Damit aus meiner Trauer Liebe wird - Roland Kachler - E-Book

Damit aus meiner Trauer Liebe wird E-Book

Roland Kachler

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Beschreibung

Roland Kachler, Psychotherapeut mit Spezialisierung in der Trauerbegleitung, hat nach dem Unfalltod seines Sohnes neue Wege in der Trauerarbeit entwickelt. Sein Ansatz: Nicht das Loslassen, sondern die Liebe zum Verstorbenen steht im Zentrum des Trauerprozesses. Die Liebe ist das Ziel der Trauerarbeit, sie führt durch den Trauerprozess und findet eine neue, innere Beziehung zum Verstorbenen. Nicht nur Betroffene und Hinterbliebene, sondern auch Trauerbegleiter erhalten eine Vielzahl konkreter Impulse für die wesentlichen Schritte auf dem Weg durch die Trauer hin zur Liebe. Für eine innere Beziehung zum Verstorbenen.

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Roland Kachler

Damit aus meiner Trauer Liebe wird

Neue Wege in der Trauerarbeit

Neuausgabe 2021

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2007

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Anton Nikitinskiy/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN E-Book 978-3-451-82510-1

ISBN Print 978-3-451-60600-7

Inhalt

Die Liebe aber bleibt

Hinweis zu den Impulsen und Imaginationen in diesem Buch

Kapitel 1: Und meine Liebe will es nicht begreifen

Kapitel 2: Meine Liebe sorgt sich um dich

Kapitel 3: Im Schmerz brennt meine Liebe zu dir

Kapitel 4: In meiner Trauer wohnt die Liebe zu dir

Kapitel 5: Auch im Chaos der Gefühle finde ich meine Liebe zu dir

Kapitel 6: Und noch nie liebte ich dich so sehr

Kapitel 7: Meine Liebe sucht und findet dich

Kapitel 8: Meine Liebe bewahrt dich in meiner Erinnerung

Kapitel 9: Meine Liebe lässt dich sicher wohnen

Kapitel 10: Meine Liebe will Klärung und Versöhnung mit dir

Kapitel 11: In meiner Liebe lebst du weiter

Kapitel 12: Meine Liebe zu dir will ewig währen

Über den Autor

Für die, die mit uns

den Weg der Trauer gehen

Die Liebe aber bleibt

Funken sprühend

Grenzenlos

Meine Liebe

zu dir

kann der Tod

nicht zähmen.

Margarete Clasen

Warum trauern wir? Es gibt nur eine Antwort: weil wir lieben. Die Liebe ist der innerste Kern der Trauer. Sie ist ihr Wärmezentrum. Warum trauern wir? Es gibt nur eine Antwort: weil wir einen geliebten Menschen verloren haben und nicht mehr lieben können, jedenfalls nicht mehr leibhaftig. Das macht uns so unendlich traurig.

Trauern wir, weil wir lieben oder weil wir jemanden verloren haben? Es gibt nur eine Antwort, die beides miteinander verbindet: Wir lieben im Verlust, weil wir nicht mehr lieben dürfen und doch weiter lieben wollen.

Aber was wird nun aus unserer Liebe? Wäre es nicht besser, sie aufzugeben? Wäre es nicht klüger, die Übermacht des Todes auch über unsere Liebe anzuerkennen? Wäre es nicht besser – so wie es die übliche Trauerliteratur vorgibt –, die Liebe zu beenden und wie nach verlorener Schlacht abzuziehen? Macht es überhaupt noch Sinn, einen Menschen zu lieben, der meine Liebe nicht mehr erwidern kann?

Unser Verstand und die gängige Trauerpsychologie legen uns das nahe. Ich habe in der Trauer um unseren Sohn Simon wenig Hinweise bekommen, wie ich meine Liebe und wie ich ihn selbst in meiner Liebe bergen und retten kann. Die Trauerpsychologie und die vielen Trauerratgeber haben mir nicht geholfen.

Doch die Liebe in der Trauer sagt etwas anderes: Ich will weiter lieben, auch gegen die Abwesenheit des geliebten Menschen, auch gegen seinen Tod. Und die Liebe sagt noch mehr: Ich werde das auch können!

