort zur tibetischen religiösen Tradition: Im Buddhismus, wie ihn die Tibeter praktizieren, gibt es zwar einzelne lokale Ausprägungen, wenn man so will, aber keinesfalls etwas wie einen spezifisch tibetischen Buddhismus. Aus tibetischer Sicht ist der Buddhismus, wie er innerhalb dieser Tradition bewahrt und gelebt wird, die höchste, vollkommenste Form des Buddhismus – auch wenn einige seiner Lehren und Praktiken von Andersgläubigen als heterodox erachtet werden.

Da mir daran liegt, den Dalai Lama in den Kontext der tibetischen Kultur und Geschichte zu stellen und seine Biografie als ein lebendiges Beispiel dessen zu zeigen, was wahres Mitgefühl nach tibetischer Tradition bedeutet, ging es mir weniger darum, das nachzuerzählen, was der Dalai Lama sagt. Seine spirituellen Botschaften ebenso wie seine politischen Ansichten finden sich in Hunderten von Büchern und vielen Tausenden Video- und Audio-Aufzeichnungen, die in sechzig Jahren Exil entstanden sind – für alle Interessierten mehr als genug Quellen also, um in die spirituellen und politischen Philosophien des Dalai Lama einzutauchen.

Wie er nun tatsächlich ist, der Dalai Lama, ist für mich die zweitrangige Frage. Was er tatsächlich meint – nicht nur mit dem, was er sagt, sondern auch mit dem, was er tut –, ist für mich die oberste Frage überhaupt. Gewiss, es gibt bestimmt viele erzählenswerte persönliche Details, aber meiner Meinung nach berichten sie uns viel weniger über den Mann, zu dessen religiösen Bekenntnissen einige gehören, die eine Reihe von Autoritäten der Gelug-Schule als äußerst gewagt ansehen. Wie der Dalai Lama die tibetische Tradition interpretiert und formt und insbesondere, wo er davon abweicht, sind für mich die spannenderen und aufschlussreicheren Fragen sowie, aus historischer Sicht, auch bedeutsamer als Fragen nach seiner Lieblingsfernsehsendung oder seinen Hobbys. Und nur nebenbei, Naturdokumentationen sieht er am liebsten (er ist ein Fan von David Attenborough), und zu seinen Interessen zählen die Uhrmacherei (die er früher als Laie begeistert betrieb) sowie die Gärten und Landschaften rund um seine Residenz.

Dennoch will ich mich an einer Antwort auf die Frage, wie der Dalai Lama als Person so ist, gerne versuchen, hatte ich doch das enorme Privileg, mit ihm an drei seiner wichtigsten Bücher zu arbeiten, einschließlich seiner (zweiten) Autobiografie.1 Und dies tue ich am besten, indem ich von einem Gespräch erzähle, das ich vor ein paar Jahren mit ihm führte. Ich erzählte ihm, dass meine Frau mir kürzlich vorgehalten habe, ich solle mich schämen, dass ich mich immer noch nicht richtig mit ihm in seiner Muttersprache unterhalten könne, obwohl ich Seine Heiligkeit nun schon mehr als ein Vierteljahrhundert lang kenne. Ich musste zugeben, sie hatte recht. Und dafür, so sagte ich zu ihm, wolle ich mich aufrichtig entschuldigen.

»Nun, wenn es darum geht«, antwortete er wie üblich auf Englisch mit dem mir so wohlvertrauten starken Akzent, »so müsste ich mich entschuldigen. Ich lerne Ihre Sprache schon seit 1947!«

In diesen wenigen Worten spiegeln sich die Güte, die Demut und die Freundlichkeit wider, die diesen Mann ausmachen.

Ich traf den Dalai Lama zum ersten Mal im März 1988 in Dharamsala, in seiner indischen Exilheimat, zu einem Interview im Auftrag des britischen Wochenblatts The Spectator. Diese erste Begegnung war begleitet von einem Umstand, der mir in jenem Moment etwas befremdlich erschien, im Nachhinein aber etwas geradezu Prophetisches hat. Als ich in den Audienzsaal geführt wurde, ließ ich den Blick durch den Raum wandern und registrierte, dass er leer war, bis ich mit einem Mal bemerkte, dass der Dalai Lama fast direkt vor mir stand. Nicht etwa so, als hätte er die ganze Zeit schon dagestanden und ich es nur nicht bemerkt, nein, vielmehr hatte ich den Eindruck, dass er buchstäblich aus dem Nichts erschienen sei.

Ein ähnliches Erlebnis hatte ich noch einmal ein Jahr später – doch damit genug (dies hier soll schließlich seine Biografie sein, nicht meine Autobiografie). Noch ein Wort zu unserer gemeinsamen Arbeit in den vielen Jahren danach. Das meiste entstand nicht, während er sich in Dharamsala aufhielt, sondern während er unterwegs war – in den USA, in Dänemark, Italien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder irgendwo in Indien. Ich konnte ihn daher an vielen verschiedenen Orten und in vielen verschiedenen Situationen erleben, in denen ich einige Beobachtungen machte, die vielleicht erzählenswert sind.

Ich kenne ihn zum Beispiel als einen peniblen, etwas pingeligen Menschen – seine Nägel sind immer ordentlich geschnitten, sich aufzuputzen aber ist ihm fremd. Seine Kleidung ist von guter Qualität, aber nicht vom Allerfeinsten. Seine Schuhe sind fest, bequem und immer poliert, aber von keiner Exklusiv- oder Luxusmarke. Rupert Murdoch – Medien-Tycoon und kein Moralist – nannte den Dalai Lama einmal einen »weisen alten Mönch in Gucci-Schlappen«. Da lag er falsch. Der Dalai Lama trägt in der Regel Hush Puppies, niemals Gucci. Zu Hause Flip-Flops.

Und ja, er hat ein Faible für gute Armbanduhren, besitzt aber keine Sammlung. Er trägt eine schlichte, unverzierte Rolex. Und regelmäßig verschenkt er Uhren, die er nicht mehr braucht. Ich selbst habe auch eine von ihm (die er zuerst jemand anderem geschenkt hatte). Es ist eine schlichte Jaeger-LeCoultre Edelstahl-Memovox mit einer mechanischen Weckfunktion (die ihm bestimmt einmal sehr gefallen hatte), welche er in den 1960ern trug.

Extravagant oder verschwenderisch im Hinblick auf materielle Güter war er aber nie, ganz im Gegenteil, wenngleich er von sich selbst einmal gesagt hat, er habe ein gewisses »großzügiges« Naturell. Als Kind hat er so viele Tiere wie möglich gekauft, um sie vor dem Schlachter zu bewahren – bis seine Betreuer kaum mehr wussten, wohin mit dem ganzen Zoo. Und als Erwachsener besuchte er auf seiner ersten USA-Reise 1979 auch einige Einkaufszentren. Sein Tutor Ling Rinpoche mahnte ihn, keine unnötigen Einkäufe zu tätigen, und soweit ich weiß, hat man ihn in üblichen Einzelhandelsgeschäften auch nie gesehen. Einen Computer hat er nicht und ist also auch kein Online-Shopper. Seine Extravaganz – so sie überhaupt vorhanden ist – beschränkt sich heute einzig darauf, Geld zu verschenken, hauptsächlich für humanitäre Zwecke. Als er 2012 mit dem Templeton-Preis geehrt wurde, gab er das Geld sofort weiter und spendete den Großteil der Summe (immerhin fast zwei Millionen US-Dollar) an den Save the Children Fund – als ehrendes Dankeschön für die Großzügigkeit der Wohltätigkeitsorganisation gegenüber tibetischen Flüchtlingen in den frühen Tagen des Exils.2

Auch privat hat der Dalai Lama stets einen Blick für die Bedürfnisse anderer, fragt zum Beispiel, ob jemand Kaffee möchte, wenn nur Tee angeboten wird. Und er achtet darauf, dass mit dem dri churra (einem Hartkäse aus Tibet), den er sehr mag, immer auch ein paar Nüsse oder Kekse serviert werden. Er richtet die Jalousien so aus, dass die Sonne Sie nicht blendet, fragt, ob es Ihnen zu heiß oder zu kalt ist, und stellt Heizung oder Klimaanlage entsprechend ein. Und wenn er meint, dass man einen Raum für Gäste oder Zuhörer noch angenehmer gestalten könne, lässt er die Möbel entsprechend verrücken. Ich weiß noch, wie ich in den frühen Tagen unserer Zusammenarbeit einmal in sein Hotelzimmer kam, wo er gerade dabei war, die Stühle umzustellen, um eine Pressekonferenz vorzubereiten.