Und so wurde mir auf meinem eigenen Trauerweg immer klarer, dass es nur ein Ziel, nur ein Ergebnis des Trauerprozesses gibt: die Liebe fortzusetzen und weiter zu leben. Ich bin mir sicher:

Die Liebe – nicht der Abschied – ist das Ziel des Trauerprozesses

Zunächst machen wir die Erfahrung, dass der Tod den Geliebten nimmt. Der Liebe fehlt nun das Gegenüber. Die Liebe selbst verliert ihr Ziel, ihren Empfänger. Wie kann sie zum Ziel in der Trauer werden? Doch die Liebe taucht im Trauerprozess unvermutet immer wieder auf. Sie bringt sich in Erinnerung. Schmerzend, brennend, sehnsuchtsvoll meldet sie sich immer wieder.

Ich möchte Sie anleiten, die Liebe zu Ihrem geliebten Menschen wahrzunehmen, ihr den Raum in Ihrer Seele zu geben und sie zu leben. Deshalb lesen Sie hier kein Trauerbuch, sondern ein Liebesbuch. Deshalb ist dieses Buch eine Anleitung zum Lieben über den Tod hinaus. Es ist ein Übungsbuch für die Liebe, die sich gegen den Tod und gegen die Abwesenheit Ihres Angehörigen durchsetzen will und muss. Die Liebe im Verlust ist ein Lieben gegen den Tod und über den Tod hinaus. Die Liebe ist die Gegenkraft zum Tod. Ich möchte Ihnen dies in Abwandlung des bekannten Wortes von Augustin »Liebe, und tue, was du willst« sagen:

»Liebe, und der Tod mache, was er wolle.« In diesem Lieben möchte ich Sie in diesem Buch stärken – gegen alle Zweifel, gegen alle Widerstände, gegen alle Abstumpfung und Verbitterung. Wenn Sie als Leserin und Leser den direkten Zugang zu der Liebe zu Ihrem Angehörigen suchen und finden wollen, dann werden Sie in den Kapiteln 2, 6 bis 9, 11 und 12 unterstützt.

Dennoch müssen wir die überaus schmerzlichen Gefühle im Trauerprozess aushalten und durchleben. Und immer wieder erleben wir, dass dabei unsere Liebe bedroht ist. Immer wieder erleben Trauernde nur die Leere und nicht mehr die Liebe. Wie können wir die Liebe im Schock des Verlustes, im Brennen des Schmerzes, in der Lähmung der Verzweiflung und in der Schwere der Trauer bewahren? Ich möchte Sie auf diesem Weg durch das Dunkle des Trauerns begleiten. Dabei leitet uns die Liebe selbst:

Die Liebe – nicht der Abschied – führt durch den Trauerprozess

Jedes Gefühl im Trauerprozess trägt das Gefühl der Liebe – und sei sie noch so verborgen – in sich. Deshalb gilt es, die Liebe in den Gefühlen des Trauerprozesses zu entdecken. Diese Trauerarbeit ist Hebammenarbeit für die Liebe. Sie verhilft der Liebe im Verlust zur Geburt. Ich möchte Sie anleiten und in den Imaginationen und Impulsen ermutigen, im Schmerz die Glut der Liebe zu entdecken, in der Ohnmacht des Verlustes die Macht der Liebe wahrzunehmen, in der Tiefe der Trauer den Schatz der Liebe zu bergen.

In meinem Buch »Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit« habe ich die Grundlagen einer neuen Psychologie des Trauerns vorgestellt. Dabei steht die Suche nach dem sicheren Ort für den Verstorbenen im Zentrum. Wir brauchen das Wissen, dass der Verstorbene an einem sicheren Ort gut bewahrt ist, damit wir ihn weiter lieben können.

In diesem Buch gehen wir gemeinsam den Weg durch den Trauerprozess und seine Gefühle – immer mit dem Ziel, im Trauerprozess die Liebe zu finden. Das ist ein neuer Ansatz im Verständnis der Trauer, weil er den Sinn der unterschiedlichsten Trauergefühle nicht im Abschied, sondern in der Liebe sieht. Die in diesem Buch vorgestellten Imaginationen sind für die Trauerarbeit ganz neu, weil sie in den dunklen Trauergefühlen den glänzenden Schatz der Liebe aufleuchten lassen.

Als Leserin und Leser können Sie bei den Kapiteln beginnen, die Ihren gegenwärtigen Trauergefühlen entsprechen. Wenn der Verlust Ihres Angehörigen erst wenige Tage zurückliegt und Sie sich noch im Zustand des Nicht-begreifen-Wollens befinden, dann steigen Sie mit dem ersten Kapitel ein. Wenn bei Ihnen der Schmerz, die Trauer oder Wut oder andere intensive Gefühle vorherrschen, werden Sie in Kapitel 3 bis 5 die für Sie richtige Begleitung finden. Haben Sie Ihren Angehörigen durch einen Suizid verloren, sollten Sie unbedingt nach dem ersten Kapitel zuerst das Kapitel 10 durcharbeiten. Erst wenn Sie wichtige Fragen und ungeklärte Konflikte mit Ihrem Verstorbenen geklärt haben, kann sich die Liebe zu Ihrem Verstorbenen durchsetzen. Dies gilt auch für andere, zu Lebzeiten schwer belastete und gestörte Beziehungen.

Im Trauerprozess erleben wir nicht nur, dass sich unsere Liebe gegen den Tod durchsetzen muss, sondern auch, dass sie eine neue, innere Beziehung zum geliebten Menschen findet. Nach der Bedrohung durch den Verlust entwickelt unsere Liebe allmählich wieder ihre Kreativität. Die Liebe findet auch im Verlust ihre schöpferische Kraft wieder. Sie birgt den Verstorbenen aus dem Tod und bringt ihn in mein inneres Leben zurück. Sie bringt den Verstorbenen in meiner inneren Welt zur Welt. Die Liebe wird zur Geburtshelferin für den Verstorbenen. Trauerarbeit ist in diesem neuen Verständnis Hebammenarbeit der Liebe.

Die Kreativität der Liebe zeigt sich in der Suche nach einem sicheren Ort für den Verstorbenen und sie zeigt sich im Gestalten einer neuen, inneren Beziehung:

Die Liebe findet eine innere Beziehung zum Verstorbenen – nicht den Abschied

Die Liebe glaubt an den in der äußeren Realität abwesenden Geliebten und sie stiftet eine neue Beziehung zu dem im Inneren anwesenden Geliebten. Es ist eine ganz andere als eine »reale« Beziehung, aber sie ist für Hinterbliebene nicht weniger real, nicht weniger intensiv, nicht weniger nahe. Wie jede andere Beziehung muss diese Beziehung gelebt und gepflegt werden. Wie jede andere Beziehung verändert sie sich im Lauf der Zeit. Wie in jeder anderen Beziehung gibt es auch hier Störungen und Konflikte, die wir, wie in Kapitel 10 beschrieben, lösen können.

In diesem neuen Verständnis ist Trauerarbeit in ihrem Zentrum Liebes- und Beziehungsarbeit, die ein vereinfachtes Verständnis von Abschied und Loslassen überwindet. Und sie überwindet den Abschied und das Loslassen in der Liebe, weil sie den geliebten Menschen in der Liebe trägt. Auch hier sind die vorgestellten Methoden für die Trauerarbeit völlig neu, weil sie zum Beispiel mit rituellen Sätzen helfen, mit dem Verstorbenen in eine innere Beziehung zu treten. In den Imaginationen können Sie Ihrem geliebten Menschen auf Ihrer inneren Bühne begegnen und so die Beziehung mit ihm erleben und gestalten.