Der Dalai Lama ist ein guter Esser, obwohl dies teils darauf zurückzuführen sein mag, dass er als ordinierter Mönch nur zweimal am Tag essen darf – und nicht nach Mittag. Doch hin und wieder tut er es, wenn er auf einer Auslandsreise zum Essen eingeladen ist, und an besonders anstrengenden Tagen gönnt er sich nachmittags auch mal ein paar Kekse. Wählerisch oder mäkelig beim Essen ist er nicht. Er bevorzugt eine vegetarische Lebensweise, isst aber, auf Anraten seiner Ärzte, auch ohne Weiteres Fleisch – wobei man sicher sein kann, dass er für das postmortale Wohlergehen einer jeden Kreatur, die er verzehrt, betet.

Was sein eigenes Wohlergehen anbelangt, so scherzt er manchmal, dass er nicht einmal wisse, wie man eine Tasse Tee zubereitet. Er kocht auch nicht, und abgesehen davon, dass er als kleiner Junge manchmal in den Küchen des Potala-Palastes beim Backen von khabse half (den traditionellen Neujahrskeksen), hat er eine Küche nur selten von innen gesehen. Feuer zu machen hat ihm als Kind großen Spaß gemacht. Aber auch dies hielt sich in Grenzen, denn er hatte ja seit früher Kindheit für alles seine Diener. Von diesen sind bis heute einige um ihn. Alles in allem gibt es in seinem Haushalt etwa zehn Bedienstete, darunter Köche und Krankenpfleger. Er hat vier oder fünf persönliche Betreuer, allesamt Mönche, sowie eine Reihe von Angestellten, die aufgrund ihres Alters nur leichtere Arbeiten verrichten, als treue Freunde aber bei ihm bleiben. Im Kreis dieser kleinen Gemeinschaft tauscht er sich am Ende eines Tages aus und kommt zur Ruhe. Das Büropersonal besteht aus tibetischen und englischen Mitarbeitern, von denen die meisten, wenn auch nicht alle, Laien sind. Es gibt insgesamt vier Privatsekretäre (noch vor Kurzem waren es nur zwei), die wiederum von ein paar Mitarbeitern unterstützt werden. Obwohl der Dalai Lama alle Bediensteten persönlich ernennt (in einer mönchischen Gemeinschaft allesamt Männer, versteht sich), werden ihm ihre Namen von der tibetischen Exilregierung vorgelegt. Zusammengenommen bilden sie seinen kleinen Hofstaat außerhalb der Mauern von Ganden Phodrang, wie sein offizieller Regierungssitz genannt wird (so wie das Weiße Haus in Washington). Und er ist ein guter Zuhörer, schenkt jedem Besucher aufmerksam Gehör, und er hat Familie und Freunde, die ihn über alles auf dem Laufenden halten.

Wenn er über irgendein Thema weniger Bescheid weiß, als er es sollte, dann nur deshalb, weil er von den Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld, aus welchen Gründen auch immer, nicht ausreichend informiert wurde. Und das kommt gelegentlich vor, was bei einem so kleinen Kreis von Leuten, auf die er sich verlassen muss, wohl nicht ausbleibt.

Neben seinem ständigen Personal gibt es eine größere Zahl von Leibwächtern. Zu Hause wird der Dalai Lama zusätzlich zu seinen tibetischen Sicherheitsleuten auch von einem kleinen Kontingent der indischen Armee bewacht. Zu ihnen pflegt er eine eher nüchterne Beziehung, außer zu den Ältesten unter ihnen, begegnet ihnen aber ebenfalls stets aufmerksam. Er hat immer ein freundliches Wort für jene, die nachts Wache halten oder auf seinen morgendlichen Spaziergängen an seiner Seite sind. (Sobald er seine ersten Morgengebete gesprochen hat, geht er spazieren oder läuft die Hotelflure auf und ab.) Auf Reisen nimmt er sich jedes Mal Zeit, um ein paar Worte mit all denen zu wechseln, die rund um die Uhr für ihn da sind.

Auch der Humor des Dalai Lama sorgt immer wieder für Gesprächsstoff. Ich hatte oft den Eindruck, dass der tibetische Humor dem englischen recht ähnlich ist: geradeheraus, oft derb, liebevoll gewürzt mit Ironie und Absurdität. Ich machte einmal einen recht harmlosen Witz über eine Maus und erntete allseits herzliche Lacher. Ordinäre Witze oder Anekdoten erzählte ich natürlich keine. Der Dalai Lama würde es wohl höchst befremdlich finden. Aber er ist kein Spaßverderber. Er fragte mich einmal nach der Hochzeit eines jungen tibetischen Beamten, an der ich teilgenommen hatte – ob es sehr beschwipst zugegangen sei, wollte er wissen. Als ich bejahte, reagierte er überhaupt nicht missfällig. Und als ich erfuhr, dass er neben Naturdokus auch gerne mal die englische Dauer-Comedy-Serie Dad’s Army schaut, schickte ich ihm eine Kassette mit ein paar Folgen, wobei ich nicht weiß, ob er sie jemals angeschaut hat. Ich legte noch einen Mr.-Bean-Film dazu, da ich mir gut vorstellen konnte, dass er seinen Humor traf.

Obwohl er keinen Wert auf Förmlichkeiten und Etikette legt (er hat eine regelrechte Abneigung gegen aufgesetztes Getue), ist er sich der Würde seines Amtes dennoch sehr wohl bewusst. Als ich es einmal nicht hinbekam, einen khatag richtig zu drapieren, den traditionellen buddhistischen Begrüßungsschal aus weißer Seide, zögerte er nicht, mich zu tadeln. Ein andermal unterlief mir ein Fauxpas, der mir als Ausländer gar nicht so schlimm erschien, der aber eine schwere Beleidigung darstellte. Abermals machte er mich auf meinen Fehler aufmerksam, immer in freundlicher Weise. Ich glaube nicht, dass er dies getan hätte, wenn er mich nicht so gut gekannt hätte. Er ist für die Gefühle anderer sehr sensibel. Trotzdem macht er hin und wieder eine arglose Bemerkung, mit der er manche vor den Kopf stößt. Ich erinnere mich, wie er einmal laut lachend einen Schriftstellerkollegen schalt, weil er Fingernägel »wie Krallen« hatte.

Der Dalai Lama ist von Natur aus ein zugeneigter und nahbarer Mensch. Freunden gibt er oft einen verspielten Klaps auf den Hinterkopf. Er mag spontan Ihre Hand ergreifen, sie halten, seine Wange an die Ihre schmiegen oder durch Ihren Bart streichen. Nahbarkeit ist eine Eigenschaft, die er mit seinem Vorgänger, dem Großen Dreizehnten Dalai Lama, teilt – mit dem Mann, der dem chinesischen Militär nur knapp entkam, indem er über die Berge ins benachbarte Sikkim floh, und der nach seiner Rückkehr von seinem Volk stürmisch gefeiert wurde, je nach Region mit eigenen Bräuchen – mit Verbeugungen, Niederwerfungen oder anderen Respektbezeigungen. In der Menge waren auch drei kleine schottische Mädchen auf ihren Ponys (ihr Vater war örtlicher Missionar), die sich in die Prozession gleich hinter dem Großen Dreizehnten einreihten. Als er langsamer ging, um die Menge zu grüßen, sprangen die drei Mädchen ab, rannten voraus zum Gästehaus der Regierung, in dem er wohnen würde, und warteten auf seine Ankunft. Dann kam der Große Dreizehnte auf die Mädchen zu, hielt wortlos inne, fuhr mit den Fingern durch Isa Grahams flachsblonde Locken, »befühlte ihr Haar zwischen Finger und Daumen, so wie man gesponnene Seide befühlt, als wolle er Qualität und Textur prüfen«. Dann verschwand er im Gebäude, um nur wenig später wieder herauszukommen und ihre Haare noch einmal zu befühlen, während die Menge den Atem anhielt.