Wer in der Liebe ist, geht nicht verloren – das ist der neue Grundgedanke für die Trauerarbeit. Wer in der Liebe ist, geht nie verloren – das ist der Glaube aus der Liebe heraus. Ich möchte Sie in diesem Buch begleiten und befähigen, einen Satz zu glauben und Ihrem geliebten Menschen zu sagen:

»Du in der Liebe!«

Roland Kachler

Remseck bei Stuttgart

Hinweis zu den Impulsen und Imaginationen in diesem Buch

In den Impulsen und Imaginationen werden die Grundgedanken des Buches vertieft und weitergeführt. Sie sind also wichtiger und integraler Bestandteil des Buches und wie die anderen Abschnitte Ihrer Lektüre empfohlen. Sie brauchen nicht jede Übung durchzuführen und können auch erst nach dem ersten Lesen entscheiden, welche Übungen Sie durcharbeiten möchten. Auch die einfache Lektüre der Impulse und Imaginationen wird Sie auf Ihrem Trauerweg und in Ihrer Suche nach einer inneren Beziehung zu Ihrem verstorbenen Angehörigen begleiten und unterstützen.

Zugleich sind die Impulse und Imaginationen konkrete Anregungen für die eigene Trauerarbeit. Alle Impulse und Imaginationen in diesem Buch können von Ihnen eigenständig durchgeführt werden. Tun Sie das so, wie es für Sie und Ihre besondere emotionale Situation stimmig ist. Wenn Sie eine Abwehr gegenüber einem einzelnen Impuls oder einer Imagination spüren, dann folgen Sie Ihren Gefühlen und übergehen Sie diese Übung. Nicht jede Übung passt genau in Ihre gegenwärtige Situation. Zwingen Sie sich deshalb nicht zu den Übungen – sie sind als Vorschlag und Einladung gedacht.

In den Impulsen werden rituelle Sätze vorgeschlagen, die Ihnen helfen, Ihre Gefühle in Worte zu fassen und eine innere Beziehung zu Ihrem verstorbenen Angehörigen zu entwickeln. Diese für die Trauerliteratur gänzlich neuen Formulierungen entfalten ihre Wirkung durch eine ritualisierte und rhythmisierte Form. Sie werden so zu einer sehr einfachen und elementaren, aber verlässlichen und sicheren Hilfe in Ihrer Trauer. Es ist zunächst sinnvoll, dass Sie diese Sätze so übernehmen, sie leise und laut sprechen, sie schreiben oder memorieren. Sie werden entdecken, dass die Sätze für Sie in Ihrem Trauerprozess zu inneren, heilsamen Begleitern werden. Sie können die vorgeschlagenen Formeln auch entsprechend Ihren Wünschen verändern und eigenständig weiterentwickeln.

Die Imaginationen greifen Ihre Gefühle und inneren Bilder in der Trauer und in der Liebe zu Ihrem Angehörigen auf. Zugleich beziehen sie sich auf Symbole und Bilder aus den Tiefenschichten unserer Seele und lassen die innere Weisheit der Seele zur Geltung kommen. Auch wenn bei der Durchführung der Imaginationen noch einmal die Trauer und der Schmerz heftig aufsteigen, entfalten die vorgeschlagenen Imaginationen eine heilsame Wirkung.

Wenn Sie wenig Erfahrung mit Imaginationen besitzen oder zurzeit keinen Zugang zu dieser Methode finden, können Sie sich die inneren Bildreisen langsam und laut vorlesen. Lassen Sie die Bilder dann nachklingen, denken Sie immer wieder an die Bilder oder lassen Sie eigene Bilder dazu aufsteigen. So gewinnen Sie die nötige Sicherheit, um sich allmählich intensiv auf die Imaginationen einzulassen und sie wie vorgeschlagen durchzuführen.

Die Übungen dieses Buches ersetzen keine psychologische Begleitung (wie Seelsorge, psychologische Beratung oder Psychotherapie), die bei schweren Verlusten zu empfehlen ist. Beim Tod des Angehörigen durch Suizid ist eine psychotherapeutische Begleitung dringend anzuraten.

Kapitel 1 Und meine Liebe will es nicht begreifen

So erträgt man es: Man ist nicht dabei.

P. F. Thomése

Ich stehe noch unter Schock, mein Sohn, ich fühle mich noch immer abgeschnitten von mir selbst … Ich agiere wie eine Marionette, funktioniere, bin nicht ich selbst. Ich spüre mich nicht mehr, mein Herz weigert sich anzunehmen, was mein Kopf ihm sagt.