In der Betrachtung dieser persönlichen Eigenschaften dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass der Dalai Lama vor allem eins ist – Mönch. Ein Mönch mit gewaltigen rituellen Verantwortungen. Biografien können schnell den Eindruck erwecken, das Leben der Person drehe sich allein um ihre öffentlichen Taten und Werke. Im Fall des Dalai Lama aber ist es das innere Leben, sein inneres Leben, das am allerwichtigsten ist. Und so ist es unerlässlich, dass der geneigte Leser im Sinn behält, dass der Dalai Lama sich seiner monastischen Berufung uneingeschränkt verpflichtet fühlt. Jeden Morgen, ohne Ausnahme, beginnt er den Tag mit mindestens drei Stunden in Gebet und Meditation. Und jeden Abend, ohne Ausnahme, beschließt er den Tag mit mindestens einer Stunde in Gebet und Meditation. Tagsüber betet und studiert er, soweit es sein Zeitplan erlaubt, oft auch beim Essen. In Klausur, in die er sich mindestens einmal im Jahr für bis zu drei Wochen begibt, manchmal auch nur für einige Tage mehrmals im Jahr, steigert er sein Pensum (dann steht er um 3:00 Uhr morgens statt um 4:30 Uhr auf) und begrenzt seine Beschäftigung mit weltlichen Angelegenheiten auf möglichst ein oder zwei Stunden am Tag.

Mein mangelhaftes Tibetisch habe ich bereits erwähnt. Und obwohl ich eigentlich recht lese- und schreibkundig bin, bin ich oft auf Wörterbücher oder die guten Dienste netter Personen angewiesen, außer bei sehr kurzen oder sehr einfachen Texten. In gewisser Hinsicht war dies auch ein Segen, denn so lernte ich meine tibetischen Freunde noch näher kennen, als es vielleicht sonst der Fall gewesen wäre. Und es war mir stete Mahnung, dass ich als Außenseiter schreibe, als Beobachter, der von draußen »hineinschaut«.

Dass ich kein Buddhist bin, war weniger ein Nachteil als ein Vorteil. So konnte ich Fragen stellen und Gedanken denken, wie es andernfalls schwieriger, wenn nicht gar unmöglich gewesen wäre. Aus dem gleichen Grund kann es durchaus sein, dass einiges von dem, was ich im Buch sage, vielleicht etwas vorlaut und möglicherweise sogar respektlos erscheint, obwohl mir dies mehr als fernliegt. Und es kann durchaus sein, dass für den einen oder anderen Leser manches sehr schmerzhaft ist. Dessen eingedenk, nehme ich mir die ermutigenden Worte des Dalai Lama zu Herzen, den ich oft von einer fairen und ausgewogenen Bewertung der Tatsachen habe reden hören. Ich vertraue darauf, dass es mir gelungen ist – nichts anderes war mein Ziel!

TEIL I

Eine erfüllte Prophezeiung

1

Eine bedeutsame Reise des Großen Dreizehnten

Es läge nahe, unsere Geschichte mit dem ersten Samstag im Juli 1935 zu beginnen, dem Tag im Gregorianischen Kalender, an dem der heutige Dalai Lama geboren wurde. Damit aber würden wir den Kontext seiner Geburt außer Acht lassen. Korrekter wäre es, mit dem Abend des 17. Dezember 1933 zu beginnen, mit den Umständen, die diesen Tag begleiteten, an dem der Große Dreizehnte Dalai Lama »seinen Geist in den Tushita-Himmel entließ« – wo nach der buddhistischen Überlieferung auch der Buddha der Zukunft weilt. Der Tod eines Dalai Lama führt die Geburt des nächsten herbei – auch wenn, wie in diesem Fall, mehr als neun Monate zwischen den beiden Ereignissen vergangen sind.

Doch es gäbe auch einen guten Grund, mit der Geburt des Ersten Dalai Lama zu beginnen, schließlich wird jede Inkarnation als geistiges Kontinuum betrachtet. Aber abgesehen davon, dass wir dafür einen ausgedehnten Streifzug durch die Geschichte machen müssten, wäre dies nicht ganz unverfänglich. Der Erste Dalai Lama nämlich war eigentlich der Dritte. Wie es dazu kam? Im Jahre 1578 berief Altan Khan, Mongolenfürst und Nachfahre Dschingis Khans, einen Lama namens Sönam Gyatso an seinen Hof. Altan Khan, der neue Machthaber in Zentralasien, suchte nach einem Weg, seine Herrschaft zu legitimieren, und Sönam Gyatso, einer der bekanntesten Lamas jener Zeit, schien ihm genau die richtige Person zu sein, um sich Ansehen und Ehrbarkeit zu verschaffen. Aus Gründen, die mit der politischen Situation jener Zeit eng verknüpft waren, verlieh Altan Khan seinem tibetischen Gast daher eine Reihe hoher Titel, darunter den des Dalai Lama. Dalai ist ursprünglich ein mongolisches Wort und bedeutet »Ozean«, genauso wie das tibetische Wort Gyatso. Da Sönam Gyatso in Wirklichkeit aber die dritte anerkannte Reinkarnation aus der Linie von Drepung war, der größten Klosterstadt Tibets, war er der Zählung zufolge der Dritte Dalai Lama.

Daraus jedoch ergibt sich eine weitere Komplikation. Abgesehen davon, dass er als der Dritte Dalai Lama von Drepung in die Geschichte einging, gilt Sönam Gyatso auch als der Zweiundvierzigste in einer ungebrochenen Linie, die zurückreicht bis zum historischen Buddha, der im fünften Jahrhundert v. Chr. lebte und lehrte. Diese Linie verbindet alle Dalai Lamas mit Chenrezig, dem Bodhisattva des Mitgefühls, als dessen irdische Verkörperungen sie gelten. Dieser Linie geht wiederum eine weitere voraus, die ihrerseits Chenrezig mit einem jungen Prinzen verknüpft, der vor 990 Äonen lebte. Wie lange aber ist ein Äon, sprich, ein Weltalter? Dieselbe Frage soll ein Schüler einst Buddha gestellt haben. Buddha antwortete ihm mit einem Gleichnis: »Wenn sich da, oh Mönch, ein Felsblock befände aus einer einzigen Masse, eine Meile lang, eine Meile breit, eine Meile hoch, ungebrochen, ungespalten, unzerklüftet, und es möchte alle hundert Jahre ein Mann kommen und denselben mit einem seidenen Tüchlein einmal reiben, so würde wahrlich, oh Mönch, der aus einer einzigen Masse bestehende Felsblock eher abgetragen sein und verschwinden als eine Welt. Das, oh Mönch, ist die Dauer einer Welt.« Es wird deutlich, dass wir mit tiefgründigsten Fragen konfrontiert werden, sobald wir in die Geschichte des Dalai Lama im Allgemeinen eintauchen. Und was insbesondere die Person des gegenwärtigen Dalai Lama anbelangt, tauchen wir nicht nur in die Biografie eines bemerkenswerten Mannes ein, sondern in die Geschichte eines Menschen, der aus Sicht seiner eigenen angestammten Tradition vollkommen geläutert und durch die Vollbringung unzähliger guter Taten und Werke in vielen früheren Leben von sämtlichen kleshas oder Geistesgiften gereinigt ist und der sich hier auf Erden nicht zu seinem eigenen Wohl, sondern zum Wohle aller manifestiert. Zugleich nimmt uns diese Geschichte mit auf eine Reise in ferne Zeiten, die so lebendig werden, als wären sie gestern geschehen, und sie bringt uns übernatürliche Dinge näher, als wären sie das Natürlichste der Welt und in unserer unmittelbaren Nähe zu finden.

Um den Dalai Lama zu verstehen, müssen wir daher versuchen, die Welt aus Sicht der tibetischen Tradition heraus zu betrachten: und zwar nicht als eine Welt, die mit einem singulären Moment der Schöpfung ihren Anfang nahm, und auch nicht als eine, in der sich letztlich alles mit mathematischen Formeln beschreiben lässt, als eine Welt der Atome und Elektronen, Protonen und Neutronen. Wir sollten sie uns gar nicht erst vorstellen als eine Welt, die durch Quanten und Wahrscheinlichkeiten erklärbar ist. Die Welt, so wie sie durch die Brille der tibetischen Tradition gesehen und verstanden wird, wurde nicht durch einen Urknall geboren, um seither durch Galaxien, Sonnensysteme und ein unendlich expandierendes All zu wabern. Nein, dem tibetischen Glauben zufolge hat die Welt keinen Anfang. Vielmehr existiert die Welt, die uns umgibt, nicht aufgrund atomarer oder subatomarer Teilchen, sondern aufgrund von Karma, angesammelt von zahllosen fühlenden Wesen über Äonen hinweg.

Beginnen wir unsere Geschichte nicht mit der Geburt des heutigen Dalai Lama, mit Lhamo Thöndup, wie der Vierzehnte Dalai Lama mit bürgerlichem Namen heißt, und auch nicht mit dem Tod seines Vorgängers. Beginnen wir stattdessen völlig unkonventionell mit einer Momentaufnahme an einem schönen Tag im Frühjahr 1907, mit einem Besuch des Dreizehnten Dalai Lama in einem Dorf im äußersten Osten von Tibet, in Taktser. (Taktser wird kurz Takse ausgesprochen und bedeutet »Dorf des brüllenden Tigers«.)

Auf dem Rückweg vom kleinen Kloster Shartsong stieg der »Kostbare Beschützer« (einer der vielen Beinamen, die alle Dalai Lamas tragen) zusammen mit seinem Begleiter Takster Rinpoche hinauf bis auf den höchsten Punkt eines nahen grünen Hügels, um Rast zu machen. (Rinpoche ist ein Ehrentitel, der höchsten spirituellen Meistern ebenso wie ausgewählten Orten oder Gegenständen verliehen wird und wörtlich übersetzt »Der Kostbare« bedeutet.) Der Rinpoche, der seinen Vornamen dem kleinen Weiler am Fuße dieses Hügels verdankte, war der bedeutendste Lama der Region Amdo am äußersten Ende der nordöstlichen Provinz des Landes.

Wir sind heute an die Vorstellung von Nationalstaaten mit klar definierten Grenzen gewöhnt, doch Grenzlinien zwischen den Völkern – auch zwischen jenen unterschiedlicher Ethnien – waren in der Geschichte meist nie eindeutig gezogen. Aus chinesischer Sicht lagen Taktser und Umland damals eindeutig auf dem Gebiet der Provinz Qinghai. Aus tibetischer Sicht hingegen gehörte das Dorf seit immerhin fast einem Jahrtausend (etwa vom siebten bis zum 17. Jahrhundert) ganz zweifelsfrei zu Tibet. Zwar hatten die Chinesen zum Zeitpunkt des Besuchs des Großen Dreizehnten die Kontrolle über das Gebiet wiedererlangt, die überwiegende Mehrheit der einheimischen Bevölkerung jedoch blieb tibetisch.

Nachdem nun der Große Dreizehnte Dalai Lama von Tibet die natürliche Schönheit der Landschaft rund um diesen Hügel gepriesen hatte, ließ er es sich nicht nehmen, das Dorf Taktser zu besuchen, und machte sich nach einer kleinen Rast auf den Weg, jedes Gehöft persönlich zu beehren. Dort, so heißt es, verweilte er eine Zeit bei jeder Familie, sprach mit ihr über dies und das und stellte die verschiedensten Fragen zu ihrem Leben. Eine der Bäuerinnen war davon derart bewegt, dass sie eine Schaufel Asche aus dem Feuer hob, auf dem sie das Mittagessen des Dalai Lama gekocht hatte, und die Asche im Hof vor dem Haus der Familie vergrub.

Zum Abschluss seines Besuchs bekundete der Kostbare Beschützer, dass er sich in dieses hübsche kleine Tal verliebt habe, und versprach, eines Tages wiederzukommen. Leider hat er es nie getan. Zumindest nicht als Dreizehnter Dalai Lama. Doch genau dort, in jenem Tal, erblickte achtundzwanzig Jahre später der heutige Dalai Lama das Licht der Welt – er wurde in die Familie hineingeboren, vor deren Haus die Asche vergraben war.

Die politischen Umstände an jenem schicksalhaften Tag im Jahr 1907 waren alles andere als günstig. Es war eine historische Zeit voller gravierender Umbrüche. Das chinesische Reich der Qing-Dynastie taumelte seinem Niedergang entgegen. Und auch das British Empire, obgleich in puncto politischer Macht und wirtschaftlicher Blüte auf dem Höhepunkt, stand nach dem Ersten Weltkrieg an der Schwelle zu seiner Auflösung und hinterließ ein Machtvakuum, in welches bald schon die Zwillingsschrecken aus faschistisch geprägtem Nationalismus und Kommunismus vorstoßen würden. Zu diesem Zeitpunkt war der Dalai Lama, der politische und geistige Führer der Tibeter, bereits aus der Hauptstadt Lhasa geflohen und befand sich im Exil. Drei Jahre zuvor waren britische Truppen unter dem Oberbefehl von Colonel Francis Younghusband und dem Einsatz schnell feuernder Repetiergewehre nach Zentraltibet vorgerückt, was den Dalai Lama zur Flucht in die Mongolei bewogen hatte. Diese Invasion ging als Britischer Tibetfeldzug in die Geschichte ein und war wohl eine der am wenigsten glorreichen Militärexpeditionen des Empires. Zu diesem Feldzug kam es, vordergründig zumindest, da die tibetische Regierung sich geweigert hatte, das kleine buddhistische Königreich Sikkim zwischen Tibet und Indien als britisches Protektorat anzuerkennen. Tatsächlich aber war die politische Paranoia der Briten vor der aufstrebenden Macht Russlands die treibende Kraft. Dies zum einen. Hinzu kam der große Traum von einer pan-buddhistischen Föderation Zentralasiens, welche die Mongolei, Tibet und andere buddhistische Länder unter der spirituellen Führung des Dalai Lama und dem militärischen Schutz des Russischen Reichs vereinen würde – ein Traum, den einer der engsten Berater des Großen Dreizehnten hatte.

Dieser Berater war Agwan Dorjieff, dessen russisch anmutender Name in britischen Ohren damals äußerst bedrohlich geklungen haben musste. Als dem Minister von Königin Victoria um die Jahrhundertwende schließlich klar war, dass Dorjieff persönliche Bande zum Zar höchstselbst pflegte, wuchs die Überzeugung, dass etwas getan werden musste, und das britische Parlament wurde um entsprechende Unterstützung gebeten.3 Die Menschen wandten sich an die Zeitungen und verlangten konkrete Maßnahmen, während Lord Curzon, ein konservativer britischer Staatsmann und Vizekönig von Indien, bereits dabei war, eine Verschwörung anzuzetteln. Ihm war es absolut wichtig, dass Tibet ein neutraler Puffer zwischen dem Russischen Zarenreich und den nördlichen Grenzen des British Empire bliebe.