Gibt es mich denn überhaupt noch? Ich suche noch nach der ersten Stufe der Treppe in eine Realität, die zu betreten ich unendliche Angst habe … so halte ich mich fest am Gefühl des Irrealen. Du kannst nicht wirklich tot sein. Irgendjemand oder irgendetwas wird mich erlösen und befreien und du wirst zurückkehren und alles ist nur ein Spuk, ein böser fürchterlicher Traum.

Gabriele Gérard

»Du bist nicht tot und kannst nicht tot sein!«

Die Verweigerung der Realität ist zunächst sinnvoll

Mein geliebter Mensch lebt nicht mehr! Er liegt tot da! Seine Augen sind geschlossen. Er reagiert nicht mehr, er atmet nicht mehr. Ich berühre meinen lieben Menschen, seinen toten Leib und begreife es doch nicht. Das Schlimmste, das Allerschlimmste ist passiert. Das kann nicht wahr sein und ist nicht wahr, obwohl ich es jetzt mit meinen Augen sehen muss. Was liegt da näher, als die Augen zu schließen und das Schlimmste nicht sehen zu wollen, weil es dann nicht mehr da ist?

Bei einem schweren Verlust steht am Anfang die Verweigerung der Realität. Wir können nicht glauben, dass unser geliebter Mensch tot ist. Was wir erleben, ist nicht wirklich real, sondern bleibt eigentümlich fern, unwirklich und unbegreiflich.

Aber auch später wird es immer wieder Momente geben, in denen wir nicht glauben können und glauben wollen, dass der geliebte Mensch abwesend ist. Immer wieder bleibt diese nicht zu leugnende Realität irreal. Unsere Liebe kann und darf nicht zustimmen, dass das Schlimmste wahr sein soll.

Ich muss deinen Tod jetzt noch nicht begreifen

Erlauben Sie sich ganz zu Beginn Ihrer Trauer, aber auch später immer wieder, dass Sie nicht begreifen wollen, was zu schwer ist zu begreifen. Sie können sich die folgenden Sätze immer wieder sagen.

»Ich kann nicht begreifen, was ich nicht begreifen will.«

»Es geht über meine Kräfte, zu verstehen, dass du nicht mehr leben sollst.«

»Es bleibt unwirklich, dass du nicht mehr da sein sollst.«

Die Sorge, insbesondere von Angehörigen und Freunden, dass mit diesem Verständnis für das Nicht-begreifen-Wollen der Trauernde in einer Fantasiewelt bleibt, ist unbegründet. Auch das Nicht-begreifen-Können ist eine Realität, und zwar die besondere und außergewöhnliche Realität des Trauernden. Wir sollten uns als Trauernde darin liebevoll akzeptieren. Erst dann können wir ganz langsam und sehr behutsam einen Weg finden, den Tod unseres Angehörigen als äußere Realität wahrzunehmen.

»Ich fühle überhaupt nichts – auch dich nicht«

Das Nichtfühlen als Überlebensreaktion

Im Schock schaltet unser Organismus fast alle Regungen ab und stellt unser Funktionieren auf niedrigstes Energieniveau ein. Es geht jetzt nur darum, das Entsetzliche zu überleben. In diesem Zustand fühlen wir kaum noch etwas, nicht einmal das Entsetzen, den Schmerz oder die Ohnmacht. Wir können nicht mehr richtig denken und fühlen. Nach außen wirken wir aber – für andere oft überraschend – gefasst und ruhig. Doch ist dies nur ein Zeichen dafür, dass der Organismus unsere Seele und damit alles Fühlen und Spüren abgeschaltet hat.

Nichts ist mehr da, mein geliebter Mensch und ich selbst nicht. Alles ist einfach nur weg, meine Gefühle sind weg, mein Körper ist weg, meine Hoffnung ist weg. Auch die Liebe zu meinem geliebten Menschen ist einfach weg, eingefroren und unzugänglich. Wie soll meine Liebe jemals wieder erwachen? Wie soll ich überhaupt jemals wieder etwas fühlen können?

Auch später wird uns die Fühllosigkeit immer dann einholen, wenn das Entsetzen und die Verzweiflung über die Abwesenheit unseres geliebten Menschen wieder übermächtig wird. Manche Menschen, insbesondere Männer, nutzen die Fühllosigkeit auch als eine – verständliche! – Abwehr gegenüber dem Schmerz.

Wir sollten uns in unserer Fühllosigkeit immer wieder bewusst machen, dass wir im Augenblick nichts fühlen können, oft auch nichts fühlen wollen. Wenn wir uns diesen Zustand erlauben und zugestehen, kann er sich allmählich, entsprechend unseren seelischen Kräften, so verändern, dass wir nicht nur die Trauer, sondern auch das Leben in uns wieder zulassen können.

Ich erlaube mir mein Nichtfühlen

In Situationen, in denen wir nichts spüren, tut es gut, sich dies zu erlauben, sich zurückzuziehen oder im Schlaf wieder zu sich zu kommen.

Dabei hilft es, wenn wir uns selbst mit folgenden Worten direkt ansprechen:

»Keine Worte, keine Gedanken und keine Gefühle können begreifen, was mit deinem Tod passiert ist. Das geht über alle meine Fähigkeiten des Fühlens hinaus. Und deshalb kann ich jetzt gar nichts fühlen. Das ist in Ordnung so. Ich weiß, meine Seele und mein Körper brauchen das Nichtfühlen. Das schützt mich. Wenn meine Seele bereit ist, mehr zu wissen und zu spüren, wird sich mein jetziger Zustand verändern. Jetzt aber spüre ich, dass ich nicht fühle.«

Um unsere eigene emotionale Situation im Nicht-begreifen-Wollen ein wenig besser zu verstehen, können wir für diesen Zustand Beschreibungen oder Bilder finden. So wird das Nicht-begreifen-Können ein klein wenig begreiflich. Oft wird auch in der Beschreibung schon deutlich, wozu dieser seelische Zustand jetzt nötig ist und wie er mir in meiner schrecklichen Situation hilft.

Ein Bild für den Schock finden

Wenn andere Sie oder Sie sich selbst befragen, wie es Ihnen jetzt geht, fallen Ihnen sehr häufig schon erste bildhafte Sätze ein, wie zum Beispiel »Ich stehe neben mir« oder »Ich kenne mich nicht mehr« oder »Ich bin mir ganz fremd«. Vielleicht haben Sie noch ganz andere beschreibende Sätze für Ihren Schockzustand.

Vielleicht fällt Ihnen auch ein Bild für Ihre Situation ein. Fühlen Sie sich wie ein Eisblock oder wie zu Stein erstarrt? Befinden Sie sich wie unter einer Glasglocke oder wie in einem Vakuum? Vielleicht tauchen andere Bilder auf, die beschreiben, wie sich Ihre Seele jetzt schützen muss.

Bei schweren Verlusten dauert der Zustand des Nichtfühlens und Nichtwahrhabens viel länger, als in den üblichen Trauerratgebern angegeben wird. Dort wird dieser Zustand als rasch vorübergehende Phase beschrieben, die dann vollständig überwunden sein soll. Insbesondere Eltern, die ihre Kinder verlieren, berichten, dass sie im ersten Trauerjahr nicht wirklich begreifen und fühlen konnten, dass ihr Kind tot sein soll. Für viele verwaiste Eltern setzt deshalb das eigentliche Trauerjahr, in dem bewusst getrauert werden kann, erst im zweiten Jahr ein.

Trauernde brauchen auch später, wenn sie allmählich die Abwesenheit des Verstorbenen realisieren, immer wieder das Nicht-wahrhaben-Wollen als Schutz. Wir können das Wissen um den Tod des Angehörigen nicht ständig in voller Wucht ertragen. Unsere Seele braucht immer wieder »Auszeiten« von dieser Realität, und wir dürfen uns solche Auszeiten erlauben!

»Irgendetwas muss man doch sagen können!«

Dem Nichtbegreifen Worte verleihen

Das Entsetzen ist nach dem Tod des geliebten Menschen übermächtig und verschlägt uns die Sprache. Es fehlen uns die Worte für das Unbegreifliche. Wir spüren auch, dass alle wohlmeinenden Worte das Ungeheure nicht ausdrücken können.

Und dennoch wollen wir auch reden, schließlich geht es um den Menschen, den wir so sehr lieben.