Der militärische Feldzug, der daraufhin folgte, traf Tibet ebenso unerwartet wie brutal. Die erste Schlacht am 31. März 1904 führte dazu, dass von britischer Seite 50 Schrapnellgranaten, 1400 Maschinengewehrsalven und 14.351 Gewehrschüsse abgegeben wurden. Dabei verzeichneten die Briten keinerlei Tote, die Tibeter hingegen hatten 628 Opfer zu beklagen. Unter den Toten waren zwei Generäle und zwei hochrangige Mönche. Sogar Younghusband räumte ein, dass der Feldzug zu einem Massaker ausgeartet sei. Gleichwohl bewunderte er die Gelassenheit und Seelenruhe wie auch die Hartnäckigkeit und Zähigkeit der Tibeter unter feindlichem Beschuss. Die Tibeter ihrerseits waren hocherstaunt, und zwar nicht nur über die Feuerkraft der Inji-Invasoren, der ausländischen Eindringlinge, sondern auch über deren Verhaltenskodizes in der Kriegssituation. Nie zuvor hatten sie erlebt, dass ihre Verwundeten in feindlichen Feldlazaretten behandelt und Kriegsgefangene lediglich entwaffnet und dann freigelassen wurden, mit ein paar Zigaretten und einem kleinen Geldbetrag.

Nicht einmal zwei Wochen später stand Younghusband mit seinen Truppen kurz vor der gewaltigen Festung von Gyantse, die nur wenige Tage Fußmarsch von Lhasa entfernt liegt. Von dort ließ er dem Dalai Lama ein Schreiben überbringen, in dem er dem politischen Führer der Tibeter ein Ultimatum stellte mit der Aufforderung, bis zum 12. Juni mit entsprechenden Befugnissen ausgestattete Unterhändler zu senden, um Verhandlungen aufzunehmen, andernfalls würde er weiter auf Lhasa vorrücken. Dabei hatten die Briten gar kein Interesse an einer Eroberung Tibets. Abgesehen von günstigen Handelsrechten, ging es ihnen vornehmlich darum, die Tibeter zu zwingen, eine britische Präsenz in Tibet zu tolerieren, um die politischen Entwicklungen überwachen und notfalls auch lenken zu können, sollten diese Indien, dem Juwel in der Krone ihres Weltreichs, zum Nachteil gereichen.

Der Dalai Lama und sein Ministerrat, der Kashag, jedoch waren fest entschlossen, in keinerlei Verhandlungen einzutreten, bevor sich nicht die eindringende Armee zurückgezogen hatte. Younghusbands Schreiben, versiegelt und bebändert in bester kaiserlicher Manier und von einem frisch entlassenen Gefangenen nach Lhasa überbracht, kam einige Tage später ungeöffnet an ihn zurück. Die Tibeter setzten darauf, dass die Briten, so großmächtig sie auch waren, niemals imstande wären, die Festung von Gyantse einzunehmen. Dafür würden die zornigen Beschützer des Buddhadharma (die Lehre des Buddha) schon sorgen. Doch Gyantse fiel in einem Handstreich, und Younghusband setzte seinen Marsch auf Lhasa fort. In höchster Eile berief der Dalai Lama einen hochrangigen Mönch zum Regenten und floh nach Norden in Richtung Mongolei. Zumindest hatte er die Gewissheit, dass sein Glaubensbruder dort, der Jebtsundamba Lama, ihm Zuflucht und Schutz gewähren würde, bis man sich von den Briten befreit hätte.

Der Empfang des Dalai Lama durch den ranghöchsten Religionsvertreter in der Mongolei fiel jedoch alles andere als harmonisch aus. Die offizielle Biografie des Großen Dreizehnten vermerkt, dass beim ersten Zusammentreffen ein Streit darüber entbrannte, wem nun der höhere Thron gebühren solle. Und es ist auch die Rede davon, dass der Dalai Lama entsetzt darüber war zu sehen, dass der Mongole entgegen allen Regeln der klösterlichen Tradition sich nicht nur eine Frau genommen hatte, sondern auch dem Alkohol und Tabak4 zugeneigt war. Er besaß sogar die Unverschämtheit, in Gegenwart des Dalai Lama zu rauchen – was einer Majestätsbeleidigung gleichkam. Nichtsdestotrotz sah sich der Dalai Lama gezwungen, einstweilen im Hauptsitz des mongolischen Hierarchen in Urga (dem heutigen Ulaanbaatar) zu bleiben.

Als dann Younghusband sich im September des Jahres aus Lhasa zurückzog, waren die Tibeter ebenso erstaunt wie erleichtert. Es scheint, als hätten sie eine weitgehende britische Machtübernahme nach dem Vorbild früherer Invasionen Tibets durch Mongolen und Mandschu befürchtet.5 Doch die anfängliche Erleichterung wandelte sich in Unmut, als klar wurde, dass die Briten auf dem Verbleib des Dalai Lama im Exil beharrten.

Der Große Dreizehnte hielt sich daher ein weiteres Jahr in Urga auf. Einer der wenigen Europäer, die zur damaligen Zeit eine Audienz bei ihm bekamen, war ein russischer Forscher, der das Verhalten des Dalai Lama als »von großer Ruhe durchdrungen« schilderte. Er »sah mir oft direkt in die Augen, und jedes Mal, wenn sich unsere Blicke trafen, lächelte er sanft und überaus würdevoll«. Sobald aber »die Rede auf die Engländer und ihren Feldzug kam, änderte sich seine Miene. Sein Gesicht war von Trauer getrübt, sein Blick niedergeschlagen, und seine Stimme brach vor Ergriffenheit«.

In China indes war Cixi, die Kaiserinmutter, gleichermaßen tief bestürzt über die Einnahme Lhasas durch die Briten. »Tibet«, so schrieb sie, »gehört seit zweihundert Jahren zu unserer Dynastie. Dieses riesige Gebiet verfügt über reiche Bodenschätze, die von Ausländern schon immer begehrt wurden. In jüngster Zeit sind britische Truppen einmarschiert und haben die Tibeter gezwungen, einen Vertrag zu unterzeichnen. Dies ist eine äußerst unheilvolle Entwicklung … Wir müssen weiteren Schaden abwenden, um die Situation zu retten, bevor es zu spät ist.« Als es ein Jahr später unter der Führung der Mönche vom Kloster Batang zum offenen Widerstand gegen die chinesische Präsenz in Kham kam, einer der beiden östlichen Provinzen Tibets, fackelte diese nicht lange und ließ ihre Armee, angeführt von General Zhao Erfeng, gegen das aufständische Kloster marschieren. Es sollte die letzte große Militäraktion der inzwischen erschöpften Qing-Dynastie werden, die seit Mitte des 17. Jahrhunderts an der Macht gewesen war.

Der Aufstand der Khampas, wie sich die Einwohner der osttibetischen Region nennen, fand 1905 statt, zwei Jahre vor dem Besuch des Kostbaren Beschützers in Shartsong. Zur damaligen Zeit gab es in der Gemeinde Batang einen kleinen chinesischen Außenposten inmitten der weiten fruchtbaren Ebenen, die vom oberen Jangtsekiang, dem längsten Fluss in China, bewässert werden. Dieser Außenposten wurde nach dem chinesischen Einmarsch in Zentraltibet von mongolischen Nachfahren des Dschingis Khan errichtet, nachdem die Tibeter den über China herrschenden Mandschu-Kaiser um Hilfe ersucht hatten. Die unbeabsichtigte und unausweichliche Folge daraus war, dass Tibet unter die Mandschu-Herrschaft der Qing fiel.

Aus Sicht der Tibeter jedoch war das politische Verhältnis zwischen Tibet und der Qing-Dynastie unter dem Aspekt der persönlichen Beziehung zwischen dem Dalai Lama und dem regierenden Kaiser zu betrachten. In ihren Augen war dieses Arrangement kein politisches. Es war vielmehr eine ideelle Beziehung zwischen dem tibetischen Hierarchen als dem religiös-geistlichen Vertreter auf der einen und dem chinesischen Kaiser als dem politisch-weltlichen Schutzherrn auf der anderen Seite. Dies war schon einmal zum Ausdruck gekommen, und zwar in der Verbindung zwischen Rölpe Dorje, einem hochrangigen Lama im Umfeld des Siebten Dalai Lama, und dem damaligen Kaiser, den Rölpe Dorje in der spirituellen Lehre unterrichtet hatte. (Kaiser und Dalai Lama sind sich persönlich nie begegnet; die Verbindung lief einzig über Stellvertreter ab.)

Es ist wichtig zu verstehen, wie diese religiös-politische Beziehung aus tibetischer Sicht funktioniert, um nachvollziehen zu können, wie die Tibeter das begreifen, was auf den ersten Blick wie eine eindeutige Übertragung von Hoheitsrechten an die Chinesen erscheint, zuerst unter der Yuan-Dynastie und später unter der Qing-Dynastie. Hierfür muss man wissen, dass der Buddhismus per se eine Religion der Entsagung ist. Anfangs wurden die buddhistischen Lehren bewahrt und verbreitet von dem Zölibat folgenden Männern, später auch von Frauen, die fernab der »Zivilisation« in Gemeinschaften in den Wäldern zu Hause waren.

Wie Buddha vorgegeben hatte, sollten seine Anhänger als Bettelmönche leben, ihr Brot erbetteln und nicht selbst backen. Dies bedeutete, dass ihr Überleben vom Wohlwollen anderer abhängig war. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie mit zunehmender Verbreitung ihrer Lehre und der sich immer stärker herausbildenden Tradition eines gemeinschaftlich organisierten Klosterlebens auch in einem größeren Rahmen auf die Unterstützung von außen angewiesen waren. Und diese sollte von jenen adligen Familien kommen, die sich der Wahrheit der buddhistischen Lehren geöffnet hatten. Doch während der sangha, die klösterliche Gemeinschaft, materiell von der politischen Gunst abhängig war, galt umgekehrt, dass diejenigen, die diese Gunst gewährten, für ihr eigenes spirituelles Wohl wiederum auf die Unterstützung des sangha angewiesen waren. Und da das spirituelle Wohlergehen nach buddhistischer Lehre Vorrang gegenüber dem materiellen Wohlergehen hat, nahm der sangha zumindest eine theoretische Vorrangstellung über weltliche Machthaber ein – wenngleich die Mönchsgemeinschaft ohne diese politische Patronage sicherlich nicht hätte überleben können.

Wenn die chinesische Regierung heute auf die historischen Bande zwischen China und Tibet verweist und dies als Beleg dafür nimmt, dass Tibet ein »untrennbarer Bestandteil« Chinas sei, und das schon lange, sieht sie einzig das politische Arrangement, mithilfe dessen der Kaiser seine Truppen dort vor Ort hatte stationieren können. Die spirituelle Dimension, die für Tibeter von weitaus größerer Bedeutung ist, lässt China völlig außer Acht.

Dies vorausgeschickt, kommen wir nun noch einmal zurück auf das Jahr 1905, als sich die Mönche vom Kloster Batang gegen die chinesischen Truppen erhoben. Man hätte sie demnach durchaus bezichtigen können, ihren Teil der Vereinbarung zu brechen, indem sie sich an die Spitze eines grausamen Blutvergießens setzten. Berichte über ihre begangenen Gräueltaten indes sind derart grotesk, dass es ausgesprochen schwerfällt, sie nicht als weit übersteigert zu betrachten. Allerdings stimmen verschiedenste Quellen darin überein, dass die Berichte eindeutig nicht überzogen seien.

Der Aufstand richtete sich nicht nur gegen die Chinesen, sondern auch gegen eine kleine Missionsstation, die von zwei französischen Priestern der römisch-katholischen Kirche betrieben wurde. Die Priester samt Konvertiten wurden alle umgebracht. Anschließend breiteten sich die Unruhen auf das Umland aus. Dazu gehörte eine kleine chinesisch-tibetische Garnison und Handelsstation, an die eine weitere missionarische Gemeinschaft angeschlossen war, die ebenfalls von zwei französischen Priestern geleitet wurde. Auch der renommierte schottische Botaniker und Pflanzensammler George Forrest wohnte damals bei den »gastfreundlichen und hochgeschätzten« Missionsleitern. Als den drei Ausländern zu Ohren kam, dass die nahe gelegene chinesische Garnison »bis auf einen Mann fast völlig vernichtet« worden sei, flohen sie mit ihrer kleinen Gemeinschaft von Konvertiten bei Nacht und Nebel. Am folgenden Tag wurde einer der Priester getötet, »durchbohrt von Giftpfeilen …, und die Tibeter fielen hernach sogleich über ihn her, meuchelten ihn mit ihren riesigen Zweihandschwertern«. Die Übrigen der »etwa 80-köpfigen Truppe wurden einer nach dem anderen erschossen oder gefangen genommen, lediglich vierzehn konnten entkommen«. Père Dubernard, einem der beiden Priester, wäre es fast gelungen, den Angreifern zu entkommen, doch er

wurde schließlich in einer Höhle aufgespürt … Seine Häscher brachen ihm beide Arme oberhalb und unterhalb der Ellbogen, fesselten ihm die Hände auf den Rücken und zwangen ihn, in diesem Zustand zum feuerverkohlten Ort der Verwüstung [der Mission] zurückzulaufen. Dort banden sie ihn an einen Pfahl und unterwarfen ihn weiteren bestialischen Folterungen; das Herausreißen von Zunge und Augen sowie das Abschneiden von Ohren und Nase gehörten dabei noch zu den geringsten seiner Torturen. In diesem grausamen Zustand verharrte er drei Tage lang, im Verlauf derer seine Peiniger ihm jeden Tag ein Finger- und ein Zehengelenk abschnitten. Dann, am Rande des Todes, in gleicher Weise gequält wie [sein Mitpriester], wurden Teile beider Körper unter den verschiedenen Lama-Klöstern in der Region verteilt, während die beiden Köpfe, auf Speere gespießt, auf dem Dach des örtlichen Lama-Klosters zur Schau gestellt wurden.

Die Leiter der katholischen Missionsstation glaubten, dass die Gräueltaten auf ausdrückliche Weisung des Dalai Lama selbst erfolgt seien, was jedoch höchst unwahrscheinlich wirkt nach allem, was wir über die Einstellung des Großen Dreizehnten zur Todesstrafe und Verstümmelungspraxis wissen. Zwar räumte er ein, dass die Todesstrafe unter bestimmten Umständen eine bedauerliche Notwendigkeit sei, doch war diese laut einem frühen Dekret einzig für Verbrechen des Hochverrats vorgesehen. Ebenfalls per Dekret verfügte er die Abschaffung körperlicher Verstümmelungen, und obwohl er Auspeitschungen weiterhin zuließ, präferierte er so weit wie möglich eine restorative Justiz. So etwa ließ er einen in Ungnade gefallenen Amtsträger tausend Weiden pflanzen, einen anderen Verurteilten einen Straßenabschnitt erneuern.

Wie die Zerstörung der katholischen Missionsstation und die einhergehenden Folterungen zeigen, folgten die Klöster oftmals ihren ganz eigenen Gesetzen. Unser klischeehaftes Bild vom präkommunistischen Tibet, wo der Welt entrückte Mönche in völliger Abgeschiedenheit ihrer Bergklöster friedfertig meditieren, müssen wir wohl revidieren. Der Aufstand der Mönche zeigte aber auch auf sehr drastische Weise, mit welchem Feuereifer sich die Tibeter gegen jegliche Einflussnahme von außen stemmten, sei es gegen Missionare, die das Evangelium predigten, oder gegen Chinesen, die sie »befrieden« wollten. Eindringlinge jeglicher Art waren unerwünscht. Ihre vorrangige Motivation bestand darin, den Buddhadharma zu schützen, den sie gefährdet sahen, sollten Fremde (sprich, Nicht-Buddhisten) Zugang zu ihrem Land erhalten. Dabei hatte man die ersten christlichen Missionare, die im 18. Jahrhundert nach Lhasa gekommen waren, noch durchaus herzlich empfangen. Ihre persönlichen Moralvorstellungen ebenso wie ihr großes Interesse am Buddhismus hatten sie in den Augen der Tibeter zu ebenbürtigen spirituell Suchenden gemacht. Erst nach und nach erkannten die sangha, dass es diesen Fremden, bei all ihrer Gewogenheit, ihrer hohen Kultur und ihrem offenkundigen Mitgefühl für die Armen, nicht einzig und allein darum ging, den Buddhismus kennenzulernen, sondern dass sie fest entschlossen waren, ihn durch missionarische Bekehrungen zu zerstören.