Und schließlich müssen wir auch wieder Worte finden, weil wir mit ihnen unsere Liebe zum Verstorbenen aussprechen können. Wenn wir unsere Sprache wiederfinden, dann kehrt auch die Sprache der Liebe wieder in unsere gelähmte Seele zurück.

Dies beginnt damit, dass wir mit anderen darüber reden, was geschehen ist und wie unser geliebter Mensch starb. Dabei geht es zunächst nur um die äußeren Fakten. Es fällt uns am leichtesten, dies zu erzählen. Dann fragen aber unsere Mitmenschen weiter nach den näheren Umständen. Auch das ist gut so, denn dann befinden sich beide, die Fragenden und der Trauernde, auf »sicherem« Terrain. Das hilft den Hinterbliebenen, die Ereignisse auch im Schock für sich in Worte zu fassen, das Chaos im Kopf wenigstens ansatzweise zu ordnen und die Betäubung allmählich zu lösen.

Doch nicht nur die Trauernden, sondern auch die Ereignisse selbst verlangen drängend nach einer Beschreibung, insbesondere bei einem plötzlichen, völlig unerwarteten Tod wie bei einem Unfall oder tödlichen Herzinfarkt. Bei einem erwarteten Tod nach langer Krankheit oder Altersschwäche ist es hilfreich, von den letzten Tagen, Stunden, den letzten Reaktionen und den letzten Worten des Verstorbenen zu berichten.

Im ersten Erzählen deines Sterbens finde ich meine Worte wieder

Erlauben Sie sich, all das, was in Ihnen an Bildern und Fragen zum Sterben und Tod Ihres Angehörigen aufbricht, immer wieder in Gedanken durchzugehen.

Erzählen Sie alles Ihren Angehörigen, Freunden und Bekannten. Zögern Sie nicht, es immer wieder mit neuen Details zu erzählen. Wenn Sie unsicher sind, ob das für die anderen passt, fragen Sie: »Ist es in Ordnung, wenn ich es dir erzähle?«

Wenn andere fragen oder Genaueres wissen wollen, dann nehmen Sie es als Ihre besondere Chance, die Sprache wiederzufinden.

Wenn Trauernde alles über die äußeren Fakten und Umstände, die Ursachen und Hintergründe des Todes ihres Angehörigen wissen wollen, dann kommt ihnen der im Tod so fern erscheinende Verstorbene innerlich nahe. Auch später noch, oft nach Jahren, ist es immer wieder wichtig, von den Umständen, Hintergründen und Ursachen des Todes des geliebten Menschen zu erzählen, um ihn und seine letzten Stunden in der Erinnerung zu bewahren und ihm darin liebevoll nahe zu sein.

In diesem Erzählen und im ersten Begreifen lässt die Betäubung des Schocks allmählich nach. Allerdings kommt dann mehr und mehr die Realität des Verlustes und damit der Schmerz ins Bewusstsein und ins Fühlen. Aber das ist in Ordnung, sind doch Schmerz und Trauer die angemessene Reaktion auf den Tod eines geliebten Menschen. Die Trauer und der Schmerz sind dabei nicht nur Ausdruck des unendlichen Verlustes, sondern auch Ausdruck der Liebe zum Verstorbenen.

Und so kommt mit der Trauer – in der bisherigen Trauerliteratur gänzlich übersehen und ignoriert – die Liebe zum Vorschein, sehr zerbrechlich, tief verunsichert und selbst in tiefer Trauer.

»Ich will nicht wahrhaben, dass ich dich nicht mehr lieben darf«

Im Nicht-begreifen-Wollen steckt die Kraft der Liebe

Im Nicht-wahrhaben-Wollen wehrt sich unsere Seele mit ihrer Liebe dagegen, dass sich die Realität des Todes bewahrheitet. Die Liebe will mit allen Mitteln – und sei es dem der Realitätsverweigerung – weiter lieben, und zwar den realen, lebendigen Menschen. Die Liebe will zunächst nicht wahrhaben, dass dies auf die bisherige Weise nicht mehr möglich sein soll.