Dem Amban, dem kaiserlichen chinesischen Gesandten, widerfuhr in Batang ein ähnliches Schicksal wie den Missionaren. Die Mönche eines nahe gelegenen Klosters nahmen ihn gefangen, zogen ihm bei lebendigem Leib die Haut ab, stopften diese mit Stroh aus und trugen sie zur Schau durch die Stadt. Anschließend nutzten sie diese grauenvolle Trophäe für ein Bannritrual gegen das Böse, um sie in ihrem Kloster schließlich wild stampfend niederzutrampeln.

Als der General der Kaiserinmutter, General Zhao, vor Ort eintraf, folgten die Vergeltungsmaßnahmen auf dem Fuße. Von Rachsucht getrieben und um die Tibeter das Fürchten zu lehren, befahl er umgehend, drei Gefangene in einen Kessel einzutauchen, bei »kaltem Wasser, an Händen und Füßen gefesselt, die Köpfe nach oben gezogen«. Dann wurde ein Feuer »unter dem Kessel entfacht und das Wasser langsam zum Kochen gebracht«. Andere Gefangene wurden »mit Öl übergossen und bei lebendigem Leibe verbrannt« und wieder andere »mit jeweils einem Arm und einem Bein an ein Yak gebunden … gezweiteilt und in Stücke gerissen«.

General Zhao setzte die Bevölkerung alsdann in Kenntnis darüber, sich fortan als Untertanen des Kaisers der Qing-Dynastie zu betrachten. Er erteilte den Befehl, ab sofort nicht nur chinesische Kleidung zu tragen, sondern auch die verhassten Mandschu-Zöpfe, und den traditionellen Khampa-Knoten bei Strafe zu unterlassen. Denn diese Haarknoten, oft durchflochten mit rot gefärbten Wollfäden, ließen sie »wie lebende Dämonen erscheinen«. Wie Forrest berichtete, machte die Präsenz von »Schlächter Zhao«, wie er schnell genannt wurde, »das heillose Durcheinander umso grausamer«, und es brauchte fast ein ganzes Jahr und unzählige Gräueltaten mehr, bis es Zhao gelang, einen Frieden zu erzwingen. So lange dauerte es, um die dreitausend Mönche vom Kloster Chatreng Sampeling, die sich bewaffnet hatten und besonders erbitterten Widerstand leisteten, durch Aushungerung zu unterwerfen. Und als sie sich schließlich ergaben, hatte er keine Skrupel, sie bis zum letzten Mann hinrichten zu lassen.

Überraschenderweise hatte Zhao auch unter den Tibetern seine Verbündeten. Einem Zeitzeugen zufolge »lieferten Mitglieder der ansässigen tibetischen Bevölkerung viele ihrer Landsleute aus und gaben sie der Enthauptung preis, um sich in die Gunst der Chinesen einzuschmeicheln«. »Jeden Tag wurden Köpfe abgeschlagen, und die Straßen von Batang waren mit so vielen Leichen übersät, dass es ein Fest für die Hunde war. Niemand wagte es, die Leichname zu berühren oder zu begraben, aus Furcht, als Freund der Toten betrachtet und ebenfalls gemeuchelt zu werden.«

Bis Zhao seine Befriedung von Kham abgeschlossen hatte, hatte der Dalai Lama seinen unliebsamen Gastgeber in Urga verlassen. Zutiefst beunruhigt von den Nachrichten, die ihn aus dem Süden erreichten, insbesondere von einem versteckten Hinweis, wonach der General die Stiefel seiner Soldaten mit herausgerissenen Seiten aus den heiligen Schriften der Klöster besohlen ließ, war er ins Kloster Kumbum Champa Ling gezogen, etwa fünfhundert Meilen nördlich von Batang. Für den Kostbaren Beschützer hatte dieses Kloster eine besondere Bedeutung. Es war untrennbar verbunden mit seinem Begründer Je Tsongkhapa, einem großen Reformator, aus dessen Lehrdarlegung später die Gelug-Schule des tibetischen Buddhismus hervorging, der seither sämtliche Dalai Lamas angehören. Kumbum war darüber hinaus das wichtigste religiöse Zentrum in der Region Amdo, das in Hochzeiten mehrere Tausend Mönche beherbergte.

Durch einen bemerkenswerten Zufall waren John Weston Brooke, ein englischer Naturforscher, und Reverend Ridley, ein weiterer Missionar, an jenem Tag Ende Oktober 1906 in Kumbum anwesend, als der Dalai Lama dort eintraf. Der Ankunft des Dalai Lama samt Entourage, so heißt es in ihren Beschreibungen, eilte ein chinesischer Begleittross voraus, der sich mit »diabolischem Gekreisch und Krakeel« ankündigte, »fünf oder sechs Mann … in einem schlurfenden Gang, weder gemächlich gehend noch schnell laufend. Sie waren gekleidet, wie es ihnen gefiel, machten Musik, wie es ihnen gefiel, liefen durcheinander, wie es ihnen gefiel«. Auf die Musikanten folgten, in ebenso ungeordneten Reihen, die kaiserlichen Standartenträger und dahinter tibetische Vorreiter, »gewandet in wunderschöne, lange gelbe Mäntel und sonderbare Hüte aus vergoldetem Holz, auf stämmigen, übermütigen kleinen Pferden … Plötzlich«, so berichteten sie, »galoppierte ein Reiter, ein Tibeter von staatstragend wirkender Eleganz, aus der Horde heraus und rief den Schaulustigen entgegen: ›Koutou!‹«

Die beiden ebenfalls berittenen Engländer saßen ab, »hielten sich ansonsten aber raus, weshalb [der staatstragend wirkende Tibeter] es uns überließ, uns mit den Chinesen herumzuschlagen, die sich dadurch aber nicht beeindrucken ließen, uns nur auslachten und beschimpften«.

Ridley und Brooke erhielten danach eine Audienz beim Kostbaren Beschützer, die jedoch kaum als Erfolg gewertet werden konnte. Es gelang den beiden nämlich nicht, ihn davon zu überzeugen, dass die Briten, wie Ridley es formulierte, »ein freundliches Volk« seien, und schon gar nicht davon, dass, wenn er »nach Indien reisen, sie treffen und kennenlernen würde, er nichts mehr dagegen hätte, wenn sie in sein Land kämen«. Brooke hingegen erklärte, er habe »noch nie ein so hartes, ausdrucksloses Gesicht wie das des Dalai Lama gesehen«.

Diese Beschreibung aber erscheint unfair. In Anbetracht der Tatsache, dass die beiden Klosterbesucher Engländer waren und damit für den Feind standen, der den tibetischen Hierarchen entmachtet hatte, wäre wohl kaum zu erwarten gewesen, dass der Kostbare Beschützer ihnen mit gütiger Freundlichkeit begegnen würde. Zudem berichten mehrere andere europäische Besucher glaubhaft davon, dass der Große Dreizehnte keineswegs gänzlich unnahbar war. Jahre später schloss er sogar eine nicht für möglich gehaltene Freundschaft mit Sir Charles Bell, dem politischen Diplomaten und britischen Vertreter in Sikkim, dem, wann immer sie sich zu Gesprächen trafen, die gestrenge Miene des Dalai Lama ebenfalls auffiel, der aber auch ein »einladendes Lächeln, das seine Züge weicher machte«, bemerkte.

Der Dalai Lama blieb mehr als ein Jahr in Kumbum. Und als wären die Schreckensmeldungen über Zhaos Marodeure nicht genug, die im Süden des Landes wüteten und heilige Schriften zertrampelten, musste sich der Große Dreizehnte noch dazu mit der Zuchtlosigkeit auseinandersetzen, die in der Klostergemeinschaft in Kumbum herrschte. »Viele Mönche«, so ist überliefert, »hatten angefangen zu trinken, zu rauchen und zu spielen.« Er machte es sich daher zur Aufgabe, den Respekt für den Vinaya (Vinayapitaka) zu erneuern, den buddhistischen Mönchskodex, der sowohl das spirituelle als auch das administrative Ordensleben des sangha regelt. Auch die akademische Seite des Klosterlebens von Kumbum füllte er mit neuem Leben, wobei er insbesondere darauf achtete, dass die Mönche den Wortlaut der buddhistischen Lehre genau beherrschten. Dies dürfte den Mönchen sauer aufgestoßen sein, denn die Klöster verbaten sich von jeher entschieden jegliche Einmischungen – ganz egal von wem. Doch Geltung und Ansehen des geistlichen Führers der Tibeter sowie seine persönliche Ausstrahlung waren derart hoch, dass ihm dies gelang, ohne seine Gastgeber zu verstimmen. Die Verehrung für ihn war in der Tat so groß, dass er tagtäglich, während der gesamten Dauer seines Aufenthalts in Kumbum, unzählige Pilger von nah und fern empfing, die ihn alle um eine Audienz ersuchten. Immer wieder segnete er Tausende Menschen, während er Gastmönchen spirituelle Unterweisungen und Initiationen gab und Hunderten von ihnen höhere buddhistische Weihen erteilte.

Zwar monierten einige in Kumbum die horrenden Kosten für den Unterhalt des Großen Dreizehnten, doch solange er bei ihnen im Kloster weilte, genoss er in der einheimischen Bevölkerung allerhöchstes Ansehen, was letztlich auch dieser zugutekam.

Seine Zeit im Kumbum-Kloster, der größten religiösen Stätte in Amdo, war nicht nur von Düsternis begleitet. Es gab auch lichtvolle Momente, wie der an jenem schönen Frühlingstag, als der Große Dreizehnte sich aufmachte zum Kloster Shartsong und unterwegs rastete, um dem kleinen Dorf Taktser seinen Segen zu spenden.

2

Mystiker und Seher: Beginn der Regentschaft des Reting Rinpoche

Das Versprechen des Großen Dreizehnten, eines Tages nach Taktser zurückzukehren, wurde von seinen Beamten zwar pflichtgemäß dokumentiert, geriet danach aber in völlige Vergessenheit. Dennoch blieb seine Verbindung zu diesem Dorf ein Stück weit erhalten, als der Große Dreizehnte im mittleren Lebensalter gebeten wurde, die Reinkarnation seines unlängst verstorbenen Freundes Takster Rinpoche zu bestätigen. Zu diesem Zweck kehrte er also nach Taktser zurück, in das Kloster Shartsong, das eine eigene Inkarnationslinie, die der Taktser Rinpoches, aufwies. Es gingen viele ereignisreiche Jahre ins Land, vom ersten Besuch des Großen Dreizehnten in Taktser im Jahr 1907 bis zu seiner Reinkarnation im Jahr 1935. Insofern ist es kaum verwunderlich, wenn lange Zeit unbemerkt blieb, welch große Bedeutung in seinem Versprechen zur Rückkehr nach Taktser lag.

Und es gibt eine weitere scheinbar unbedeutende Tat des Großen Dreizehnten, die in ihrer Bedeutung lange Jahre unerkannt blieb. Irgendwann im Jahr 1920, im Zuge von Renovierungsarbeiten im Ostflügel des Potala-Palastes, dem prächtigen offiziellen Regierungssitz und Hauptwohnsitz aller Dalai Lamas mit tausend Räumen, ließ der Große Dreizehnte an die Wand eines Treppenaufgangs, der zur Nordseite der Westsonnenlichthalle im Obergeschoss führte, einen blauen Vogel und auf die Ostwand einen weißen Drachen malen. Dies, so heißt es, habe für allseitige Verwunderung gesorgt, da es keinerlei vorhandene Grundlage für derlei Bilder an genau diesen Wänden gab, weder eine schriftliche noch eine ikonografische. Sämtliche Formen der bildlichen Darstellung und deren Platzierungen sind durch einen strengen Kanon geregelt, obgleich die Autorität des Dalai Lama solch bestehende Konzepte sicherlich und rechtmäßigerweise auch übertrumpfen kann. Erst lange danach erkannte man die Bedeutung dieser Bilder. Der blaue Vogel symbolisiert das Jahr, in dem der Große Dreizehnte das irdische Leben verlassen würde – im Jahr des Wasser-Vogels, 1933. Der weiße Drache symbolisiert das Jahr, in dem sein Nachfolger inthronisiert würde – im Jahr des Eisernen Drachen, 1940.

Bemerkenswert ist, dass hohe Lamas nicht selten detaillierte Angaben sowohl zu ihrem Tod als auch zu ihrer nächsten Inkarnation geben, Zeit und Ort ihrer Reinkarnation inbegriffen. Die am höchsten erleuchteten Meister gehen mitunter gar so weit, nicht nur den Namen des Kindes zu nennen, in das ihr Bewusstseinsstrom übergehen wird, sondern auch den Namen seiner Eltern. Eine solche Detailtiefe jedoch wird für gewöhnlich erst nach eingehenden Recherchen erkennbar, während die Wahl der bildlichen Darstellungen im Potala-Palast, wie hier eben beschrieben, allem Anschein nach doch eher spontan erfolgte.

Bis auf diese Wandgemälde hatte der Große Dreizehnte kaum konkrete Hinweise auf Ort und Umstände seiner späteren Reinkarnation gegeben, wie es von hohen Lamas üblicherweise zu erwarten ist. Der so ziemlich einzige weitere Hinweis, den der Große Dreizehnte gab oder in dem zumindest einige ein besonderes Vorzeichen sahen, bestand darin, dass er kurz vor seinem Tod einen damals in Lhasa tätigen nepalesischen Fotografen einbestellte, um Porträtaufnahmen von sich machen zu lassen. Sein Tod kurz danach kam völlig überraschend, für seine Begleiter ebenso wie für die breite Bevölkerung. Sein Leben endete so plötzlich und unerwartet, dass gar gemunkelt wurde, er sei keines natürlichen Todes gestorben.6

Sein Porträt wurde im November 1933 im Palast von Norbulingka begonnen. Einige Wochen später bekam der Kostbare Beschützer einen Husten, arbeitete aber wie gewohnt weiter. Nach etwa einer Woche ohne eine Besserung erschien der Große Dreizehnte nicht zur öffentlichen Audienz, die am 12. Dezember im Oberen Tantra-Kolleg (Gyütö Dratsang) stattfinden sollte. Inzwischen hatte er hohes Fieber entwickelt. Dann, am 16. Dezember, unterbrach der Kostbare Beschützer seine morgendliche Routine des Briefeschreibens, begab sich zuerst in seinen Lehnstuhl, dann auf sein Sofa. Am Abend verweigerte er die üblichen zwei Teller Suppe, die er vor dem Schlafengehen einzunehmen pflegte.

Irgendwann nach zehn Uhr an jenem Abend schlug der Erste Oberhofmeister Alarm. Er rief die anderen Bediensteten zusammen und hieß sie an, die drei ältesten Mitglieder des Gerichts zu rufen, ebenso wie den Obersten Schriftführer und den Schatzmeister. Da ihnen die Krankheit des Dalai Lama bis dahin nicht bekannt gegeben worden war, waren sie sehr überrascht zu erfahren, dass der Kostbare Beschützer schlagartig schwer erkrankt sei. Gleich bei ihrer Ankunft warfen sie sich vor ihm nieder, so wie es Brauch ist, wenn ein hoher Lama erkrankt, und drängten ihn flehentlich, er möge in seinem Körper verbleiben. Man glaubt, dass es der Kontrolle eines Dalai Lama obliegt und er selbst entscheidet, wie und wann er sterben wird.

Eine Stunde später wurde das Nechung-Orakel einbestellt, das offizielle Staatsorakel von Tibet, das der Regierung als Medium zwischen der weltlichen und spirituellen Ebene dient und um Rat und Unterstützung angerufen wird. Das Medium eilte derart schnell herbei, dass es in einem Bericht heißt, es habe nicht einmal Zeit gehabt, sich entsprechend zu kleiden. Es begab sich hierauf in eine Trance, während dieser es dem Dalai Lama Arzneien verabreichte, die er, so heißt es, verweigert haben soll, vom Medium aber aufgezwungen bekam.