Und so steckt in der Weigerung, die Realität des Todes zu akzeptieren, die Kraft der Liebe, die weiter lieben will. In den ersten Tagen und Wochen kann die Liebe noch nicht erkennen, ob das überhaupt jemals wieder möglich werden kann, geschweige denn, wie das trotz der realen Abwesenheit des Angehörigen möglich sein könnte.

Aus Liebe will ich nicht begreifen

Um die Kraft Ihres Widerstandes und damit schon die Kraft Ihrer Liebe zu spüren, genügt es, einen Satz zu formulieren:

»Ich will deinen Tod nicht begreifen – aus Liebe!«

»Unter dem Eis brennt meine Liebe zu dir«

Unter dem Nichtbegreifen ist die Liebe zu spüren

So sehr uns der Schock, das Nichtbegreifen, zu Recht schützt und dabei alle Gefühle abschaltet, gelingt es der Liebe doch, sich bemerkbar zu machen.

Die Liebe will sich nicht ganz abschalten lassen. Sie zeigt sich in ganz spontanen Gesten. Viele Trauernde umarmen den Toten, streicheln ihm über die Wangen und die Stirn und küssen ihn. Viele Menschen legen ihrem Verstorbenen noch ein symbolisches Geschenk oder einen liebevoll formulierten Brief in den Sarg. Weitere Beispiele, wie Sie Ihre Liebe zu Ihrem Verstorbenen ausdrücken können, finden sich in meinem Buch »Meine Trauer wird dich finden«.

Es ist wichtig, dass Trauernde von Anfang an ihren Impulsen der Liebe trauen und ihnen folgen. Wenn zu Beginn oder auch später die Lähmung doch so groß ist, dass Trauernde ihre Liebesgefühle kaum oder gar nicht spüren, können sie sich darauf verlassen, dass die Liebe unter dem Eis oder im Innersten des Eisblocks da ist. Die Liebe wird sich an die Oberfläche und ins Fühlen hinein »durcharbeiten«.

Imagination

Ich traue der Kraft meiner Liebe auch unter dem Eis

Nehmen Sie sich ein wenig Zeit. Setzen Sie sich bequem hin, um die folgende Imagination oder Fantasiereise zu erleben. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, sich die vorgeschlagenen Bilder und Prozesse vorzustellen, dann ist das völlig in Ordnung. Zwingen Sie sich zu nichts!

Es gibt dann eine andere gute Möglichkeit, mit den vorgeschlagenen Imaginationen umzugehen, nämlich indem Sie den folgenden Text als eine Erzählung leise oder laut lesen. Die Erzählung und die Bilder wirken auch über das Lesen hinaus hilfreich. Es genügt vollkommen, wenn Sie über das Folgende einfach nur nachdenken und die Gedanken in Ihnen nachklingen lassen.

Nehmen Sie Ihren jetzigen psychischen Zustand wahr. Nehmen Sie die Lähmung, die Erstarrung, das Verspanntsein, Ihre innere Kälte oder Leere einfach nur wahr. Wenn Sie das ein bis zwei Minuten zulassen, spüren Sie vielleicht kleine Veränderungen oder Verschiebungen Ihrer Empfindungen.

Stellen Sie sich im nächsten Schritt vor, dass in Ihrem innersten Kern, zum Beispiel tief in Ihrem Brust- oder Bauchraum, ein winziges Licht, ein winziges Stück Glut, ein winziges Stück Liebe da ist. Es darf unendlich klein sein, sodass es kaum vorstellbar ist. Und wenn es Ihnen nicht gelingt, sich dieses kleinste Stück Liebesenergie vorzustellen, dann nehmen Sie es nur als Gedanken, als eine Erzählung oder als theoretische Idee.

Versuchen Sie nun, das kleine Korn Energie ein wenig größer und wärmer werden zu lassen. Vielleicht beginnt es sich auszudehnen wie erwärmte Materie, vielleicht beginnt es aufzuglimmen wie ein Stück Glut oder aufzuleuchten wie ein winziger Funke. Spüren Sie nach, was mit Ihnen von innen her geschieht. Vielleicht werden Sie von innen her ein wenig erwärmt oder Ihr Inneres wird wie von einem winzigen Funken erhellt.